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Toni saß in der Livree auf dem Kutschbock neben Niels. Toni hatte versucht, von dem ehrenvollen Auftrag, Ihro Gnaden an der Station abzuholen, befreit zu werden. Aber der Befehl des Barons erwies sich als unwiderruflich. Und so mußte Toni seine glänzende Bedientenlivree hervorsuchen, die schon jahrelang nicht mehr in Gebrauch gewesen war.
Na, bisher war es gegen alle Vermutung glücklich gegangen. Die Dompropstin war die Sanftmut selbst. Mit einem kleinen flüchtigen Klaps auf die Schulter des Italieners hatte sie gesagt: »Comment vous portez-vous, mon cher monsieur? Et votre bon seigneur?« – Dann war sie zum Schwedischen übergegangen und hatte sich nach Vickberg, Luise und Blenda erkundigt. – »Et votre beau garçon? Comment s'appelle-t-il? Jacques, je crois. Il doit être grand maintenant – et très beau – comme vous, mon cher Toni.«
Eine solche Liebenswürdigkeit hatte den armen Italiener ganz verwirrt. Und er hatte einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, als im selben Augenblick der Herr Rechtsanwalt Björner mit dem Hut in der Hand herangelaufen kam und seine liebe verehrte Tante umarmte und ihr Hand und Wange küßte. Die Dompropstin hatte nun das Französische – das sie mit einer gewissen atemlosen Anstrengung sprach – ganz aufgegeben und auf schwedisch ein fünf Minuten langes geflüstertes, offenbar recht interessantes Gespräch mit dem Juristen geführt.
Du bist freundlich, aber ich glaube dir nicht. Du bist falsch. Du führst etwas gegen Jakob im Schilde, dachte Toni, wie er da stramm aufgerichtet auf dem Kutschbock saß. Von Zeit zu Zeit mußte er sich umwenden, um die Fragen der Dompropstin zu beantworten. Sie fragte nach dem Gesundheitszustand des Barons, nach der Ernte, nach den Stieren, nach den Hunden –
»Und Phylax, lieber Toni! Wie geht es Phylax?«
»Phylax ist vorigen Sommer erschossen worden, Ew. Gnaden.«
»Erschossen! Sara, hörst du? Phylax ist erschossen worden! Und man hat mich nicht benachrichtigt.«
»Liebe Tante, er war wohl alt und krank.«
»Und ich hatte mich so gefreut, das liebe Tier wiederzusehen! Er stammte ja sozusagen noch aus der guten alten Zeit. Man hätte mich wenigstens benachrichtigen können. Aber es ist wahr, es ist allzuwahr! Ich bin es gewöhnt, daß man nicht die mindeste Rücksicht auf meine Gefühle nimmt.«
»Ach, liebe Tante, man darf nicht allzuviel verlangen. Alle sind nicht so feinfühlig wie Sie, Tante.«
Die Damen fuhren nun fort, in leisem Ton miteinander zu sprechen, und Toni blieb mit weiteren Fragen verschont.
Toni saß da und träumte von der Heimreise. Seiner Heimreise. Der langen langen Reise nach Toscana. Gestern abend hatte der Italiener beschlossen, seine Entlassung zu verlangen. Heimweh hatte er ja immer gehabt, eigentlich war der Entschluß in zwanzig langen Jahren gereift. Aber seine Ausführung hatte von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr aufgeschoben werden müssen. Jetzt sollte es geschehen. Früher hatte er ja etwas gehabt, was ihn an Rogershof gefesselt hatte: den Jungen.
Jetzt sollte der Junge fort, und wie lange er wegbleiben würde, das wußte man nicht. Gestern abend hatte Toni Jakob aufgesucht, der auf einer Bank im Parke saß.
»Ich höre, daß er fortreisen will, Jakob?« – »Ja.« – »Will er bald reisen, Jakob?« – »Ich weiß nicht, spätestens im Herbst.« – »Wann glaubt er, daß er nach Rogershof zurückkommt, Jakob?«
»Nie, Vater!«
Vater!
