Elisabeth Beskow
Wildvogel
Elisabeth Beskow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20.

Viktor ist erkrankt, hoffnungslos. Er erkrankte an dem ersten Tage nach seiner Heimkehr. Vielleicht trieb ihn eine Ahnung nach Hause, um daheim in seinem Paradies bei Vater und Braut zu sterben?

Viktor und Krankheit!

Diese zwei Begriffe passen gar nicht zusammen. Aber er erträgt seine Krankheit so, wie man es von ihm erwarten konnte. Er lächelt zwar sehr matt, aber er lächelt doch, sobald er unseren Blicken begegnet, und flüstert uns, obschon sehr leise, einen Dank für jeden Dienst zu. Er fühlt keine Schmerzen. Dazu ist das Fieber gar zu stark. Die Krankheit, die ihn verzehrt, hat nichts Schreckliches oder Abstoßendes an sich.

Viktor, mein Geliebter! Wir wagen nicht zu denken, wir pflegen dich nur und halten die Unruhe fern von uns. Und den Kummer verschieben wir auch bis auf weiteres, dein Vater und ich. Wir lächeln dich an, betrachten dich mit ruhigem Blick und gehen in deinem Krankenzimmer umher, als sähen wir den Schatten nicht, der dich bedroht. Wir tun alles, was du wünschest, ohne Besinnen und ohne Einwand. Ich frage nicht, warum du willst, daß ich dir jetzt angetraut werde. Wir kommen nur deinem Wunsche nach. Morgen werden wir, du und ich, zum ersten, zweiten und dritten Male aufgeboten und dann werden wir getraut.

Wir haben ein langes Liebesleben in einer einzigen Minute gelebt. Diese Minute willst du jetzt durch das Band der Ehe geheiligt wissen. Du sagst nichts. Du keuchst nur im unruhigen Fieberschlaf, aber ich verstehe dich, mein Viktor.

21.

Jetzt bin ich Viktors Weib, aber er ist nicht mehr auf Erden. In der Morgendämmerung, die auf unsere Hochzeitsnacht folgte, hat der Tod meinen Bräutigam geholt.

Unsere Liebe bleibt unbefleckt, rein wie der Himmel, ernst wie der Tod, ungebrochen wie die Ewigkeit.

22.

Frisch gefallener Schnee bedeckt Viktors Grab. Ich besuche es zuweilen, aber ich kann mir Viktor gar nicht in einem Grabe denken. Soll ich Helgas Glauben teilen, ist er auch nicht da. Ich begegnete ihr heute auf dem Kirchhof – sie hat ja auch Gräber zu besuchen. Wir sprachen von der Unsterblichkeit.

23.

Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Kirchhof von Sunnanfors, seit Viktor dort ruht. Sein Wesen war so licht, daß es selbst einen verklärenden Schimmer auf den Tod wirft.

»Alle können sterben wie er,« sagt Helga, »wenn sie dem Friedensfürsten angehören. Der hat durch sein Sterben den Stachel des Todes gebrochen.«

War Viktor einer der Seinen? Ich weiß es nicht recht, aber zuweilen habe ich es geahnt. Die Sonne erklärt uns nicht, was sie ist, aber sie verrät es uns durch ihren Schein. Der Baum spricht nicht von seiner Art, aber offenbart sie uns durch seine Frucht.

24.

Der Doktor arbeitet eifriger denn je. Es ist ihm eine Wohltat, wenn jemand mitten in der Nacht ihn holt. Und je weiter es zu fahren ist, desto lieber ist es ihm. Ich glaube, er arbeitet so eifrig, um nicht denken zu müssen. Er versucht zu sein, wie früher, und im gewissen Sinne ist er es auch – aber nur äußerlich. Blickt man ein bißchen tiefer, merkt man doch, daß das Schicksal ihm einen harten Stoß gegeben hat.

Er ist sehr teilnehmend gegen mich, und das bin ich auch gegen ihn. Wir versuchen nicht, einander zu trösten, das wäre vergeblich, das wissen wir. Aber wir tragen den großen Verlust gemeinsam, wir trauern zusammen und haben Mitgefühl füreinander.

»Es geht schon bei meinem Alter,« sagt er. »Es ist schwerer in der Jugend.« Er blickt mich forschend an, als wollte er ergründen, wo die Trauer an meinem Lebensfaden nagt.

»Vater, es geht auch in der Jugend. Die Trauer verleiht der Seele Flügel,« antwortete ich.

»Wildvögelchen!«

Er strich mir leise über den Kopf, und sein Ton war unendlich zärtlich. »Wildvögelchen!« Ich erinnerte mich, wie ich es von anderen Lippen und in einem anderen Tone gehört – und brach in Tränen aus. Ich wollte forteilen, um meine Tränen zu verbergen, aber er hielt mich zurück. Ich blieb und weinte, und das schien ihm Erleichterung zu verschaffen, denn selbst kann er leider nicht weinen.

