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Der frühe Morgen war Lauras schönste Stunde. Dann war sie Herrin in den stillen Vorderräumen der vornehmen Wohnung. Lächelnd zog sie die schweren Vorhänge beiseite, um die Frühsonne des Mai hereinzulassen. Draußen war alles ruhig. Die feine Straße schlief noch. Nur einzelne Schritte klappten eilig über das Pflaster.

Mit Sorgfalt nahm Laura den Staub von den schönen neuen Möbeln, während ihre Gedanken sie weit hinaus auf Reisen trugen. Wenn das Tuch über das Mahagoniholz fuhr, sauste Laura in einem rot lackierten Automobil an grünen Feldern vorbei. Wenn der Lederlappen über das klare Spiegelglas segelte, zog sie auf einem gewaltigen Dampfer, mit Musik an Bord, über das glatte Wasser eines großen Sees.

Ein scharfes Klingelzeichen riß sie meist in die Wirklichkeit zurück. Die gnädige Frau wünschte Frühstück an das Bett und warmes Wasser und dieses und jenes. Und nun dachte Laura an den Sonntag, wo sie frei sein würde und wieder einmal bei den Eltern sitzen könnte, auf dem Platz an der Straße.

Aber es wurde Ende Mai, bis es wirklich dazu kommen sollte. Lauras Freude war groß. Sie wusch und plättete sich die neue Spitzenkrause und garnierte sich den feinen Hut um, den ihr die gnädige Frau geschenkt hatte, weil er ihr selbst nicht mehr gefiel. Am Abend vorher aber, als die Herrschaften ausgefahren waren, unternahm sie etwas ganz Abenteuerliches. Sie bereitete in der Gesindebadestube ein Bad. Bis jetzt war diese Wanne noch unberührt geblieben. Ida badete nicht. Sie sah eine Gefahr darin, mitten im Alltagsleben so rein wie ein Engel zu sein. Es schien ihr wie eine übereilte Vorbereitung fürs Himmelreich. Sie war aus einem Bauernhaus, wo man zu Beginn des Winters die Fenster zunagelt und in den Frühlingsnächten die Küken mit ins Schlafzimmer nimmt.

Laura hatte in der Phantasie schon in weißen Marmorbecken zwischen Goldfischen und Seerosen gebadet, aber körperlich kannte sie nur ein einziges Badeverfahren, das von Kindheit an bis heute beibehalten worden war. Am Ende der Woche, wenn Frau Hempel im ganzen Hause die Treppen und Fenster gescheuert und geputzt hatte, stieg Laura in einen kleinen Holzzuber, worin gerade ihre feinen schmalen Füße Platz hatten. Die Mutter kam mit Eimer und Schwamm und seifte nun zum Schluß der sechs Arbeitstage mit kräftigen Händen ihr hübsches Mädchen sauber. Sie sagte lachend, daß sie jede Woche einige Zentimeter mehr zu seifen habe, und daß es gut sei, daß nicht auch die Treppen jeden Tag ein Stück nachwüchsen.

Davon erzählte Laura jetzt, während sie zusammen mit Ida zusah, wie sich die hohe Wanne füllte. Sie ließen ein Thermometer darin schwimmen und Purzelbäume machen, wußten aber beide nicht, mit welcher Zahl das Bad fertig war.

»Was die Reichen alles im Kopf haben müssen«, sagte Ida.

»Wir stecken einfach die Hand ins Wasser und wissen auch, ob's zu heiß oder zu kalt ist.«

Laura verriegelte die Tür.

Als sie in die volle Wanne stieg, versteckte sie sich eilig unter das Wasser.

Es war ihr sehr peinlich, so unbekleidet in einem fremden Hause zu sitzen. Rasch stellte sie sich wieder auf, seifte sich ab, wie sie es von der Mutter her gewohnt war, und kleidete sich an.

Gewohnheit war stets die Feindin des Fortschritts. –

Der andere Morgen brachte einen Sonntag, sonnig und blau, und solange die Luft noch rein war, spürte man deutlich den Duft des Fliedermonats. Die Straßen im Mittelpunkt der Stadt wurden bald still und leer, wie sonst nicht in der Nacht. Aber in den breiten Vorstraßen, die hinaus ins Freie führten, zog ein ununterbrochener Zug von Wallfahrern zu Fuß und im Wagen ins Grüne. Wer nicht krank war oder eine wüste Nacht nachzuschlafen hatte, der ließ heut Stadt und Steine hinter sich. Die Botenjungen in den Straßen pfiffen, die Mädchen in den Küchen sangen: »Es war ein Sonntag hell und klar, ein wunderschöner Tag im Jahr«, und sie dachten an die Stunde, wo man frei sein würde und tanzen ging.

Auch Ida weihte einer getrüffelten Pute ein letztes Lied. Schon am frühen Vormittag sollte der Braten fertig sein. Die Herrschaften wollten weit hinaus fahren, wo die Gegend schön, aber das Wirtshaus schlecht war. Darum sollte die Pute noch nach ihrem Tode spazierenfahren. Aber beinahe hätte sich die Fahrt und damit für alle die Freude an dem wunderschönen Sonntag im letzten Augenblick zerschlagen, weil Herr Leutnant den violetten Sonnenschirm der gnädigen Frau mit dem Hinterteil eines Affen verglichen hatte. Frau Leutnant hatte lange und heftig über die Roheit der Soldaten geweint, und Laura war in die Küche geschickt worden, um Ida das Singen zu verbieten. Aber schließlich waren sie doch davongefahren, und über ihrem Herde klang's von neuem: »Es war ein Sonntag hell und klar –«

Ida ging bald davon. Sie wurde von ihrer Schwester erwartet, die mit dem Brauer verheiratet war. Man wollte ins Freie und hatte Ida dazu eingeladen, weil sie die beiden jüngsten Kinder auf dem Arm tragen sollte.

Zufrieden ging Ida fort. Gutmütigkeit ist eine unserer angenehmsten Dummheiten. Dagegen macht Gehorsam viel weniger Vergnügen. Laura mußte bis über den Mittag hinaus warten, weil die Wohnung nicht allzulange ohne Aufsicht sein sollte, denn auch den Burschen hatte man mit ins Feld genommen.

Es war still. Im Haus und in den Zimmern. Die Klingel und das Telefon ruhten. Man hörte das Summen der Fliegen. Zögernd zogen die sonnigen Stunden durch den warmen Sommertag. Laura wusch die weißen Handschuhe der gnädigen Frau, und dann stopfte sie Strümpfe, um das Loch der leeren Zeit auszufüllen.

Gegen Mittag klopfte es leise an die Küchentür. Es war ein Mädchen aus dem Gartenhaus, das sich mit Ida angefreundet hatte. Sie war enttäuscht, nur die feine Zofe vorzufinden, denn sie war mit einem Anliegen an Ida gekommen. Schließlich teilte sie sich auch Laura mit. Sie wollte gern ein nettes Hemd geborgt haben, weil sie sich heute verloben wollte. Laura willigte bereitwillig ein, eilte in ihr Zimmer und kam bald mit einem hübschen Wäschestück wieder. Sie sagte, wenn das Mädchen Zeit zu warten hätte, würde sie ihr ein rosa Seidenband durch die Stickerei ziehen.

Das Mädchen erklärte sich gern dazu bereit und setzte sich wartend auf einen Küchenstuhl. Sie bewunderte die blanke Küche, weil sie viel feiner war als die, in der sie selber zu kochen hatte. Dann erzählte sie, daß man bei ihr zu Haus noch mit Eimern das Wasser aus dem Brunnen holen müsse. Aber trotzdem gefiel es ihr nicht in der Stadt, wo die meisten Menschen es schlechter hätten als auf dem Lande das liebe Vieh.

Laura, die gern von Liebe reden hörte, lenkte das Gespräch ab und fragte, woher sie wisse, daß sie sich heute verloben werde.

»Ich wünsche es mir«, sagte das Mädchen. »Das Wetter ist schön, und wir kennen uns schon lange. Er ist nämlich auch aus meiner Heimat.«

Das Band war nun fertig eingenäht mit einem Schleif chen als Abschluß, und das Mädchen nahm das wunderschöne Kleidungsstück vorsichtig auf den Arm.

»Es brauchte schließlich nicht gerade der eine zu sein«, sagte sie und zupfte prüfend an dem Seidenschleifchen. »Es ist nur, weil ich den Menschen so fürchterlich gern habe.«

Dann ging sie nachdenklich zur Tür hinaus und vergaß, sich zu bedanken.

Endlich war auch die Zeit da, daß Laura das Haus verlassen durfte. Die schönsten Sonnenstunden waren vorüber. Die Schatten wurden schon länger. Laura fühlte nur das Wohlbehagen der sommerlich weichen Luft, die sie umfächelte. Heiter genoß sie die Sonne und die geputzten Menschen, während sie in dem ruhigen Tritt des Nichtstuers den nicht kurzen Weg zu ihrem elterlichen Hause zurücklegte.

Einige Straßenecken vor ihrem Ziel stand eine Blumenverkäuferin mit einer solchen Fülle duftender Maiglöckchen, daß Laura nicht vorübergehen konnte. Sie blieb stehen. Wenn sie gewußt hätte, daß die Mutter nicht über die Verschwendung schelten würde, hätte sie ein Sträußchen gekauft.

Von der anderen Seite der Straße näherte sich ein Herr den Blumen. Er zögerte und schien ebenfalls die unnütze Ausgabe zu überlegen. Laura errötete. Sie hatte ihn sofort erkannt. Es war der junge Graf aus dem Gartenhaus.

Rasch trat sie auf die Frau zu und bat um ein Sträußchen. Der Herr tat im gleichen Augenblick dasselbe, und erst jetzt, als sie nicht wußten, wer von ihnen zuerst das Sträußchen aus der rauhen Hand der Händlerin nehmen sollte, erkannte er Laura. Er zog den Hut und sagte:

»Bitte sehr, mein Fräulein, nehmen Sie beide.« Er zahlte für zwei, obwohl es Laura durchaus nicht wollte und abwechselnd rot und blaß vor Beschämung wurde.

»Sie haben's doch auch nicht dazu. Was wird Ihre Mutter sagen, wenn sie das erfährt«, sagte sie.

Der Graf lachte und meinte, daß er sie sich viel liebenswürdiger vorgestellt habe, als er sie am Fenster in der Wohnung des Hauswirts beobachtet hätte.

Laura sah erschreckt zu ihm auf und behielt gehorsam die Blumen, aber nach einer Weile sagte sie:

»Ich habe Sie nie am Fenster gesehen.«

Der Graf ging noch einige Schritte neben ihr. Aber als das Bombachsche Haus in Sicht kam, verabschiedete er sich und sagte:

»Seien Sie nun den Blumen und mir nicht mehr böse. Auf Wiedersehen.«

Einen Augenblick später bog Laura in das elterliche Haus ein. Die Mutter stand im Flur und zog Laura erfreut in die Stube, wo es auch heute nur ein wenig hellgrau war.

Laura legte in großer Verlegenheit die Blumen auf den Tisch. Frau Hempel bemerkte sie sofort und rief:

»Sieh einer an. Unsere Prinzessin kauft sogar Blumen.«

Aber man sah ihr an, daß sie sich freute. Sie holte gleich ein leeres Senfglas, füllte es mit Wasser und stellte die weißgrünen Glöckchen hinein, wobei sie ihren schönen Duft lobte. Auch der Vater mußte seine rötliche, dicke Nase in das Glas stecken und sagte aufatmend, daß die Blumen beinahe so schön dufteten wie Juchtenleder.