Es war das erstemal.
Nein, ich will jetzt nicht daran denken, denn sonst fange ich an zu weinen. Und es sieht häßlich aus, wenn man in Gallalivree auf dem Kutschbock sitzt und weint. Ich will daran denken, daß ich jetzt bald heimfahre. Ich werde keinen Dienst annehmen. Ich werde ein tüchtiger Gastwirt in irgend einer guten Stadt. Vielleicht in Firenze. Ich werde viel Geld zurücklegen. Viel Geld, viel Geld.
Er bewegte die Finger, so als rollte er die Rosenkranzkugeln zu vielen Aves.
Nie? – Das ist ein großes Wort in einem jungen Mund. Was kann das bedeuten? Zwei Jahre, drei Jahre? Drei Jahre lang allein in Rogershof herumgehen? – Nein, ich will nicht daran denken. Ich werde heimfahren und viel Geld zurücklegen. –
»Mein Rogershof! Ach, mein lieber alter Rogershof!« rief Ihro Gnaden. Die Equipage fuhr vor, Toni sprang vom Kutschbock und öffnete den Wagenschlag. Die Treppen hinunter eilten Vickberg und Luise.
Und Se. Gnaden?
Den ganzen Morgen war Se. Gnaden ungewöhnlich guter Laune gewesen, hatte geplaudert, gelacht und so falsch gesungen als es nur möglich war. Um halb eins war er wie gewöhnlich zu Bett gegangen. Aber der Schlaf war nichts weniger als gut gewesen, offenbar von bösen Träumen gestört. Und das Erwachen war entsetzlich. Se. Gnaden war offenbar vollständig aus der Fassung gebracht.
Er wollte seine Kammerherrenuniform anlegen, und trotz Herrn Vickbergs sanften Protestes tat er es auch. Das Kleidungsstück war seit vielen Jahren nicht getragen und saß furchtbar schlecht, klemmte ihn überall ein, mehrere Knöpfe gingen überhaupt nicht zu.
Vickberg war verzweifelt.
Glücklich mit seinem ganzen Staat angetan, begann der Baron im Schloß herumzuwandern, auf Vickberg gestützt und von Frau Enberg, Lars und Lena gefolgt. Er beharrte darauf alle Zimmer zu revidieren, ja er stieg in die Souterrainwohnung hinab, drang in die Küche ein und rührte mit seinem Stocke in den Töpfen herum. In jedem Zimmer hatte er irgend einen Befehl zu erteilen. Gewisse Dinge sollten fortgenommen und eingeschlossen werden, andere anstatt dessen hervorgeholt. Er klopfte auf die Möbel, um zu sehen, ob sie staubig wären, er prüfte die Fenster, er ließ die arme Frau Enberg in den Laden Kopf stehen, um die unglaublichsten Dinge hervorzukramen. Es zeigte sich, daß Se. Gnaden ein wunderbar gutes Gedächtnis für Kleinigkeiten hatte. Wo ist das und das? fragte er einmal ums andere. Und gab man ihm dann nicht klaren Bescheid, so grollte der Donner in furchtbarster Weise.
Im Zimmer von Ihro Gnaden erreichte sein Eifer den Höhepunkt. Luise mußte das Bettzeug herausnehmen und ihm die Matratzen zeigen. Er untersuchte Nachttischchen und Waschkasten und versäumte es auch nicht, den Inhalt zu prüfen: Ein solches Mißtrauen war mehr, als Frau Enberg ertragen konnte. Sie ging auf und davon.
»Wo läuft denn die Person hin?«
»Sie ist wohl in den Flügel hinuntergegangen.«
»He? Ja, jetzt werden wir auch die Flügel untersuchen.«
Aber so weit kam es nicht. War es die heftige und ungewohnte Bewegung oder die starke seelische Spannung? – Sr. Gnaden wurde plötzlich unwohl. Er bekam Erbrechen und Durchfall. Die Kammerherrenuniform mußte abgelegt werden, und Se. Gnaden wurde zu Bett gebracht.
