Hugo Bettauer
Das blaue Mal
Hugo Bettauer

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In der Tür des Reisebureaus stieß er mit einer jungen Negerin zusammen, und er hörte noch, wie sie gleich ihm eine Karte nach Atlanta verlangte.

Interessiert, fasziniert blieb Carlo draußen stehen, bis das Mädchen wieder herauskam und vor ihm zum Bahnhof ging.

Unter den Negern gibt es schöne und häßliche Menschen genau so wie unter den Ariern, und dieses Mädchen verkörperte das Prachtexemplar einer schwarzen Schönheit. Übermittelgroß, schlank, der junge Leib beim Gehen biegsam und schwebend, die Füße klein und schmal, die Fülle des blauschwarzen Haares zu einem Knoten geschlungen, die Nase nicht, wie es so oft bei den Äthiopiern der Fall ist, breit und stumpf, sondern schmal und fein, die kirschroten Lippen nicht wulstig, sondern nur üppig, und die großen, dunklen Augen keine unbewußten Kuhaugen, sondern klug und tief und ein wenig schelmisch, wie Carlo empfand, als er merkte, daß ihm das Mädchen an der nächsten Straßenbiegung einen flüchtigen Blick zuwarf.

Wie Kinder von Natur aus das Bunte, Glitzernde, Grelle lieben, so auch die Neger und ganz besonders die Negerinnen, die sich in grotesker Nachahmung der herrschenden Mode das Äußerste zu leisten pflegen und sich an bunten, schreienden Farben nicht genug tun können. Das junge Mädchen, dem Carlo folgte, war hierin entschieden eine Ausnahme. Ein dunkelblauer Rock, eine schlichte weiße Blume, ein mit einigen Blumen geschmücktes Strohhütchen, weiße Seidenhandschuhe und Lackhalbschuhe – vollkommene Lady auch in der Kleidung.

Carlo meditierte vor sich hin. Welch komische, unlogische Welt, die wir uns geschaffen haben! Würde dieses junge Weib heute in Berlin oder Wien auftauchen, es wäre im Nu die gefeierte Schönheit des Tages, die Aristokraten und Geldmagnaten würden sich um die Gunst der schwarzen Venus reißen, mit einiger Klugheit und Zurückhaltung würde es ihr unschwer gelingen, die Gattin eines der Großen im Lande zu werden! Hier aber? Hier ist sie ein Auswürfling, der mit Weißen nicht an einem Tisch speisen, nicht in einer Sitzreihe des Theaters sitzen darf, gerade gut genug ist sie, um die Begierde irgendeines Kerls zu stillen, und wenn sie von einem Weißen ein Kind empfängt, so ist auch dieses wieder ein Auswurf, ein elender Mulatte, der zurück zu seiner Rasse muß!

Der Bahnhof war erreicht, das Mädchen verschwand im Menschengewühl. Carlo ließ am Schalter seine Karte abstempeln und war im Begriff, in den nächstgelegenen Waggon des bereitstehenden Zuges einzusteigen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. Er wandte sich um und sah sich einem schwarzen Schaffner gegenüber, der ihm, von einem Ohr bis zum anderen grinsend, zurief:

»Hallo, Jimmy, das ist ein Irrtum, du gehörst da hinten in einen der Wagen für unsere Leute!«

Wieder quoll in Carlo der Jähzorn hoch, wieder fühlte er das Sausen seines Blutes in den Ohren, aber im letzten Augenblick ließ er die geballte Faust sinken.

Gegen wen bin ich im Begriff zu toben? Gegen diesen armen Kerl, der nur seine abscheuliche Pflicht tut? Gegen das eingefleischte Vorurteil der Herren dieses Landes?

