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»Alle Tag und alle Stund
Kanonierer sein gesund.«
(Altes Artilleristenlied.)
Im Dienstzimmer der Batterie gab es gewaltig viel zu tun. Dieser Schub von sechzig Rekruten verursachte eine Unmenge Arbeit, und man mußte sich tüchtig dahintersetzen, um ein wenig Ordnung in den Wust von Papieren zu bringen.
Alle drei saßen sie über ihre Schreibereien gebeugt: der Gefreite, der Unteroffizier und der Wachtmeister.
Der Gefreite füllte stumpfsinnig die Listen aus und sah nur zeitweilig nach, ob der Stoß von Formularen, der noch zu erledigen war, nicht endlich niedriger wurde.
Käppchen, der Unteroffizier, ein schmächtiger Mensch mit listigen Augen, schalt insgesamt über diese Plage und wünschte die schmutzige Bande, die sie ihm eingebrockt hatte, zu allen Teufeln. Es war ihm zwar weit angenehmer, im Bureau zu sitzen, als da draußen mit den Tölpels sich abzugeben, aber er hatte doch schließlich nicht kapituliert, um so lange darauf los zu kritzeln, bis beinahe ein Schreibkrampf die Finger lähmte. Heute gar schien der Wachtmeister nicht einmal an eine Frühstückspause zu denken.
Darum kam es ihm sehr gelegen, als Hauptmann von Wegstetten, nachdem er kaum die Meldung des 39 Wachtmeisters »In der Batterie nichts Neues!« entgegengenommen hatte, sich vernehmen ließ: »Wachtmeister, – ich möchte etwas mit Ihnen sprechen.«
Das war deutlich, und es bedurfte erst gar keines Winkes, – Käppchen und der Gefreite waren im Augenblick aus dem Zimmer verschwunden.
Wachtmeister Schumann stand in streng dienstlicher Haltung bei seinem Tische. Wie jeden Tag in den acht Jahren, die Wegstetten Chef der 6. Batterie und er, Schumann, ihr Wachtmeister war, wartete er, bis der Vorgesetzte durch eine Gebärde oder durch ein paar Worte ihm eine bequemere Stellung erlaubte. Daran konnte auch eine gewisse Vertraulichkeit des Verkehrs, die mit der Länge der Zeit zwischen Hauptmann und Wachtmeister sich eingestellt hatte, nichts ändern.
Wegstetten winkte ihm freundlich ein »Rührt Euch!« zu und beugte sich dann über die Überweisungspapiere der Rekruten.
»Nun, Schumann,« begann er, »was ist das für ein Volk, das wir diesmal bekommen haben?«
»Es scheint kein schlechter Jahrgang zu sein, Herr Hauptmann,« antwortete der Wachtmeister. »Sie haben fast alle weiße Blätter –«
»Hm,« nickte der Offizier, »– unbeschriebene Blätter, aber –?«
»Zwei sind darunter, die haben gerichtliche Strafen, einer wegen Diebstahls, der andere wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Der erste hat mal von einem Bau einen Posten Kupferdraht mitgehen heißen, und der zweite hat Krakehl gehabt, als er wegen einer Fahrkontravention notiert wurde. Er war nämlich Droschkenkutscher. Dann ist noch einer wegen 40 Bettelns, Landstreichens und Nächtigens im Freien vorbestraft.«
»Na, da wird er sich wenigstens beim Biwak nicht erkälten. Sagen Sie selber, Wachtmeister, was muß doch so ein Kerl froh sein, daß er nun jede Nacht unter Dach und Fach kommt! – So, so? – Das geht ja an! Und dann, wegen politischer Betätigung?«
»Hier, Herr Hauptmann, da kommt nur einer vor, – Gustav Weise.«
Wegstetten putzte an seinen angelaufenen Kneifergläsern herum. »Lesen Sie doch vor, Schumann!« sagte er endlich, als er nicht zustande kam.
Der Wachtmeister nahm das Blatt und las: »pp. Weise hat sich mehrfach an sozialistischer Propaganda aktiv beteiligt, war eine Zeitlang trotz seiner Jugend Vertrauensmann der Gewerkschaft der Metallarbeiter, hat auch einige Male in Versammlungen gesprochen, ohne daß aber der überwachende Beamte Anlaß gehabt hätte, einzuschreiten, da sich Weises Ausführungen in der Hauptsache auf innere bezw. Fachfragen erstreckten.«
»Weiter nichts? – Das scheint ja 'n netter Lump zu sein! Wo haben wir den hingesteckt?«
»Stube IX. Unteroffizier Wiegandt.«
»Weiß der schon –?«
»Zu Befehl, ich habe es ihm angedeutet.«
»Gleichviel –; rufen Sie ihn mir mal ran, ich will ihn sprechen, und dann auch den Frielinghausen!«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann.« – –
Nach kurzer Zeit stand der kleine bärtige Unteroffizier vor Wegstetten: »Herr Hauptmann haben befohlen?«
Der Batteriechef appellierte an das Ehrgefühl des Unteroffiziers, dem er ein besonderes Vertrauen 41 schenke, und legte ihm in vorsichtig abgewogenen Worten nahe, auf den Rekruten Weise ein wachsames Auge zu haben, ohne ihn aber darum anders als die übrigen zu behandeln.
Wiegandt fühlte sich daraufhin verpflichtet, den Zwischenfall mit Inoslawski zu erzählen und Weises Klugheit lobend zu erwähnen.
Wegstetten hörte schweigend zu; einmal flog ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. Schließlich meinte er: »Nun ja, das ist eben wieder ein Beweis, daß diese Bande manchmal ganz gute Soldaten liefert. – Haben Sie mich auch verstanden, Wiegandt, wie ich's meine? Scharf im Auge und fest am Zügel, sonst aber – wie die andern!«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«
»Dann ist's gut.«
Als Wiegandt zur Tür hinaus war, wandte sich der Offizier zu dem Wachtmeister und sagte mit einem Seufzer: »Verdammte Bagage das! Nun haben wir sogar zwei solche Exemplare, – Wolf und Weise! Da müssen wir aufpassen, daß die zwei nicht zusammenkommen. – Wie macht sich denn Wolf jetzt?«
»Er führt sich tadellos, Herr Hauptmann.«
»Wollt' ich ihm auch geraten haben!«
Wegstetten trat ans Fenster und schaute stumm hinaus. Das war auch nicht gerade die Lichtseite des Offiziersberufes, diese gewissermaßen polizeiliche Überwachung der verdächtigen Elemente unter der Mannschaft. Eine wahre Danaidenarbeit war das! Im Grunde konnte man auch nichts weiter tun, als verhüten, daß die Kerls ihre Weisheit ausposaunten, solange sie Soldaten waren, oder etwa gar zu Konventikeln sich zusammentaten; – Patriotismus und Liebe zum Soldatenstand wachrufen! Damit hatte es 42 sich was bei so einem Fanatiker wie diesem Wolf! Ein Mensch, der ihm gleichsam mit der Etikette »Gift!!!«, drei Kreuzen und einem Totenkopf überwiesen worden war, der ein unbewegliches, starres Gesicht aufsetzte, wenn man ihm seine Gesinnung unter die Nase rieb, auf die Frage »Sind Sie Sozialdemokrat?« mit einem fast höhnischen, stereotypen »Nein, Herr Hauptmann« antwortete und stets finster herumlief wie ein richtiger Verschwörer!