Ach, die Trauer! Sie muß hinaus in die Einsamkeit, aber nicht in die enge, eingeschlossene, wo man nur sich selbst vernimmt, sondern in die weite, große Einsamkeit, wo man seiner selbst vergißt. Im Reiche der Trauer ist alles groß und rein. Da verfliegt das Gemeine und Unedle. Das Reich der Trauer öffnet sich auf die Unendlichkeit. Und auf Flügeln schwingen wir uns hinauf zum Himmel. Dieser Weg aber führt durch Pforten düster wallender Wolken.

»Du mein lieber, kleiner Viktor, das war also das Schloß, das du mir bautest.«

25.

Wildvogel ist sich treu geblieben und doch verändert. Die Freiheit ist mir noch immer Lebensbedürfnis, aber ich sehe sie jetzt anders an. Früher verlangte ich Freiheit für mich selbst, jetzt begehre ich Freiheit von mir selbst. Und eine solche Freiheit gibt es nur in der Liebe.

Der Weg in meine frühere Umgebung steht mir noch offen, aber ich vermeide ihn absichtlich. Ich glaube, er würde mich nur in engere Regionen führen.

Niemand bindet mich. Niemand verlangt, daß ich hier bleiben soll, und darum gerade bleibe ich.

»Wenn ich darf, möchte ich am liebsten hier bleiben,« antwortete ich dem Doktor, als er mich eines Tages danach fragte.

»Wenn du darfst, du liebe Kleine,« wiederholte er. »Glaubst du denn, daß man das Licht seiner Augen von sich treibe? Aber es wird dir gewiß zu langweilig hier sein, in dieser Einsamkeit und mit einem alten Manne wie ich.«

»Langweilig! O nein! Das Leben hier ist reich und voller Möglichkeiten in der täglichen Arbeit.«

»So bleibe denn, Wildvögelchen, aber nicht länger, als es dir gefällt. Der Weg steht dir immer offen. Ich werde dich in keiner Weise binden. Ich werde dir nur stets dankbar sein, daß du überhaupt hier bleibst.«

Ich blieb also bei ihm, und es ist mir lieb, bei ihm zu sein, denn er scheint sich darüber zu freuen. Er hatte es nicht erwartet. Es kam ihm überraschend, daß das Leben ihm noch etwas anderes bot als öde Einsamkeit.

Heute abend ging er zu einem Kranken, und ich begleitete ihn. Der See war zugefroren, und wir gingen über das Eis.

Wir haben jetzt kalten Winter. Es kracht vor Kälte in den Hausecken. Der Doktor und ich gingen Arm in Arm über das glatte Eis. Wir wollten einander stützen. Einmal glitt er aus und würde gefallen sein, wenn ich ihn nicht gehalten hätte. Er sah mich an und lächelte liebenswürdig.

»Ich muß gestehen, es hat mich überrascht,« sagte er. »Hier schreite ich an der Seite eines zarten Geschöpfes, das mir so zart scheint, als wäre es nur dazu da, um gestützt zu werden. Plötzlich gleite ich aus und finde, daß gerade dies Geschöpflein mir eine Stütze ist und sogar eine, die nicht zerbricht.«

Er sagte das so, daß ich den Doppelsinn seiner Worte deutlich verstand. Bin ich ihm denn wirklich eine Stütze, und sogar eine tüchtige, in der schweren Prüfung seines Lebens?

Du lieber, kleiner Viktor, du hast mir vieles gegeben, als du mir deinen Vater schenktest!

Wenn eine Mutter ihr Kind pflegt, pflegt sie die Zukunft, die ihr Kind in sich trägt. Wenn ich meinen alten Doktor pflege, so pflege ich das Edle an ihm, alles, was er gewesen und geworden durch große, liebevolle Taten. Darum fühle ich mich auch ebenso reich wie eine Mutter – ja, reicher sogar. Die Mutter kann sich in der Zukunft ihres Kindes irren, aber das kann ich nicht in bezug auf das Edle in meinem Doktor.

26.

Helga und ich haben eine Fahrt nach Stockholm gemacht. Wir hatten Verschiedenes zu besorgen. Unter anderem machten wir auch Max einen Besuch. Er glühte vor Lernbegierde und studierte sehr eifrig. Ich habe das immer an ihm bewundert, aber mein Besuch in seinem Laboratorium zeigte mir die Kehrseite der Medaille. Ich sah ein Kaninchen da sitzen. Max hatte ihm irgend einen Bazillus eingespritzt, um die Wirkungen desselben zu studieren. Das Kaninchen sah struppig und krank aus, versuchte etwas zu fressen, aber vermochte es nicht.

Es war noch ein anderes Kaninchen da. Ein ganz ausgemergeltes kleines Ding, das fieberte und hustete. Es litt an Tuberkeln, war aber ganz zahm. Wenn Max es rief, kam es an das Gitter.

Es gab auch ein paar gesunde Kaninchen da. Aber an diesen wollte Max Versuche machen und sie bald den schauderhaftesten Krankheiten preisgeben.

Ich war ganz empört und machte meinen Gefühlen in einer Flut von Worten Luft.

Max antwortete, daß die Kaninchen stolz darauf sein würden, wenn sie wüßten, daß sie mit ihrem Leiden der Wissenschaft dienten.

