Hugo Bettauer
Faustrecht
Hugo Bettauer

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Zehntes Kapitel

Fels hatte gegen sieben Uhr Mailand erreicht, also noch zwei Stunden Zeit, bevor der Expreßzug nach Genua den Hauptbahnhof passierte. Er begab sich in ein Wirtshaus, frühstückte und las mit seltsamen Gefühlen im »Corriere« und den anderen eben erschienenen Morgenblättern die telephonisch übermittelten Depeschen aus Wien, die in sensationeller Weise über die Aufklärung des Mordes im Wiener Cottage und die Flucht des »Gentleman-Mörders Fels« berichteten. Der »Corriere« reproduzierte sogar ein Interview, das ein Reporter der »Weltpresse« um drei Uhr morgens, knapp vor Redaktionsschluß, mit dem Kriminalkommissär Dr. Heinrich Bär gehabt hatte. Bär sagte dem Journalisten: »Fels, dessen Intelligenz ich ja kraft unserer jahrelangen Bekanntschaft – das Wort Freundschaft verkneift er sich, murmelte Fels, als er dies las, vor sich hin – am besten beurteilen kann, hat es mit wahrer Genialität verstanden, sich der Verfolgung der Detektive zu entziehen, und so gehandelt, daß man annehmen müßte, er sei über Marburg nach dem jugoslawischen Staat und nach Triest geflüchtet. Ich habe aber die feste Überzeugung, daß er, nachdem der Diener weg war, sofort wieder den Zug verlassen und ein vorbereitetes Versteck in Wien aufgesucht hat.«

Fels lächelte, meinte, daß seine alte Überzeugung, Bär sei superklug und daher greife er so oft daneben, richtig sei und schlenderte nun durch die Straßen der Stadt, die eben im Erwachen begriffen war. Rasch kaufte er in verschiedenen Geschäften Wäschestücke, Toilettegegenstände, einen Reisepaletot, einen Plaid und schließlich einen umfangreichen Handkoffer, in den er die Ledertasche und die gekauften Sachen verstaute. Und wieder galt es eine Gefahr zu überstehen: die Abfahrt von Mailand. In der Linken hielt Fels den Koffer, die Rechte vergrub er in die Tasche des Pelzsakkos, in der schußbereit die Pistole ruhte. Es ging auf Leben und Tod.

Aber nichts geschah, was den Schuß gegen die eigene Schläfe notwendig gemacht hätte. Ruhig konnte sich Fels in das aufgeregte Getriebe des Bahnhofes mengen, ungestört einen Platz in der zweiten Klasse belegen und schon eilte der Expreßtrain durch die jetzt in Sonne gebadete Landschaft, um nach kaum einer Stunde in Genua anzukommen. Mit raschem, geübtem Blick überzeugte sich Fels, daß auch in Genua kein Häscher seiner wartete, und ein Auto brachte ihn nach dem Pier der Mexiko-Line im Hafen. Ein ziemlich großer, aber etwas verwahrlost aussehender, in der Bauart schon veralteter Dampfer lag dort vor Anker, der Schraubendampfer »Präsident«, der heute mittags seine regelmäßige Fahrt von Genua nach Vera-Cruz anzutreten hatte. Am Kai, genau gegenüber dem Dampfer, entdeckte Fels, ohne jemanden befragen zu müssen, das Bureau der Mexiko-Line. Schon wollte er hineingehen, aber, die Tür in der Hand, überlegte er anders und entfernte sich wieder, begab sich nach einer Hafenkneipe, trank guten, leichten Wein und verzehrte, ruhig und sicher überlegend, eine Schüssel Makkaroninudeln mit Parmesankäse. Beim Zahlen erinnerte er sich, daß er nur österreichisches Geld, abgesehen von den Wertpapieren im Koffer, bei sich hatte, und er suchte nun einen Geldwechsler am Kai. Da lagen wohl die Gebäude der großen italienischen Banken in unmittelbarer Nähe nebeneinander, auch Filialen des Wiener Bankvereines und der Deutschen Bank hatten sich wieder aufgetan, aber just an diesen schritt Fels vorbei, bis er zum Laden eines italienischen Geldwechslers kam, von dem er mit voller Gewißheit annehmen durfte, daß er ihn tüchtig um die Ohren hauen würde. Und so war es auch: zu einem unmöglichen, phantastischen Kurs wechselte der biedere Mann dem Fremden, der nun durchaus nicht anders sprechen konnte, als deutsch, hunderttausend Kronen in italienische Lire und mexikanische Dollars um, und als Fels ihn verlegen fragte, ob der Kurs auch der richtige sei, legte er mit Grandezza die Hand auf das Herz und versicherte, daß ein italienischer Bankier eher sterben als einen Fremden betrügen würde.