Er kehrte sich um und fing nochmals an: »Wissen Sie, Schumann, daß ich froh sein werde, wenn der Wolf wieder draußen ist? Der Mann ist mir fast unheimlich. Und dann, der Sergeant, der Keyser, der scheint mir auch so'n rachsüchtiger, nachtragender Mensch zu sein. Der vergißt ihm die sechs Wochen nie, die er seinetwegen bekommen hat. Sorgen Sie nur dafür, daß die zwei möglichst wenig miteinander zu tun bekommen! Rücksicht genommen wird natürlich auf niemand, geschweige denn auf so 'nen Kerl, aber besser ist besser! – Ich will nicht wieder so 'nen Kladderadatsch in meiner Batterie haben, daß die ganze Mannschaft drei Tage lang als Zeuge vernommen wird! Und der Keyser soll sich nur ebenso in acht nehmen! Am Ende sind wir auch nicht dazu da, in der Armee 'ne große Sozialdemokratenzüchterei anzulegen.«
Der Wachtmeister erwiderte: »Zu Befehl, Herr Hauptmann. Und dann, seit Keyser die Kammer hat, läßt sich das ja ganz gut machen.« – –
Wegstetten geriet jedesmal, wenn dieser Fall Keyser-Wolf erwähnt wurde, von neuem in Zorn. Hatte er nicht bei der Verhandlung gewissermaßen selbst mit am Pranger gestanden, weil in seiner Batterie die Geschichte sich ereignet hatte? Eine Kleinigkeit 43 war es im Grunde; solche Schimpfworte, wie der Sergeant eines dem Wolf an den Kopf geworfen hatte, regnete es tags über in Milliarden über die Mannschaften herab, aber dieser Sozialdemokrat hatte natürlich ein ganz besonders feines Ehrgefühl, und das Dümmste war, daß er auf seine Beschwerde Recht bekommen mußte. Denn diese Entlehnungen aus dem Tierreich waren nun einmal streng verboten. Der Sergeant kam in Untersuchung, und vor Gericht wurde dann die Unmenge der andern Ochsen, Schweine und Esel, die er ausgeteilt hatte, zur Sprache gebracht, daß dem Batteriechef fast schwindelte und der Vorsitzende den faulen Witz riß, man könnte mit dem Vieh, das der Angeklagte zusammengeschimpft hätte, die deutsche Armee auf Kriegsfuß einen ganzen Monat lang füttern. Ihm, Wegstetten, war damals gar nicht lächerlich zu Mute gewesen, gar als ihn hinterher der älteste Major, der während des Urlaubs des Kommandeurs das Regiment führte, – dieser fatale Lischke, mit dem er sowieso sich so schlecht als möglich stand, – beiseite nahm und ihm Vorhalt über den rohen Ton machte, der in der 6. Batterie zu herrschen scheine. Lischke, der erst im letzten Manöver vom Divisionär so angepfiffen worden war, weil er mit seiner Löwenstimme einem Einjährigen gedroht hatte, er werde ihm die »scheißweißgelben« Schnüre herunterreißen! Also eine Verhöhnung, geradezu eine Besudelung der Landesfarben! Wegstetten hatte damals die Absätze scharf zusammengeklappt und sich bei der vorschriftsmäßigen kurzen Verneigung einen grimmigen Eid geschworen, daß so eine Schweinerei in seiner Batterie nie mehr vorkommen sollte, nie mehr! – Denn bei solchen Gelegenheiten genannt zu werden, das war für manche schon der Anfang 44 vom Ende gewesen. Und er gedachte es weiter zu bringen, als allenfalls zum Major z. D., – sehr viel weiter.
Er kehrte sich von neuem zum Wachtmeister um.
»Aber das geht noch alles an,« sagte er, »solange ich wenigstens Sie hatte, Schumann. Auf Sie konnt' ich mich verlassen! Weiß Gott! Ich möchte Ihnen fast böse sein, daß Sie fahnenflüchtig werden wollen.«
Der Wachtmeister wandte bescheiden ein: »Herr Hauptmann verzeihen, aber ich habe, wenn ich mit Ostern gehe, dann achtzehn Dienstjahre; die fühlt man schon. Und so gerne ich dabei bleiben möchte, Herr Hauptmann, – zum Schaden will sich doch keiner sein. Der Schmidt von der vierten Batterie drüben hat vor fünf Jahren quittiert und ist schon Stationsassistent, – ich muß auf meine alten Tage natürlich ganz von vorn anfangen.«
Wegstetten begütigte ihn: »Aber Schumann, wie können Sie nur denken, ich hätte das im Ernst gemeint! Ich weiß doch am besten, was Sie geleistet haben, geradezu, was ich Ihnen zu danken habe, und ich wünsche Ihnen recht von Herzen draußen das Allerbeste und Bequemste, aber nachfühlen werden Sie mir's sicher, daß es mir schwer fallen wird, Sie zu entbehren. Wenn ich nur wenigstens wüßte, wen ich zu Ihrem Nachfolger vorschlage!«
Der Wachtmeister zuckte die Achseln.
»Ja, da zucken Sie die Achseln! – Reden Sie doch! Sie kennen die Leute doch noch besser als ich.«
Schumann zögerte etwas und sagte dann: »Herr Hauptmann wissen doch selbst, – Heppner ist der Dienstälteste nach mir.«
»Jawohl,« erwiderte Wegstetten ein wenig gereizt, »das weiß ich. Aber ich weiß auch, daß Sie mir 45 Gründe verheimlichen, die gegen ihn sprechen. Was haben Sie an Heppner auszusetzen? Ist er nicht stramm im Dienst? Und geradezu hervorragend in allem, was Stall und Pferde angeht?«
Der Wachtmeister antwortete gedehnt: »In der Front, und was Pferde angeht, – o ja.«
»Aber –?«
Wieder zuckte Schumann nur die Achseln.
Der Hauptmann wurde zornig und fing an: »Herrgott, Mann, so –«. Aber er verschluckte den Satz und fuhr ruhiger fort: »Sehen Sie, Schumann, das ist kein Verklatschen von Kameraden, was ich da von Ihnen verlange, ich frage Sie im Interesse des Dienstes: was ist mit dem Heppner? Meinen Sie die Geschichte mit der Frau und der Schwägerin?«
»Nein, Herr Hauptmann, das ist seine Privatangelegenheit – aber er paßt nicht für das Bureau und so – so für die innere Verwaltung der Batterie.«
»Nun? Warum?«
»– Er spielt, Herr Hauptmann.« –
Wegstetten ging eine Weile stumm auf und ab, dann blieb er vor dem Wachtmeister stehen.
»Ich danke Ihnen, Schumann,« sagte er, »daß Sie mir reinen Wein eingeschenkt haben. Aber – sehen Sie, es wird trotzdem nicht anders werden, Heppner hat schon elf Dienstjahre, der Oberst mag ihn auch gern leiden, und – im Frontdienst ist er ja auch wirklich tüchtig.«
Er sah nach der Uhr und sprach weiter: »Gottlob, ein halbes Jahr bleiben Sie ja noch, den Rekrutenjahrgang ziehen wir also noch miteinander groß. – Jetzt haben wir halb elf Uhr, ich gehe jetzt zur Reitbahn und – was war's gleich noch? – Richtig, den 46 Frielinghausen möchte ich um elf Uhr haben, hier, im Dienstzimmer.«
»Frielinghausen um elf Uhr hier,« wiederholte der Wachtmeister. »Zu Befehl, Herr Hauptmann.«
Wegstetten sah sich noch einmal um, langte dann seine Reitpeitsche vom Tisch und verließ mit einem freundlichen»Morgen, Wachtmeister!« das Zimmer.
Schumann blieb allein zurück.
Er setzte sich wieder an seine Schreiberei, aber er nahm die Feder nicht in die Hand. Der Kopf war ihm so voller Gedanken, daß er gar nicht darauf achtete, wie die Plätze Käppchens und des Gefreiten immer noch leer blieben. Was der Hauptmann da von Fahnenflucht geredet hatte, das wollte ihm gar nicht wieder aus dem Sinn. Zuweilen hatte er selbst so eine Empfindung, als ob es unrecht wäre, den Dienst zu verlassen. Jetzt besonders, wo diese neumodische Zeit gerade Leute vom echten, alten Schlage erheischte.
Er hatte sich jeden Grad mühsam durch langen Dienst erringen müssen; immer hatte es Jahre gedauert, bis er vorgerückt war – vom Kanonier zum Gefreiten und hernach zum Obergefreiten – den Unterschied gab es jetzt überhaupt nicht mehr –, zum Unteroffizier, Sergeant, Portepeeunteroffizier, – und vor acht Jahren war er an demselben Tage Wachtmeister geworden, an dem Wegstetten die Batterie bekommen hatte. Heutzutage wurde so ein junger Schnüffel nach einem Jahre Gefreiter, nach anderthalb Unteroffizier, und das sollte dann Vorgesetzter sein und womöglich andere ausbilden! Grüne, windige Kerls waren das, die nicht wußten, was sie wollten, zum großen Teil nicht einmal, was sie sollten, die nur um des bequemen Lebens willen kapituliert hatten, 47 die aus der Kaserne spurlos verschwanden, nachdem sie gerade eben den vorgeschriebenen Dienst getan hatten! Kerls ohne jeden Ehrgeiz und ohne jedes Interesse für den Dienst – das waren sie – aber keine Unteroffiziere!