Tief aufatmend folgte er der Weisung und bestieg einen der beiden letzten Waggons, die die Aufschrift trugen: »Only Coloured! People«. Aber so gepackt und ergriffen hatte ihn dieser neue Schlag gegen sein Selbstbewußtsein, daß er, als er sich auf seinen Sitz niederließ, unwillkürlich zwischen den Zähnen hervorstieß:

»Gemeines Pack, verdammtes!«

Ein halblautes, helles Lachen ließ ihn aufblicken. Ihm gegenüber saß am offenen Fenster das junge Mädchen, dem er vom Reisebureau aus gefolgt war. Es lächelte ihn jetzt direkt an, beugte sich aber, von seinem noch immer zornigen und fragenden Blick getroffen, vor und sagte leise in tadellosester Betonung, wie sie den Negern im Norden nie eigen ist:

»Verzeihen Sie mein Lachen! Aber ich habe die Szene auf dem Bahnsteig beobachtet und nun Ihre empörten Worte – sicher sind Sie hier im Süden ganz fremd, sonst würden Sie sich über solche Selbstverständlichkeiten nicht erregen!«

Carlo empfand es sehr angenehm, auf diese Art das junge, schöne Weib kennen zu lernen, aber sein Ärger war noch zu groß, und so antwortete er fast brüsk:

»Ich bin allerdings hier im Süden fremd und eigentlich auch im Norden, und eben im Begriff, dieses abscheuliche, verrohte Land, das ich besser nie betreten hätte, wieder zu verlassen!«

Das Mädchen sah ihn nun mit großen, teilnahmsvollen Augen an.

»Wie das? Sie, ein Mischling, sind nicht in den Vereinigten Staaten zu Hause? Darf man, ohne indiskret zu sein, fragen, woher Sie kommen?«

Carlo überlegte kurz. »Warum soll ich ihr nicht von meinem Leben erzählen, da ich es so vielen anderen Menschen gegenüber tun mußte, die ersichtlich weniger intelligent und distinguiert waren, als diese da?«

Und er verbeugte sich leicht und nannte seinen Namen.

»Jane Morris,« lautete die Erwiderung und dann: »Carlo Zeller? Eine Mischung von germanisch und romanisch. Darf ich Sie nun bitten?«

Er war verwirrt! Romanisch und germanisch! Welch seltsame Worte aus dem Munde einer Negerin! Nun, mit ihr würde er, auch ohne die primitivsten Worte suchen zu müssen, sprechen können. Und mit Hinweglassung alles allzu Persönlichen und besonders seiner grausamen Herzensaffäre erzählte er von seiner Abstammung, seinem Leben in Europa und den Begebenheiten in Amerika.

»Und nun habe ich genug und werde namenlos glücklich sein, ein Land verlassen zu können, das von den niedrigsten Vorurteilen und bösesten Rasseninstinkten beherrscht wird!«

Jane hatte das weiche, runde Kinn in die kleine braune, gut gepflegte Hand gestützt und ihm aufmerksam zugehört. Dann sagte sie, während über ihre Augen ein Schatten fiel:

»Nun, bedenken Sie gar nicht, wie unrecht es von Ihnen ist, von hier wegzugehen? Ahnen Sie nicht, wie notwendig wir Männer brauchen, wie Sie einer sind?«

Jäh zuckte der Mann zusammen. Wo hatte er fast dieselben Worte schon gehört? Richtig, vor Monaten, in einer nassen Novembernacht hatte der schwarze Methodistengeistliche im Negerrestaurant, in dem er, halb verhungert, gelabt worden war, dasselbe gesagt.

Jane, als wenn sie seine Gedanken erraten würde, sagte:

»Ja, Herr Zeller, sehr, sehr notwendig brauchen wir Sie! Wir können Sie gar nicht entbehren in dieser heißen, schicksalsschweren Zeit, in der wir Neger hier leben.«

Carlo bäumte sich auf, als müßte er Fesseln entrinnen, die um ihn geschlungen würden.