Die Dompropstin wollte unverzüglich an das Krankenlager ihres Bruders eilen, aber Vickberg erklärte, daß der Baron schliefe und nicht gestört werden dürfe. Frau Enberg meldete das Mittagessen.
»Ach ja, dinieren wir, du bist wohl auch hungrig, liebe Sara! – Reich mir deinen Arm, Luise, – du darfst mich nicht verlassen. Ach, ich habe dich so viel zu fragen! – Vickberg, nicht vergessen: sowie Se. Gnaden erwacht, muß ich sofort gerufen werden. Ich will die erste sein, die seinem Blick begegnet – der liebe, liebe Roger –«
Das Mittagessen verlief in einer für Frau Enbergs Gefühle sehr befriedigenden Weise. Ihro Gnaden hatte für alles und alle eitel Lobsprüche. Und mit welch freundlichem Interesse sie von Jakob sprach, sich nach allem erkundigte! Frau Enberg mußte natürlich die letzte große Neuigkeit erzählen.
»– Und es ist ja beinahe so, als ob ich den Jungen verlieren sollte. Ja Herrgott, so empfinde ich es! Aber es ist ja zu seinem Besten –«
»Ja, die Stellung, die er jetzt einnehmen wird, verlangt natürlich eine ganz andere Erziehung als – als die, die er sonst erhalten hätte.«
Frau Enberg zuckte zusammen. Es war etwas im Tonfall der Dompropstin gewesen, etwas, was sie aus früheren Zeiten kannte, eine gewisse Schärfe.
»Was meinen Ew. Gnaden? Der arme Junge hat doch keine Stellung!?«
Die Dompropstin verzog den Mund.
»Ach, liebe Luise!
Aber warum bekomme ich denn die lieben Kinder nicht zu sehen? Warum begrüßen sie mich nicht? Das ist doch sehr merkwürdig, meine liebe Luise. Möchtest du ihnen nicht sagen, daß eine alte Tante nach Rogershof gekommen ist? Sage ihnen, daß sie ihnen herzlich gut ist und die lieben jungen Geschöpfe gern umarmen möchte –«
Ja, Frau Enberg war natürlich bereit, den gnädigen Auftrag auszuführen. Ihr Fortgehen schien die Luft leichter zu machen, die Dompropstin atmete auf.
»Hast du ihr Gesicht gesehen, Sara? Ach Gott behüte, so unschuldig! Die Stellung des armen Jungen! Das war doch die impertinenteste Miene, die ich je gesehen habe.«
»Aber sie weiß vielleicht wirklich gar nicht –«
»Die! Sei ruhig, meine gute Sara. Hinter Rogers wahnwitzigem Entschluß liegt ein langjähriges, geschickt betriebenes Intriguenspiel. Habe ich dir nicht immer gesagt, daß diese Enberg eine falsche Katze ist? Aber ich verstehe dich wirklich nicht, liebe Sara, du hast die Unart angenommen, mir immer zu widersprechen –«
»Aber liebe Tante!«
»Ja, ja.
Aber kannst du dir etwas Zynischeres denken als Rogers Testament? Der letzte Roger Bernhusen de Sars setzt ein uneheliches Kind zum Universalerben ein. Mon dieu! Und wenn es doch wenigstens sein eigener Bastard wäre! Aber das ledige Kind einer Dienerin!«
»Es ist wirklich unglaublich. Aber kann ein so wunderliches Testament nicht für ungültig erklärt werden?«
»Unmöglich! Der gute Björner sagte mir, daß alle gesetzlichen Formen beobachtet werden sollen. Und natürlich darf man keinen Augenblick daran denken, daß er einen Formfehler begehen könnte. – Nein, wir müssen andere Mittel anwenden. Und das sage ich, daß ich trotz des nur zu deutlichen und verletzenden Mißtrauens, das Roger mir in dieser Sache gezeigt hat, alle meine Kräfte aufbieten werde, um die Sache in Ordnung zu bringen. Dann mag der Höchste alles so lenken, wie Er es für gut findet.