Nein, war es da nicht Pflicht, zu bleiben?
Er drehte sich um. Natürlich: Käppchen fehlte noch. Wo war der Faulpelz wieder und wo der Gefreite?
Er schloß sein Fach zu und stapelte zunächst auf Käppchens Platz noch einen gehörigen Haufen Schreibarbeit auf, dann machte er sich auf die Suche.
Der Gefreite wartete vor der Tür; »er hätte geglaubt, der Herr Hauptmann sei noch im Dienstzimmer.« Das konnte sogar wahr sein. Wo Käppchen war, wußte er nicht.
Der Wachtmeister suchte den Ausreißer gar nicht erst in seiner Stube; es war sicherer, gleich in die Kantine zu gehen. Und wirklich brannte sich Käppchen, am Schänktisch stehend, eben eine Cigarette an, nachdem er sich von dem schwarzen, dünnen Bart den Schaum eines frisch eingeschenkten Glases Bier abgewischt hatte.
Schumann wollte vor den dabeistehenden fremden Unteroffizieren keine Szene machen; er sagte nur: »Käppchen, Sie werden im Bureau gesucht,« – und der Unteroffizier verschwand im Augenblick. Nicht einmal sein Bier hatte er ausgetrunken. – – –
* * *
Unterdessen schlenderte Wegstetten den sandigen Weg entlang, der von den Reitplätzen zur Kaserne führte. Zuweilen blieb er stehen und klopfte sich mit der Reitpeitsche den Sand ab, den die galoppierenden 48 Pferde ihm mit den Hufen angeworfen hatten. Er hatte ein paar Donnerwetter zwischen die Reitenden geschleudert, aber im ganzen konnte er wohl zufrieden sein. Es blieb unbestreitbar: im Frontdienst stellte Heppner ganz ausgezeichnet seinen Mann. Überhaupt – die Batterie war all right, und er, Wegstetten, wollte schon dafür sorgen, daß das so bliebe. Jedesmal, wenn der Kommandeur bei einer Besprechung die 6. als Muster hinstellte, freute er sich über die mißgünstigen Gesichter, mit denen die anderen Batteriechefs ihm Glück wünschten.
Freilich bekam man dafür auch ab und zu Extranüsse zu knacken, z. B. jetzt diesen Frielinghausen. Er überlegte hin und her, was er dem sagen sollte.
Dieser Walther Freiherr von Frielinghausen war ein verkrachter Sekundaner, »wegen wiederholter führender Teilnahme an verbotenen Verbindungen« vom Gymnasium verwiesen. Die Mutter, die gänzlich verarmte Witwe eines schlicht verabschiedeten Offiziers, hatte dann die Mittel nicht gehabt, den Burschen weiter zu etwas anderem zu erziehen, die Familie Frielinghausen war dazu auch nicht imstande, da war irgend ein Verwandter auf die Idee gekommen, den Tunichtgut zunächst einmal unter strenge, soldatische Zucht zu geben, damit er dann vielleicht Feuerwerker und schließlich gar Feuerwerksoffizier würde. –
Und ausgerechnet, seine 6. Batterie sollte nun der Tummelplatz der Talente des jungen Mannes werden. Wegstetten nahm sich vor, ihm vor allem gehörig den Kopf zu waschen und ihm jede Illusion zu nehmen, daß etwa für ihn eine Sonderwurst gebraten würde. Aber wie dann Frielinghausen, dessen hoch aufgeschossene Figur mit den noch etwas eckigen Gliedern durch die grob zugeschnittene Uniform noch 49 unreifer aussah, vor ihm stand und zwei richtige ängstliche Jungenaugen zu ihm aufschlug, da lautete sein Sprüchlein wesentlich milder.
Dazu kam noch ein gewisses Solidaritätsgefühl: die Frielinghausen waren ein alter thüringischer Adel – wie die Wegstetten –, vielleicht waren sie sogar noch älter, und einstweilen hatte dieser junge Mensch zwar seiner Mutter einen schweren Kummer angetan, aber Kupferdraht hatte er noch nicht gestohlen und auch nicht an sozialdemokratischen Machenschaften sich beteiligt; Wegstetten wußte für den Augenblick nicht, was er für schlimmer halten sollte. Natürlich würde er sich hüten, diese Anteilnahme an dem persönlichen Schicksal eines gemeinen Soldaten an einen Unwürdigen zu verschwenden; sobald Frielinghausen nicht gut tat, hatte er bei ihm abgewirtschaftet – genau wie der andere von Adel in seiner Batterie, dieser Graf Egon Plettau, der, aus einem uralten westfälischen Geschlecht stammend, das Unmögliche fertig gebracht hatte, bereits acht Jahre zu dienen, indem er zuerst ein halbes, dann zwei, dann fünf Jahre Festungsgefängnis, immer wegen Widersetzlichkeit, sich zuzog. Jetzt war dieser verkörperte Hohn auf den deutschen Adel wieder beinahe am Ende seiner Strafzeit angelangt, dann würde er zur Batterie zurückkehren, und ein Zufall würde es entscheiden, ob er nach den paar noch abzudienenden Monaten als Reservist entlassen würde, oder aber von neuem ins Gefängnis wanderte.
Soviel Menschenkenntnis besaß Wegstetten allerdings, daß er die Verschiedenheit des Falles sogleich erkannte. Den Grafen Plettau hatte damals die Ersatzkommission geradezu von der Landstraße aufgelesen, einen hoffnungslosen Bummler und 50 Landstreicher, aber Frielinghausen war wenigstens von dem guten Willen beseelt, sich aufzurappeln und etwas Tüchtiges zu werden. Das sah man ihm an den ehrlichen Augen an. So sprach er ihm fast väterlich zu, setzte ihm mit knappen Worten auseinander, daß er dienstlich selbstverständlich auch nicht im geringsten eine Sonderstellung einnehmen könnte und ermahnte ihn, durch Eifer und guten Willen einer Beförderung sich so bald als möglich würdig zu machen; dann wäre er ja am ehesten aus den Verhältnissen heraus, die ihm jetzt etwas spanisch vorkommen würden.
Mit einem »Kopf hoch!« schloß er seine kleine Rede, und noch an der Tür fügte er etwas leiser – denn das brauchten die Unteroffiziere nicht gerade zu hören – hinzu: »Seien Sie des Namens eingedenk, den Sie tragen! Ich meine, das allein müßte Ihnen Ansporn genug geben, immer voran zu sein.«
Frielinghausen blieb aufatmend einen Augenblick stehen, als er die Tür des Dienstzimmers geschlossen hatte. Es war ihm, als müßte er zu dem Hauptmann zurückeilen und ihm die Hand küssen. So voll Dankbarkeit war sein Herz für diese rein menschlichen, warmen Worte, die ihm nach all den trockenen dienstlichen Ansprachen und Ermahnungen wie eine Erquickung ins Ohr klangen. Aber er fürchtete, so etwas möchte sich für einen Soldaten nicht schicken, und nahm sich dafür um so ernster und ehrlicher vor, dem Vorgesetzten durch Taten zu danken und sich alle Mühe zu geben, ihn zufrieden zu stellen.
Der junge Bursche, dem es vor einigen Wochen keiner an Leichtsinn und Übermut gleich getan hatte, war fast über Nacht zu einem ernsthaften Nachdenken gezwungen worden. Eben noch hatte er sich unter den Kommilitonen bewegt, wohl gelitten bei allen 51 und alle in jungenhaftem Übermut noch übertrumpfend, nur der Sonnenseite des Lebens zugewandt und des Tadels der Lehrer in jugendlicher Keckheit spottend, – und plötzlich sah er sich in eine Umgebung verbannt, deren Trostlosigkeit ihm die Erinnerung an die bittersten Stunden der Vergangenheit, deren er nur mit Scham gedachte, als süß erscheinen ließ.