»Sie brauchen mich? Wozu, wenn ich fragen darf? Gibt es nicht genug schwarze, braune und gelbe Neger, die den weißen Mann bedienen, ihn rasieren, ihm die Stiefel putzen und seine Sklaven sind? Oder soll ich hier im Süden Baumwolle zupfen oder am Ende gar Geistlicher werden und Schwermut, Demut und Ehrfurcht predigen?«

So laut hatte er gesprochen, daß die anderen Passagiere aufmerksam wurden. Jane flüsterte ihm zu:

»Da Sie Französisch sprechen, so ist es besser, wenn wir die Unterhaltung in dieser Sprache fortsetzen.«

Wieder war Carlo verblüfft. Das Mädel sprach also Französisch! Und der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß er doch noch verschiedenes, was wissenswert sein mochte, nicht erfahren hatte. Auch diesen unausgesprochenen Gedanken nahm Jane auf.

»Sie sind ja wohl an Bildung den meisten Amerikanern turmhoch überlegen,« sagte sie in fließendem, wenn auch im Akzent nicht einwandfreiem Französisch, »aber von der Negerfrage scheinen Sie wenig zu wissen und nur das grob Äußerliche erfahren zu haben. Wenn ich Sie nicht langweile, so will ich Ihnen einiges, was Sie nicht wissen, mitteilen. Hören Sie denn und erfahren Sie, daß in der lächerlich kurzen Zeit von kaum einem halben Jahrhundert innerhalb der Vereinigten Staaten Entwicklungen vor sich gegangen sind, wie sie in gleicher Rapidität und Intensität die Weltgeschichte noch nicht erlebt hat. Stellen Sie sich vor: Elende Seelenverkäufer haben die Neger in Afrika zusammengepackt und nach Amerika verschachert. In Afrika lebten diese Menschen fast wie im Urzustand, nackt, wild, von den Früchten der ungepflegten Erde sich nährend, ganz ihren dumpfen Trieben überlassen. Doch aber Menschen, die irgendwo tief vergraben den göttlichen Funken besaßen. Als willenlose Sklaven und Arbeitstiere verloren sie manches von ihrer Ursprünglichkeit, gewannen aber nichts an Geistigkeit und Lebenskultur. Im besten Fall wurden sie dressiert, so daß sie das ästhetische Empfinden der weißen Herren nicht allzu gröblich verletzten. Dann kam der Krieg zwischen Norden und Süden und die sogenannte Emanzipation der schwarzen Sklaven. Seither sind wenig mehr als fünfzig Jahre verflossen. Und wissen Sie, was wir hier im Süden, wo die Neger in dichten Massen verblieben sind, das heißt einige Auserlesene unter uns und eine Handvoll kluger, geiler Amerikaner erreicht haben? Wissen Sie, daß es um das Jahr 1850 herum nahezu keinen Neger gab, der lesen und schreiben konnte, im Jahre 1890 noch neunzig Prozent Analphabeten waren und es heute kaum noch zwanzig Prozent sind, diese aber nur unter älteren Leuten, während hier im Süden es kaum noch schwarze Kinder gibt, die nicht zur Schule gehen? Wir haben heute 40.000 Lehrer und, abgesehen von den Volksschülern, 100.000 Studenten an Schulen, die ungefähr den deutschen Gymnasien entsprechen. Wir haben Ärzte und Ärztinnen zu Tausenden, wir haben Heime für Säuglinge und Kinder, wir haben große, starke Negerbanken mit vorzüglich ausgebildeten Beamten und Direktoren, wir sind Unternehmer und Eigentümer geworden, und nicht weniger als 900.000 Neger haben Grund und Boden, den sie selbst als Herren bearbeiten. Heute, nur fünfzig Jahre nach unserer Befreiung, befinden sich nach genauen Berechnungen tausend Millionen Dollar im Besitz von Negern, auf dem vorjährigen Medizinerkongreß in Atlanta sind mehr als fünfhundert schwarze Ärzte und Dentisten erschienen. Wir haben gegen hundert Zeitungen, die von Farbigen geschrieben, gesetzt und redigiert werden. Wir haben große Bibliotheken und sechsunddreißig Versicherungsgesellschaften, die nur Neger aufnehmen. Und alle diese Ziffern wachsen von Jahr zu Jahr, trotzdem die Amerikaner dagegen toben und wüten und uns, angesichts dieses beispiellosen Aufschwunges, noch mehr hassen als je zuvor.«

Jane Morris hatte sich in Erregung gesprochen und lehnte sich jetzt, sich Luft zufächelnd, leise lächelnd, zurück. Carlo war wie betäubt.