Bald nachdem man Kaffee getrunken und Kuchen gegessen hatte, nahm man die Parkettplätze vor dem Hause ein. Frau Hempel wollte mit Laura prunken, die sie sich immerfort in heimlichem Entzücken ansah. Der feine Strohhut und die Spitzenkrause machten sie zum feinsten jungen Fräulein. Und sie hatte heute so glücklich glänzende Augen. Man sah es, daß es ihr nicht schlecht ging. Heiter blickte Mutter Hempel in das bunte Getriebe der vielen Menschen und Wagen, die mit Mühe und Anstrengung ihr Vergnügen suchten.

Laura sollte etwas erzählen. Aber sie lächelte und sagte, ihr fiele im Augenblick gar nichts ein.

»Ja«, sagte Frau Hempel und gähnte ein wenig. »Es geschieht doch jeden Tag etwas, aber am Ende der Woche hat man es vergessen.«

»Weil alle Tage auf einen Leisten gearbeitet sind, wie Fabrikstiefel«, erwiderte Hempel und saugte seine Pfeife in Brand.

»Das finde ich eigentlich nicht, Vater«, sagte Laura.

Nun fiel ihr auch etwas Erzählenswertes ein. Sie berichtete von dem Mädchen vom Lande, dem es hier gar nicht gefiele, und das gesagt hatte, daß es die meisten Menschen hier in der Stadt schlechter hätten als das liebe Vieh. Aber sie hatte jemanden sehr lieb und war gekommen, sich ein Hemd zu borgen, weil sie sich verloben wollte.

»Das wirst du einmal nicht nötig haben«, sagte Frau Hempel und dachte an eine Kiste voll neu genähter Wäsche, die unter einem Stück alten Teppichs verborgen war.

»Die Leute vom Land haben wenig Anstand«, erklärte Hempel und schüttelte den Kopf.

Aus dem Gewühl der vielen, die den Bürgersteig füllten, hob sich jetzt Herrn Bombachs runder starker Kopf heraus, und bald bemerkte man, daß er neben einem Kinderwagen schritt, dessen andere Seite Frau Bombach bewachte. Den Wagen schob eine alte Frau mit gebeugtem Rücken, aber in der kleidsamen Tracht der Spreewälderin. Herr und Frau Bombach trugen helle Frühlingskleider, in denen sie jungen Leuten glichen, solange man sie nicht in der Nähe sah. Frau Hempel war aufgesprungen, um beim Hineintragen des Wagens behilflich zu sein. Aber Bombachs schritten an ihrem Hause vorüber, um Hans Friedrich noch einmal der ganzen Straße vorzuführen.

Frau Hempel setzte sich wieder und erzählte, daß Bombachs sehr zufrieden mit dieser Alten wären. Sie war über die Sechzig hinaus und nannte ihre Herrschaft oft »meine Kinderchen«, was Bombachs sehr nett fanden. Man sah ihnen an, wie jung sie sich in ihrer Nähe fühlten. Die Alte hatte die besten Zeugnisse und sah auf eine so lange Tätigkeit zurück, daß schon bärtige Männer ihr die Bestätigung ausstellen konnten, sie habe gut gesäugt und gewickelt. Sie war nett und ehrlich, und auch Frau Hempel hatte nichts weiter an ihr auszusetzen, als daß sie ihr bei der polizeilichen Anmeldung unnötig viel Schererei gemacht hatte. Sie hieß Anna Spieß, wollte aber nicht schlechtweg Anna gerufen werden und ebenso nicht Frau Spieß, denn sie war trotz ihrer sieben Kinder Fräulein geblieben. Sie wünschte »Amme« gerufen zu werden, wie sie es zeitlebens gewohnt gewesen war. So hatte der Hauswirt auch auf dem Anmeldeschein für die Polizei als Beruf Amme vermerkt. Der Wachtmeister hatte ihre weit zurückliegende Geburtsziffer mit dem Beruf verglichen und dann gesagt: da stimmt etwas nicht. Entweder an den Ziffern oder an der Person. Frau Hempel hatte die Zettel wieder zurücktragen müssen.

Jetzt bogen Bombachs ins Haus hinein. Die Alte grinste ihren Schützling freundlich an. Laura sah deutlich, wo früher einmal alle ihre Zähne gesessen haben mußten. Aus dem Straßengedränge rief jemand einen schlechten Witz über die alte Amme herüber, aber sie lächelte weiter. In solchem Lärm hörte sie längst kein Wort mehr.

Nur wenn man in stiller Stube mit voller Stimme und in ausreichender Nähe mit ihr schrie, verstand sie noch alles.

Auch das war anzuerkennen. Man wird durchaus nicht immer besser verstanden, weil man schreit.

Als die Familie Bombach an Hempels vorüberkamen, machte Laura einen tiefen Knix. Es war die erste Begegnung nach dem kleinen Zwischenfall, wo Herr Bombach sie und Ida zu allen Teufeln gewünscht hatte. Aber jetzt schien niemand daran zu denken. Die Herrschaften lobten Lauras Aussehen, und das junge Mädchen half an Stelle der Mutter den Kinderwagen hinauftragen.

Als die Sterne und die Laternen angezündet wurden und auch das Haus mit Licht versehen werden mußte, nahm man die Stühle herein und beschloß damit den ersten Sommersonntag.

Dabei erinnerte sich Frau Hempel, daß das gräfliche Ehepaar heute gar nicht das Haus verlassen hatte, und sie erzählte Laura, daß die traurige Gräfin ihr geklagt hätte, sie könnte eine reiche Schwiegermutter werden, aber der junge Graf wolle nichts davon wissen.

Laura hatte still zugehört. Erst als sie nun der Mutter die schwere eichene Haustür, die weit offen gestanden hatte, schließen half, seufzte sie und sagte:

»Nun ist der schöne Tag wieder vorbei, als ob er gar nicht gewesen wäre.«

»Ja«, antwortete die Mutter. »Aber wir haben nun den ganzen Sommer vor uns. Einmal werden wir auch ins Grüne fahren. Warte nur ab.«

Dann aber riet sie Laura, nach Hause zu fahren, ehe es spät wurde. Sie konnten sie nicht begleiten, weil bei Konsuls Gesellschaft war, wo sie helfen sollte, und der Vater mußte bei der Klingel und den Schlüsseln bleiben, denn sie wisse ja, wie sie in der Sonntagsnacht ein Nachzügler nach dem anderen aus dem Schlafe klingele.

So verabschiedete sich Laura, doch benutzte sie einen freien Augenblick, um aus dem Mostrichglas einige Maiglöckchen zu entwenden, die sie in dem Gürtel unter dem schützenden Jackett verbarg.

Nicht nur Gelegenheit macht Diebe.

Wieder in ihrem kleinen Stübchen, nahm sie die beiden Blumenstengel, zog noch einmal ihren Duft ein und legte sie dann zwischen die Seiten des einzigen Buches, das sie besaß. Es hieß: »Aurora, die verratene Braut oder das lebendige Herz unter dem Sargdeckel« und war ein Geschenk von Ida, die es in einzelnen Heften gesammelt hatte. Fast in jedem Heft lag jemand im offenen Sarg oder wenigstens auf dem Sterbebett. Durchbustabiert hatte es Ida nicht, weil sie am Tage nicht Zeit genug dazu hatte und es ihr am Abend zu gruselig war. Laura hatte es zu lesen begonnen, aber bald damit aufgehört, denn es war ihr zu traurig. Jetzt suchte sie lange nach zwei Seiten, wo nichts Betrübliches abgebildet war, und zwischen diese legte sie die welkenden Blumen schlafen. Sie erinnerte sich dabei deutlich der Worte: Nun seien Sie den Blumen und mir nicht böse. Sie lächelte darüber, weil sie ihm überhaupt niemals böse gewesen war. Lächelnd schlief sie ein. Das Fenster hatte sie zu schließen vergessen, und die weiche Luft der Sommernacht fächelte hinein und heraus.

*

Es gehört wenig dazu, die Wünsche eines Menschen zu andern.

Als Frau Hempel am Montagmorgen aufstand, war der kleine dunkle Schlafraum vom Duft der wenigen Maiglöckchen erfüllt, und als sie das Schloß in der Haustür nach links gedreht hatte und sah, daß auch dieser Montag wie ein warmer, blauer Sonntag ausgefallen war, erinnerte sie sich plötzlich einer Wiese, auf der sie als Kind gesessen hatte, während ihre Mutter nasse Wäsche über eine Leine hing, und zugleich fiel ihr ein, was das fremde Mädchen gestern zu Laura von den Menschen und dem lieben Vieh gesagt hatte. Einen Augenblick lang dachte sie daran, dann kam der Tag mit seiner ausfüllenden Arbeit.

Hustend und sich räuspernd spickte sie Bombachs Winterkleider und Pelzsachen mit Kampfer und Naphthalin, um sie dann in ihr sommerliches Blechgrab zu versenken. Dann trabte sie zu Frau Konsul und fegte die Spuren des gestrigen Festes zu Tür und Fenster hinaus. So folgte Arbeit der Arbeit, wie Tag dem Tag, so wie es immer gewesen war.

Aber auch Gedanken haben Hände. Sie greifen, fassen, zerren und zupfen uns. Wir wissen oft gar nichts mehr von ihnen, aber sie sind da.

Frau Hempel sehnte sich hinaus aus der Stadt. Jetzt glaubte sie, daß es auch für Laura gut sein müsse, wenn man ein kleines Haus auf dem Lande hätte und sein eigener Herr sein dürfte. Es wäre wohl ein anderes Vergnügen, die eigene Haustür des Morgens der frischen, schönen Luft zu öffnen und des Abends beim Dunkelwerden wieder zu verschließen, als Bombachs fremdes schweres Schlüsselbund über dem Kopfkissen zu haben. Sie konnte heute zum Wochenanfang wieder einige harte Silberstücke auf die Sparkasse bringen. Noch wenige gesunde Monate, und der Mann mit der blauen Brille und dem unfreundlichen Gesicht mußte eine fünfstellige Zahl zusammenrechnen, ob er wollte oder nicht. –

Abends vor dem Einschlafen fragte sie ihren Schuhmacher, was wohl ein kleines Haus vor der Stadt kosten könne. Zwei Stuben und eine Küche, ein Dach mit einem Schornstein drauf, ein Gärtchen vorn und eins hinten. Hempel gähnte und sagte, daß es jedenfalls mehr als ein paar Stiefel kosten würde. Diese unnütze Frage sollte ihn nicht am Einschlafen hindern. Bald knarrte sein Schnarchen durch den friedlichen Raum.

Neue Wünsche aber machen unruhig. In der tiefen Finsternis hier beschloß Frau Hempel, das nähe Pfingstfest im Grünen zu feiern. Sie wollte mit Laura hinausfahren, um sich ein wenig umzusehen, und Hempel allein vor der Haustür lassen, was sie bisher noch niemals übers Herz gebracht hatte.

Aber ihr Plan sollte nicht ausgeführt werden. Einige Tage vor dem Fest begann es zu regnen. Langsam und beharrlich, als ob jemand durch ein feines Sieb Wasser filtrierte. Diese Unfreundlichkeit des Wetters bereitete vielen Verdruß, aber Frau Hempel kam trotz alledem der Regen recht. Er ließ die Möglichkeit offen, am Festtage zehn Mark zu verdienen. Denn bei Geheimrats im dritten Stockwerk war ein Wunder geschehen. Die älteste Tochter hatte einen Bräutigam bekommen. Den alten Herrn Rechnungsrat, dem Frau Hempel an manchem Wintertag die Treppen heraufgeholfen hatte, denn im linken Knie plagte ihn die Gicht.