Das waren erst nur die Stunden, in denen die Mutter ihn mit angstvollen, inbrünstigen Worten gebeten – angefleht hatte, brav zu werden. Wie wenig war mit dieser von der Mutter erflehten »Bravheit« verlangt gewesen! Die Liebe, Zärtliche gönnte ihm so gern die frohe Freiheit der Jugend, mehr als einmal hatte sie ihm gesagt, zu einem duckmäuserigen Musterknaben wollte sie ihren Jungen gar nicht machen, nur sollte er nicht hinter den anderen zurückbleiben und nicht vor dem Ziele erlahmen; alles von dem kargen Ihren, jede Zuwendung der wohlhabenden Verwandten, die sie jedesmal mit Demütigungen erkaufen mußte, verwandte sie auf den Sohn, damit er nicht einer allzu freudlosen Jugend gedenken müßte; sie trug jede Last und wurde vor der Zeit alt in der Sorge um ihn, nur damit er das Ziel erreichen sollte, das so klar und deutlich und so sicher in der Ferne winkte, dieses reiche Familienstipendium, das ihm in Jena zufallen mußte, die Stiftung, die ein Frielinghausen in einer glücklicheren Vergangenheit an der Universität des Stammlandes zu Nutz und Frommen seiner Geschlechtsgenossen errichtet hatte.
Dann war die Katastrophe über ihn hereingebrochen und hatte dieses Traumgebilde, das so sicher und fest in der Wirklichkeit wurzelte, mit einem Schlage zertrümmert. Er sah sich scheu an den Ufern 52 des Flusses entlang schleichen, wieder und wieder überlegend, ob es nicht besser sei, in dem strudelnden Wasser Ruhe zu suchen, – und nie, im Leben nicht, würde er den leeren, starren Blick der Mutter vergessen, der der Leiter des Gymnasiums die unvermeidliche Ausschließung in einer schonenden, persönlichen Aussprache mitgeteilt hatte.
Darauf folgte eine Zeit dumpfer Erstarrung und wiederum eine fieberhafte Reihe von Gesuchen und Bittgängen; es galt ja nur für drei Jahre eines Privatstudiums Mittel aufzubringen, dann war das ersehnte Ziel erreicht, – aber die Vettern und Basen taten die Taschen nicht auf. Ein Teil hatte selbst nichts darin, die anderen, die um des Namens willen hätten geben wollen, erkundigten sich erst nach diesem unbequemen Bittsteller, der ihr Schützling werden sollte, und da standen die alten Sünden wider Walther Frielinghausen auf. Auf »Leichtsinn, Oberflächlichkeit, mangelnden Fleiß, ungenügende Kenntnisse in fast allen Unterrichtsfächern« liefen die Auskünfte der Lehrer hinaus, so daß auch die willigen Verwandten ihre bedingte Zusage zurückzogen.
So wurde man auf diesen letzten Ausweg hingewiesen, dieses Zwitterding zwischen Offiziers- und Unteroffizierslaufbahn, das einer sehr bescheidenen Sache ein etwas aufgeputztes Mäntelchen umhing.
Die gänzlich gebrochene Mutter sagte weder ja noch nein dazu. Ihr Leben hatte den Inhalt verloren, es war ihr gleichgültig geworden, und als der Sohn von ihr Abschied nahm, lag ihre Hand kalt und bewegungslos in der seinen. Er stahl sich mit niedergeschlagenen Augen aus ihrer Nähe und atmete auf, als er die starren Augen der Mutter nicht mehr sehen mußte, die über ihn und über die Zeit weg in ein 53 anderes Land schauten. Der Egoismus seiner siebzehn Jahre hatte den anfangs gar nicht zu messenden Kummer beinahe schon wieder überwunden.
Erst als das neue Leben für ihn begonnen hatte, so niederschmetternd hart und schwer, wie er es nie sich hatte träumen lassen, kehrte die Reue doppelt bitter und nagend zurück. Seine Gedanken waren ein immerwährendes: »O, daß ich niemals hätte!« und »O, daß ich nur ein einziges Mal noch dürfte!« Abermals nahte sich ihm der Tod als Versucher, und ein rasches Ende dünkte ihm tausendmal weniger schrecklich als die graue Öde, die sich endlos vor ihm erstreckte.
Und abermals schauderte seine warme Jugend vor dem letzten zurück, das Leben, unter dem er litt und das ihn darniederdrückte, hielt ihn fest.
Er beneidete seine Kameraden, diese einfachen Burschen. Sie waren zwar auch in neue, fremde Verhältnisse eingetreten, aber im Grunde blieben sie doch in ihrem Lebenskreise. Manchen unter ihnen schien es sogar noch nie so gut ergangen zu sein wie im Soldatenrock, dem einen von den Stubengenossen z. B., Listing, der es als ein großes Glück pries, jeden Tag eine warme Mahlzeit in den Leib zu bekommen und der von den Haftstrafen, die er wegen Bettelns und Landstreichens abgesessen hatte, wie von etwas ganz Alltäglichem sprach. Indessen auch die anderen schickten sich leicht in das Ungewohnte und fanden wenigstens in ihrem gegenseitigen, gedankenarmen und schwerfälligen Verkehr eine beruhigende Aussprache über ihre kleinen Leiden und damit eine Erholung, die ihm versagt war.
Von den Höhen der Kultur, die er zu erklimmen bereit gewesen war, gab es keine Brücke zu der Tiefe 54 der Unbildung, in der seine Kameraden zufrieden dahinlebten. Möglich, daß in einigen von ihnen schöne und liebenswerte Charaktereigenschaften verborgen lagen, – er hielt am meisten von dem dürftigen Schreiber Klitzing, und auch Vogt, der derbe Bauernbursche, war ihm nicht zuwider, – aber diese Menschen mit ihren kargen Worten und sparsamen Gebärden zogen sich gerade vor ihm gleichsam in sich selbst zurück, wohl in der Furcht, von dem Gebildeteren um ihrer vermeintlichen Torheit willen verspottet zu werden. Er wußte, sie mußten ihn schließlich für hochmütig halten, und sie würden ihm vielleicht feind werden, und doch vermochte er trotz allen Suchens keinen Berührungspunkt zwischen ihnen und sich zu finden.
Dabei war er in gewissen Dingen sogar auf sie angewiesen: er hatte keine Ahnung von allen den praktischen Verrichtungen, dem Putzen und Instandhalten der Kleider und Schuhe, die den Rekruten leicht wie etwas Selbstverständliches von der Hand gingen, und jetzt erst wurde er sich der unachtsamen Lieblosigkeit bewußt, die er daheim sich hatte zu schulden kommen lassen, wieder einer von seinen unzähligen Sünden gegen die beste und treueste aller Mütter. Wie gern hatte sie dem geliebten Sohne diese niederen Dienste geleistet! Sie hatte die zarten, arbeitsungewohnten Hände dabei in alte Handschuhe gehüllt, nicht aus Eitelkeit, nein, zum andern Mal aus Liebe, weil dieser geliebte Sohn so gern die feinen, weißen Hände der Mutter küßte.
Wenn er daran und an seine anderen, noch weit schlimmeren Vergehen dachte, erschien ihm sein hartes Schicksal nicht unverdient. Nur das Eine war gar zu grausam, – daß nirgends ein Ende seiner Leiden absehbar war. 55
Denn der Verkehr mit den Unteroffizieren, die nach einer Beförderung seine Kameraden sein würden, dünkte ihn nicht weniger trostlos als der mit den Rekruten. Auch bei ihnen begegnete er größtenteils demselben mißtrauischen Zurückweichen wie bei den Mannschaften, während einige wenige in ihm offenbar den Schützling des Hauptmanns witterten und ihn deshalb mit einer schmeichlerischen Zuvorkommenheit behandelten, die ihn geradezu abstieß, – Käppchen vor allem, ein kleiner Mensch mit unangenehmen listigen Augen, der sich dem »zukünftigen Kameraden« zu allerlei kleinen Gefälligkeiten anbot, die zu erwirken ihm als Batterieschreiber besonders leicht falle.
Er mochte es drehen und wenden, wie er wollte: in Gegenwart und in Zukunft war das ein Leben, nicht des Atmens wert. Da war der Hauptmann mit seinen freundlich-kräftigen Worten mitten in seine Verzweiflung getreten und hatte in das schreckliche Dunkel einen Schimmer Licht getragen. Die Zufriedenheit dieses Mannes zu erringen, zu beweisen, daß seine Teilnahme an keinen Unwürdigen verschwendet war, – das war wenigstens wieder ein Ziel, und Frielinghausen gelobte sich, nach diesem Ziele zu streben mit bestem Willen und mit allen Kräften.