»Das ist allerdings kolossal! Wie war das nur möglich?«

Jane richtete sich straff auf, und in ihrer glockenhellen Stimme klang Begeisterung:

»Wie das möglich war? Dies alles ist das Werk der Nationalen Vereinigung farbiger Menschen, einer wunderbaren Schöpfung unserer Führer Corvoy und Du Boy. Kurz nachdem dieser elende Mulatte Booker Washington als von den Weißen gekaufte Kreatur entlarvt worden war, gründeten junge, kluge, gebildete Neger diese Vereinigung, und seither kämpfen wir mit allen Waffen des Geistes um unseren Fortschritt, unsere Einigung, unsere wahre Befreiung. Glauben Sie nun nicht, daß wir Männer wie Sie brauchen?«

Widerstrebende Empfindungen schnürten Carlo die Kehle zu. Zu viel des Neuen war auf ihn eingestürmt, es dauerte Minuten, bevor er Ordnung in sein Denken bringen konnte.

»Wohin aber soll das alles führen? Doch schließlich nur zu einem furchtbaren Kampf zwischen Weiß und Schwarz! Denn die Amerikaner werden niemals gutwillig die Gleichberechtigung der Neger anerkennen, je mehr diese zu ebenbürtigen Menschen werden, desto weniger!«

»Tausendmal in der Geschichte sind diese Worte gesagt worden und immer wurden sie von den Tatsachen widerlegt! Die Herren haben sie den Bauern und Arbeitern gegenüber gebraucht, die Franzosen den Deutschen gegenüber, und vor zweihundert Jahren noch waren wohl alle Christen darin einig, daß niemals den Juden Gleichberechtigung eingeräumt werden dürfe. Ich, besser gesagt, die Männer, die meine Lehrer und Erzieher sind, halten das Problem für leichter, als es erscheint. Eigentlich wollen wir dasselbe, was die Amerikaner wollen. Diesen graut vor dem Gedanken, ihre Rasse mit der unsrigen zu vermischen, und sie haben darin recht, weil jede Art ihre Eigentümlichkeit entwickeln, nicht aber ändern soll. Nun, wir arbeiten darauf hin, daß auch der Neger Rassenstolz empfindet und seine Art bewahrt. Es soll keine Mulatten und Terzeronen mehr geben, sondern nur Neger, je schwärzer desto besser! Unseren Mädchen predigen wir es täglich in der Schule, daß sie sich niemals einem weißen Mann hingeben dürfen, weil sie dadurch ihre Rasse besudeln und verschlechtern. Es ist ja leider wahr, daß der Mulatte gewöhnlich die bösen Instinkte beider Eltern empfängt und nur dann ein vortrefflicher Mensch wird, wenn Vater und Mutter tadellos waren. Werden die Weißen erst sehen, daß wir niemals, nicht aus Furcht, sondern aus Stolz, den Bannkreis ihrer Rasse überschreiten wollen, dann werden sie sich auch mit unserer Existenz leichter abfinden und uns achten lernen. Wir aber wollen uns unermüdlich heranbilden, an Unternehmungsgeist mit ihnen wetteifern, das Niveau der Massen von Jahr zu Jahr heben, und daß uns dies gelingt, beweist der kurze Rückblick zur Genüge.«

»Gut, Miß Morris, damit haben Sie aber meine Frage noch nicht beantwortet. Der Neger vermehrt sich rascher als der Amerikaner, den die tausendjährige Kultur seiner Ahnen müde gemacht hat. Also wird es in abermals fünfzig Jahren in Amerika vielleicht dreißig Millionen Neger geben und in hundert werden aus den ganzen Millionen von heute deren hundert geworden sein. Halten Sie es für möglich, daß auch dann zwei vielleicht gleich starke Völker ohne natürliche Grenzen und ohne Vermischung beieinander leben? Muß es dann nicht zu einer furchtbaren Machtprobe kommen, zu einem Kampf auf Tod und Leben?«

Der Zug fuhr durch den Bahndamm, durch endlose Baumwollfelder, Neger mit riesigen Strohhüten winkten fröhlich hinauf, ganze Bündel von schwarzen Kindern standen und spielten vor den kleinen Lehmhütten und elenden Holzhäusern.