Aber ich arbeitete mich in eine hitzige Verachtung seiner Wissenschaft hinein, sagte ihm, daß die Grausamkeit nicht zu entschuldigen sei, und daß es grausam sei, mit Absicht einem Geschöpf Leid zuzufügen, ob dies Geschöpf Mensch oder Tier sei.

Meine Heftigkeit war groß, und ich glaube, Max hielt mich für unzurechnungsfähig. Jedenfalls führte er uns aus dem Laboratorium hinaus.

»Ich hätte es dir nicht zeigen sollen,« sagte er.

»Als ob das etwas zu der Sache täte,« rief ich aus. »Die armen Kaninchen husten und werden gequält, ob ich gehe oder bleibe. Und du schmeichelst ihnen und gibst ihnen Futter, während du ihnen garstige Krankheiten einspritzest. Eins ist gewiß: Es gibt kein abscheulicheres Raubtier als der Mensch.«

Ich war ganz außer mir. Mein Zorn und mein Abscheu schienen auch einen recht tiefen Eindruck auf Max zu machen. Das beruhigte mich etwas. Er sprach kein Wort zu seiner Selbstverteidigung.

Unser Besuch bei ihm war verdorben, und wir verließen ihn bald. Helga hatte kein einziges Wort gesagt. Doch glaube ich, sie fühlte ebenso tief wie ich, aber sie besitzt größere Selbstbeherrschung.

Erst auf der Heimreise fingen wir an, von Max zu sprechen, und Helga gab mir zu verstehen, daß es ihr leid um ihn getan, weil ich so böse auf ihn war.

»Ich sah, es ging ihm zu Herzen,« sagte sie.

»Um so besser,« erwiderte ich unzart. Ich ärgerte mich aufs neue bei dem bloßen Gedanken an die armen Dinger. »Schadet nicht! Solch ein Vivisektor kann nie genug leiden.«

»Bist du jetzt nicht zu hart,« sagte Helga besänftigend. »Ich denke, die Vivisektoren sind nicht schlechter als andere Leute.«

Das machte aber keinen Eindruck auf mich.

»Grausamkeit ist schlimmer als alles andere,« erklärte ich bestimmt.

»Aber Max ist doch nicht grausam. Du willst doch nicht behaupten, daß er mit den Kaninchen Versuche macht, nur um sie zu quälen. Er peinigt sie sicher so wenig wie möglich. Er ist gewiß freundlich gegen sie und pflegt sie.«

»Verteidigst du die Vivisektion?«

»Ich wünsche von ganzem Herzen, daß sie verboten würde,« sagte Helga, »aber ich kann doch nicht behaupten, daß alle, die sie ausüben, es aus Grausamkeit tun. Das wäre ungerecht von mir. Die meisten, denke ich, müssen sich gewiß hart machen und leiden selbst darunter, überwinden sich aber, der Wissenschaft wegen. Und unter ihnen ist Max, davon bin ich überzeugt.«

Ich mußte ihr darin recht geben. Aber dennoch fühle ich, daß ich künftighin zwischen mir und Max immer gequälte Kaninchen sehen werde.

27.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte mit den Kaninchen schuld ist oder vielleicht etwas anderes, daß mir Max nicht aus den Gedanken kommt. Ich habe ihn gewiß verletzt. Das reut mich freilich nicht, aber ich möchte ihn doch gern wiedersehen, um wieder wie früher gegen ihn zu sein. So dachte ich mehr als einmal, aber Max kam nicht. Er ließ eine so lange Zeit vergehen, daß ich mich endlich fragte, ob er überhaupt wiederkommen würde. Und da ich merkte, daß der Doktor sein Fernbleiben übel aufnahm und glaubte, daß Max ihn vernachlässigte, fühlte ich, daß ich jetzt etwas tun müsse.

Nach dem Tode Viktors waren Max und sein Vater sich wieder etwas näher gekommen. Und nun war ich mit meiner Heftigkeit dazwischen geraten und hatte Max von seinem Vater ferngehalten. Das wollte ich natürlich um alles in der Welt nicht. Daher machte ich mir etwas in Stockholm zu tun, reiste hin und suchte Max auf. Diesmal aber allein.

Er saß an seinem Arbeitstisch, als ich eintrat, und als er mich erblickte, errötete er. Ich warf einen ängstlichen Blick auf den Tisch, denn ich fürchtete, ich könnte ihn vielleicht bei einem seiner mir verhaßten Experimente ertappen. Aber auf dem Tische lagen nur Bücher und Papiere, und in der einen Hand hielt er eine gefahrlose Schreibfeder.

Er war aufgestanden, und als ich ihn wieder anblickte, sah er eher blaß als rot aus. Mürrisch und schweigend stand er da, den Kopf gesenkt und den finsteren Blick von mir weggewendet. Es lag etwas sehr Irdisches und Schwerfälliges, aber zugleich auch etwas Kräftiges in seinem Wesen, das mir sowohl Mitleid als Achtung einflößte. Ich fühlte mich mit einem Male sehr unbeholfen und zu meinem großen Ärger errötete ich auch. Max sah es zu seiner Befriedigung und schien Vergnügen daran zu finden, mir den Besuch schwer zu machen.

Ich verspürte große Lust, wegzulaufen, da ich nun aber einmal da war, mußte ich ihm mein Anliegen vorbringen.