In seine Gedanken versunken war er vor der Tür des Dienstzimmers stehen geblieben, – wie lange, wußte er selbst nicht. Er schrak zusammen, als ihn eine Hand bei der Schulter faßte und umdrehte.
»Lassen Sie mich mal vorbei, mein Sohn!« sagte jemand dazu.
Frielinghausen trat zur Seite und sah einen Offizier in Paradeuniform, – Helm mit Haarbusch, Epauletten, Bandelier und Schärpe, – in das Dienstzimmer treten. Er dachte mit Wehmut daran, daß er als Junge 56 auch einmal davon geträumt hatte, Offizier zu werden, bis ihn die Mutter zu dem anderen, sichereren Lebensplan, dem Studium, überredet hatte. Jetzt schaute er traurig auf die Flicken seines Rockes herab und verglich seine abgeschabte Uniform mit dem Paradeschmuck des Offiziers.
Ein großer gewaltiger Unterschied war das – –
* * *
Der Offizier trat in das Dienstzimmer ein und erstattete dem Hauptmann seine Meldung.
Wegstetten trat rasch auf ihn zu und reichte ihm die Hand hin.
»Es freut mich aufrichtig, Herr Leutnant,« sagte er, »Sie in meiner Batterie zu haben. Herzlich und aufrichtig willkommen, mein lieber Reimers!«
Der Leutnant verneigte sich und murmelte das übliche »Herr Hauptmann sind sehr gütig –«
Wegstetten unterbrach ihn. Mit einem »Aber ich bitte, Herr Leutnant!« machte er der streng dienstlichen Haltung des jungen Offiziers ein Ende und fuhr fort: »Nein, wirklich, es ist eine Freude für mich, einen Offizier zum Mitarbeiter zu haben, der auch den Ernst des Soldatenlebens kennen gelernt hat, – wahrscheinlich intensiver als drüben der Hauptmann Madelung von der vierten Batterie in China.«
Scherzhaft drohend hob er den Finger und setzte hinzu: »Wenn's auch gänzlich verbotenerweise für die Boeren geschah. – Na, erträglich war wohl die Zeit auf Festung?«
Reimers antwortete lächelnd: »Zu Befehl, Herr Hauptmann. Ich bin beinahe noch nirgends so liebenswürdig aufgenommen worden als während dieser Strafhaft.« 57
»Das wäre ja auch! Und Majestät hat Sie auch wirklich nicht allzulange schmachten lassen. Nicht?«
»Gewiß nicht, Herr Hauptmann.«
Wegstetten sah nach der Uhr; dann nahm er die Mütze und die Reitpeitsche, die er beim Eintritt des Leutnants weggelegt hatte, schnell auf und verabschiedete sich mit einem herzhaften Händedruck.
»Dumm!« sagte er dabei. »Dumm, daß ich jetzt keine Zeit habe! Aber, mein lieber Reimers, ich muß meinen Unteroffizieren Reitbahn geben. Adieu also! Ich danke Ihnen für Ihre Meldung, und nochmals: es freut mich, daß meine sechste Batterie Sie bekommen hat, einen Mann, der Pulver gerochen hat! Solche Leute gibt es ja höchstens noch unter den Obersten und Generalen.«
Als der Hauptmann zur Tür hinaus war, stellte Reimers den Helm auf den Tisch und zog sich die Handschuhe aus.
Er blickte sich im Dienstzimmer um und nickte zufrieden, als er alles noch am alten Platze fand. Dann streckte er dem Wachtmeister die Hand hin.
»Tag, Schumann!« sagte er fröhlich. »Und Sie sind auch noch der Alte! Wie geht's?«
»Danke gehorsamst, gut, Herr Leutnant,« antwortete der Wachtmeister. »Und Herr Leutnant verzeihen, wie geht's dem Herrn Leutnant?«
Reimers sah erstaunt auf. »Gut, gut natürlich. Wie denn sonst?« fragte er.
»Nun, Herr Leutnant wurden doch vor'm Jahr wegen Krankheit beurlaubt –?«
»Ach so! Die ist weg, Schumann, absolut weg! Keine Spur mehr!«
»Das freut mich, Herr Leutnant.«
Etwas stockend fuhr der Wachtmeister fort: »Und 58 – Herr Leutnant verzeihen, es freut auch mich, – sehr, daß Herr Leutnant nun zum zweiten Male zur sechsten kommen, vor sechs Jahren als Fähnrich und nun wieder, wo Herr Leutnant drüben für die Boeren gekämpft haben. – Das können Herr Leutnant gar nicht glauben, was mir das für Freude macht; denn, Herr Leutnant, ich ginge selbst am liebsten hinüber.«
»Ach nein, Schumann,« erwiderte Reimers, »das lassen Sie man lieber bleiben! Ich glaube nicht, daß es Ihnen da unten gefallen würde. Die Sache hat auch sehr eine Rückseite; bleiben Sie getrost hier, da sind Sie am Ende mehr am Platze. Artillerie haben die armen Teufel ja sowieso nicht mehr.«
Aber der Wachtmeister gab sich nicht ohne weiteres zufrieden.
Die englischen Grausamkeiten, von denen er allabendlich in seiner Zeitung las, hatten sein Blut in Wallung gebracht, und wenn auch der Kaiser, die Russen und Franzosen, aus Gott weiß was für Gründen sich nicht dawider ins Zeug legten, so konnte es doch niemandem verwehrt sein, mit der eigenen Person für diese tapferen Bauern einzutreten. Seine ehrliche Empörung ließ ihn fast wortreicher und kühner werden, als er es sonst einem Vorgesetzten gegenüber sich erlaubt hätte.
Aber der Leutnant nahm ihm das nicht übel. Er dachte mit einem leichten Lächeln, wie stark dieses schöne Gerechtigkeitsgefühl, das so klipp und klar für die Schwächeren eintrat, sein mußte, daß sogar dieser mit den Formen und Formeln des Dienstes so eng verwachsene Mann sich ein paarmal vergaß und ihn mit einem einfachen »Sie« statt des vorschriftsmäßigen »Herr Leutnant« anredete.
»Ach nein, Schumann,« schloß er, »das wäre 59 wirklich nichts für Sie. Bleiben Sie nur ruhig bei uns. Passen Sie auf: das wird Arbeit genug geben! Das Neue, das da drüben und auch in China gelernt worden ist, das wird jetzt hier bei uns verwertet, und dazu brauchen wir unsere tüchtigen Leute schon selber. Jawohl, Schumann! Und Sie, – Sie werden auch gebraucht! Wenn wir nur recht viele hätten wie Sie!«
Die letzten Worte sprach der Offizier mit erhobener Stimme und drückte dabei dem Wachtmeister herzhaft die Hand. Nun setzte er den Helm auf und schritt aus dem Zimmer, recht ein Mann, an dem das Soldatenherz Schumanns seine Freude hatte. Man hatte Vertrauen zu ihm, wie er mit seinen scharfen klaren Augen um sich blickte, wie er sich in seiner ungezwungenen und doch straffen Haltung so sicher gab. Obendrein war er ein hübscher Kerl, mit seinem hellen blonden Bärtchen und dem offenen Gesicht, nur ein wenig hager, – was noch von den Strapazen des Feldzugs herrühren mochte, – keiner von den Laffen, die da zum Teil unter den jungen Offizieren herumliefen und dem Wachtmeister bei aller Ehrerbietung nur ein mißmutiges Kopfschütteln entlockten.
Schumann sah dem Leutnant wohlgefällig nach und meinte bei sich, wenn der greise, gute König es hätte machen dürfen, wie er wollte, dann würde er wohl dem Reimers den Orden gegeben haben, den jetzt der Hauptmann von der 4. Batterie drüben trug, weil er in China einmal eine alte Lehmschanze mit seiner Feldhaubitzbatterie zusammengeschossen hatte; mehr war nicht zu tun gewesen, hatte der Kanonier, der von der 6. drüben dabei gewesen war, erzählt, und der hatte womöglich schon etwas dazu gelogen.