Jane hatte, die Augen mit der Hand beschattet, hinaus in das Land geblickt, das in der Sonne glühte, und sagte:

»Innerhalb unserer großen Nationalen Vereinigung gibt es zwei Gruppen: die eine, die kleinere, hat sich die Rückwanderung nach Afrika als Ziel gesteckt, die andere, die drei Viertel der Mitglieder umfaßt, denkt an eine friedliche und automatische Eroberung der Südstaaten Amerikas. Ich gehöre dieser Gruppe an. Schrittweise werden wir hier zu Herren des Landes werden, weil wir jung, unverbraucht, zäher und willensstärker sind als der faule, weiße Südstaatler, der sich noch ›Oberst‹ nennen läßt und veraltete Herrenträume träumt. An ihm werden sich eben die entsetzlichen Verbrechen seiner Voreltern rächen, er wird sein Hab und Gut, den Boden, das Geld an uns verlieren, bis wir eines Tages hier im Süden in so überwältigender quantitativer und qualitativer Mehrheit sein werden, daß wir den Süden für uns werden beanspruchen können. Aber das alles liegt in weiter Ferne und ist eigentlich für uns, die wir jetzt leben, nebensächlich. Für uns gibt es nur eines: Unermüdliche Arbeit an uns und für uns! Und wollen Sie es noch immer nicht glauben, daß wir Männer wie Sie brauchen, daß Sie hier zu Großem berufen wären und ein an Erfolg und Ehren reiches Leben führen könnten?«

Wie eine schwere Last empfand Carlo diese Worte, unter der er das Haupt nach vorne sinken ließ. Er schloß die Augen, rang mit sich, sah die Vergangenheit in Europa voll Licht und Glanz, die Zukunft düster und verhangen, Wolken über sich, Abgründe neben sich. Tief atmete er auf, heiß kämpfte er gegen das junge, blühende, schwarze Weib an.

»Und wenn Sie sich irren, wenn es wirklich so ist, daß die Neger Halbtiere sind und zwischen ihnen und den Kaukasiern eine Kluft besteht, die nie überbrückt werden kann?«

»Dagegen spreche ich selbst, dagegen sind meine Freunde, dagegen sind die Führer unserer Bewegung der beste Beweis. Ich kenne genug weiße Männer und Frauen und weiß genau, daß sie nicht klüger sind und nicht besser, als die Fortgeschrittenen unter uns. Ich kenne die Literatur der europäischen Völker und weiß genau, daß sie auf einem ungeheuer hohen Niveau angelangt ist. Ich kenne aber auch Bücher unserer jungen Gelehrten und Dichter und sehe, daß diese weiter bauen und fortsetzen, nicht erst neu beginnen. Ich bin Lehrerin an einem Heim für verlassene farbige Mädchen und habe Schülerinnen, die dumm und boshaft sind, und solche, die klug und lieb sind, faule und fleißige, solche, die das Schwerste schnell auffassen, und solche, die nichts begreifen können. Genau dieselben Erfahrungen mache ich, wie sie jede Lehrerin in einer weißen Schule macht.«

Carlo nahm einen neuen Anlauf.

»Und die Moral der Neger, vor allem die sexuelle Moral? Ist es nicht um die sehr arg bestellt?«

Jane lächelte.

