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Sämtliche Morgenblätter beschäftigten sich schon mit dem Fall Gertie Sehring. Die meisten begnügten sich allerdings mit der polizeilichen Darstellung, die kurz und bündig das Verschwinden des kleines Mädchens sowie eine genaue Personsbeschreibung enthielt und jedem, der zur Aufklärung der Sache beitragen würde, eine hohe Belohnung zusicherte. Nur die »Morgenpost« machte das Verschwinden Gertie Sehrings zu einer Sensationsangelegenheit. In einem sehr lebhaft geschriebenen Artikel wies sie auf die vorhergegangenen zwei fast gleichen Fälle hin und schrieb:
»Es ist also ganz klar, daß in unserer Mitte ein menschliches Ungeheuer sein Unwesen treibt, das systematisch darauf ausgeht, Kinder zu rauben. Da es sich aber immer wieder um auffällig hübsche Kinder weiblichen Geschlechtes handelt, so dürfte der Zweck solchen Menschenraubes klar sein. Um so furchtbarer muß jeder Mutter in dieser Stadt der Gedanke sein, daß auch ihr Kind ein ähnliches Schicksal finden könnte. Der Fall der kleinen Sehring ist geeignet, die größte Beunruhigung unter den Müttern wie unter den Kindern hervorzurufen. Nur unsere verehrliche Polizei scheint sich nicht zu beunruhigen. Sie hat die Räuber der seit Monaten verschwundenen Mädchen nicht entdeckt, sie wird auch das Scheusal nicht finden, das Gertie Sehring verschleppt hat. Wir lenken hiermit die Aufmerksamkeit des Ministers des Innern auf die ersichtliche Unfähigkeit unserer Sicherheitspolizei, Verbrechen zu verhüten und Verbrecher zu entdecken.«
Ein zweiter Artikel behandelte den Fall Sehring vom Standpunkte des kriminalistischen Fachmannes. Alle möglichen Fälle gleicher Art, die sich hier und anderwärts zugetragen hatten, wurden darin aufgezählt und alle möglichen Motive zum Menschenraub erörtert. Der Verfasser kam zum gleichen Schlusse wie Bob.
»Hier kann es sich nicht um die Tat einer Erpresserbande handeln, da aus Frau Sehring, einer in dürftigen Verhältnissen lebenden Witwe, nichts herauszuholen ist. Nein, aller kriminalistischen Erfahrung nach ist das unglückliche Kind das Opfer eines Menschen geworden, dem der Besitz des Mädchens gewissermaßen Selbstzweck und nicht Mittel zum Zweck ist. Der Spielgefährte Gertie Sehrings, der dreizehnjährige Gymnasiast Bob Holgerman, Sohn des bekannten Fabriksbesitzers Holgerman, erzählt, wie die Polizei mitteilt, von einem geschlossenen Automobil, das er gesehen und gehört hat und das er mit gesundem Instinkt in Zusammenhang mit dem Verschwinden seiner kleinen Freundin bringt. Immerhin ein Fingerzeig für die Polizei. Allerdings muß noch eine Möglichkeit in Betracht gezogen werden, Immer wieder kommt es vor, daß Menschen in einen plötzlichen Traumzustand geraten, der sich in einen Wandertrieb umsetzt und sie veranlaßt, ohne Ziel und Zweck ihr Heim zu verlassen und ins Unbekannte zu pilgern. Gewöhnlich ist ein solcher Zustand, der jedem Pathologen wohlbekannt ist, mit dem zeitweisen oder dauernden Verlust des Gedächtnisses verbunden, so daß die Erkrankten ihren Namen, ihre Adresse, ihre ganze Vergangenheit nicht mehr kennen. Daß solche Unglückliche wochen-, monate-, ja jahrelang nicht zu finden sind, ist begreiflich. Sollte es sich so auch mit Gertie Sehring verhalten? Diese Möglichkeit ist auch ins Auge zu fassen, und es wird Sache der Polizei sein, zu ergründen, ob das Mädchen an Nervenstörungen schon gelitten hat oder sich in ihrer Familie Kranke dieser Art befunden haben. Gegen die Annahme, daß sich Gertie Sehring in einem gewissermaßen somnambulen Zustande entfernt hat, spricht indessen die Tatsache, daß solche Fälle bisher niemals unter Kindern, sondern ausschließlich unter Erwachsenen beobachtet wurden. Und auch das Verschwinden der neunjährigen Ruth Clemens und der elfjährigen Marie Peters beweisen fast zur Gewißheit, daß es sich hier nur um ein grauenhaftes Verbrechen handelt, um die Tat einer Bestie in Menschengestalt.«