Frau Geheimrat hatte in ihrer großen Freude der alten treuen Frau Hempel genau erzählt, wie alles gekommen war.

»Ja, meine liebe Hempel«, hatte sie zum Schluß gesagt, »nun haben wir wohl die längste Zeit unter Bombachs Dach gehaust. Wir werden eine kleinere Wohnung nehmen können, denn unser guter Rechnungsrat entführt uns gleich zwei Töchter.«

»Zwei – ist das denn erlaubt?« fragte Frau Hempel, und ihre Augen weiteten sich vor Staunen.

Aber schon klärte Frau Geheimrat sie auch über dieses Wunder auf. Das zweite Töchterchen sollte dem jungen Paar die Wirtschaft führen. Der liebe Rechnungsrat war fast den ganzen Tag im Büro, und so würden die beiden guten Kinderchen die hübsche neue Wohnung beinahe für sich allein haben.

Helle Freude leuchtete aus den Augen der versorgten Frau Geheimrat.

Mütter verstehen sich.

Beide Frauen bekamen feuchte Augen, und als die Dame nun sagte, daß Frau Hempel sie nun doch am Pfingstsonntag nicht im Stich lassen werde und bei der Verlobungsfeier helfen müsse, konnte sie es nicht abschlagen. Erst als sie auf der Treppe war und sich mit der Schürze die Tränenspur abrieb, fiel ihr ein, daß sie doch am Festsonntag mit Laura ins Grüne fahren wollte, um sich kleine Häuser anzusehen.

Leider hatte sie im Augenblick nicht Zeit, die Sache ordentlich zu überdenken, denn Bombachs Feiertagskuchen sollte zum Bäcker in den Backofen gebracht werden. Als sie mit den großen, flachen Blechen voll süßen Kuchenteigs über die Straße eilte, hatte der Himmel entschieden. Es regnete, und Frau Hempel lächelte. –

Auch Laura war unterwegs. Ein großes Paket im Arm, lief sie unter dem Schirm vergnügt durch die Regenstreifen. Sie hatte eine Bestellung von der gnädigen Frau an die Frau Bankdirektor und war sehr zufrieden darüber. Sie ging gern in ihr heimatliches Haus, wo es immer ein paar gute Worte von Vater und Mutter gab, und wo man auch sonst diesen oder jenen treffen konnte, der einem nicht unangenehm war.

Als sie das Haus erreicht hatte, nahm sie pflichttreu den Weg hinauf zu den Herrschaften und ging an der Portierswohnung vorüber, als ob sie gar nicht ahnte, wer sich da unten in den halbdunklen Räumen befand. Oben gab sie ihr Paket ab und wartete auf Bescheid. Sie saß in der Küche, wo die Köchin wütend mit den Töpfen klapperte und auf das Wetter schimpfte.

»Regnet es noch immer?« fragte Laura und ging ans Fenster. Aber mit einem erschreckten Ausruf trat sie rasch wieder zurück.

Sie hatte nicht bedacht, daß sie hier vom Küchenfenster aus der gräflichen Wohnung gerade gegenüber war. So hatte sie statt des Regens den jungen Grafen erblickt. Er stand am Fenster vor dem Nähtisch, wo man die Gräfin zu sehen gewohnt war, und drehte sich Zigaretten. In der Mitte des Zimmers brannte schon gelblich matt die Hängelampe, unter der die Gräfin die Teller auf den Tisch stellte. Tieftraurig, als lege sie Kränze auf ein Grab.

Als Laura zum zweitenmal hinzusehen wagte, war der Vorhang heruntergelassen, und nichts mehr von dem Schauspiel zu sehen. Bald darauf wurde sie in das Zimmer gerufen, wo Frau Bankdirektor, umspielt von vielen elektrischen Flammen, die aus der Zimmerdecke und aus der Wand kamen, auf dem Sofa ruhte. Es roch wie in einer Apotheke, und Laura fragte, ob die gnädige Frau krank sei.

»Das Wetter bringt mich um«, sagte Frau Bankdirektor. »Daß auch nichts im Leben so ist, wie man es will.« Und sie sah wütend von dem Barometer, das neben ihr an der Wand hing, nach der neuen Frühlingstoilette, die eben aus Paris gekommen war.

Schlechtes Wetter trifft vornehm und gering.

Die gnädige Frau sagte, daß sie ihrer Tochter telefonisch antworten werde. Jetzt sei sie nicht imstande, irgend etwas zu überlegen. Damit war Laura entlassen.

Sie eilte zu den Eltern hinunter. Der Vater hämmerte unter der Glaskugel, wo schon das Licht brannte, an einem hellbraunen Schuh, der eine Lackspitze bekommen sollte. Er war für Geheimrats Braut bestimmt, und so erfuhr auch Laura das neue Ereignis. Sie kannte den Rechnungsrat vom Aussehen und sagte, daß sie mit solchem Großpapa nicht zusammen wohnen möchte.

Frau Hempel war irgendwo im Haus beschäftigt. Aber endlich kam sie.

»Unseren Ausflug ins Grüne müssen wir verschieben«, sagte sie vergnügt. »Aber warte, ich habe eine andere Freude für dich!«

Es war eine schmetterlinghafte Bluse aus schmiegsamer Seide, die Frau Hempel an diesen ersten Sommerabenden» die so lange hell waren, vorsichtig mit den schweren Händen genäht hatte. Der Stoff war aus Indien, und Frau Konsul hatte ihr diesen kleinen Rest gegeben, weil sie nichts damit anzufangen wußte.

»Aus Indien? Wo mag das sein?« fragte Laura und sah glücklich auf das zarte Gewebe.

»Nimm's mit«, sagte die Mutter, breit vor Freude. »Die Sonne wird schon wieder kommen.«

Die leichte Bluse wurde sorgfältig in ein kleines Päckchen verwandelt, und Laura ging davon.

Sie war erst wenige Schritte gegangen, als jemand neben sie trat und sie fragte: ob es nicht besser sei, wenn er den Schirm trüge. Es war Graf Egon, der dicht hinter ihr aus dem Haus gekommen war. Laura war so erstaunt, daß sie ihm gehorsam den Schirm überreichte. Schweigend gingen sie nebeneinander. Aber ein weibliches Wesen findet immer die Sprache wieder, und so meinte Laura nach einer Weile:

»Alle sind böse auf das Wetter!«

»Sie auch?« sagte der Graf.

Laura verneinte es und erzählte, daß die Mutter mit ihr ins Grüne gefahren wäre, aber nun Arbeit angenommen habe für den Festtag.

Der Graf fragte, ob dann nicht auch andere mitgekommen wären, auf die sie sich gefreut hätte?

Aber Laura sagte, sie wisse von niemandem sonst. Denn der Vater hätte sie nicht begleiten können, weil immer jemand neben der Haustür bleiben müsse.

»Wenn es nun aber morgen doch schönes Wetter ist?« fragte der Graf.

Und plötzlich hatte er ihr vorgeschlagen, mit ihm ins Freie zu fahren, wenn am nächsten Tage die Sonne scheinen würde.

Als er dies gesagt hatte, prasselte ein so starker Regenguß nieder, daß sie genötigt waren, in ein Haustor zu treten; hier wollte Laura die nächste Straßenbahn erwarten.

»Wenn es morgen schön ist«, sagte Laura und lachte.

»Dann warte ich auf Sie, passen Sie nur auf«, antwortete der Graf und lächelte sie an.

Vom Beginn der langen Straße sah man die Bahn näher kommen, auf die Laura, die kurze gerade Nase in den Regen gesteckt, spähend wartete. Der Graf wollte der Niedlichen gern eine Freude machen. Sein Blick fiel auf das Buch in seiner Hand. Es war Goethes »Werther« in rotes Leder gebunden und stammte noch aus der Bibliothek seines Großvaters. Auf dem inneren Titelblatt befand sich das Wappen mit dem Adler.

Graf Egon steckte es Laura hastig zu und sagte:

»Nehmen Sie es mit.«

Klingelnd kam die Bahn. Viele Menschen drängten sich hinein, und Laura fuhr davon, das schöne fremde Buch in der Hand.

Die gnädige Frau erwartete sie schon mit verschiedenen eiligen Arbeiten, denn Herr Leutnant hatte mitteilen lassen, daß sie des Abends zu einer Festlichkeit gehen müßten. Laura heftete Spitzen ein, verhalf Lackschuhen zu Glanz, bügelte, nähte, bürstete und kam die nächsten zwei Stunden weder zum Sitzen noch Stillstehen. Endlich sauste der Fahrstuhl, kurbelte das Automobil, und die Wohnung fiel in Abendruhe.

Laura hatte keine Lust zu essen. Ida war schon fertig damit. Sie saß bei der Lampe und nähte sich eine neue Schleife für morgen.

Laura wischte den Küchentisch sorgfältig ab und vertiefte sich in das feine Lederbuch.

Ida beugte sich herüber und fand, daß es sehr herrschaftlich aussähe. Sie hielt es für eine Bibel. Aber dann buchstabierte sie die Worte: »Werthers Leiden«.

»Das wird traurig sein«, meinte sie und bat, daß Laura vorlesen solle, wenn sie an eine schöne Stelle käme.

Laura war schon mitten im Lesen und hörte nichts mehr. Sie las und las. Es waren wunderschöne Worte, aber sie Verstand sie nicht. Sie begann zu blättern und kam gegen Ende des Buches aufs neue ins Lesen. Jetzt wurde ihre Aufmerksamkeit gefangengenommen, und sie verstand. Das tiefste Mitgefühl mit Werthern ergriff sie. Als er die blaßrote Schleife küßte, die er von dieser herzlosen Lotte zum Geburtstag erhalten hatte, und darum bat, daß er sie mit in sein Grab nehmen dürfe, liefen die Tränen in langen Reihen über Lauras Gesicht.

Ida, die inzwischen erfahren hatte, daß Werther ein junger Mann war, fragte anteilnehmend:

»Was hat er denn für ein Leiden? Schwindsucht?« Aber Laura schüttelte nur den Kopf, klappte das Buch zu und ging in ihr Zimmer.

*

Als die Großstädter am andern Morgen erwachten, war der Regen vorüber, und die Sonne blendete auf die Dächer.

Auch angenehmer Besuch erregt Verwirrung, wenn er unerwartet kommt.

Alle Pläne wurden umgestürzt. Nun wollte jeder hinaus aus der Stadt. Die Fernsprecher rasselten, als ob alle Straßen in Brand stünden.

Auch in der Wohnung von Herrn und Frau Leutnant läuteten alle Klingeln. Das veränderte Wetter machte die aufgehobene Einladung nach einer Landvilla wieder gültig. Frau Bankdirektor schrie durchs Telefon, daß sie wieder kerngesund sei und das Pariser Kleid vortrefflich passe. Man benachrichtigte andere Bekannte, Automobile fuhren vor, die Hupen heulten, die Herrschaften eilten hinunter, stiegen ein, und plötzlich war die Wohnung leer, und nur die Sonnenstäubchen tanzten in den schrägen Sonnenstreifen, die den Raum durchquerten. Ida zog sich geschwind das Sommerkleid mit der neuen Schleife an und verschwand auch.

»Grüßen Sie Ihre Mutter«, sagte sie, als sie davoneilte, und ehe sich's Laura versah, war sie allein mit Sonne und Festtag.