»Arg? Wir sind leidenschaftlicher, unser Blut ist heißer, wir sind in der Erotik weniger spekulativ, und unser Volk ist jung und bedenkenlos und unerzogen! Das ist alles! Aber der echte Moralunterricht, den wir in unseren Schulen erteilen, fällt auf fruchtbaren Boden, schon hüten sich unsere Mädchen, allzu leicht die Beute des Mannes zu werden, und ich fürchte, daß in wenigen Jahrzehnten auch bei uns die Erotik in so innigem Zusammenhang mit der Mitgift der Frau und der Karriere des Mannes stehen wird, wie es bei den weißen Völkern der Fall ist.«

Carlo, von der köstlichen Ironie dieser Worte entzückt, lachte hell auf, um dann den letzten Trumpf auszuspielen.

»Vernichten alle Ihre Theorien nicht das Beispiel von Haiti? Dort haben die Neger längst ihre volle Freiheit und Selbstverwaltung, und was ist daraus geworden? Ein Weltskandal, ein Zerrbild, eine widerwärtige Affenkomödie!«

»Vortrefflich, man sieht, daß Sie eifrig die amerikanischen Zeitungen lesen! Oh, wie oberflächlich ist es aber, uns immer wieder Haiti entgegenzuschleudern! Ich betone ja selbst, daß wir ein Volk ohne Tradition, ohne Geschichte, ohne Vergangenheit sind, ein Volk, das in den Kinderschuhen steckt! Nun nehmen Sie einmal den Fall, es würde jemandem einfallen, zwanzigtausend oder mehr Kinder, die noch nicht lesen und schreiben können, zusammenzupacken, nach einer fruchtbaren Insel zu transportieren und zu sagen: So, da könnt ihr nun in voller Freiheit leben, wie es euch paßt! Würden sich nicht diese zwanzigtausend europäischen oder amerikanischen Kinder trotz der Kultur ihrer Eltern zu halben Tieren entwickeln? Würde nicht auch diese Kinderrepublik ein Witz und die Beute der bösesten und grausamsten unter den Kindern werden? Lassen Sie die haitischen Neger durch wohlmeinende Weiße oder durch unsere gebildeten Neger erziehen, dann ist in Haiti in fünfzig Jahren mindestens so viel Kultur aufzuweisen, wie heute etwa in Australien!«

*

Der Zug hielt in einer größeren Station. Hausierer trugen Obst, Zeitungen und Bäckereiwaren durch die Waggons, es entstand eine Pause im Gespräch. Später bat Carlo das Mädchen:

»Ich habe Ihnen vieles, beinahe alles von mir erzählt. Darf ich Sie nun um Ihren Werdegang befragen, wollen Sie mir nicht erklären, wie es möglich war, daß aus einem Negerkind eine Dame wurde, die an Bildung wenigen Europäerinnen nachstehen dürfte, an Geist die meisten übertrifft?«

Bei diesen Worten hatte Carlo, einer Eingebung folgend und die Landessitten vergessend, die Hand Janes ergriffen und sie an seine Lippen geführt. Jane entzog ihm hastig die Hand, eine leichte Röte färbte das glatte Braun ihrer Wangen, dann meinte sie lachend:

»An diesem Handkuß allein hätte ich erkennen müssen, daß Sie ein Wiener sind. Ich habe nämlich ein paar reizende Romane von Artur Schnitzler gelesen, leider in schlechter englischer Übersetzung. Aber nun werde ich auch ganz sicher Deutsch lernen! Also, meine Lebensgeschichte möchten Sie kennen lernen? Nun, allzuviel habe ich nach außenhin nicht erlebt. Meine Großeltern sind vor mehr als siebzig Jahren, beide auf demselben Schiff, wie wilde Tiere nach Amerika verfrachtet worden, beide kamen als Sklaven zu demselben Plantagenbesitzer nach Virginien, wo sie zusammenlebten, und wie meine Eltern glauben, sogar von einem Geistlichen rechtmäßig verheiratet wurden. Übrigens waren die Herren meiner Großeltern halbwegs anständige Leute, die ihre Sklaven gut behandelten. Als meine Mutter geboren wurde, nahte auch schon der Befreiungskrieg, aber meine Großeltern blieben mit ihrem Töchterchen auch nach dem Kriege auf der Farm in Virginien, wo die Großeltern starben.