Bob Holgerman las zu Hause beim Frühstück die »Morgenpost«, und eine ihm selbst unerklärliche Ruhe kam nach den Erschütterungen der vergangenen Nacht über ihn. Es gibt Physiologen, die behaupten, daß der Mensch nicht langsam und allmählich wachse und reife, sondern ruckartig, abschnittsweise. Wenn diese Theorie zutrifft, so machte an diesem Morgen nach dem Lesen der »Morgenpost« das innerliche Wachstum Bobs einen gewaltigen Sprung nach vorwärts. Er sah einen Weg und ein Ziel vor sich und wußte nun ganz genau, daß Gertie nur von einem gerettet werden konnte, der sein ganzes Dasein dieser Aufgabe widmen würde, und nur er dieser eine sein könnte. Und als nun ein Abgesandter des Detektivinspektors Crispin, der Kriminalbeamte Lorensen, sich anmeldete, um neue Verhöre und Nachforschungen zu veranstalten, da sah der im Dienst ergraute Mann sich einem kleinen Knaben gegenüber, der mit verblüffender Sicherheit alle Fragen beantwortete und seinerseits mit der logischen Verstandesschärfe eines Mannes Fragen stellte. Und der Beamte lachte weder, noch wunderte er sich, als ihm Bob zum Schlusse sagte:
»Herr Lorensen, ich bin überzeugt davon, daß die Polizei alles tun wird, was ihr möglich ist. Aber auch ich werde das tun, was mir möglich erscheint.«
Bob begab sich, als der Detektiv gegangen war, zu Frau Sehring hinüber, bei der er seine Mutter traf. Frau Sehring war krank, sehr krank, sie hatte die ganze Nacht an Herzkrämpfen gelitten, und Frau Holgerman ließ kurz entschlossen eine Pflegerin kommen, die bei der verzweifelten Mutter zu wachen und alle häuslichen Arbeiten zu besorgen hatte.
Der Knabe war von dem Anblick der bleichen Frau, deren blutleere Lippen nervös zuckten, tief ergriffen. Er weinte aber nicht mit ihr, wie er es noch gestern getan hatte, sondern seine eiserne Ruhe verließ ihn nicht; er hielt sich auch nicht lange an dem Krankenbette auf, ging vielmehr bald wieder.
Im Park herrschte unter den Kindern, die ja alle Gertie wenigstens von Angesicht kannten, die größte Aufregung, ebenso unter den begleitenden Müttern oder Erzieherinnen und Bob wurde umringt und weidlich ausgefragt. Aber er entzog sich rasch allen Kundgebungen und suchte den Invaliden auf, der ihm voll ehrlichen Mitgefühles die schwielige Hand entgegenstreckte und ihn mit »junger Herr« ansprach. Bob ging neben dem Alten schweigend einher, bis sie dem Kinderschwarm entronnen waren, dann sagte er ernst:
»Herr Wächter, ich werde nun selbst nach Gertie suchen. Und ich bitte Sie, helfen Sie mir dabei.«
»Gott soll mich strafen, junger Herr, wenn ich es nicht gerne tun will; nur sagen Sie mir, was ich alter Mann dabei machen kann?«
»Nun, das ist gar nicht so wenig. Bitte, beobachten Sie scharf alle hübschen, kleinen Mädchen, mehr aber noch die Leute, die diese Mädchen beobachten. Sehen Sie, der Mann, der Gertie geraubt hat, muß sich doch vorher genau nach allem erkundigt haben. Sonst hätte er das mit dem Anruf des Professor Brummel nicht ausführen können. Also hat er Gertie sicher schon oft vorher gesehen und sie scharf beobachtet. Vielleicht, daß er es noch auf andere Mädchen abgesehen hat. Es muß uns also jeder verdächtig erscheinen, der kleine, hübsche Mädchen mustert und beobachtet.«
»Junger Herr, das klingt sehr einleuchtend, und der Polizeimann, der in der Gegend die Runde macht, hätte es nicht besser sagen können. Wehe also dem Kerl, der meine Mädchen hier im Park mit Blicken oder Worten belästigt. Mit dem Krückstock hau' ich ihm, ohne viel zu reden, eins über den Schädel, daß er glaubt, eine Granate hätte ihn getroffen.«
