Hugo Bettauer
Das blaue Mal
Hugo Bettauer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Mein Name ist Carlo Zeller aus Wien, ich bin erst wenige Wochen im Lande und werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich bei der Arbeit meiner annehmen wollen!«

Drei junge Mädchen verbeugten sich geschmeichelt, reichten ihm die Hand. Grete Möller, Erna Struve, Lilli Wegner. Grete Möller war eine strohblonde, stattliche, aber schon etwas verblühte Hannoveranerin und seit drei Jahren in Amerika. Erna Struve klein und unansehnlich, vor einem Jahre mit ihren Eltern aus Lübeck gekommen, Lilli Wegner erst einige Monate hier. Ihre Brüder lebten seit Jahren in New York und hatten die verwitwete Mutter und die achtzehnjährige Schwester jetzt nachkommen lassen. Lilli gefiel Carlo gut, sie war mittelgroß, hatte weiche, schmiegsame Bewegungen und gute blaue Augen. Mit ihr hatte er vorläufig auch am meisten zu tun; er diktierte ihr die deutschen Briefe in die Maschine, die er nach kurzen stenographischen Bemerkungen des Generaldirektors entwarf. Französische und italienische Briefe an Buchhändler schrieb er selbst, wenn auch noch etwas unbeholfen auf der Maschine, da er in dieser Abteilung der einzige war, der die Sprachen beherrschte.

Die »International Book Company«, bei der nun Carlo angestellt war, monopolisierte die Einfuhr und Ausfuhr von Büchern und Zeitschriften aus und nach Europa, es war ein gewaltiger Betrieb mit mehr als tausend Angestellten, von denen mehr als drei Viertel die mechanische Arbeit des Verpackens, Adressierens und Rubrizierens zu besorgen hatten. Winzige Rädchen im großen Mechanismus, während Carlo doch mehr schon Feder und Antrieb war.

Die Zeit verlief rasch und Carlo war von dem Gefühl, Mensch unter Menschen zu sein, nutzbringende, bezahlte Arbeit leisten zu dürfen, so beglückt, daß er keine Müdigkeit verspürte, als mit dem Glockenschlag sechs alles zum Aufbruch drängte.

Lilli wohnte mit der Mutter und den zwei Brüdern in einem Mietshaus in der ersten Avenue, und fast von selbst ergab es sich, daß Carlo sich ihr anschloß und sie begleitete. Sie legten den nicht allzu weiten Weg zu Fuß zurück; er erzählte ihr mit wenigen Worten von seinen reichen, bewegten Jünglingsjahren in Wien, das Mädchen klagte, daß es sich in der großen Stadt, deren Sprache sie noch nicht beherrschte, ungemütlich fühle, um so mehr, als ihre Brüder ihr fremd seien und sie die Abende immer in der dumpfen, abscheulichen Wohnung verbringen müsse.

»Immerhin,« sagte Carlo leise, »Sie haben doch Ihre Mutter und die Brüder um sich, ich aber bin ganz allein, kenne keinen Menschen, habe niemanden, mit dem ich sprechen und einen Gedanken austauschen könnte.«

Sie waren beim Tor des häßlichen, vierstöckigen Hauses angelangt, und Lilli sah ihn mit großen Augen mitleidig an.

»Wenn Sie sich einsam fühlen, Herr Zeller, dann kommen Sie doch abends nach dem Speisen ruhig zu uns. Die Brüder sind selten zu Hause, und wenn auch, Mutter und ich sitzen doch gewöhnlich in unserem Stübchen und es wird uns sehr freuen, wenn Sie mit uns plaudern wollen.«

Freudig sagte Carlo zu. Als er dann allein nach dem Hotel St. Helena ging, lächelte er dünn vor sich hin:

Vor wenigen Monaten noch hätte ich mich nach diesem kleinen Mädchen in der Baumwollbluse sicher nicht umgedreht, Abend für Abend verbrachte ich in großer Gesellschaft, beim Spiel mit vornehmen Freunden oder in Salons schöner Frauen, die mich gut leiden mochten, deren schlanke, weiße Hände zitterten, wenn ich sie küßte oder gar verwegen meine Lippen auf die Pulsadern drückte. Heute bin ich ein armer Clerk, einer unter Millionen, und werde froh sein müssen, wenn ich einen Abend mit zwei einfachen Frauen, die mir nichts sagen können und meinen Nerven nichts sind, verbringen darf. Wer mir das alles vorausgesagt hätte, wer mir heute voraussagen könnte, wohin mein Weg mich noch führen wird!? – – –

Die nächsten Tage verliefen im Gleichklang der Arbeit, der Generaldirektor nahm zweimal Anlaß, Carlo seine außerordentliche Zufriedenheit auszudrücken, so daß dieser sich immer sicherer fühlte und Vertrauen in die Zukunft faßte. Mißtrauische, ironische Blicke seitens anderer Angestellter, mit denen er auf der Treppe oder in den Korridoren zusammentraf, beachtete er nicht, ließ er an sich abgleiten. In nähere Berührung kam er mit niemandem, außer mit den drei deutschen Mädchen, da das Zimmer, in dem er arbeitete, direkt vom Treppenflur des dritten Stockwerkes betreten werden konnte. Abends begleitete er immer Lilli nach Hause, besucht aber hatte er sie noch nicht, da sie die Einladung nicht mehr wiederholte und er, ohne nachdrücklich nochmals aufgefordert zu werden, nicht kommen wollte.