In der Eile des Aufbruchs hatte man vergessen, ihr Anweisungen zu geben. Man hatte ihr weder verboten, auszugehen, noch befohlen, dazubleiben. Die Sonne war da, und der Tag war schön. Hatte der Graf gestern gescherzt? Laura sah in den Spiegel und zog die Mullbluse aus Indien an.

Dann ging sie in die Vorderzimmer, um die Fenstervorhänge niederzulassen.

Was man sieht, muß man glauben. Drüben auf der andern Seite der Straße stand der Graf und rauchte eine Zigarette.

Nicht gleich, aber schließlich ging Laura hinunter. Es war peinlich, aus dem Haus zu kommen, während Graf Egon dort drüben stand. Aber ebenso beunruhigend kam ihr die Möglichkeit vor, daß er plötzlich verschwunden sein könnte.

Als sie dann auf die Straße kam, war alles ganz selbstverständlich, so wie es war.

Graf Egon ging auf sie zu und fragte sie lächelnd: ob sie Militärmusik hören und Karussell fahren wolle oder still an einem kleinen See sitzen möge, wo man nichts anderes hörte als das Quaken der Frösche. Laura wollte an den kleinen See und erzählte, daß sie auch einmal einen Laubfrosch besessen hätte. So plaudernd verschwanden sie. –

Aber auch bei Geheimrats hatte das sonnige Wetter einen Umsturz der Festordnung gebracht.

Herr Rechnungsrat, der in diesen zwiefach warmen Tagen ganz vergessen hatte, daß ihn manchmal die Gicht plagte, machte den verwegenen Vorschlag, die Waldmeisterbowle auf Flaschen zu füllen und irgendwo unter schattigen Bäumen zu trinken. Braten und Torten sollten gleichfalls mitgenommen werden.

Ein später Bräutigam regiert das Haus. Die Mutter und Frau Hempel beeilten sich, die Braten und Gemüse in Körbe zu bringen, die Flaschen in Stroh zu wickeln, die Torten in Seidenpapier zu hüllen. Endlich war alles miteinander im Wagen und mit Peitschenknall davongefahren.

Als Frau Hempel in ihre graue Wohnung kam, um sich zu waschen, dachte sie, daß sie einen Spaziergang machen und ihr Mädchen besuchen könnte.

»Vielleicht kannst du sie mitbringen«, sagte Hempel, der auch gern etwas vom Feiertag haben wollte.

Er nahm wie immer drei Stühle hinaus und setzte sich wartend vor die Tür. Bald darauf stieg Frau Hempel aus dem Keller hervor, im schwarzseidenen Umhang und mit Pompadour und Handschuhen. Sie verabschiedete sich und verschwand im Gewühl. Als sie die Marmorsäulen des schönen Hauses erreicht hatte, sagte ihr die Portiersfrau, die dort im Gespräch stand, daß Fräulein Laura fortgegangen sei mit einem Herrn, der sie lange erwartet hätte.

Frau Hempel dankte und kehrte um. Endlich hatte sie die Ecke gewonnen und konnte stehen bleiben und sich an eines der fein geschnörkelten Eisengitter lehnen. Ihre Knie zitterten und wollten den schweren, arbeitskräftigen Körper nicht tragen. Nach einer Weile des Ausruhens ging sie wieder zurück, denn es war klar, daß die Frau sich geirrt hatte.

Der Eingang war diesmal frei, die Frau fort; und rasch wie ein Dieb gewann Frau Hempel die Tür, den Flur und die Treppe und eilte neben dem hohlen Fahrstuhlschacht die Stufenwindungen hinauf. Die Klingel oben hallte nach wie ein spottendes Echo. Niemand öffnete.

Endlich begriff Frau Hempel, daß sie gehen müßte, und ungesehen kam sie wieder aus dem Hause.

Sie rannte durch Staub und Menschenmenge den Weg zurück. Dieser und jener drehte sich um nach der starkleibigen Frau, die häufig den Kopf schüttelte und oft laut aufstöhnte, als ob plötzlich Schmerzenschauer sie durchschnitten.

Von weitem schon sah sie, daß Hempel allein vorm Haus saß. Ihr fiel auf, wieviel grauer sein glatt gebürstetes Haar geworden war. Er hatte die Augen auf dem Boden, denn er beobachtete das Gewimmel der vorbeieilenden Schuhe und Stiefel. Als Lina auf ihn zukam, sah er auf und sagte:

»Hast du sie nicht mitgebracht?«

»Nein«, stieß Frau Hempel hervor und ließ sich schwer auf dem zweiten der freien Stühle nieder. Der Platz zwischen ihnen blieb frei.

Hempel sah mit heimlichem Stolz auf seine Frau. Sie glich in ihrem Sonntagsstaat einem feinen Besuch. Als er aber auf ihr Gesicht guckte, erschrak er. Er fand, daß die gelbliche Haut Furchen und Falten hatte wie verbrauchtes Leder.

»Du sollst nicht so viel arbeiten, um alles auf die hohe Kante zu legen, Lineken«, sagte er. »Man kann doch nicht zwei Paar Stiefel auf einmal tragen.«

Frau Hempel schien nicht gehört zu haben. Sie stand auf, murmelte etwas und ging an ihm vorbei in den Keller.

Hempel dachte, daß sie sich umkleiden werde, aber als sie nicht wieder hinauskam, folgte er ihr.

Sie saß mit dem schönen Seidenumhang in der rußigen Küche, ganz zusammengebeugt, und schluchzte.

Er blieb stehen und beobachtete sie voll Schrecken. Seine große breite Lina konnte er sich nicht anders vorstellen als ruhig und aufrecht, die kräftigen Arbeitsarme bereit zum Schaffen.

»Ist es etwas mit Laura?« fragte er plötzlich, und es wurde ihm noch kälter unter der Haut.

Lina fuhr zusammen und hob den Kopf:

»Unsinn, was soll's mit Laura sein«, sagte sie rauh und stand auf.

Er wurde ganz glücklich, als er wieder ihre barsche Stimme hörte. Unbeholfen ging er auf sie zu und sagte:

»Bist du nicht gesund, Lineken? Willst du ein Glas Wasser?«

Ein Glas Wasser war die Hauptarznei gewesen, damals ehe Laura angekommen war, und eine andre Krankheit kannte Hempel nicht an seiner Frau.

Frau Hempel schüttelte den Kopf, dann horchte sie auf und sagte:

»Kommt da jemand?«

Aber es waren fremde Schritte, die über den Hof hallten und verklangen.

»Ich werde noch ein Stück spazieren gehen«, sagte Frau Hempel. »Ich habe Kopfschmerzen.« Und sie ging rasch an Hempel vorbei und hinaus.

Er blieb in ängstlicher Verwunderung zurück. Es dämmerte schon und bald mußte das Haus erhellt werden. Hatte sie das ganz vergessen? Gewiß, zur Not konnte auch er das machen. Aber man war gewohnt, daß sie es tat. Unruhig setzte er sich für kurze Zeit auf einen der drei leeren Stühle. Er grübelte und fand schließlich heraus, daß Lina nervös sein könnte. Wie oft hatte sie von den feinen Damen erzählt, die plötzlich weinten und unzufrieden waren und über Kopfschmerz jammerten. Aber wenn sie das eine Zeitlang getan hatten und mit Kölnischem Wasser bespritzt worden waren, so wurden sie bald wieder munter, und alles war wieder vorbei.

Er hatte das Geld bei sich, das er für die Brautschuhe mit den gelben Lackspitzen bekommen hatte. Bedächtig öffnete er sein großes, schwarzes Portemonnaie, nahm einige Silberstücke hinaus und schritt durch den lebendigen Strudel des Straßendamms. Er ging in die Apotheke, um für Lineken eine Flasche Eau de Cologne zu kaufen. –

Frau Hempel lief durch den schwülen Sommerabend zum zweitenmal den langen Weg zu dem Hause mit den Türmchen. Sie mußte dem Mädchen in die Augen gesehen haben, ehe es Nacht wurde.

Um sie herum stieß sich mit Kichern und Lachen die Menschenmasse vorwärts. Die ganze Stadt feierte den warmen Festtag mit Lärm, Musik, mit Tanz und Trunkenheit. Zwischen diesem allen war irgendwo Laura mit einem Fremden. Wer mochte es sein? Das Kind kannte doch niemand? Aber braucht man mit siebzehn Jahren jemanden lange zu kennen, um mit ihm bis ans Ende der Welt gehen zu wollen?

Aus einem Vorgärtchen überschüttete sie ein Fliederbaum mit seinem Honigduft. Frau Hempel erinnerte sich auf einmal der Pfingsten ihrer eigenen Jugend. Hatte sie ihn lange gekannt, den einen, an den sie noch heute denken mußte, wenn sie besonders froh wurde? Es war nicht der gute Hempel, den sie schon lange ohne wilde Wünsche gekannt hatte, ehe sie überein gekommen waren, einige hübsche Möbel zu kaufen und zu heiraten. Ein feiner Herr war es gewesen. Nur einen Monat lang wohnte er in dem niederen Giebelhaus, der einzigen Wirtschaft des Dorfes. Es machte ihm Spaß, im Mühlbach Forellen zu fischen. Im Herbst zog er fort. Aber das Wasser rauschte weiter zwischen den Tannen dahin, und die Tage blieben auch nicht stehen. Solche feinen Hände wie die seinen sollte einmal Laura streicheln, aber nicht zum Spiel. –

Die Lichter blitzten auf in den Straßen. Auf den Dächern sprangen leuchtende Buchstaben hervor, verschwanden und kamen wieder.

Der Lärm und das Geschrei wurden stärker, der Menschenknäuel drehte sich enger zusammen. Der Abend war schwül. Frau Hempels zitternder Körper triefte.

Endlich hatte sie wieder das Haus erreicht. Viele Fenster waren erhellt, aber die Wohnung, in die Laura gehörte, lag im Dunkel. Frau Hempel schlich sich auf den Hof. Auch hier war alles schwarz, sie konnte sich die Treppen sparen.

Sie stellte sich hinter eine der feinen Marmorsäulen auf, um zu warten. In dieser Seitenstraße war es stiller. Die Paare kamen einzeln vorüber und nicht in Scharen. Sie gingen meist Schulter an Schulter, und ihre Körper berührten sich bei jedem Schritt. Frau Hempel sah scharf, und nichts entging ihr. Ein Mädchen, das neben einem Mann schlurfte, dessen Arm wie ein Ring um ihre Schultern griff, sagte, als sie bei den Säulen waren:

»Und morgen?«

»Was kümmert uns das?« antwortete der Mann mit heiserer Stimme und schleppte sie schneller vorwärts.

Frau Hempel lehnte sich gegen die kalte Säule und atmete schwer.

Sie wußte nicht, ob es spät oder früh sei. Aber dann bemerkte sie, daß hinter den Haustüren noch Licht war. Es war also noch nicht zehn Uhr.

Um die Ecke kam wieder ein Paar, doch diese beiden gingen weit voneinander. Leichtschrittig, wie man am Morgen ausgeht, lief Laura neben dem fremden Herrn auf das Haus zu.

Neben der Säule, die die Mutter verbarg, blieben sie stehen, im vollen Licht der Laterne.

Mit einem Blick hatte Frau Hempel gesehen, daß Lauras Augen groß und klar blickten, daß um den schmalen Mund noch das kindliche Lächeln lag. Dieser kleine Mund, der noch ganz derselbe geblieben war, seit sie ihn zum erstenmal behutsam zu küssen wagte, lange nachdem sie dem zarten Geschöpfchen die Brust gereicht hatte.