Verhältnismäßig spät, erst mit zwanzig Jahren heiratete meine Mutter einen jungen Mann, meinen Vater, der Grund zu glauben hatte, das Enkelkind eines Negerkönigs zu sein. Jedenfalls war er stolzer, intelligenter, unternehmungslustiger als die meisten seiner Art es damals waren, und als ich vor zwanzig Jahren auf die Welt kam, übersiedelte er mit meiner Mutter nach Atlanta in Georgia, wo er einen kleinen Obst- und Zeitungsstand eröffnete, während meine Mutter Amme bei der Gattin eines Professors an der neuen Hochschule von Atlanta wurde, mich aber bei sich behalten durfte.

Ich wuchs mit den Kindern des Professors zusammen auf, halb als Gefährtin, halb als Bedienerin, mußte zwar die recht primitive Negerschule besuchen, lernte aber zu Hause mit Feuereifer mit den anderen weißen Kindern, lernte wohl sogar mehr als diese, so zum Beispiel setzte ich die französische Hauslehrerin durch meine gute Auffassungsgabe in Erstaunen. Mit zehn Jahren konnte ich vollkommen Französisch sprechen, während die Kinder des Professors, meine Milchschwester und ein Junge von vierzehn Jahren, mit Mühe und Not ein paar Sätze herplappern konnten.

Als ich vierzehn Jahre alt geworden war, trat ein furchtbares Ereignis ein, das mein ganzes Leben bestimmte. Mein Vater hatte, wie gesagt, eine Verkaufshütte, in der er Obst, Zuckerwerk und Zeitungen feilbot. Eines Tages trat ein weißer Mann an ihn heran, ließ sich Obst einpacken, nahm etliche Zeitungen und wollte sich dann ohne Bezahlung entfernen. Es kam zu einem heftigen Auftritt und als mein Vater mit der Polizei drohte, versetzte ihm der Strolch einen Faustschlag. Jähzornig, wie wir ja alle sind, sprang ihm mein Vater an die Gurgel und verprügelte ihn. Der Mann lief davon, kam nach einer Viertelstunde mit einer ganzen Horde von Männern wieder und nach verzweifelter Gegenwehr blieb mein armer Vater, von drei Kugeln durchbohrt, tot liegen. Ein Opfer der Lynchjustiz, wie es deren tausende gibt, ein Mord, um den sich kein Richter und kein Gesetz kümmert.

Die Negerbewegung hatte damals, vor sechs Jahren, schon eine sehr starke Entwicklung genommen, gütige, gebildete farbige Menschen nahmen sich meiner Mutter an, halfen ihr mit Hilfe des kleinen Kapitals, das mein Vater hinterlassen hatte, ein kleines Häuschen mit Garten kaufen, um dort durch Vermieten von Zimmern, natürlich nur an unsere Rassegenossen, mit mir zu leben. Ein junger Professor an der ersten Hochschule für Farbige in Atlanta und dessen Gattin, eine Ärztin, waren unsere ersten Pensionäre, denen andere gebildete Männer und Frauen folgten. Ich hatte nun Gelegenheit, mich zu bilden, gute Bücher zu lesen, mich mit ganzer Seele unserer nationalen Bewegung zu widmen; vor drei Jahren machte ich mein Lehrerinnenexamen, heute bin ich die erste Lehrkraft an dem Heim für verlassene farbige Mädchen und außerdem ständige Mitarbeiterin an der größten Tageszeitung unserer Bewegung ›The Crisis‹. Dadurch bin ich materiell so gut gestellt, daß wir, mein Mütterchen und ich, unser kleines Haus allein bewohnen können. Nach wie vor verkehren aber bei uns alle Führer des geistigen Lebens der Neger von Atlanta.«

Beide schwiegen, jeder in seine Gedanken versunken, bis Carlo das Mädchen mit großen, angstvollen Augen ansah und seine innere Zerrissenheit in Worte kleidete.