»Warum kommst du nie mehr heim, Max?« fragte ich und gab mir Mühe, so unbefangen wie möglich zu sprechen.

»Ich bleibe am liebsten fern, wenn mir klar gemacht wird, daß ich ungelegen komme,« antwortete er.

Die Antwort sollte abweisend sein, aber ich merkte, wie tief er sich darüber freute, mir etwas recht Unangenehmes sagen zu können. Daß er nicht gleichgültig war, machte mich sogleich etwas sicherer.

»Vater möchte gern wissen, warum du nicht kommst. Er sehnt sich nach dir. Ich verstehe nicht, wie du's übers Herz bringen kannst, dich fern von ihm zu halten.«

Max schwieg. Er wollte nicht geradezu sagen, daß ich die Ursache sei. Das brauchte er auch nicht, denn er wußte sehr gut, daß ich es auch ohne Worte verstand.

»Wenn du mir meine neuliche Heftigkeit nicht verzeihen kannst, muß ich Vater verlassen,« sagte ich, und diesmal, ohne daß meine Stimme zitterte.

»Unter keiner Bedingung darfst du Vater um meinetwillen verlassen! Darauf würde er schwerlich eingehen, soviel, wie er von dir hält. Nein. Es macht nichts, wenn ich mich fern halte, er macht sich nichts aus mir, und mit dir verstehe ich mich auch nicht.«

»Aber Max, glaubst du denn wirklich, was du jetzt sagst?« rief ich aus, denn zu meiner großen Überraschung merkte ich, daß er es wirklich tat.

»Ob ich es glaube? Gewiß glaube ich es. Und du kannst es ja auch nicht leugnen, wenn du aufrichtig bist.«

Trotz der Bitterkeit seiner Worte warf er mir einen schnellen, finsteren Blick zu, aber es lag ein Hunger, eine Sehnsucht darin, die deutlich ausdrückten, daß er auf Widerspruch hoffte.

Und ich widersprach ihm auch.

»Ich wünschte, ich könnte dich davon überzeugen, wie gründlich du dich irrst,« rief ich mit einem Eifer aus, der vielleicht besser als alles andere geeignet war, Eindruck auf ihn zu machen. »Ich werde mich niemals mit deiner Vivisektion aussöhnen, und besäße ich irgend eine Macht über dich, so würde ich sie dazu brauchen, um dich von solcher Roheit abzubringen. Das hindert aber doch nicht, daß ich dich sonst gern mag. Ich war neulich sehr heftig und auch ungerecht gegen dich – denn du bist ja nicht grausam. Aber soviel Menschenkenntnis mußt du doch besitzen, um zu wissen, daß Leute, die leicht aufbrausen, auch leicht verzeihen. Ich kann heftig und eifrig sein und tüchtig aufbrausen, aber ich kann niemand etwas nachtragen oder jemandem grollen, und unwahr kann ich auch nicht sein. Daher mußt du mir glauben, Max, wenn ich dir jetzt sage, daß ich dich gern mag, und du darfst dir wirklich nicht länger einbilden, daß ich dich nicht leiden kann.«

Er fing an, weich zu werden, und sein Blick war weniger finster.

»Und Vater! Es ist nicht nett von dir, zu sagen, daß er sich nichts aus dir macht. Du weißt sehr gut, daß er es tut. Er vermißt dich und fragt oft, warum du nicht kommst.«

Ich sah, daß er immer weicher wurde und daß er mir endlich glaubte. Darum schlug ich vor, daß er mit mir kommen sollte. Er sagte zwar »nein«, aber ich hörte schon an seiner Stimme, daß sein »Nein« nicht so ernst gemeint war. Nach kurzer Überredung versprach er auch mitzukommen. Als ich ihm erklärte, daß ich ohne ihn acht Stunden allein fahren müßte, konnte er meiner Bitte nicht widerstehen.

Und nun sind wir hier. Gestern abend kehrten wir heim. Der Doktor freute sich so sehr, als er Max wiedersah, daß nicht einmal Max an seiner Aufrichtigkeit zweifeln kann.

28.

Heim! Ich habe schon mehr als ein Heim gesehen und in mehr als einem Heim gelebt – aber ich habe noch nie eins besessen und habe es mir auch nie gewünscht. Das Wort »Heim« hat für Wildvogel ungefähr denselben Klang wie das Wort »Gefängnis« gehabt, das heißt ein Ort, an dem man immer bleiben muß. Der geringste Zwang könnte mir den herrlichsten Ort unausstehlich machen. Erst jetzt verstehe ich den Reiz eines Heims, denn erst jetzt habe ich eins nach meinem Sinn, und zu meiner Überraschung finde ich, daß es mir hier ausgezeichnet gefällt.

Aus Spielerei zog ich hier ein, nur um dies Heim zu sehen und dann weiterzufliegen. Ich kam wie der wilde Vogel, der sich auf einen Zweig setzt, um sich ein Weilchen zu schaukeln.

Und warum flog ich nicht wieder fort? Nichts bindet mich ja hier.

Nein, und gerade darum bin ich geblieben. Machte sich der geringste Zwang fühlbar, würde ich mich gleich wegsehnen.