Was soll das heißen? Was ist das für ein Mädchen? Wo kommt die her? Ist sie dagestanden und hat gehorcht?«
Das Mädchen, das hinter dem Rücken von Ihro Gnaden in den Saal getreten war, trug eine große Schüssel Erdbeeren. Sie stellte die Schüssel auf den Tisch, trat einen Schritt zurück und knixte sehr schön und tief – vielleicht allzu tief – mit etwas zitternden Knien.
»Nun, wie heißt sie?«
»Blenda – Tante Enberg sagte –«
» Mon dieu, c'est la petite – mein liebes Kind, gib deiner alten Tante einen ordentlichen Kuß. Sieh doch, Sara – wie niedlich – comme elle est ravissante. Elle ne ressemble pas du tout à son pauvre père. – Küß mich doch auf die Wange, mein liebes Kind.«
Blenda kam der Aufforderung nach und fühlte sich nun ruhiger. Sie hatte ein großes Bedürfnis, gehätschelt zu werden, die kleine Blenda, und die herzliche Umarmung der Dompropstin tat ihr wohl.
»Nun, wo ist denn dein junger Kavalier, le bon Jacques, le beau jeune homme?«
»Meinen Ew. Gnaden – Jakob? Er kann nicht kommen – ich glaube, er ist in den Wald gegangen.«
»Soll mir auch recht sein, mein liebes Kind. Wenn der junge Mann die einfachsten Regeln der Höflichkeit nicht kennt, so will ich nur hoffen, daß er bald einen guten Zuchtmeister findet.
Aber wie geht es eigentlich deinem Vater, liebes Kind? Ich bin in horribler Unruhe. Hast du etwas gehört?«
»Meinen – Ew. Gnaden – Onkel?«
» Pauvre petite,«« murmelte Ihro Gnaden und gab Sara ein Zeichen, die Befangenheit des armen Kindes zu beobachten. Beinahe fühlte sich übrigens die Dompropstin selbst ein bißchen verlegen. Doch ein solches Gefühl war ihrer Natur ganz fremd und verschwand rasch. Mit klarer bestimmter Stimme sagte sie:
»Ich meine natürlich deinen Vater, meinen lieben Bruder Roger.«
»Ja danke, es geht ihm gut,« übereilte sich Blenda.
»Was sagst du da? Er hat doch einen so schrecklichen Anfall gehabt. Was meinst du, Kind?«
»Ich meinte nur, es ist nicht so gefährlich,« versuchte Blenda sich herauszureden. »Onkel bekommt das immer, wenn er sich den Magen erkältet, aber es geht bald vorüber.«
Ihro Gnaden empfand Mitleid mit dem verwirrten Mädchen und sagte sich, daß das Gespräch bei geeigneter Gelegenheit fortgesetzt werden könnte. Blenda bekam also einen kleinen Wink, sich zu entfernen, einen Wink, den das verlegene Mädchen vermutlich nicht verstanden haben würde, wenn Sara sie nicht ganz freundschaftlich unter den Arm genommen und einen kleinen Spaziergang durch den Park vorgeschlagen hätte.
Sara wollte so unendlich gern in diesem schönen romantischen Park spazieren gehen. Sie dachte sich auch die Möglichkeit, daß sie in diesem Park dem jungen Mann begegnen könnten, der in so eigentümlicher Weise von einem Nichts zu großer Bedeutung aufgestiegen war. Und der obendrein » le beau jeune homme« tituliert wurde.
»Wie alt ist er eigentlich, Ihr Jakob?« fragte sie Blenda.
Ihro Gnaden suchte für ein Stündchen die Ruhe auf.