»Was soll ich nun tun? Was Sie mir gesagt haben, erschüttert mich tief, macht mich schwankend, läßt neue Möglichkeiten vor mir auftauchen, bringt mich ganz und gar aus dem Geleise, das ich mir in Gedanken wenigstens aufgebaut. Soll ich hier bleiben und mein Leben einer Sache widmen, die mir gestern noch fremd war, heute aber schon vieles in mir aufwühlt? Oder soll ich am Samstag die ›La Gloire‹ besteigen, alle diese wirren, schrecklichen Probleme hinter mir lassen und dorthin zurückkehren, wo ich nicht kämpfen muß, weil mich niemand angreift?«

Ein herber, abweisender Zug trat auf das schöne Gesicht des schwarzen Mädchens.

»Oh, ich weiß, man tut dem Neger und dem Negerstämmling dort kein Leid an. Weil man ihn schätzt? Keine Spur! Weil er in seiner Seltenheit ein Kuriosum ist! Bringen Sie zehntausend Neger nach Wien oder Berlin, dann wird sich plötzlich der Haß gegen sie kehren und es wird eine aus der Sumpf- und Froschperspektive betrachtete Negerfrage geben wie hier. Also ist es eigentlich eine feige Flucht, die Sie ergreifen!«

Carlo zuckte zusammen und ergriff wieder die Hand des Mädchens.

»Miß Jane, seien Sie nicht so hart in Ihrem Urteil, bedenken Sie, daß das alles so neu für mich ist, und vergessen Sie nicht, daß ich Haß in mir gegen dieses Land trage, in dem ich fast nichts als Bitteres erlebt. Sogar mein Herz ist ja hier aufs tiefste verwundet, mißhandelt worden!«

Leise erzählte Carlo nun von Lisl, die er geliebt, die an ihm mit der ganzen Leidenschaft eines jungen Weibes gehangen, das er hätte nehmen können, wenn er gewollt hätte. Und die ihn in seiner bitteren Not wie einen Bettler von der Türschwelle gewiesen.

Jane nickte stumm, streichelte seine Hand, sagte: »Armer Junge!« und wandte sich dann jäh zum Fenster hin, durch das man die Vororte von Atlanta sah. Knapp vor der Ankunft in der Halle nahmen sie Abschied voneinander. Jane duldete es, daß er ihre Hand immer wieder preßte und sagte, während sie ihn voll und ganz ansah:

»Herr Zeller, überlegen Sie, setzen Sie sich mit sich selbst auseinander! Und wenn Sie morgen nicht schon auf der Fahrt nach Charleston sind, um die ›La Gloire‹ zu erreichen, so erwarte ich Sie um sechs Uhr bei uns zum Souper. Ich würde mich freuen, Sie wieder zu sehen und mit Ihnen noch vieles, vieles zu besprechen. Wir wohnen Nummer 72 in der Sunflowerstreet.«

Carlo stieg, wie ihm geraten worden war, im Montgommery Hotel ab, bekam für billiges Geld ein sauberes kleines Zimmer und ging bald zu Bett.

Am nächsten Vormittag ließ sich Carlo mit dem Bureau der Reederei in Charleston verbinden und erfuhr, daß die ›La Gloire‹ eines kleinen Maschinendefektes halber nicht übermorgen, Samstag, sondern erst am Donnerstag der nächsten Woche die Anker lichten werde. Eine Kabine würde ihm bis Mittwoch unter allen Umständen reserviert bleiben.

Carlo atmete befreit auf. Er hatte also Zeit zur Überlegung und vor allem – er konnte heute Jane besuchen. Sein Herz klopfte stürmischer, als er an sie dachte, er sehnte sich nach ihr, die Stunden bis zum Nachmittag erschienen ihm endlos. Als er Punkt sechs Uhr vor dem kleinen einstöckigen Häuschen mit dem gepflegten Vorgarten in der Sunflowerstraße stand, da war er fast so erregt, wie damals vor vielen Monaten vor dem Palais des reichen Mister Ortner.

*


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