Laura zögerte. Sie sah zu den Dächern auf und sagte:

»Die vielen schönen Sterne. Ist es wahr, daß sie alle Namen haben?«

»Ja«, antwortete ihr Begleiter, den Frau Hempel sofort erkannt hatte. »Sehen Sie, diese sieben Sterne hier über uns nennt man den Wagen.«

»Wirklich, ich sehe die hochgestellte Deichsel«, rief Laura erfreut und lachte. Dann wurde ihr Gesicht ernst und sie sagte: »Nun muß ich aber hineingehen.«

»Ich danke Ihnen für den schönen Tag, und vergessen Sie mich nicht«, sagte der Graf leise. Rasch hatte er sich über ihre Hand gebeugt und sie geküßt und war mit schnellen Schritten davongegangen.

Frau Hempels Gesicht war naß. Sie merkte es nicht, daß diese eiligen Salztropfen auch über den gehüteten Seidenmantel liefen.

Langsam löste sie sich von ihrem Platz und ging auf die Ecke zu. Sie wollte Laura nicht sprechen. Worte machen erst etwas aus den Sachen. Sie wollte handeln. Sie wußte, daß sie bald etwas finden mußte, damit das Mädchen bei ihr bleiben konnte. Wieder sah sie das niedere Haus mit der eigenen Tür und dem großen Schlüssel vor sich, draußen weit weg von dieser gierigen, übelriechenden Stadt.

Sie ging langsam und ließ sich Zeit zum Atemholen. Es war endlich kühler geworden.

Wie schade, dachte sie, daß der Graf ein Graf und doch kein Graf ist. Sie wollte ihm doch heute oder morgen sagen, daß sie sich die heimlichen Spaziergänge mit ihrer Tochter verbitte.

Ihre Gedanken wurden gehemmt, weil Hempel im Laufschritt auf sie zukam.

Sie erzählte ihm, daß sie noch einmal bei Laura gewesen wäre, die wohl und munter sei, und daß sie auch keine Kopfschmerzen mehr habe.

Das letztere bedauerte Hempel beinahe ein wenig, und als sie nach Hause kamen, versteckte er die teure Eau de Cologne-Flasche, um sie bis zu Linas Geburtstag aufzuheben.

Frau Hempel legte rasch den Seidenmantel ab. Es schlug zehn, und das Haus mußte geschlossen werden. Als sie in den Flur kam, lag dort eine große dunkle Masse unter dem flackernden Gaslicht, und als sie näher, lief und sich niederbeugte, sah sie, daß es der alte Graf war. Die häufigen Sektproben und die vielen Gläser, die über das Kosten hinausgingen, hatten sich ihm schon lange unter die Muskeln und in die Adern gesetzt, die ihn nun plötzlich nicht einmal mehr über die Schwelle seines Heims hatten tragen wollen.

Schreckerfüllt rief Frau Hempel nach ihrem Manne, und die Gesichter voll Grausen und Mitleid, schleppten beide den schweren Körper bis zur Wohnungstür, und als die Gräfin laut aufschreiend geöffnet hatte, auch bis zum Bett. Der Arzt wurde geholt. Die Schreie der Gräfin hallten über den Hof. Dann wurden die Fenster geschlossen, und es wurde still.

Als Frau Hempel viel später als sonst das Haus verschloß, kam der junge Graf herein. Sie sagte leise und ehrerbietig:

»Ihr Vater ist krank geworden, Herr Graf.« –

*

In der Nacht hatte es wieder zu regnen begonnen. Die nächsten Tage brachten kühlen und feuchten Wind, und Blumen wie Menschen wußten nicht mehr, ob sie den schönen Sommertag erträumt oder erlebt hatten.

An einem dieser Regentage fuhr vor dem Hintereingang des Bombachschen Hauses ein einfacher Leichenwagen vor, dem eine gewöhnliche Droschke folgte. Die Leichenträger beeilten sich, aus dem strömenden Wasser unter Dach zu kommen und verschwanden erst eine Weile in Kempkes Wirtschaft. Als Kempke ihnen zu einem teuren Schnaps riet, weil sie einen Grafen holen gingen, lachten sie und sagten, daß sie sich wenig aus dem Rang der Leute machten, sondern ihnen mehr der Kassenbestand der Hinterbliebenen naheginge. Und davon sei im Hinterhaus nicht viel zu erwarten.

Hempels öffneten die Tore des Hauses, soweit es ging, und bald wurde der prunklose Sarg hinausgetragen. Hinter ihm führte der junge Graf seine Mutter. Die Pferde zogen an, und zum letztenmal fuhr der alte Graf in einer Kutsche seinen Weg, was er lange nicht mehr gewohnt gewesen war.

Hempels riegelten die Haustüren wieder zu.

»Nun braucht er sich nicht mehr um seine durchlaufenen Sohlen zu sorgen«, sagte Hempel.

Frau Hempel gab ihm recht und meinte, daß es kein Vergnügen gewesen sein muß, treppauf, treppab zu laufen, um den Leuten einzureden, daß sie Sekt kaufen sollen, und dann zu Haus nur Gejammer um die Ohren zu haben.

»Ja«, sagte Hempel, der wieder bei seiner Arbeit saß. »So recht versteh, man das immer erst hinterher.«

Es ist eine alte Sache, daß wir die allerschönsten Prädikate erst auf dem Leichenstein zugelegt bekommen, wo sie sich auch weniger abnutzen als bei beweglicheren Gegenständen.

Auch die traurige Gräfin wußte erst jetzt, daß sie einen wahren Edelmann verloren hatte. Der junge Graf mußte es immer wieder hören, von früh bis spät, und es brachte ihn, zusammen mit dem eigenen Schmerz um den Vater, fast zur Verzweiflung.

Er besuchte Herrn Bombach und bat ihn, sie früher aus der Wohnung zu lassen, als es vertragsgemäß erlaubt gewesen wäre, denn er hoffte, daß eine andere Umgebung und die Arbeit des Umzugs den Schmerz der Mutter ablenken würden. Herr Bombach bewilligte seine Bitte. Er wollte ohnedies im Gartenhaus bauliche Veränderungen vornehmen. Der gräflichen Wohnung sollten ein kleiner Balkon und eine Badestube angeflickt werden.

So öffneten sich bald darauf die Tore des Hauses noch einmal weit vor der gräflichen Familie, um ihr Hab und Gut ohne Schaden hinauszulassen.

Als Laura erst mehrere Sonntage später wieder Urlaub erhielt und mit mancherlei Neugier nach dem elterlichen Hause geeilt kam, waren die bekannten Fenster jener Gartenwohnung nichts anderes mehr als schwarze Löcher mit Scheiben.

Laura weinte bitterlich über den Tod des armen alten Grafen, und Frau Hempel störte sie nicht.

Es gibt immer Freuden, die das Gleichgewicht wieder herstellen.

Bald sollte sie Laura wieder eine Zeitlang bei sich haben. Frau Leutnant ging mit den Eltern auf Reisen, aber der Lohn wurde trotzdem gezahlt.

*

Die Sonne kam wieder, und nun ging der warme Sommer ohne Stocken vorwärts.

An einem der wärmsten Tage wurde das Fräulein aus der dritten Etage Frau Rechnungsrat. Das war nun schon die zweite Hochzeit im Jahr, bei der Frau Hempel mitgeholfen hatte.

Es wurde heißer und ruhiger in der Stadt und im Haus. Im ganzen Vordergebäude hörte man oft stundenlang keinen Tritt. Das Getrappel am Morgen war gering, denn die Herrschaften aßen jetzt ihr Brot am Meer, auf großen Schiffen, oder im Gebirge, und ihre Zeitungen folgten ihnen mit der Post.

Frau Hempel hatte weiter vieles und verschiedenartiges zu tun. Es änderte sich nichts an ihrer Meinung, daß der liebe Herrgott für jeden Tag, den er machte, auch die dazu gehörige Arbeit schuf. Sie hatte alle Schlüssel der verschlossenen Wohnungen am Schürzenband. Bei Konsuls hatte sie den Papagei zu füttern. Bei Bankdirektors zwei Kanarienvögel und ein Aquarium. In einer anderen Wohnung die Schildkröte und den Salamander eines Tertianers. Auf einem Balkon drehte sich ein Eichkätzchen, das von ihr seine Nüsse verlangte. Im Gartenhaus arbeiteten bei Gesang und Weißbier die Maurer und sorgten für Kalk- und Staubpulver, so daß der Besen nicht aus ihrer Hand kam. –

Aber jeden Sonntag dachte sie an das kleine Haus mit dem eigenen Dach und dem eigenen Schornstein. Sie fragte auch einmal, ob Laura nicht wieder das Mädchen vom Lande gesprochen hätte. Laura erzählte, daß diese ihr das Hemd schön gewaschen und geplättet wiedergegeben habe, wobei sie berichtete, daß es ihr Glück gebracht hätte. Im nächsten Frühling, wenn ihr Bräutigam frei vom Militär sein würde, sollten sie in ihrer Heimat heiraten.

An einem gewöhnlichen Wochentag, als Laura allein vorm Haus saß und die dicken Winterstrümpfe des Vaters stopfte, für die die Mutter noch keine Zeit gefunden hatte, kam zwischen den anderen Fußgängern Graf Egon daher. Er trug denselben hellen Anzug, in dem er neben Laura an dem von Libellen überflogenen See gesessen hatte. Aber auf dem Rockärmel saß ein breiter Trauerstreifen.

Graf Egon kam ernsthaft auf Laura zu, der die Stopfnadel in der Hand zu schwingen begann wie eine Magnetnadel. Aber sie bemerkte ihn nicht früher, bis er vor ihr stand, den Hut zog und ihr mitteilte, daß er für Meister Hempel ein Paar Stiefel zum Besohlen habe. Darauf fragte er Laura, ob sie ihn überhaupt noch wiedererkenne oder schon ganz vergessen habe.

Laura erwiderte, daß sie noch ganz genau wisse, wer er sei.

Der Graf fragte weiter, ob sie noch manchmal an den schönen Sommertag zurückdenke, der für ihn so furchtbar traurig enden sollte.

Laura nickte und sagte, daß sie seitdem nicht wieder im Freien gewesen sei. Und daß sie auch an manchem Abend zwischen den Sternen nach dem Wagen ohne Räder suchte, daß man aber hier in dieser Straße die Sterne viel schlechter erkennen könne.

Nun entstand eine Pause, und Laura fragte, ob sie den Vater rufen sollte, damit der Herr mit ihm über die Stiefel spreche. Da zeigte es sich, daß der junge Graf sie gar nicht mit sich hatte. Wenn er nicht in tiefer Trauer gewesen wäre, hätte Laura darüber lachen müssen.

»Dann muß ich wieder gehen«, sagte der Graf und bedauerte, daß er die Stiefel nicht ein anderes Mal bringen könne, weil er bald mit seiner Mutter fortziehen werde, in dieselbe kleine Stadt, wo er früher wohnte. Aber Laura sollte ihn und den schönen Sommertag nicht vergessen, bis sie wieder einmal einen guten Tag zusammen verleben würden. Sie sollte ihm die Hand darauf geben. Das tat sie, und trotzdem die Großstädter immer Eile haben, beeilte er sich gar nicht, sie wieder loszulassen. Schließlich war er gegangen, und Laura zog die schwingende Nadel durch den braunen Wollstrumpf. Leider gerade da, wo er nicht den geringsten Schaden aufwies.