Plötzlich rückte Käppchen sehr hörbar mit seinem Stuhle; er hatte die ganze Zeit über spöttisch vor sich 60 hingelacht: was gingen den Wachtmeister die Boeren an? Die warteten gerade noch auf so einen alten Knax, der vielleicht gleich in der ersten Woche die Gicht bekam. Nun ärgerte er sich, daß Schumann, der ihm erst noch so einen Pack Schreiberei aufgehalst hatte – er hatte es sofort gemerkt – so lange müßig dastand und diesem Leutnant nachgaffte, der auch recht wenig drüben ausgerichtet haben mußte, wenn nicht mal was davon in den Zeitungen stand. Auf wem blieb am Ende die Arbeit sitzen? – Doch auf ihm!
Und er räusperte sich laut und zog den Stuhl schurrend näher an den Tisch heran.
Der Wachtmeister schrak aus seinem Nachdenken auf und setzte sich an seinen Tisch. Aber so sehr er sich Mühe gab, ganz blieben seine Gedanken doch nicht bei den Rekrutenpapieren, – immer und immer wieder ging es ihm durch den Kopf, daß auch Leutnant Reimers gesagt hatte, er, Schumann, würde noch notwendig gebraucht. An dem einen Tage war das der zweite, der dasselbe redete. Da mußte doch etwas daran sein.
Es war ihm fast, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
Aber den ganzen Tag über gab es alle Hände voll zu tun, und erst gegen Abend, als die dringlichsten Arbeiten erledigt waren, kam er etwas zur Ruhe. Er verlas noch den Dienst für den nächsten Tag und begab sich dann in seine kleine Wohnung, die am Ende des Korridors gelegen war. Da wollte er ernstlich mit sich zu Rate gehen, ob er nicht doch noch einige Jahre bei der Batterie aushalten sollte. – – 61
* * *
Zwei Wohnungen befanden sich in dem Verschluß der Korridortür, – die des Wachtmeisters Schumann und die des Vizewachtmeisters Heppner, jede aus je einer Stube, Kammer und Küche bestehend, während der Vorflur von beiden Parteien gemeinsam benutzt wurde. Der Wachtmeister hatte die nach dem freien Feld zu gelegenen Räume inne, der Vizewachtmeister die auf den Kasernenhof hinausschauenden.
Als Schumann über den dunklen Vorsaal schritt, hörte er durch die Tür die rohe, polternde Stimme Heppners.
Das war das Schlimme an diesen Dienstwohnungen: die dünnen Wände und Türen, die kein lautes Wort auffingen und dämpften, geschweige denn ein grobes Schelten und Schimpfen. Wer da nicht seine Sachen ganz friedlich und still abtat, der redete stets zugleich für fremde Ohren, auch wenn sie gar nicht die Absicht hatten zu lauschen.
Und bei den Heppners ging es immer sehr laut zu.
Es waren stets dieselben alten Geschichten, die die ewigen Zänkereien dieses Ehepaares verursachten. Ein krankes Weib, das, an einem Lungenleiden hinsiechend, dem Tode täglich näher kam, und ein Mann, der von roher Kraft strotzte, – das gab ein ungleiches Gespann ab.
Heppner hatte seine Frau geheiratet, als sie ein Kind von ihm erwartete. Hinterdrein wußte er selbst nicht recht, wie das zugegangen war, daß diese Ehe zustande kam. Er gestand sich, daß er dieses blasse, magere Frauenzimmer im Grunde gar nicht leiden mochte, aber sie hatte eine so stille Art gehabt, Schritt für Schritt, aber beharrlich auf das Ziel loszugehen, das sie sich einmal gesteckt hatte. Sie hatte ihn gefangen, indem sie sich demütig und geduldig stellte, 62 so demütig und geduldig, daß er schließlich zu dem Glauben kam, eine bequemere Frau würde er kaum je wieder finden, eine Frau, die ihn ganz nach Belieben würde schalten und walten lassen, die ihm alles durch die Finger sehen würde. Denn er hatte nicht die geringste Lust, etwa den soliden Ehemann zu spielen. Selbst als er Hand in Hand mit seiner Braut vor dem Geistlichen stand, – ja, gerade da nahm er sich vor, es mit dieser Treue, die er da gelobte, nicht allzu genau zu nehmen, und dazu brauchte er eben eine so fügsame Frau wie die seine, die nicht gleich wegen jeder Kleinigkeit Lärm schlug.
Zum Teufel auch! Er war ein junger, flotter Kerl und sah stattlich genug in der schmucken Uniform aus, groß, mit seiner breiten Brust, den starken Armen und stämmigen Beinen, dem vollen, roten Gesicht mit dem schwarzen Schnauzbart, ein Kerl, nach dem sich alle Frauenzimmer die Hälse verdrehten, und so einen sollte diese Hopfenstange, seine Frau, allein haben? – Das wäre doch schade! Und es war ihr Glück und sehr klug von ihr, daß sie so eine zahme war.
Aber nach der Hochzeit verwandelte sich die Fügsame, Geduldige, mit einem Schlage. Eine böse Sieben, eine wahre Hexe wurde sie, eine richtige Hyäne, die auf Schritt und Tritt hinter ihm her war, die das Harmloseste beargwöhnte und ihm jeden Tag einen neuen Eifersuchtsskandal machte. Einmal war sie ihm mit ihren Fingernägeln und ihrer spitzen Schere zu nahe gekommen, aber da hatte er ihr eins aufs Dach gegeben, daß sie sich nie wieder an ihn gewagt hatte. Dafür geiferte sie um so ärger in Worten gegen ihn, und wenn er sie, zum Äußersten gebracht, prügeln wollte, besaß auch sie ein unfehlbares Abwehrmittel: sie schrie um Hilfe, so daß die ganze Kaserne 63 zusammenlief. Dann ließ Heppner von ihr ab; er knirschte vor maßloser Wut mit den Zähnen, – aber man wusch seine schmutzige Wäsche doch nicht vor allem Volk, wenn auch alle ganz genau wußten, wie bei diesem Ehepaare die Dinge standen.
Am Ende kümmerte sich Heppner gar nicht mehr um sie. Er führte ein Leben, wie es ihm behagte, ging Abend um Abend aus und vergnügte sich auf seine Art. Für Weib und Wirtschaft gab er kaum das notwendigste Geld her. Wenn er dann nach Hause kam, war er der Angreifende, – die Schimpfworte der Frau glitten wirkungslos an ihm ab. Er hatte ihre schwächste Stelle herausgefunden, – die Eitelkeit, und nützte seine Entdeckung weidlich aus. Er verhöhnte sie, indem er ihr ihre Welkheit und Magerkeit, ihr fahles Aussehen und ihr dünnes Haar vorhielt, und trieb sie auf den Gipfel der Wut, indem er ihr von den Reizen der anderen erzählte, die ihn mit ihrer Liebe beschenkt hatten.
Das ging so monatelang; es war nicht gerade angenehm für Heppner, aber man gewöhnte sich daran, und er wurde dabei immer blühender und kräftiger, während die Frau von Tag zu Tag häßlicher wurde und zusehends abmagerte.
Zuguterletzt spielte sie ihm einen bösen Streich und wurde krank.
Der Stabsarzt erklärte den Fall von vornherein für hoffnungslos und gab der Kranken nur mehr eine kurze Lebensfrist. Aber selbst die Nähe des Todes brachte das wüste Zanken nicht zum Schweigen.
Die Schimpfereien wurden nun von einer wahrhaft grauenerregenden Abscheulichkeit. Es machte dem Manne Freude, der Kranken noch eins auszuwischen. Er war wütend darüber, daß er für sie um der vielen 64 Klatschmäuler willen so ganz Besonderes schaffen mußte, Stärkungsmittel und teuren Wein, den er viel lieber selbst getrunken hätte, und übergoß sie mit Verwünschungen und Flüchen. Dann kehrte die Frau aus den finstersten Winkeln ihrer Seele den Schmutz hervor und rang nach einem letzten Atem, um ihn in ein unflätiges Wort geballt auf ihren Peiniger zu schleudern, – und der Mann saß ihr gegenüber, rot und frisch, und schrie ihr über den Tisch den triumphierenden Hohn ihres baldigen Sterbens ins Gesicht, in seiner gräßlichen Roheit ein Vieh, schlimmer, tausendmal schlimmer als ein Vieh.
Und das Weib keuchte, wollte sprechen, – sank zurück und konnte nur die dürre Faust wider ihn schütteln.