Helga sagt, daß die Trauer uns vereinsamt, und das mag wahr sein. Aber wenn man jemand an seiner Seite hat, den dieselbe Trauer betroffen, dann fühlt man sich doch sehr mit diesem anderen verbunden.

Man kann jemand so lieb haben, daß es weh tut, hast du mir einmal gesagt – du lieber Viktor. So liebe ich jetzt deinen alten Vater. Und das Gefühl veranlaßt Wildvogel, hier zu bleiben, um ihm das öde Haus zu einem Heim zu machen. Ich liebe unser Heim, schmücke und pflege es so, wie man etwas pflegt, das man bald verlieren wird. Unser lieber Doktor altert jetzt sehr schnell.

Unser Heim trägt das Gepräge der Vergangenheit. Es hat einen Abglanz vom erbleichenden Abendlicht nach einem entschwundenen Tag, einem langen Arbeitstag.

In den Ecken des alten Hauses flüstert und raunt es, Erinnerungen werden wach, lichte, aber auch dunkle. Das Haus hat eine Geschichte, die man ahnt, ohne sie zu kennen. Und nun ist das alte Haus mein Heim, obschon dessen Geschichte weder die meine, noch die meiner Vorfahren ist. Im gewissen Sinne aber ist sie doch mein.

Ein Heim ist noch viel mehr, als das was sichtbar ist. Es ist das Beisammensein derer, die es bewohnen, und nicht nur das äußere Beisammensein, die Worte, die gewechselt werden, die geteilten Interessen, sondern das Beisammensein im eigentlichen Sinne, der Zusammenklang der Seelen, das Wortlose, das in unserem ganzen Wesen Vernehmbare.

Es kommt mir sehr sonderbar vor, daß einer der edelsten Männer am reichen Abend seines Lebens in solch einem Einklang mit Wildvögelchen leben kann. Wildvögelchen ist ja doch nur ein ganz unbedeutendes Geschöpf, das nichts ausgerichtet hat, sondern nur gedankenlos durchs Leben geflattert ist.

29.

Du lieber, alter Doktor! Man sollte doch annehmen, daß du gegen Leid und Jammer abgehärtet wärest. Und doch hast du heute so furchtbar gelitten, als du an dem Krankenbette da drüben in dem großen Bauernhofe standest und dem armen Kranken keine Hilfe leisten konntest!

Warum bestandest du darauf, daß ich draußen bleiben und das Pferd halten sollte. Das Pferd halten? Du liebe Zeit! Als ob solch ein Gaul einen unnötigen Schritt täte! Ach, es geschah nur, um mich zu schonen! Und darum gehorchte ich dir nicht. Warum sollte ich nicht dem Feind ins Gesicht blicken, gegen den du viele Jahre tapfer gekämpft.

Ich schlich mich hinter dir hinein und erblickte deinen Feind in den verzerrten Zügen und hörte ihn in dem Jammergeschrei. Und du, lieber Menschenfreund, du warst blaß vor Schmerz über deine Ohnmacht gegen diesen fürchterlichen Feind. Ich sah dein Auge vor Mitgefühl tränen. Und doch habe ich dich nicht einmal weinen sehen, als dein Sohn starb.

Auf dem Heimwege sprachst du kein Wort. Ich schwieg auch. Der Zügel lag schlaff in meinen Händen, das alte Pferd trottete lautlos in dem weichen Schnee, und in dem meilenweiten Wald rings um uns her war es auch sehr still. Unser inneres Ohr aber ruhte nicht. Es vernahm die kummervollen Seufzer und die Wehrufe, die von der Erde emporsteigen.

Als wir heimgekehrt waren, trennten wir uns. Du gingst auf dein Zimmer, ich auf das meine, aber ich konnte mich lange nicht wieder beruhigen. Es war mir unheimlich zumute, ich mochte nicht allein sein und ging daher zu dir. Ich weiß nicht mehr, unter welch einem Vormund ich in dein Zimmer trat. Die Weise, in der ich empfangen wurde, machte aber auch jeden Vorwand überflüssig.

Ich habe früher nie eine Bibel in deinen Händen gesehen, noch habe ich je einen Bibelspruch von deinen Lippen gehört, aber den Geist der Bibel habe ich öfters in deinem Wesen verspürt. Die Bibel, die vor dir aufgeschlagen lag, war sehr abgenutzt. Ich möchte gern wissen, ob jemand anderes sie benutzt hat, oder ob du selbst so viel darin gelesen.

»Komm mal her, Wildvogel! Sieh mal! Es gibt ein Dasein ohne Tränen und Geschrei, ohne Schmerzen und ohne Tod.«

Und ich las, wo er mit dem Finger hinzeigte.

»Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, weder Leid, noch Schmerzen wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.«

»Das Erste.« Das ist gerade das Dasein, worin wir uns jetzt befinden. In diesem Dasein kann es nicht ohne Tränen und Geschrei gehen – Gott weiß warum. Aber es gibt noch ein anderes Dasein, frei von aller Erdennot.

Du lieber Menschenfreund! Mit seiner Verheißung, an die du glaubst, hat ja Gott schon deine Tränen getrocknet!