Fels strich nun die buntscheckigen Banknoten, von deren Echtheit er sich aber überzeugt hatte, mit der ruhigen Gewißheit ein, daß dieser Mann keinem Menschen und am allerwenigsten einer Behörde jemals von diesem Geschäft Mitteilung machen würde.

Langsam durchzog ihm das Reisefieber die Knochen und er schlenderte noch eine volle Stunde mit dem schweren Koffer durch die Straßen und erst knapp vor Abfahrt des Dampfers ließ er sich von einem Auto nach dem Pier bringen. Rasch erklomm er über die Laufbrücke das Schiff, das eben die letzten Ballen und Kisten in seinem Bauch verschwinden ließ, und begab sich direkt zu dem Kapitän, einem dunkelhäutigen, älteren Herrn, dem der weiße Knebelbart einen ehrwürdigen Anstrich gegeben hätte, wenn die schlauen, funkelnden Augen nicht ein wenig den mexikanischen Spitzbuben verraten haben würden. Fels stellte sich als Mister Williams aus Boston vor, erklärte, eben angekommen zu sein und daher keine Zeit gehabt zu haben, sich in der Office ein Billett zu lösen. Hoffentlich sei noch eine Kabine erster Klasse frei. Der Kapitän musterte kritisch den Ankömmling und verneinte. Achselzuckend erklärte er in einem ungeheuerlichen Gemisch von Italienisch, Spanisch und Englisch: »Sir, wir sind eigentlich ein Frachtschiff und führen nur eine Art von Kabinen, und davon auch nur Stücker zwanzig. Die sind alle vergeben, nur in einer wäre noch ein Bett frei, aber das werden Sie nicht nehmen wollen, denn die drei anderen Gentlemen in dieser Kabine sind Farbige.«

Fels zeigte sich überaus bestürzt und jammerte: »O Mylord, ich bin ein nervöser, kranker Mann und wollte die Fahrt gerade mit einem langsameren Schiff machen, um mich unterwegs zu erholen, was soll ich nun tun? Mit farbigem Volk kann ich natürlich nicht fahren. Lieber Herr Kapitän, könnten Sie mir nicht Ihre Kabine vermieten, wie es ja auch oft die Kapitäne auf den großen deutschen und englischen Dampfern tun? Ich will ja gerne jeden Preis dafür bezahlen.«

Im Nu verwandelte sich die gleichgültige Miene des Mexikaners in hellen Sonnenschein. »Jawohl,« meinte er, »da Sie ein kranker Mann sind, so kann ich das ja tun. Aber es kostet viel Geld. Sie wissen, ich habe nichts davon, der Reeder steckt alles ein.« Er erstickte an dieser Lüge nicht, sah sich aber vorsichtig um, ob nicht ein Clerk aus dem Bureau in der Nähe herumschnüffelte. Da dies nicht der Fall war, führte er den Mister Williams nach seiner Kajüte, einem hellen, großen, sogar leidlich sauberen Raum, und nannte als Passagepreis mit Verpflegung in größter Ruhe zweitausend mexikanische Dollar. Fels seufzte scheinbar tief und schmerzlich auf, erklärte sich aber bereit und kramte aus seiner Brieftasche sofort die Scheine heraus, die der Herr Kapitän ersichtlich befriedigt einsteckte.