Einmal hatte sie bei Wegstetten, dem Batteriechef, Schutz gesucht, in dem dunklen Drange, daß ihr von irgend woher eine Hilfe kommen müßte. Sie war sich nicht klar darüber, was sie wollte, – fort jedenfalls von diesem Manne, der sie quälte und noch einmal tötete, vielmals schmerzhafter als die Krankheit, nur mußte er ihr Geld geben, denn sie besaß keinen Pfennig. Aber da war die Vergangenheit gegen sie lebendig geworden, die Vergangenheit, in der sie grundlos gegen ihren Gatten geeifert hatte, in der sie mehr als einmal aus nichtigen Ursachen Krakehle mit anderen Unteroffiziersfrauen vom Zaune gebrochen hatte, so daß Beschwerden über sie eingelaufen waren. Der Hauptmann wies sie ab.
»Prüfen Sie sich mal, Frau Heppner,« sagte er, »ob Sie nicht auch ein wenig Schuld haben. Denn sehen Sie, es ist gar nicht möglich, daß ein Mann, der dienstlich so ausgezeichnet seine Pflicht erfüllt und sich nie eine Überschreitung zu Schulden kommen läßt, 65 – nie, sage ich! – daß der zu Hause sich so roh aufführt, wie Sie mir erzählen. Sie übertreiben wohl ein wenig, gute Frau.«
Da ergab sie sich grollend in ihr furchtbares Schicksal. –
Wegstetten hatte nicht einmal Unrecht mit seinem Lob. Wenn Heppner die Familienwohnung verlassen hatte, war er ein tadelloser Unteroffizier, der sich wie keiner fast der Grenzen bewußt war, die den Vorgesetzten durch Vorschriften und Befehle gezogen waren. Er nahm die Leute tüchtig heran, und seine Löwenstimme erklang laut und brutal über die Plätze weg, aber niemals ließ er sich zu einer Mißhandlung hinreißen. Im ganzen mochte er die Mannschaften, wenn sie sich Mühe gaben, – und daß sie das taten, dafür sorgte er schon, – nicht ungern leiden, es bereitete ihm Genugtuung, eine gut exerzierte Truppe zu kommandieren, und wenn sie ihre Sache besonders gut machten, hatte er sogar eine ganz aufrichtige Gutmütigkeit für sie übrig.
Nur zuweilen griff er sich ein paar heraus und drangsalierte sie, immer in den Grenzen des Erlaubten, mit einer kalten, grausamen Ruhe, so daß sie fast zusammenbrachen. Durchweg waren das minder kräftige Leute, dürftige, blasse Burschen mit fahlen Gesichtern, die er für den Tod nicht ausstehen konnte.
In einzelnen Zügen trat dann wieder die tierische Roheit seines Innersten zu Tage. Wenn einer sich verletzt hatte, war Heppner der erste, der hinzulief und verband, nicht um zu helfen, sondern um Blut zu sehen; mit einem wahrhaft wollüstigen Ausdruck in den hervorquellenden Augen sah er es fließen.
Hauptsächlich unterstand die Ausbildung der Berittenen seiner Leitung. 66
In der Reitbahn, sonderlich wenn im Winter im Reithause geritten wurde, wenn im heißen Dampf der Pferde und im Lohestaub die düsteren Lampen nur noch rötlich glühten, war er in seinem Element.
Mit der Miene eines sicheren Siegers bestieg er den Gaul, der unter einem andern Reiter ein Hindernis refüsiert hatte. Er hatte eine Faust, die so weich und rund wie Sammet und fest und hart wie Stahl sein konnte. Mit Güte versuchte er's zuerst. Er legte sein Gewicht nach hinten, nach der Stelle zu, an der es dem Pferderücken am lästigsten ist und wo es unwillkürlich das Tier vorwärts treibt, bis er es schließlich mit seinen mächtigen Schenkeln an das Hindernis heran und mit einem letzten Druck hinüberbrachte. Überschlug sich ein störrischer Gaul, so war er im Nu aus dem Sattel und wartete, den Zügel in der Hand, ruhig lächelnd, bis er prustend wieder aufsprang. Dann saß er von neuem auf. Vier-, fünfmal mußten die sich bäumenden Tiere das Hindernis nehmen, – dann erst gab er sich zufrieden.
Beim Reitunterricht konnte es sogar geschehen, daß Heppners Stimme fast gemütlich klang und daß er in der Strenge des Dienstes etwas nachließ; er wußte, daß seine Fahrer gut reiten würden, wenn es darauf ankam, – und daß die 6. Batterie die besten Reiter haben mußte, das war für ihn eine ausgemachte Sache.
So hatte es fast den Anschein, als ob Heppner die Brutalität, die doch den innersten Kern seines Wesens ausmachte, in sich verschlösse, um sie erst zu Hause von sich zu geben.
Aber geradezu verblüffend war es, wie dieser Mann, – der zu seinem Weibe roh war wie ein Tier und der in den Mannschaften im letzten Grunde 67 alles andere eher als Menschen sah, – sich verwandelte, wenn erst die Pferde selbst in Frage kamen. Gegen diese schönen Tiere konnte er von einer fast mütterlich sorgenden Zärtlichkeit sein. Sie kannten ihn alle, und er liebte jedes von ihnen, aber natürlich hatte er seine Lieblinge darunter. Da war der »Udo«, ein hellbrauner Wallach mit einer reichen Mähne und einer Blesse, die breit von der Stirn herab bis zur Nase lief, der niederknieen konnte, der »Zulu«, fast so dunkel wie ein Rappe, der mit dem Kopfe schüttelte, wenn man ihn fragte: »Bist du ein Franzos?« und nickte, wenn er angeredet wurde: »Aber ein deutscher Artillerist bist du doch?«, und vor allem der »Ulk«, ein kleiner Kerl mit einer besonders stattlichen Mähne, der in der Reitbahn stets seine Vorderpferde scherzhaft in die Hinterbacken biß.
Tag für Tag brachte der Vizewachtmeister den Pferden Zucker, Möhren und Brotschnitte und verteilte die Leckerbissen mit peinlicher Gerechtigkeit unter sie. Er studierte ihre Eigenart und gerade die, die sich nicht so ohne weiteres in ihr Los als Reit- oder Zugpferd schickten, erregten seine erhöhte Aufmerksamkeit. Es waren Racker darunter, die hübsche »Deborah« zum Beispiel, die keinen Sattel auf ihrem Rücken hatte leiden wollen, geschweige denn einen Reiter. Aber er hatte sie kirre bekommen, wenn sie auch beim Gurten noch ein wenig quiekte, gerade so gut wie diesen faulen, dicken »Carl«, der stets zwischen den baumelnden Strängen bummelte und sich lieber von den Vorderpferden das Kummet über den Kopf ziehen ließ, als daß er ein Quentchen zog. Er hatte ihn angeschirrt in seinen Strang gestellt und die Stränge so kurz an eine quer vor zwei Säulen gebundene, elastische Holzstange geknüpft, daß der Faulpelz sich tüchtig ins 68 Kummet legen mußte, wenn er nur bis zur Krippe kommen wollte. Da hatte der »Carl« klein beigegeben und zog nun brav sein Sechsteil der Geschützlast. Aber vergessen hatte der dicke Braune ihm die Kur nicht; Heppner behauptete wenigstens, das Tier sähe ihn immer noch vorwurfsvoll an, als ob er es um einen recht bequemen Ruheposten gebracht hätte.
Wenn gar eins der Pferde erkrankte, wurde seine Fürsorge fast zur Aufopferung. Den Verordnungen des Roßarztes kam er mit bewundernswerter Voraussicht entgegen, und ein einziges Mal beging er an einem Untergebenen eine tätliche Mißhandlung, noch dazu an einem Fahrer, der sich sonst seiner Gunst am meisten zu erfreuen hatte, – er gab dem Manne eine Ohrfeige, daß ihm zugleich aus Nase und Mund das Blut schoß, weil er als Stallwache »Dornröschen« einen Augenblick in der Kette hatte hängen lassen, »Dornröschen«, das ihm, Heppner, zugewiesene Reitpferd, seinen Augapfel, eine wunderschön gebaute dunkelbraune Stute, fast zu leicht für sein Gewicht, aber ein zähes Tier mit prachtvollen Gängen, dem man die Spur Vollblut in den Adern an dem feinen mageren Kopf und den klaren Beinen gleich ansah.
Seltsamerweise beschwerte sich der Fahrer nicht einmal, und auch »Dornröschen« genas unter Heppners ebenso rührender, wie sachverständiger Pflege bald wieder von ihrem kleinen Schaden.