Die Tage begannen kürzer zu werden und gingen um so rascher davon, je älter der Sommer wurde. Ehe man sich's versah, trugen die Automobile die Koffer der Heimkehrenden auf dem Rücken, die Fenster der Vorderhäuser öffneten sich wieder, und die Treppen knarrten vom frühen Morgen an.

Bald scheuerte der erste Regen die letzten spärlichen Sommerspuren aus der Großstadt. Die Konzerte in den Gärten verstummten, Gicht und Rheumatismus kehrten zu ihren Inhabern zurück, die Bäume schüttelten ihre nassen Blätter ab, und die Kohlen stiegen im Preise.

Frau Hempel kaufte ihrer Laura ein Paar spiegelblanke Gummischuhe, da es mit den Gummirädern bisher nichts geworden war und sie viel zu Fuß gehen mußte. Das Haus mit den beiden Gärten verschwand wieder unter der kahl gewordenen Erde, denn im Winter schrumpfen die Menschen und ihre Wünsche zusammen. Auch hatte Frau Hempel noch eine Beschäftigung mehr für ihre reich beladenen Stunden bekommen: ein großes Ofenbecken in dauerndem Brand zu erhalten. Diese allgemeine Heizung war ebenfalls im Sommer eingebaut worden, nicht weil sie schon lange der lebhafte Wunsch sämtlicher Mieter gewesen war, sondern weil Herr Bombach meinte, daß sein Sohn Anspruch auf eine gleichmäßig erwärmte Wohnung erheben konnte.

So kam der Winter in vollen Gang. Es wurde tüchtig kalt. Das Quecksilber kroch bis unten ins Thermometer, als ob es einen Ausweg suchte, um davonlaufen zu können. Aber man ist im Winter auf dem Weg zum Frühling, und je kürzer die Tage sind, je näher ist man auch der Zeit wo sie wieder länger werden müssen.

An diesem Rechenexempel erwärmte sich Frau Hempel durch die kalten dunklen Winterstunden. –

Werden und müssen sind die treuen Hilfsverben der Hoffnung. Aber es gibt Zeiten, wo man auch an ihrer Zuverlässigkeit zweifeln könnte. Es hätte längst Frühling sein müssen, als Hempel Schmerzen im rechten Oberarm bekam und das beruhigende Ticktack des Hammers verstummte. Hempel saß umwickelt mit Tüchern in einer dunklen Ecke und sagte, daß altes Leder zu nichts mehr tauge.

»Wir haben nur zu lange in diesem Kellerloch gesteckt«, beruhigte ihn Frau Hempel, während sie ihm wieder eine Tasse heißen Kaffees reichte. Aus dem Dunst der braunen Flüssigkeit stieg wieder das rotbedachte Haus mit den beiden Gärten aus Schnee und Eis hervor.

Auch Hempel grübelte in diesen Stunden, wo die vergangenen Jahre in seinen Knochen knackten, wie man zu besseren Tagen kommen könnte.

»Sieh dir doch einmal die neumodischen Gegenden an, Lineken«, sagte er, »da bekommen wir vielleicht eine Wohnung zu ebener Erde.«

Frau Hempel schüttelte den Kopf.

»Da gibts für mich keinen Pfennig extra«, antwortete sie. »Der Müll rennt allein auf den Hof, die Teppiche klopft eine Maschine, Kohlen braucht man keine zu tragen, denn sie kochen mit Gas und plätten elektrisch. Da macht sich alles von selbst. Von deinen paar Stiefelabsätzen können wir nicht leben, und Neubestellungen gibt es da nicht. Dazu kommen sich die Menschen in solchem Hause viel zu vornehm vor. Sie kaufen in den großen Geschäften, wo jeder Stiefel auf Samt steht und sich von allen Seiten im Spiegel begucken kann.«

Wenn sie so viel gesprochen hatte, mußte sie wieder zu ihrer Arbeit eilen, und Hempel blieb nachdenklich zurück.

»Wenn auch ich einmal ein Stückchen Los kaufte, und mein Glück versuchte«, sagte er ein andermal ein wenig kleinlaut, denn er hatte immer über das Lotteriespielen geschimpft.

»Wenn du nicht auch die richtige Nummer weißt, laß es lieber bleiben«, sagte Frau Hempel, die am Boden kauerte und die Diele scheuerte. »Ich will dir nur sagen, ich glaube nicht mehr daran.«

Und sie rechnete ihm vor, daß sie in 20 Jahren 500 Mark verspielt habe, die sie jetzt auf der Sparkasse hätte haben können.

»Wieviel hast du denn auf der Sparkasse, Lineken?« fragte Hempel vorsichtig. Er wartete schon lange auf eine Gelegenheit zu dieser Frage.

»Das hab' ich im Augenblick nicht so im Kopf«, sagte Lina. Dagegen fiel ihr im selben Augenblick ein, daß sie zu Bombachs hinaufkommen sollte. Sie stellte den Besen an die Wand und ließ Hempel und seine Mutmaßungen allein.

Oben wurde sie vom Hauswirt selbst empfangen, der sich nach Hempels Befinden erkundigte und zu heißen Bädern riet, die heilend und lindernd wirken würden. Er wollte ihnen erlauben, in der leerstehenden Wohnung des Gartenhauses jeden Morgen die neue Badewanne zu benutzen.

»Wenn nur die Kohlen nicht so teuer wären«, sagte Frau Hempel, wahrscheinlich um Herrn Bombachs Güte auf die Spitze zu treiben.

»Nun, diese paar Pfennige werden Sie schon für Ihren fleißigen, treuen Mann übrig haben«, meinte Herr Bombach verweisend. »Also heizen Sie ihm jeden Morgen ein Bad, und dann säubern Sie natürlich wieder Stube und Wanne aufs schönste. Sie werden sehen, wie gut ihm das tun wird.«

Frau Hempel erzählte Hempel von der Gunst des Hauswirts, die ihr nicht anders als ein fauler Spaß schien.

Sie wußte nicht, daß Krankheit den Menschen verändert. Hempel bestand sofort auf seinem Bad, denn er wollte wieder gesund werden. Er tat seiner Lina viel zu leid, als daß sie seinen Wunsch hätte abschlagen können.

»Versuchen wir's«, sagte sie und schleppte auch schon einen Eimer Kohlen über den Hof.

Als sie dem Kranken ins Bad half, sagte sie:

»Du alter Schrumpel, nun gib dir Mühe, daß dich das herrschaftliche Bad gesund macht«, und sie lachte wieder einmal ihr altes vergnügtes Lachen.

*

Wasser und guter Wille sind gewiß gute Heilgehilfen, aber es mußte doch erst Frühling werden, ehe Hempel den Hammer wieder schwingen konnte.

Endlich kam auch wieder ein Sonntag, wo man die Stühle vors Haus setzen konnte, um sich ein Teilchen Sonne zu holen.

Laura kam zu Besuch und sagte:

»Mutter, der Frühling ist da«, und sie küßte den Vater, weil er wieder gesund war.

Hempel lächelte zufrieden und sagte, daß man es jetzt wenigstens merke, wenn es Sonntag sei.

In seinem Gesicht hatte der schmerzhafte Winter manche Rune hinterlassen. Als er sich mit Behaglichkeit das erste Pfeifchen anstecken wollte, kam Frau Kempke laut weinend aus ihrem Laden auf ihn gestürzt. Sie hatte über ihr hellrotes Sonntagskleid ein schwarzes Tuch gelegt. Jeder konnte von weitem sehen, daß da etwas Trauriges geschehen war. Man ging in den Keller hinunter, und hier erzählte Frau Kempke, daß ihre Schwester Witwe geworden wäre.

Da Hempels diese unglückliche Frau nicht kannten, waren sie in der verlegenen Lage ohne Worte, in die man immer gerät, wenn man an der Trauer oder Freude eines anderen nicht teilnehmen kann.

»Was war denn der Tote?« fragte Frau Hempel schließlich.

»Schwimmlehrer«, schluchzte die Gefragte.

»Das ist kein alltäglicher Beruf«, sagte Hempel tröstend.

Endlich nahm Frau Kempke eine Tasse Kaffee und begann zusammenhängender zu erzählen.

Es schien, als ob die unglückliche Schwester nicht nur ihren Mann, sondern auch ihr Vermögen verloren hätte. Klarheit in den Worten ist nicht jedermanns Sache, und soviel Hempels aus der erregten Rede ihrer langjährigen Nachbarin errieten, war es leichter, wieder zu einem Mann zu kommen, als zu einem Vermögen. Insbesondere für diese Schwester, die ein Oberkellner vom Fleck weg heiraten wollte, denn er kannte sie schon lange, und sie hatte noch einen wundervollen Busen. Aber der Mann wollte sie nach Amerika mitnehmen. In drei Wochen wollte er auf ein Schiff als Kellner übers Meer gehen, und die Witwe sollte ihn begleiten. Vorher aber mußte die arme Brautwitwe ihre ganze Bude verkauft haben, sonst gingen Schiff und Kellner ohne sie.

Hier unterbrach Frau Hempel die zickzackige Rede und fragte:

»Was für eine Bude?«

»Nun, doch die Schwimmanstalt«, antwortete Frau Kempke beleidigt, denn sie hatte schon früher einmal von ihrer Schwester erzählt.

Hempel und Laura gingen wieder hinaus vor das Haus, und die Frauen blieben allein.

Der Kaffee wurde zum drittenmal eingeschenkt, und Frau Kempke fragte tränenüberströmt, ob Frau Hempel Zichorie daran nehme, denn er schmecke besonders gut und kräftigend.

Frau Hempel sagte, daß sie immer die allerbeste Zichorie zusetze. Und dann kamen sie wieder auf die Schwimmanstalt zurück. Es gehörte ein kleines Wohnhaus dazu, zwei Stuben und eine Küche. Vorn war ein kleiner Garten mit Sonnenblumen und hinten einer mit Schnittlauch und Petersilie. Nun war das ganze für einen Spottpreis zu verkaufen. Wer Zugriff, machte sein Glück.

Frau Hempel, die sehr blaß aussah, fragte, warum Kempkes nicht zugriffen.

Frau Kempke erwiderte, daß sie kein Bargeld besäßen, und auch zeitlebens an Spiritus und nicht an Wasser gewohnt seien.

Als Frau Kempke endlich ging, wieder in der Farbe der Freude, denn das schwarze Tuch war zu Boden geglitten, ohne daß es jemand bemerkt hatte, war der Kaffeetopf leer und Frau Hempel hatte versprochen, mit Frau Kempke hinauszufahren, um sich das alles anzusehen. Vielleicht konnte sie einen Käufer finden.

Wir wissen immer, was wir tun wollen, aber nie, was wir tun. –

Es ist nicht unmöglich, daß der größte Fehler in dem Aufbau unseres Lebens darin liegt, daß wir den meisten Mut zur Ausführung unserer Entschlüsse im Frühling haben. In den wenigen Tagen des Jahres, wo alle Mädchen schön und alle Häuser neu aussehen, wo alles noch einmal so leicht und gut zu sein scheint als sonst.

Als sich Frau Hempel neben Frau Kempke, die nun ein hübsches Trauerkleid trug, der Badeanstalt und dem kleinen Hause näherte, war alles so in Sonne gebadet und von würzigem Erdgeruch überströmt, daß es wenige gegeben hätte, die nicht Besitzer dieser Pracht hätten werden mögen. Frau Hempels Augen, die an das Halbdunkel des Kellers gewöhnt waren, wurden fast geblendet.