30.

Es tut mir immer leid um Max. Ich weiß nicht warum, denn er ist ja eigentlich nicht zu bedauern, aber dennoch habe ich den heißen Wunsch, ihn aufzuheitern und lächeln zu sehen. Er hat etwas von einem gutmütigen Hunde in seinem Wesen und etwas Schwermütiges in seinem Blick. Es tut mir herzlich leid um ihn, und ich möchte ihm gern helfen. Aber womit kann ich ihm helfen? Vielleicht gibt es doch etwas. Ich kann seinen Vater freundlicher gegen ihn stimmen, habe auch schon etwas darauf hingewirkt. Daß aber ein Dritter eingreifen muß, zeigt ja schon, welche große Kluft zwischen ihnen besteht. Wie gut das Verhältnis auch zwischen ihnen werden mag, so gut wie zwischen Viktor und seinem Vater kann es gewiß nicht werden.

31.

Was ich geahnt, wurde gestern bestätigt, als wir beide allein draußen waren. Wenn wir allein sind, tue ich immer mein Bestes, um ihn zu erheitern. Zuweilen gelingt es mir auch. Ich fragte, warum er Arzt werden wollte.

»Ach, ich glaubte, Vater würde sich mehr für mich interessieren, wenn ich seinen Beruf wählte,« antwortete Max. Aber es lag etwas Selbstironisierendes in seiner Stimme, und ein Lächeln bitterer Enttäuschung spielte um seine Lippen.

Armer Max! Dein Vater, der sonst so edel und gut gegen alle ist, hat dir, ohne es zu wissen, großes Leid zugefügt.

Ihr seid furchtbar verschieden, du und Viktor. Er gewann die Herzen aller, mit denen er zusammenkam, sie gehörten ihm – dir aber wird es schwer, Herzen zu gewinnen. Wie kommt denn das? Was hast du an dir, das die Liebe verscheucht? Vielleicht mißtraust du dir selbst, Herzen zu gewinnen, und dieser Mangel an Selbstvertrauen stößt die Leute ab. Und woher rührt dies unglückliche Mißtrauen? Ich fürchte, es kommt von dem Unterschied, den dein Vater zwischen dir und Viktor gemacht hat.

Ich will dir die Liebe einer Schwester schenken. Ich will sie dir so warmen Herzens geben, daß alles Erstarrte in dir auftaut.

Max kommt jetzt sehr oft nach Hause auf einen längeren oder kürzeren Besuch. Er ist viel heiterer und zugänglicher als sonst. Mich wundert, daß seine Studien ihm so viel Zeit lassen. Sie pflegten ihn doch sonst ganz in Anspruch zu nehmen. Ich faßte mir ein Herz und sagte es ihm, aber das nahm er mir übel.

»Ihr meint vielleicht, daß ich zu oft nach Haufe komme, Vater und du.«

Er war verletzt. Stolz, empfindlich und argwöhnisch wie er ist, nahm er sich gleich vor, nie mehr wiederzukommen, aber es gelang mir, ihn zur Vernunft zu bringen und ihn zu überzeugen, daß wir uns über seine Besuche freuen. Es war keine leichte Sache, und ich bin ganz stolz darauf, daß es mir gelang.

Nicht viele Menschen verstehen Max, und fast niemand ahnt, welche Empfindlichkeit unter seinem schroffen Äußeren verborgen ist. Wenn er sich verletzt fühlt, schweigt er gewöhnlich, aber er wird unfreundlich und verdrießlich, und bei Gelegenheit versucht er, dem Beleidiger eine Wunde zu schlagen. Mit mir aber spricht er, mit mir ist er wieder unbefangen – und das ist mir ein großer Triumph.

Er steht und erkennt jede kleine Verschönerung an, die ich im Kaufe vornehme. Es liegt etwas sehr Ermunterndes in solcher Anerkennung, besonders wenn sie von einem so kritischen Griesgram wie Max kommt.

Mitunter kann er wirklich sehr nett sein.

32.

Mit der Liebe einer Schwester wollte ich das Eis um dein Herz auftauen, Max, und das gelingt mir immer besser, – aber! – – –

Wenn die Frühlingssonne den Frost aus der Erde zieht und das Erstarrte bei der Annäherung des Lebens auftaut, dann geschieht es wohl, daß der Frühling ganz erstaunt ist, wenn er sieht, daß etwas ganz anderes hervorsprießt, als was er geglaubt oder beabsichtigt hat.

Ich möchte wissen, was der Frühling dann macht?

Ich kann mir nicht denken, daß er das Leben zunichte macht, dem er einen Weg bereitet hat, und das voller Hoffnung und Kraft hervorsprießt. Wenn er es auch wollte, vermöchte er es doch nicht, denn es ist etwas Übermächtiges in solch einem Leben.

O Max! Was wird aus dir und mir werden? Der brausende Lebensstrom ergreift uns und reißt uns beide mit sich fort!

33.

Die Glut deines Blickes erschreckt und versengt mich, Max, und deine Worte besitzen eine Macht, die meinen Widerstand überwindet.