»Nein, lieber Herr Wächter, das dürfen Sie nicht tun, denn vielleicht treffen Sie einen Unschuldigen, oder aber, wenn es der Schuldige ist, verderben Sie damit alles. Nachgehen müssen Sie ihm, oder, da Sie das nicht können, ihm einen fixen Jungen nachschicken, dem Sie Geld dafür versprechen. Das zahlt dann schon mein Vater.«
Bei dieser Verabredung blieb es vorläufig, denn eben wurde Bob vom Diener Eduard geholt. Ein Reporter von der »Morgenpost« war gekommen, der unbedingt den Spielgefährten Gerties sprechen wollte. Und so wurde denn Bob die Ehre zuteil, in aller Form »interviewt« zu werden, und zwar so gründlich und liebevoll, daß ihn jeder Tenorist darum beneidet hätte. Und schon die Abendausgabe des Blattes veröffentlichte die Unterredung mit Klein-Bobbie, wie er genannt wurde. Dadurch erst erfuhr die Öffentlichkeit auch die Geschichte von dem fingierten Telephonanruf des Professor Brummel, die die Polizei nicht bekanntgegeben hatte. Und nun war das Interesse der ganzen Stadt für die Angelegenheit erweckt und trotz des heftigen Widerspruches Herrn Holgermans wurde Bob sogar für ein illustriertes Wochenblatt photographiert, um neben Gertie, deren Bild Frau Sehring hatte hergeben müssen, abgebildet zu werden.
Frau Holgerman hatte nach Tisch eine ernste Unterredung mit ihrem Gatten.
»Bob ist außer Rand und Band,« sagte sie. »Das Verschwinden des armen Mädchens ist nicht nur ein unsagbares Unglück an sich, es kann auch für unseren Jungen noch zum Unglück werden. Stelle dir nur vor, Bob hat seiner Sparbüchse, in die er seit fünf Jahren sammelt, das Geld entnommen und mir kurz und bündig mitgeteilt, daß er von heute ab selbständig Nachforschungen nach Gertie anstellen werde. Ich wollte ihm diesen Unsinn ausreden, aber der Junge machte ein so starres, verzweifeltes Gesicht, daß ich ordentlich erschrak. Zum ersten Male hat er sich einfach gegen mich aufgelehnt und mir mit geballten Fäusten, am ganzen Körper zitternd, gesagt: ›Mama, wenn ihr mich nicht tun laßt, was ich tun muß, dann macht ihr mich so unglücklich, daß ich gar nicht mehr leben mag.‹ Nun, daraufhin mußte ich natürlich nachgeben und ihm sogar versprechen, auf dich einzuwirken, damit du ihm nichts in den Weg legst.«
Herr Holgerman ging mit langen Schritten erregt auf und ab. »Was du mir da sagst, erschreckt mich, obwohl ich dem Jungen nachempfinden kann. Diese Zuneigung zu Gertie steckt tief in ihm, er leidet mehr als wir ahnen, und tatsächlich bleibt mir, wenn ich nicht Unheil hervorrufen will, nichts übrig, als ihn gewähren zu lassen, solange es eben geht. Ich verlasse mich auf seine Jugend. Ein paar Tag wird er voll Feuereifer irgendwelche eingebildete Spuren verfolgen, dann erlahmen und, wenn wir im August an die See fahren, nach und nach vergessen.«
Frau Holgerman schüttelte den Kopf und ihre Augen wurden feucht. »Ich glaube nicht, daß dies so einfach sein wird. Ich fürchte sehr, daß es mit der fröhlichen Jugend für Bobbie vorbei ist! Aber um Himmels willen, denkst du denn ernstlich daran, daß Gertie nicht aufgefunden werden könnte? Das wäre furchtbar und würde unmittelbar den Tod ihrer Mutter zur Folge haben!«
Der Fabrikant zog die Schultern hoch. »Wenn man ruhig über den Fall nachdenkt, so kann man kaum noch Hoffnung haben. Das Mädchen ist jetzt seit vierundzwanzig oder mehr Stunden in der Gewalt eines Menschen. Entweder sie weilt nicht mehr unter den Lebenden oder – aber das ist nicht auszudenken! Vielleicht ist es besser, wenn sie tot ist, als wenn sie noch lebt! Denn das ist doch klar, zum Zeitvertrieb wurde sie nicht geraubt. Schreckliches muß dem armen Kinde widerfahren sein!«
Frau Holgerman begann still zu weinen. »Liebster, das ist alles so grauenhaft! Wollte Gott, du hättest nicht recht, und Bob würde erreichen, was der Polizei nicht zu gelingen scheint.«