Das Wasser des Sees leuchtete klar und frisch und spiegelte die Sonne wieder. Die Badeanstalt war neu gestrichen, hellgrün mit rosa Streifen, als ob der Frühling selbst sich um sie bemüht hätte. Die Witwe aber, die am Arm des Oberkellners neben Frau Hempel herschritt und alles bereitwilligst erklärte, sagte: »Dies hat der Tote noch selbst gemalt.« Sie war Frau Hempel als Frau Godowsky vorgestellt worden. Der Mann war aus dem Polnischen gewesen. Von dem Kellner erfuhr Frau Hempel nur den Vornamen. Er hieß Franzi. Er war sehr liebenswürdig und berichtete, daß man für die nebenstehende Wiese, die Frau Hempel erst jetzt bemerkte und die auch zum Ganzen gehörte, eine polizeiliche Erlaubnis besaß, wonach man Volksbelustigungen darauf veranstalten dürfe. Auch früher hätten hier Karusselle und Buden gestanden, und wer verstünde, das alles hier in Gang zu bringen, hätte das große Los gezogen.

»Hier könnte das größte Vergnügungsetablissement der Welt entstehen«, sagte er und fuhr mit einer großen Handbewegung wie ein Zauberer über die sumpfige Grasfläche.

»Aber warum haben Sie alles so liegen lassen?« fragte Frau Hempel und sah Frau Godowsky erstaunt an.

»Weil er trank«, antwortete diese dumpf. »Weil niemand bei ihm schwimmen lernen wollte aus Furcht, er würde sie im Trunk ertrinken lassen. Weil er alles versoff. Wäre der See hier nicht aus purem Wasser, er hätte keinen Tropfen davon übrig gelassen.« Sie zog ihren Arm zwischen Franzis Ellbogenbeuge hervor, holte ihr Taschentuch heraus, das einen breiten Trauerrand hatte, und weinte.

Vor dem kleinen Haus standen Bank und Tisch. Man trank Kaffee und einen Likör, den Frau Kempke mitgebracht hatte. Ehe es Abend wurde, hatte Frau Hempel erfahren, daß man für etwas weniger, als alle ihre Sparkassenbücher zusammen betrugen, diese ganze Schönheit mit Gegenwart und Zukunft kaufen konnte. Man hatte auch davon gesprochen, daß ein Schuhmacher hier ein reicher Mann werden müsse, denn er würde die Stiefel aller Badegäste in Ordnung bringen können, und im Winter, wenn man hier eine Eisbahn eröffnete, noch mehr Stiefel unter die Finger bekommen.

Man konnte schwindlig werden von der Fülle dieser Glücksmöglichkeiten, und Frau Hempel wurde übel, als ob sie zu viel Kartoffelpuffer gegessen hätte, was leicht einmal geschah, weil sie ihr Lieblingsgericht waren.

Als die Sonne schräg stand und Frau Kempke zum Aufbruch mahnte, sagte Frau Hempel, daß sie vielleicht einen Käufer wisse, sie werde in drei Tagen Bescheid geben.

*

Zu Haus wurde Frau Hempel mit Freude empfangen. Hempel hatte an diesem Tage, wo er alles allein zu versehen hatte, wieder einmal gemerkt, wieviel seine Frau zwischen Morgen und Abend zu schaffen hatte.

Frau Hempel entledigte sich schweigend der kostbarsten Teile ihres Sonntagsstaates, und dann schnitt sie sich eine dicke Brotschnitte ab, die sie mit geübter Hand voll Schweineschmalz strich. Erst als sie einen großen Bissen im Mund hatte, sagte sie, es sei schade, daß Hempel nicht hätte mitkommen können. Es gab viel Schönes zu sehen. Hempel hämmerte an einem Holzpantoffel und sagte, daß er sich nicht um anderer Leute Stiefel kümmere und er es drollig fände, daß sie nur aus Neugier am Wochentag aufs Land führe. Aber wenn sie ihren Spaß dabei gefunden hätte, wär's ja gut.

Frau Hempel biß ruhig noch einmal in die große Schnitte und begann dann zu erzählen.

Hempel hob den Kopf, und der Hammer klopfte langsam. Die Schilderung der bunten Badeanstalt und des klaren Sees, des freundlichen Häuschens und der vielen frischen Luft, die da überall ringsherum war, erregten allmählich seine Anteilnahme.

»Und weißt du, wer das Ganze kaufen wird?« fragte Lina plötzlich. »Ich.« – Sie stand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Brotmesser in die Höhe schnellte wie ein sterbender Fisch.

»Lina«, schrie Hempel, »bist du verrückt geworden? Wir Kellerratten?!«

»Ja«, schrie Lina, »wir Kellerratten. Wir wollen endlich Luft und Sonne haben. Wir wollen nicht mehr jeden anlächeln, der uns nachts aus dem Schlaf klingelt. Ich will nicht mehr. Ich will nicht, daß mein Kind das Sonntagsvergnügen eines Herrchens wird. Ich will's nicht, ich will's nicht.«

Sie sank auf einen Stuhl, ihre Stimme war heiser geworden, und sie begann laut zu schluchzen.

Hempel war aufgestanden. Er zitterte an seinem ganzen elenden Körper, Schritt für Schritt näherte er sich ihr, und schließlich wagte er es doch, mit seinen mageren gebogenen Fingern über ihre breiten, harten Hände zu fahren, dieses starke Werkzeug, das alles geschafft hatte. –

Ehrlicher Tränen schämt man sich. Als sich Frau Hempel ihrer bewußt wurde, stand sie rasch auf und trocknete sich flink diese unangenehme Feuchtigkeit aus dem Gesicht. Dann ging sie an die Kommode, bückte sich und holte ihre gehaltvolle kleine Bibliothek hervor. Hempel mußte sich setzen, als sie darin zu blättern begann und diese Heerscharen von Ziffern und Nullen an seinen flimmernden Augen vorbeimarschierten.

»Lineken, wie ist das nur möglich gewesen?« murmelte er.

»Jetzt wundere ich mich auch«, sagte Lina und lächelte weich und glücklich.

»Es will gar nicht in meinen Kopf hinein«, sagte Hempel und sah ganz hilflos aus.

Sie sprachen noch viel miteinander. Hempel hatte Angst, daß er Schwimmlehrer werden müsse. Aber Lina beruhigte ihn und sagte, daß er weiter bei seinen Leisten bleiben könne. Frau Godowsky würde ihr alles erklären, und sie traue es sich schon zu, die nasse Wassergeschichte in Betrieb zu bekommen.

»Bin ich hier fertig geworden, werde ich es auch da werden«, sagte sie. »Die Menschen kenn' ich nun.«

Dann plauderten sie weiter. Laura sollte an der Kasse sitzen, in den niedlichen Blusen, und mit feinen blanken Fingernägeln Billette austeilen und Geld einnehmen. Später, wenn das Weltetablissement erst im Schwung wäre –»Hempels Wunderpark« oder so ähnlich werde man es nennen müssen –, wird das Geld in Massen zusammenströmen. Und wieder später, wenn man das Ganze mit Riesengewinn verkauft hätte und Laura längst als Dame mit Mann und Kindern lebte, könnte man sich irgendwo eine Villa kaufen und seine Tage in Ruhe beschließen.

So redeten sie bis spät in die Nacht hinein, bis sie sich schließlich gar nicht mehr bewußt waren, daß diese reichen Leute, deren Schicksal sie hier formten und kneteten, sie selber waren. –

Den kommenden Sonntag benutzten Hempel und Laura, um hinauszufahren und alles in Augenschein zu nehmen.

Dann sollte endgültig beraten werden.

Frau Hempel saß allein vor dem Haus, und während sie die von Staub umwirbelten Menschen betrachtete, verfolgte sie die beiden auf ihrer Fahrt. Jetzt gingen sie wohl den sandigen Weg zwischen den knospenden Bäumen, der vom Bahnhof zum See führte, und sahen schon mit erstaunten Augen die bunt bemalte Badeanstalt.

Dann sann sie wieder auf Namen für den großen Vergnügungspark. So flogen die Stunden dahin.

Sie war gerade mit dem Gasanzünden im Gartenhause fertig, als sie sie kommen hörte, und eilig lief sie über den Hof, den Anzünder wie eine brennende Fackel schwingend.

Sie waren beide sehr zufrieden. Hempel sah ganz flott und verjüngt aus. Er hatte einen grünen Zweig an dem Hut und eine Wiesenblume im Knopfloch.

»Ach, Lineken«, sagte er, »ein Glas Bier ist doch erst ein Glas Bier, wenn man's im Freien trinkt.«

Laura hatte glänzende Augen.

Sie hatte im See die Frösche musizieren hören, und das hatte sie an einen schönen Sommertag erinnert.

»Wenn wir da wirklich wohnen könnten, Mutter«, sagte sie und umarmte sie und gab ihr einen festen Kuß. »Aber da mußt du erst auf der Polizei angeben, wohin wir ziehen, damit, wer uns sucht, uns auch findet,« setzte sie dann hinzu und gab der Mutter noch einen Kuß.

So fügte sich eins zum andern, damit Frau Hempel das neue Eheglück der Witwe fördern half. Man erklärte ihr den Betrieb von Schwimmanstalt und Eisbahn. Sie unterschrieb den Kontrakt und gab schließlich mit dem ganzen Mut ihres Herzens alle die kleinen, unberührt sauberen Heftchen hin, bis auf ein einziges. –

Man plant viel, aber was man tut, hat man niemals gewollt.

*

Jedem großen Geschehnis folgt ein Rückschlag. Frau Hempel wurde schweigsam. Wo sie auch im Hause war, sah sie die leere Stelle in dem Kommodenschub vor sich. Es wurde ihr nicht recht klar, daß sie nun dafür ein Stück Wiese mit einem See und einem Hause auf dieser Erde besaß. Noch war auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Ehe sie ihren alten Posten verlassen durfte, sollte das ganze Haus von vorn und hinten gründlich geputzt und gescheuert werden.

Als sie Herrn Bombach um ihre Entlassung gebeten hatte, weil sie die Besitzerin einer Schwimmanstalt geworden war, hatte er sich solche Scherze verbeten und mehr Respekt verlangt.

Frau Hempel erwiderte, sie glaube schon, daß es Herrn Bombach schwerfalle, etwas zu glauben, das nicht alle Tage vorkäme, aber was wahr sei, sei wahr. Er könne es schwarz auf weiß lesen. Dann bat sie ihn, früher ziehen zu dürfen, falls sich Ersatz für sie finden würde.

Herr Bombach war außer sich über diese Störung des regelmäßigen Lebens.

»Man soll niemanden für gewissenhaft halten«, rief er, als er zu Minchen ins Zimmer kam, die gerade ihren Frühlingsgefühlen nachgab und in einem Reiseführer blätterte. Auch sie erschrak, als sie die sonderbare Neuigkeit erfuhr. Würde ihnen die Reise dieses Jahres gut bekommen können? Werden sie nicht in beständiger Unruhe sein, wenn sie das Haus in fremden Händen zurücklassen müßten? Es war Herrn Bombach klar, daß die monatliche Bezahlung von 50 Mark, die er Hempels außer der freien Wohnung gewährt hatte, zu hoch gewesen war. Er beschloß, dem neuen Portier keinesfalls mehr als 40 Mark zu geben. Die Aussicht auf diese kleine Ersparnis brachte ihn schließlich wieder ins Gleichgewicht. Denn jeder Charakter hat seine eigene Waage, um seinen Besitzer in der Balance zu halten.