Und die Kaninchen! Ach, ich sehe sie noch immer zwischen uns, aber sie vermögen nichts. Sie bilden keine Kluft zwischen uns beiden, aber das Band, das uns vereint, bereitet mir ihretwegen größeren Schmerz.

34.

Ich habe nie zuvor weder Unruhe noch Furcht gefühlt, jetzt aber verspüre ich beides. Ich verstehe die Macht nicht, die du über mich gewonnen hast, Max. Du bist ja der Mittelpunkt aller meiner Gedanken geworden! Wie hast du mich so einnehmen können, daß ich nur noch ein Schatten meiner selbst bin, wenn du abwesend bist? Wenn du aber kommst, dann bin ich wieder mein früheres Selbst, das heißt nicht ganz. Mir ist, als wäre ich in dir und als hinge mein ganzes Dasein von dir ab.

Sollte das Liebe sein, warum fühle ich mich dann so beklommen?

Ich denke an Viktor, an alles, was er in mir weckte und entwickelte, und an alles, was er mir bis auf die Trauer gab. Und mein Gefühl für ihn muß ich wohl Liebe nennen.

Aber was hege ich denn für ein Gefühl für Max? Ich muß es wohl auch Liebe nennen. Was anders als Liebe regt sich in mir, wenn ich an ihn denke! Ich sehe die Schwermut seines Blickes, sehe, wie wenig verstanden und wie zurückhaltend er seit seiner Kindheit ist. Wenn ich mich aber ihm nähere, dann verschwindet das Griesgrämige in seinem Wesen, sein Gesicht hellt sich auf, und bei dem Laut meiner Stimme sieht er ordentlich hübsch aus. Die Glut seines Blickes steckt mich an und erschrickt mich. Der lichte, unschuldige Blick Viktors besaß nie diese Macht. Viktor gab, Max nimmt. Viktor war von oben, Max ist von der Erde. In seiner erstickenden Umarmung und in seinem brennenden Kuß fühle ich eine Macht, die gefährlich ist und die alles zu verderben vermag. Ich fürchte diese Macht, gerade weil sie mich fesselt.

Wir halten unseren Bund noch geheim. Nicht einmal Vater weiß etwas davon. Ich weiß nicht warum, aber es ist mir zuwider, davon zu sprechen. Mir ist, als möchte ich am liebsten, daß gar kein Verhältnis zwischen uns bestände, und doch ist es da – und es kann auch nicht anders sein.

Ich fühle Sehnsucht nach meinem hohen Schloß, nach der Gedankenburg des kleinen Viktor, nach dem weiten Blau, zu dem man durch eine Pforte dumpf rollender Wolken gelangt. Da ist die Luft rein und kühl, und der Raum unendlich.

Ich habe keine Schlinge um meinen Fuß, keinen Käfig um mich her, und meine Flügel sind nicht beschnitten. Max streckt nur seine Hand aus, und Wildvogel sitzt darauf. Wildvogel kann nicht anders und will nicht anders, ist frei und doch gefesselt.

35.

Vater spricht oft von Viktor mit mir, ich aber spreche immer öfter mit ihm von Max. Der Lebendige braucht uns notwendiger als der Tote. Dem Lebendigen können wir helfen, ihn können wir lieben und erfreuen. Nach dem Toten können wir uns nur sehnen – und für die Sehnsucht bin ich nicht geschaffen.

Ich versuchte Vater das zu erklären, aber er sah mich verwundert an und verstand mich nicht. Dann strich er mir über das Haar, wie er öfters zu tun pflegt. »Wildvögelchen!« sagte er nur, als sollte mir das zur Entschuldigung dienen.

»Vom Wildvögelchen kann man nicht zuviel verlangen, ein Wildvögelchen hat ja seine eigene Art.«

Der liebe alte Vater! Was er nicht versteht, das läßt er und verdammt es nicht. Er begreift, daß es ebenso berechtigt sein kann, wie das, was er faßt. Güte leuchtet aus seinen Augen. Das Leben hat ihn milde gemacht.

36.

Ich habe mich Helga anvertraut. Sie versteht mich nicht. Sie glaubt, daß meine Liebe zu Max gleichbedeutend damit ist, daß ich Viktor schon vergessen habe, und sie meint, das sei zu früh, obschon ein Jahr seit seinem Tode verflossen ist. Der Sommer ist schon vorüber und der Winter naht. Helga gehört zu den Frauen, die nur einmal lieben können, und sie kann sich etwas anderes gar nicht vorstellen. Sie würde mich nicht verstehen, wenn ich ihr sagte, daß Max, in gewissem Sinne, wirklich meine erste Liebe ist. Den kleinen Viktor liebte ich auf ganz andere Weise. Er war ja halb Engel, halb Kind. Meinen alten Doktor liebe ich wie einen Vater und wie mein Ideal. Aber Max liebe ich, wie das Weib den Mann liebt.

37.

Es paßt trefflich zu meiner Stimmung, daß der Sturm braust und schwarze Wolken sich am Himmel jagen. Es paßt, daß die Herbstpracht von den Bäumen gerissen wird, bis sie kahl sind. Es paßt auch gut, daß das Wasser Vängans von wütenden Winden grau gepeitscht wird. Ruhe und Stille um mich her würde ich jetzt nicht ertragen. Der Wind draußen heult und klagt und hat aus meiner eigenen Brust Töne entliehen.