Gegen acht Uhr abends erwachte Baron Roger. Seine erste Frage war: Ist sie gekommen? Und als dies von Vickberg bejaht wurde, kam eine zweite Frage, hastig, erschrocken: Ist sie hier? Hier drinnen im Zimmer? – Nein, aber sie habe den lebhaften Wunsch ausgesprochen –
»So so – wie findest du, daß ich aussehe?«
Ja, Vickberg fand, daß Se. Gnaden ganz gut aussähe. Der Schlaf war offenbar erfrischend gewesen.
»Meinst du, daß wir aufstehen sollen?«
»Nein, absolut nicht – Ew. Gnaden müssen sich schonen. Und ich glaube, daß Ihro Gnaden verzweifelt wäre –«
»Naja. Sollen wir also den Schlafrock anziehen?«
»Wie Ew. Gnaden belieben. Oder vielleicht bleiben wir ganz ruhig liegen?«
»Meinst du? Aber ich muß ein anderes Hemd anziehen, was? – und – äh – spritz, äh, – etwas Parfüm auf. Ja, so ist's recht. Ist das Fenster offen?«
Die Tür wurde für Ihro Gnaden geöffnet. In sitzender Stellung, blaurot unter der weißen Nachtmütze, ließ Se. Gnaden die Umarmung und die Wangenküsse seiner Schwester über sich ergehen.
»Lieber, lieber Roger. Wie geht es dir?«
Ja danke, der Baron fühlte sich ganz passabel. Aber es saß ihm etwas im Halse –
»Du hast vapeurs, Roger, du hast vapeurs, ja widersprich mir nicht, Roger. Der arme Per litt in den letzten Jahren auch so schrecklich an vapeurs. Vickberg, bitten Sie doch Fräulein Siedel, daß sie das englische Salz herüberschickt.«
Englisches Salz fand sich auch im Medikamentenvorrat des Barons vor, und die Dompropstin versah ihren armen Bruder mit einer kräftigen Dosis. Roger schluckte und schluckte und ließ sich gottergeben behandeln.
»Es ist sehr freundlich von dir, Julia, daß du mich nicht ganz vergessen hast.«
»Vergessen! ah – comme tes paroles me font mal – du weißt doch, Roger – den Anlaß –
Ach, mein guter Vickberg ist wohl so freundlich, Fräulein Siedel beim Auspacken zu helfen? Nicht wahr? Danke!
Du weißt, Roger, daß die Erinnerung an meinen letzten Besuch auf Rogershof mir unendlich peinlich sein muß –«
»Ja gewiß – ja – aber jetzt wollen wir doch nicht davon sprechen. Der Selige ist ja nun tot, ja. So ist es. Übrigens war es nicht meine Schuld, daß es zu einem Bruch kam, was? Er hatte eine verflucht unangenehme Art, sich in meine Angelegenheiten zu mischen. Na ja. Wir wollen jetzt nicht davon sprechen. Nein. Der Selige – der Selige – hat jetzt Frieden.«
»Ach ja. Aber welches Ende, Roger! Mon dieu! Welches Ende!«
Der Baron warf sich unruhig herum.
»So? War es arg?«
»Wenn du ahnen könntest! Und wer hätte auch glauben können, daß es eine so grausame Wendung nehmen würde! Es begann ja so unschuldig mit ein wenig Übelkeiten, vapeurs, ja ganz wie jetzt dein Unwohlsein. Wer konnte wohl ahnen –«
»Er hat zuviel gegessen.«
»Nicht mehr als du, lieber Roger.«
»Was? He? Der! Der hat kolossal gegessen. Er aß, hol mich der und jener, mindestens dreimal soviel als ich! Das steht bombenfest! Dreimal soviel!«
»Ja, du bist immer deiner Sache so sicher, lieber Roger. Aber du tätest wirklich klug daran, selbst ein bißchen vorsichtig im Essen und Trinken zu sein – und jetzt bist du fünfundsechzig Jahre, Roger. Fünfundsechzig. Du bist jetzt drei Jahre älter als unser geliebter Vater bei seinem Hingange –«
»Ja, so? Ja, das ist eigentümlich – aber sag – war es wirklich so schlimm? Ich meine für Per?«
»Ach ja, und es waren ja nicht nur die körperlichen Qualen, sondern auch die Unruhe um uns. Ja Roger – dir kann ich es ja sagen: er ließ uns in vollständiger Misère zurück. Ja, Misère. Herrgott ich versuchte ihn zu trösten, ich versicherte, daß du uns schon helfen würdest –«
»Ja, ja, habe ich das nicht getan?«
»Ja, danke, danke, teurer Roger. Aber du kannst dir doch denken, daß ich es oftmals sehr schwer gehabt habe. Gott sei Lob und Dank, meine Kinder haben mir immer nur Freude gemacht. Und jetzt sind ja die Jungen auch so weit, daß sie mich nicht mehr brauchen –«
Die Dompropstin lächelte wehmütig.