Am Samstag bekam Carlo zum erstenmal in seinem Leben selbstverdientes Geld in die Hand, und zwar, obwohl er erst am Mittwoch eingetreten war, den ganzen Wochenlohn von zwanzig Dollar. Er lachte vergnügt in sich hinein, als er neben Lilli die Straße entlang schritt, und dämpfte selbst das Gefühl einer gewissen stolzen Zufriedenheit, indem er sich daran erinnerte, wie er noch vor so kurzer Zeit ganz andere Beträge flüchtigen Launen, schalen, eingebildeten Vergnügungen geopfert hatte.

Die Oktobertage waren warm und sonnig, sie repräsentierten den »Indian Summer« in seiner vollen Glorie, man hatte das Empfinden, einem neuen Frühling entgegenzukommen, und Carlo schlug Lilli vor, morgen nachmittag mit ihm das berühmte Coney Island, das er noch nicht kannte, zu besuchen.

Das Mädchen willigte vergnügt ein. Einmal war sie schon mit ihren Leuten dort gewesen, aber damals sei es furchtbar heiß und voll gewesen, ihre Mutter habe Kopfschmerzen von all dem Lärm und Trubel bekommen und so habe sie von all den Karussell- und anderen Vergnügungen eigentlich nichts gehabt.

Zeller erwartete das kleine Mädchen am Sonntag nachmittag beim Haustore, und sie fuhren über die endlose Brooklyner Brücke in der maßlos überfüllten Hochbahn nach Coney Island, dieser riesigen, an der Küste gelegenen Vergnügungsstadt, die fast die einzige Erholung der unteren drei Millionen New Yorks bildet. Betäubender Lärm empfing sie, erstickender Dunst von Menschen, von den fremden Maiskolben, die offen verkauft werden, von tausend Würstelbuden, das Geheul von etlichen hundert Musikkapellen, das Kreischen der Menschen, die hoch oben in der Luft durch tollkühne Hochschaubahnen flogen. Ein Wurstelprater in tausendfacher Vergrößerung, ins Gigantische und Groteske verzerrt.

An der Seite des jungen Dinges, dem Mannheim noch in den Gliedern steckte, umbrandet von einer ausgelassenen Menschenmenge, fühlte sich auch Carlo heute nur als Junge, jauchzend ließ er sich mit Lilli in Gondeln durch die Luft schwenken, bestieg Holzpferde, die einen unbedingt abwarfen, kostete das Vergnügen des Teufelsrades, aus dem man zum Gelächter der Umstehenden hinausgeschleudert wird, und verirrte sich mit seiner Begleiterin für nur zehn Cent unrettbar in einem gigantischen Labyrinth, in dem nur hier und da das Auge eines Gnomen elektrisch aufleuchtete. Als er aber fühlte, wie sich Lilli ängstlich an ihn schmiegte, da loderten seine jungen, ausgehungerten Sinne auf, er schlang den Arm um den weichen Leib des Mädchens und versengte ihre zuckenden, zuerst widerstrebenden, dann hingebungsvoll gereichten Lippen mit seinen Küssen. Bis plötzlich ein elektrischer Pfeil vor ihnen auftauchte und die Dunkelheit zerriß und ihnen wie den anderen Liebespaaren den Weg wies.

Vergebens mahnte Lilli zur Sparsamkeit. Im feinsten Restaurant von Coney Island speisten sie zu Abend. Und hier trat ein kleiner Zwischenfall ein, der jäh die glückliche Stimmung durchbrach. Zwei Herren gingen an ihrem Tisch vorbei, blieben einen Augenblick stehen, und der eine sagte laut zu dem anderen: »Pfui, da sitzt ein weißes Mädel mit einem Farbigen!« Dann gingen sie weiter.

Alles Blut wich aus Carlos Gesicht, es färbte sich so aschgrau, daß Lilli, die die englisch gesprochene Bemerkung nicht verstanden hatte, ängstlich ihre Hand auf seinen Arm legte und fragte, ob ihm schlecht geworden sei. Mühsam gewann er seine Fassung wieder, schüttelte den Kopf, zahlte aber rasch und bat Lilli, die vielleicht noch gerne geblieben wäre, mit ihm zu gehen. In beklommenem Schweigen verlief die Rückfahrt, und Lilli wußte sich die Verstimmung Zellers nicht zu erklären.

*


 << zurück weiter >>