Ein verhängnisvoller Brief von Max liegt vor mir auf dem Tisch. Was er mir nicht ins Gesicht sagen konnte, hat er mir in jenem Briefe gesagt. Es ist ein Geständnis, zu dem sein Gewissen ihn gezwungen hat.

Der Brief ist voller Reue, und er hofft Verzeihung zu finden.

Aber er bereut das nicht, was Reue fordert. Er erwartet, daß ich ihm verzeihen werde, und doch sollte er Verzeihung bei einer anderen suchen.

Er will keine schriftliche Antwort haben. In drei Tagen kommt er wieder hierher und wünscht, daß ich ihn allein und zu Fuß am Bahnhof abhole. Auf dem Heimweg sollen wir dann die Sache ins reine bringen. Er glaubt, daß wir nur die kleine Strecke durch den Wald brauchen, um mit der Angelegenheit fertig zu werden. Die Liebe löst ja jedes Rätsel und schlichtet jeden Konflikt. Ja, wäre meine Liebe nur eine oberflächliche, dann schlichtete sie gewiß auch diesen Konflikt leicht genug – aber nun liebe ich auch das Edle an dir, Max, dein innerstes Wesen, und das darf nicht untergehen. Ach! Was für eine Antwort soll ich dir geben, Max? Wie soll ich uns den richtigen Weg finden?

38.

Der Heimweg durch den Wald war nicht lang genug, das wußte ich. Nein, wir haben einen weiten, schweren Weg vor uns, um zur Klarheit zu kommen.

Max war offenherzig gegen mich, er, der sonst so verschlossen ist. Und ich weinte innerlich, immer hoffnungsloser, je mehr ich hörte.

Um sich zu entschuldigen, erklärte er, wie er in dieses Verhältnis geraten sei, das er mir in seinem Briefe beichtete und womit er jetzt brechen wollte. Keine schlechte Begierde, sondern der Hunger nach Liebe hat ihn in die Arme des Mädchens getrieben. Er schildert sie als ein nettes, gutherziges Geschöpf, anspruchslos und leicht zu befriedigen, aber oberflächlich und gar zu ungebildet, um ihm auf die Dauer zu genügen. »Wenn ich dir nicht begegnet wäre, hätte ich sie vielleicht bis an mein Lebensende ertragen, nun aber kannst nur du allein mich befriedigen. Du darfst mich nicht verstoßen, Wildvögelchen! Du mußt mir verzeihen!«

Er bat inbrünstig, und mein Herz weinte über ihn, über sie und über mich selbst.

Die Lösung des Konflikts hängt nicht von meinem Willen ab, ich habe ja gar keine Wahl. Die Sache ist nicht zu ändern. Es wundert mich nur, daß Max das nicht einsieht. Er wünscht, daß ich ihm verzeihe und mich mit ihm verheirate. Ich kann ihm wohl verzeihen, aber ich kann mich doch nicht mit ihm verheiraten, da er schon eine Frau hat, den sie ist natürlich seine Frau, obschon sie nicht mit ihm getraut ist.

Das Unrecht sieht er nur in seinem Verhältnis zu ihr, und sie um meinetwillen zu verstoßen, nennt er Genugtuung. Ich habe eine ganz andere Auffassung. Ich sehe das Unberechtigte in seiner Liebe zu mir und seine einzige Genugtuung darin, daß er dem Mädchen Gerechtigkeit widerfahren läßt und sich mit ihr verheiratet.

Das habe ich ihm auch gesagt, aber er antwortete, daß sie das gar nicht verlangt. Sie stellt keine Ansprüche an ihn, und er hat ihr kein Versprechen gegeben. Das Verhältnis zwischen ihnen ist frei und ungebunden, und daher, meint er, kann es auch ohne weiteres abgebrochen werden. »Du mußt dich ihrer annehmen, du mußt dich mit ihr verheiraten und sie zu dir emporziehen. Suche den Menschen in ihr und reiche dann diesem Menschen deine Hand!«

So sprach ich zu ihm und hatte das Gefühl, die rechten Worte gefunden zu haben, aber er schien mich nicht zu verstehen. Er wollte es nicht.

»Ich glaubte, du seist ein Wildvogel, und nun finde ich plötzlich, daß du viel engherziger bist, als der strengste Sittlichkeitseiferer,« sagte er bitter und höhnisch.

»Ich staune über mich selbst, aber es ist weder Grundsatz noch Ansicht, was mich streng macht. Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß nur, daß der Mann einer anderen Frau mir nicht angehören kann.«

»Du liebst mich nicht,« rief er heftig aus.

»Ich liebe dich, aber meine Liebe schwebt in Todesgefahr. Du mußt sie retten, Max!«

»Ich? Wie?« »Das weißt du!«

Er schwieg finster. Er weiß, was ich meine, aber er will es nicht verstehen. Er will nicht glauben, daß es mein Ernst ist. Er beabsichtigt, mit mir zu streiten, und es wird mir nicht leicht werden, ihm zu widerstehen.


 << zurück weiter >>