»Du hättest das Mädchen mitbringen können.«
»Die kleine Malla? Ja – aber weißt du, aufrichtig gesagt, kam die Reise ohnehin recht teuer für mich und Sara –«
»Sara, Sara. Wozu zum Teufel schleppst du dich mit dieser Sara herum? Wenn du es wirklich so knapp hast, wie du sagst, könntest du die Sara doch in Björkenäs weiden lassen, he?«
»Meinst du wirklich, Roger, daß ich ohne alle Gesellschaft sein soll?«
Das englische Salz begann jetzt zu wirken. Se. Gnaden bekam heftiges Aufstoßen und war so einer schwierigen Antwort überhoben. Die Dompropstin warf sich auf ein anderes Thema.
»Außerdem hat Mina Bergfeldt die Kleine nach Marstrand mitgenommen. Ach, die gute Mina zeigt so viel Teilnahme, so viel warmes Gefühl für mein kleines Mädchen. Unter uns gesagt: ich habe wirklich die Möglichkeit einer Partie zwischen Wilhelm und Malla erwogen. Ach weißt du – es wäre mir ein so lieber Gedanke, daß die kleine Malla einmal Schloßfrau in Rogershof werden könnte. Und Wilhelm Bergfeldt ist ja ein so außerordentlich netter junger Mann –
Ermüde ich dich, Roger? Um Gottes willen, sage es mir nur?
Ja, du mußt schon entschuldigen, daß ich von meinen Kindern spreche. Weß das Herz voll ist – und du kannst dir ja denken, daß ich meine Sorgen habe.«
»Ja – hm – für Malla werden wir natürlich sorgen – falls es nötig sein sollte.«
»Danke, Liebster – du bist so gut. Aber du hast ja an die Deinen zu denken. In erster Linie an die kleine Blenda. Comme elle est charmante, ta petite fille. Ich habe ja auch immer ein ganz besonderes Interesse für das liebe Kind empfunden. Und du weißt ja auch, daß der arme Per –«
»Danke, danke. Ich möchte mir ausbitten, nicht daran erinnert zu werden.«
»Du bist so reizbar, lieber Bruder. Ach ja. So war es auch mit dem armen Per. Seine Laune verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Die Zornausbrüche wurden immer häufiger. Ach ja, daß es so kommen sollte –
Dann hast du ja auch an die Zukunft des jungen Mannes zu denken –«
»Jungen Mannes? Was? Mit dem habe ich doch nichts zu schaffen. Sei so gut und frage nur die Enberg!«
»Ich scherze nicht, Roger. Du hast die unabweisliche moralische Verpflichtung –«
»He? Hol mich der und jener, du bist wirklich lustig, meine beste Jule. Soll ich für alle unehelichen Rangen hier auf dem Hof verantwortlich sein? Dann will ich, weiß Gott, vor allen Mägdekammern Hängeschlösser anbringen!«
»Roger – du vergißt dich!«
»Pardon, meine Beste. Aber hol mich der und jener, wenn ich da eine Einmischung vertrage. Hm – Na ja –
Ja, also am Montag werden wir fünfundsechzig Jahre – hm – das ist nicht sehr viel, he? Aber immerhin etwas. Ich habe mir gedacht, daß wir ein kleines Fest veranstalten könnten. Wir wollen einige – die nächsten Anverwandten einladen. – Siehst du, meine Beste – ich habe vor – hm – das Irdische zu erledigen. Ja, nicht des Alters wegen – aber einmal muß es doch geschehen –«