Gleich darauf kreischte die Sirene ihr Abschiedslied, die Taue wurden aufgespult, die Ankerkette emporgewunden und unter Dampf pfauchte der »Präsident« zum Hafen hinaus.

Noch schwebte Fels fast eine Woche lang in qualvoller Ungewißheit, in Neapel und allen mittelländischen Häfen, in denen der »Präsident« anlegte, um Fracht aufzunehmen, sah er, die Rechte um die Pistole geklammert, der Möglichkeit entgegen, daß Polizeibeamte an Bord kommen und ihn herunterholen würden, aber nichts dergleichen geschah. Und als der Dampfer endlich die Kanarischen Inseln passierte und damit die Hoheitsgewässer der europäischen Staaten verlassen hatte, atmete der Flüchtling tief und erleichtert auf. Eine weitere Verfolgung war, da der alte Dampfer keine drahtlose Station hatte, ausgeschlossen, und von der Kanalzone an war der mexikanische Dampfer auf mexikanischem Boden.

Nach drei Wochen legte der »Präsident« im Hafen von Vera Cruz an und Fels verließ als Mister Williams das Schiff, ohne daß die Behörden dem »Inglese«, der gute, schöne Hundertlirescheine als Trinkgeld diskret austeilte, irgendwelche Schwierigkeiten in den Weg gelegt noch auch ihn nur um Papiere befragt hätten.

Eine Stunde nach Ankunft des Schiffes ging ein Zug in mächtigen Kehrten nach der Hauptstadt des Landes, dem über tausend Meter hoch gelegenen Mexico City, hinauf. Bevor ihn Fels aber bestieg, eilte er nach dem neben dem Bahnhof gelegenen Telegraphenamt und gab folgende Depesche als dringend auf:

»Miß Grace Kerens, Marlborough Palace, New York. Bin glücklich und heil in Vera Cruz angelangt und überlasse alles andere deiner freien Entschließung. Antwort trifft mich im Residencehotel Mexico City. Oskar Williams.«

Als Fels im Residencehotel sein auch nach europäischen Begriffen elegantes und vornehmes Appartement bezogen hatte, traf auch schon die Antwort auf die Depesche ein. Sie lautete:

»Oskar Williams, Residencehotel, Mexico City. Ich bin unsagbar glücklich und trete morgen abends, nach der Trauung Papas, die Reise zu dir an. Grace.«

* * *

Als in Wien die abenteuerliche Flucht des Oskar Fels in allen Details bekannt wurde, war das Aufsehen ungeheuer und bildete durch Wochen das Tagesgespräch, bis sich neue Sensationsereignisse einstellten und langsam auch diese Affäre in den Hintergrund des Interesses trat. Dr. Bär aber hatte durch die Flucht des Fels einen schweren Verlust an Prestige erlitten und seine Hoffnung, beim nächsten Jahreswechsel an die Spitze des Sicherheitsbureaus berufen zu werden, erfüllte sich nicht. Er mußte noch etliche Jahre auf dieses Avancement warten.

Lange Zeit hindurch blieb Fels verschollen. Keine Kunde drang von den weiteren Geschicken dieses lebenbeherrschenden Mannes nach Europa, bis eines Tages Reisende, die aus Mexiko kamen, die Nachricht verbreiteten, daß Fels dort unter dem Namen eines Oskar van Rocker mit seiner schönen und geistvollen amerikanischen Gattin eine führende politische Rolle errungen und bei der letzten Revolution von den Insurgenten als Präsident ausgerufen worden sei. Bei den Kämpfen um die Herrschaft habe die alte Regierung den Palast des Ehepaares, der zum Hauptquartier der Revolutionäre geworden war, mit schwerer Artillerie beschießen lassen und nach allgemeiner Ansicht seien dabei Oskar van Rocker und seine Gattin unter den Trümmern des Hauses begraben worden. Aber diese wie andere Nachrichten über die neueste Revolution in Mexiko, bei der schließlich doch die alte Regierung gestürzt wurde, erfuhren nie eine offizielle Bestätigung.

 

Ende.

 


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