Frau Hempel forschte in der Nachbarschaft nach einer Ablösung. Kein Mensch ist unersetzlich, und eines Tages kam in der Dämmerstunde eine große, breite, kräftige Frau und sagte, daß sie die besten Empfehlungen habe und gern die Nachfolgerin von Frau Hempel werden wollte. Diese musterte ihr Gegenstück und wußte sofort, daß sie dieser mächtigen Gestalt irgendwann einmal, einen sehr unangenehmen Augenblick lang, gegenübergestanden hatte. Die Frau begann unter diesem forschenden Blick zu lächeln und sagte, daß Frau Hempel ihr jene Meinungsverschiedenheit von damals nicht nachtragen solle, denn auch in ihrem Berufe sei es schwer, es jedermann recht zu machen. Da entsann sich Frau Hempel. Es war die Wahrsagerin.

»Werden Sie denn genug Zeit für das Haus übrig haben?« fragte sie. »Es ist sehr groß. Viel Zeit zum Sitzen und Kartenlegen bleibt da nicht.«

Die andere nickte. Sie war ernst geworden und sagte, daß die Polizei ihren Beruf sehr erschwere. Wahrscheinlich, weil sie selbst alles besser wissen wolle.

»Ich werde Zeit genug für dieses große Gebäude haben«, sagte sie traurig.

Frau Hempel wollte vor allen Dingen bald frei werden und schlug darum vor, daß sie zusammen zum Wirt gehen könnten.

»Das mit der Wahrsagerei brauchen Sie ihm ja nicht auf die Nase zu binden«, sagte sie.

»Da haben Sie recht. Das ist schließlich meine Privatsache«, antwortete die andere. Dann stiegen sie schweigend die beiden Treppen hinauf.

Herr und Frau Bombach nahmen ihre Brillen aus dem Futteral und schalteten ihre zweite Jugend auf eine halbe Stunde aus.

Das Format der Frau gefiel ihnen, weil sie es von Frau Hempel her so gewohnt waren. Mit dem herabgesetzten Preis von 40 Mark wollte sich die große Frau begnügen, was auch zufriedenstellend war.

Man fragte nun nach ihrem Mann. Sie sagte, er wäre klein, aber tüchtig. Nur hätte er leider vor einigen Jahren ein Bein durch ein übereiliges Automobil verloren. Aber der Besitzer des Kraftwagens war ein Mann mit großem Vermögen. Er hatte ihm zwei Holzbeine machen lassen, eins für die Woche und eins für den Sonntag, und ihm eine jährliche Rente ausgesetzt. Davon lebten sie jetzt. Als sie sich verheirateten, hatte er Hühneraugen geschnitten.

Herr Bombach schüttelte den Kopf. Er war Gewohnheitsmensch. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn der Mann zwei Beine gehabt hätte und Schuster gewesen wäre. Er sagte das auch der Frau.

Diese erwiderte, daß kein Mensch für sein Unglück könne, und daß nichts ganz so sei, wie man es sich wünscht. Und schließlich hätte der Mann doch einen ähnlichen Beruf gehabt wie Herr Hempel, indem er sich auch mit den Füßen der Leute beschäftigt hatte.

Die Frau verstand zu reden, und Frau Hempel fürchtete schon, daß Herr Bombach erraten würde, daß er eine Wahrsagerin vor sich habe.

Als sie nun selbst um ihre Meinung gefragt wurde, sagte sie ehrlich aus, daß sie über die Frau nichts anderes gehört habe, als daß alles, was sie sage, wahr sei.

Bombachs überlegten es sich drei Tage. Sie ließen sich auch den Mann zur Ansicht kommen, und dann stellten sie das Paar als Hausverwalter an.

Die tüchtige Frau hatte dieses Ergebnis schon nach der ersten Unterredung geweissagt. Ohne eine besondere Vergütung dafür zu nehmen, sagte sie zu Frau Hempel:

»Passen Sie auf, das wird etwas«. Auch als sie die angenehme Nachricht von Herrn Bombach erfuhr, gab sie eine Gratisprobe ihres geheimen Berufs und prophezeite ihm, daß er seinen Entschluß niemals bereuen werde.

Ja, wenn man immer wüßte, wer vor einem steht. –

Noch zwei Wochen, und Hempels sollten frei sein. Von früh bis spät abends wirtschaftete Frau Hempel mit Scheuertuch und Wassereimer durchs Haus. Am Sonntagmorgen aber machte sie sich fein und fuhr zu Lauras Dienstherrschaft, um Lauras Dienst zu kündigen. Laura hatte sie darum gebeten, weil sie selbst nicht den Mut dazu fand.

Sie nahm die Straßenbahn. Um diese Stunde war sie noch niemals unterwegs gewesen. Die Wagen waren nicht überfüllt, und alles sah noch blank und frisch aus, wie der neue Sonntag selbst. Sie fand es wunderhübsch, bequem auf seinem Platz sitzen zu können zwischen festlich gekleideten Menschen. Durch alle Scheiben fiel die Sonne. Die Straßen waren ruhig. Klingelnd sauste die Bahn ihren Weg. Viele der Mitfahrenden hatten in der Hand schwarze, kleine Lederbücher mit dem Kreuz in Gold darauf. Sie fuhren also in die Kirche. Frau Hempel dachte, daß es recht nett sein müsse, wenn man so viel Zeit übrig und keine Arbeit auf das Kreuz gebuckelt hätte, um in seinen guten Kleidern still im Halbdunkel der Kirche sitzen zu können und die Orgel spielen zu hören. Vielleicht würde sie nun auch bald dazu imstande sein. Daß man damit auch gleich dem lieben Herrgott eine Freude machen wollte, schien ihr beinahe zu viel des Guten auf einmal.

Als sie bei der Herrschaft ihrer Tochter anlangte, war die gnädige Frau gerade aus dem Bade gestiegen und wurde von Fräulein Hammerspecht frisiert. Laura hatte ebenfalls zu tun. Frau Hempel wurde gebeten, in der Küche Platz zu nehmen.

Nach einer Weile kam Ida durch die Tür. Frau Hempel erinnerte sich im gleichen Augenblick, daß ihr Laura erzählt hatte, wie traurig und verändert Ida jetzt sei.

Das Mädchen erschrak sichtlich, als sie Frau Hempel unvermutet vorfand, zwang sich aber zu einem Lächeln und sagte:

»Sieht man sich auch einmal wieder?«

Sie trug eine weite, lange Ärmelschürze, die sie sehr breit machte und ihr Gesicht, das früher rund gewesen war, noch spitzer erscheinen ließ.

Frau Hempel sah sie voll Mitleid an.

»Wo fehlt's denn, Idachen?« fragte sie. »Wissen Sie noch, wie lustig wir waren, als wir das neue Bett für Bombachs Erben aufstellten?«

Ida nickte und sagte ohne Lächeln:

»Ja, solch ein Kinderbett, man hat's manchmal schneller nötig, als man glaubt.«

Und plötzlich brach sie in Tränen aus und setzte sich Frau Hempel gegenüber. Mit erschreckten Augen sah diese auf den braunen Lockenkopf, der vor ihr auf dem Tisch lag, auf den gebeugten Rücken, der vom Weinen geschüttelt wurde.

Das Sprachrohr klingelte heftig, und die gnädige Frau ließ Frau Hempel ins Zimmer bitten.

»Wenn Sie sich selbst nicht zu helfen wissen, denken Sie an mich«, rief Frau Hempel schnell und eilte hinaus.

Als Frau Leutnant Frau Hempels närrische Botschaft hörte, wurde sie noch ärgerlicher als ohnedies an jedem Sonntagmorgen, denn da war der Hausherr dienstfrei, und es gab immer denselben kleinen Streit. In der Ehe wird eben alles leicht zur Gewohnheit. Jedesmal sagte der junge Ehemann, sobald Fräulein Hammerspecht klappernd auftrat, daß seine Mutter siebzig Jahre alt sei und sich noch selbst frisiere. Jedesmal antwortete die junge Gattin, daß sie herzlich bedauerte, daß er nicht seinesgleichen geheiratet habe. Sie trällerte dann: »ein Mädchen, edel aber arm, und dennoch tugendhaft«. Das war das Signal dafür, daß Herr Leutnant für den Vormittag im Rauchzimmer verschwand. Eben war die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen.

»Was in aller Welt wollen Sie mit einer Badeanstalt?« rief die gnädige Frau, die in einem tiefen Lehnstuhl lag. »Woher haben Sie denn das Geld dazu?«

»Nicht gestohlen, gnädige Frau«, sagte Frau Hempel und merkte, daß man in Glacéhandschuhen nicht die Faust ballen konnte.

»Ich finde es höchst undankbar, daß Laura nicht bei mir bleibt und mir diese Unbequemlichkeit macht.«

Frau Hempel sagte, daß es nicht Lauras Schuld wäre, und daß sie als Mutter es so wünschte, weil ein Kind zu seinen Eltern gehöre.

Aber die Unterhaltung wurde erregter und gespannter, und sie endete damit, daß die gnädige Frau ausrief, daß Laura ebensogut heute gehen könne, als in vierzehn Tagen. Sie danke für die Nähe eines solchen rücksichtslosen Wesens.

Lauras Sachen waren rasch gepackt. Ein Dienstmann sollte sie am andern Tage holen. Als sie auf die Treppe traten, sagte Frau Hempel zwischen den Zähnen hindurch zu Laura:

»Wenn du jetzt heulst, kriegst du eine Ohrfeige«, und lächelnd gingen sie an der Portiersfrau vorüber.

So war Laura auch auf ihrem zweiten Posten hinausgeworfen worden, und es schien wirklich, als ob sie nicht zum Dienstmädchen geboren wäre. –

Jedenfalls konnte Frau Hempel jetzt ihre Hilfe brauchen. Die Tage vergingen im Fluge, und rasch war der Augenblick da, wo alles, was diese lange Reihe von Jahren im Keller gestanden hatte, verschnürt auf der Straße stand und auf einen Wagen geladen wurde.

Frau Hempel, halb schon im Kleid einer Hauseigentümerin, halb noch mit der Schürze ihres bisherigen Amts bekleidet, fegte noch geschwind den letzten Staub aus den leeren Kellerräumen. Sie wollte ein reines Andenken hinterlassen. Die neuen Mieter, ihre Nachfolger, warteten schon. Und der kleine, aber tüchtige Mann hatte sein Reserveholzbein bereits behutsam in einen Kellerwinkel gestellt, weil man mit guten Sachen vorsichtig sein muß.

Nachdem der Wagen mit dem Hausgerät abgefahren war, nahmen auch Hempels Abschied.

Trennung verschönt. Wie hübsch und fein und neu sah das große Haus aus, wo sie während so vieler Jahre glücklich gewesen waren. Oben grüßten Herr und Frau Bombach, die, durch einen leichten Tränenflor gesehen, noch nicht die schlechtesten Brotgeber waren, unten winkten die große Wahrsagerin und ihr kleiner Mann.

Als sie um die Ecke biegen mußten und das Haus ihren Blicken verschwand, sagte Hempel:

»Es muß eine gruslige Sache sein, einen Schuh für einen Holzfuß zu machen.«

Alle drei sprachen sehr lebhaft und ohne sich anzusehen von der Abscheulichkeit der Holzbeine. Bis sie endlich im Zug saßen und ruhiger wurden und sich wieder auf das Neue zu freuen begannen.

Man kann aus jedem Holze Brücken bauen.


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