»Sicherlich.«
»Und da habe ich mir gedacht, daß unsere Nächsten unserem letzten Willen beiwohnen könnten. Der junge Bergfeldt – hm – und die Herren Söhne meiner lieben Schwester –«
»Danke, danke, mein Lieber.«
»Oh, ich bitte, meine Beste – keine Danksagungen im voraus. Hihihi. Das Testament ist noch nicht aufgesetzt –«
»Scherze doch nicht so – ich habe dich um etwas zu bitten, mon très cher frère –«
»Nun – was denn?«
»Wenn du, wie du sagst, irgendwelche Dispositionen zu treffen gedenkst, so vergiß, was ich dir vorhin über meine Lage und die der Meinen gesagt habe. Du darfst nicht die mindeste Rücksicht auf uns nehmen – wenigstens nicht in erster Linie. Du mußt vor allem und einzig und allein an deine Pflichten gegen Gott und die Menschen denken –«
»He? Bist du ganz rawuzelig? Pflichten? Ich habe, hol mich der und jener, keine Pflichten.«
Die Dompropstin hatte sich erhoben und – eine Stellung, eine Haltung annehmend, die für den Ernst ihrer Worte paßte – sagte sie:
»Oh doch, Roger – du hast Pflichten! Ich habe dir eben angedeutet, welcher Art. Nun will ich dich nur erinnern, mein lieber Bruder, daß noch niemand einem Bernhusen de Sars den Vorwurf der Pflichtvergessenheit machen konnte.«
»He? Was, zum Teufel, sagst du? Bist du ganz rawuzelig? Nie eine Pflichtvergessenheit? Und unser seliger Onkel, he? Julius Gustaf Adolf Robert de Sars? Hol mich der und jener, ging er nicht mit der Regimentskasse durch! Und fälschte den Namen unseres seligen Vaters! Und wie er seine Brut versorgte, davon wollen wir lieber gar nicht sprechen. Hol mich der und jener, wäre Luise nicht eine gewöhnliche – na, wäre sie nicht vor die Hunde gegangen, wenn Vater sich nicht ihrer angenommen hätte.«
»Das ist – c'est – mais comme tu mens! Luise ist doch die Schwester von Hallingen.«
»Mütterlicherseits ja. Aber der alte Hallingen wollte nichts von ihr wissen. Teufel auch! Hast du nicht gehört, wie es zuging, als der selige Vater den Hallingen zwingen wollte, Raison anzunehmen, was? Hihihihi – warum zum Teufel stehst du eigentlich? Setz dich doch. Dieser Rawuzel – dieser Vickberg klebt doch an der Türe und horcht. – Ja, siehst du, meine Beste, das war nämlich so –«
Die Geschichte wurde mit ebenso großem Interesse erzählt wie angehört. Und eine Geschichte gab die andere: die alte Chronik war nun aufgerollt und zeigte ihre verfänglichsten Seiten. Die Geschwister vertieften sich in pikante Mysterien, in lustige Erinnerungen.
Endlich hatte man etwas gefunden, das die Gemüter anregte, ein Gesprächsthema, das in Frieden und Freude ausgekostet werden konnte.
Zum Schluß wurde der Baron jedoch allzu lebhaft. Er sprang aus dem Bett, um nachzuahmen und zu illustrieren. Obgleich die Dompropstin das recht lustig und amüsant fand, hielt sie sich jetzt doch für verpflichtet, das Gespräch abzubrechen und Herrn Vickberg zu rufen.
Die Geschwister schieden in aller Zärtlichkeit.