Eigentlich erst inmitten dieser schönen, klugen Tiere bekam Heppner menschliche Eigenschaften, und ihnen zuliebe beteiligte er sich sogar an einem Aberglauben, während ihm sonst alles, was über Fleisch und Blut, über ein hübsches Frauenzimmer, Essen und Trinken hinausging, verächtlich und albern dünkte. Ein 69 Ziegenbock durfte nie im Stalle fehlen, weil er nach dem alten Glauben durch seinen scharfen Geruch Seuchen von den Pferden abhielt, und der Langbärtige war der besondere Schützling des Vizewachtmeisters. Und doch war es manchmal unbequem, für dieses unvernünftige Tier verantwortlich gemacht zu werden, das sich einmal nicht gescheut hatte, durch einen hinterlistigen Angriff sogar den Major in den Sand zu strecken, – vor versammelter Mannschaft noch dazu. Damals hatte Heppner nur durch ein ganz verzweifeltes Bitten das Todesurteil von dem meckernden Verbrecher abwenden können. Schließlich hatte ein Zufall auch die verfügte Verbannung aufgehoben: in der ersten Nacht, die »Nauke«, der Bock, außerhalb der Kaserne hatte zubringen müssen, hatten tatsächlich zwei Pferde zu husten angefangen; der Roßarzt hatte anfangs etwas von Brustseuche gemurmelt, – vier Wochen vor dem Manöver Brustseuche! – da war »Nauke« wieder in seine Rechte eingesetzt worden, und die beiden Kranken hatten bald wieder aufgehört zu husten. – –
Wenn der Vizewachtmeister gefragt worden wäre, wo er sich lieber aufhalte, abends in der Kneipe bei den Spielkarten und eine vollbusige böhmische Kellnerin zur Seite, oder in dem sauberen Stall mit seinem Kettengerassel, Schnauben und Hufscharren, so hätte er sich kaum sofort entschieden. Beides war ihm recht, indessen am Ende war es doch noch schöner, wenn er auf der Stallgasse auf und ab ging, der Ziegenbock links hinter ihm hertrottete und die Pferde die Köpfe mit den klugen Augen nach ihm umdrehten.
Aber wenn er die Stalltür hinter sich zugemacht hatte, verloren seine Blicke den weicheren Glanz, und sobald er die Tür seiner Wohnung öffnete, glomm bereits eine boshafte Glut in ihnen auf, wie wenn 70 er bereit wäre, sich auf das wehrlose Weib zu stürzen.
Die Frau war zuletzt von ihren Qualen und von der Krankheit so mitgenommen worden, daß sie dem kleinen Haushalt nicht mehr vorstehen konnte. Sie hatte sich nach einer Hilfe umgesehen und war schließlich auf ihre Schwester verfallen, die als Gutswirtschafterin in der Lausitz bedienstet war.
Ida, die Schwester, gab auch bereitwillig ihre Stellung auf, zog zu dem Schwager und übernahm sofort in ihrer vom Landleben her gewöhnten, derb zugreifenden Art die geringe Hausarbeit und die Pflege der Kranken. Einen Augenblick schien es, als verscheuche der ländliche Lufthauch, den das frische Wesen des hochgewachsenen, stattlichen Mädchens ausatmete, die ekle Atmosphäre von Bosheit und Niedertracht, die den Heppners das Leben vergiftete. Der Vizewachtmeister legte sich vor der Schwägerin Rücksichten auf, und die sieche Frau fand in der Aussprache mit der Schwester Erleichterung und Trost, – dann aber verwandelte die Anwesenheit der Dritten das Hauswesen erst recht in eine Hölle.
Die Augen des Hasses sind ebenso scharf wie die der Liebe, und Julie Heppner hatte es bald heraus, daß ihr Gatte in ihre Schwester verliebt war, mit seiner gewöhnlichen, grobsinnlichen Glut, nicht anders wie in die vielen, vielen andern vor dieser. Sie kannte diese feuchtglänzenden, starren Augen, die lüstern auf dem jungen Mädchen hafteten und ihm auf Schritt und Tritt begehrlich folgten, – das also war das Letzte, das Bitterste, das Tödlichste, das ihr bestimmt war, – den Treubruch in der Wohnung, vor den eigenen Augen, sich vollziehen sehen zu müssen.
Glücklicherweise schien vorderhand Ida von dieser 71 stillen Werbung nichts zu merken; sie machte wohl einmal einen Scherz mit dem Schwager, aber im übrigen ging sie unbekümmert ihren Weg.
Dieses harmlose, kühle Nichtverstehen vergrößerte nur noch Heppners Leidenschaft. Für ihn, der durch leichte Siege über die von ihm bevorzugte Sorte Frauenzimmer verwöhnt war, bildete diese Zurückhaltung etwas Neues, um so mehr Anreizendes. Nun wurde er eifersüchtig; selbst vor Verliebtheit vergehend, hütete er die Jungfräulichkeit der Schwägerin wie ein teures anvertrautes Pfand und verbot ihr sogar das unschuldige Kokettieren mit dem jungen Leutnant der Batterie, Landsberg, diesem geleckten Laffen, der ihr ab und zu schmachtende Blicke zusandte, wenn sie Wäsche ausflickend am Fenster saß und der Offizier das Exerzieren auf dem Hofe beaufsichtigte.
Die kranke Frau beobachtete bei solchen Streitereien mit ängstlicher Spannung das Verhalten der Schwester. Zuerst war Ida nur ehrlich entrüstet über die Anschuldigungen des Schwagers gewesen, mit der Zeit jedoch wurde sie stiller in ihren Erwiderungen, ein leichtes, verlegenes Rot huschte manchmal über ihr hübsches, junges Gesicht, und in den flüchtigen Blicken, mit denen sie den Schwager zuweilen streifte, sah die Kranke bereits das Fürchterliche aufkeimen.
Heppner selbst, weniger scharfblickend und an ein derberes Entgegenkommen gewöhnt, wußte noch immer nicht, was er aus der Schwägerin machen sollte. Nur das eine stand für ihn fest: dieses prachtvolle Mädel mußte sein werden, und er nahm sich vor, wenn es nicht anders ginge, selbst einen Gewaltstreich zu riskieren. Schlau freilich mußte er das anstellen, denn wenn seine Frau darüber zu zetern anfing, dann gab es einen Mordskrach, eine ganz eklige 72 Geschichte, die ihm gehörig ans Bein gehen, – die ihm sogar seine Stellung kosten konnte.
Aber es kam anders.
Heppner hatte gegen abend die »Walküre«, die er für Wegstetten als Batteriechefpferd zuritt, eine Stunde lang vorgehabt und ließ ihr im Stall die nasse Sattellage mit Strohwischen trocken reiben. Als die Stute mit dem Woilach eingedeckt war, ging er nach der Kantine, um den Riesendurst zu stillen, den ihm der Gaul gemacht hatte; denn die »Walküre« warf beim Traben, daß man allemal ein Kommißbrot hätte drunter durchwerfen können, – aber der Verwalter war ausgetreten, – die Bude zu. Er stieß ein paar Flüche aus, dann besann er sich auf eine Flasche Bier, die in der Wohnung in der Küche stehen mußte, und stampfte langsam mit etwas steifen Schritten nach Hause. Auf dem Hofe war Dienstverlesen, zum ersten Male waren die Rekruten dabei, – nun, davon hatte er sich dispensieren lassen.
In der Küche wusch die Ida. Er sagte kurz »guten Abend«, schänkte sich das Bier ein und trank einen großen Schluck. Den Rest schüttelte er im Glase, daß die braune Oberfläche schaumig wurde; dabei sah er der Schwägerin schweigend zu. Sie hatte weiße, feste, runde Arme und, wenn sie sich so über die Wanne beugte, derbe, breite Hüften.
Durch die offene Tür klang die schrille, heisere Stimme der Frau: »Ida, wer ist gekommen?«
Die Waschende antwortete: »Nu, wer denn anders als Otto?«
Und wieder schrillte die Stimme, noch heiserer: »Warum kommt er nicht herein?«
Heppner trank sein Glas aus, stellte es weg und erwiderte: »Weil ich nicht will. – Weil mir's hier 73 besser gefällt, als bei dir. – Weil die Ida ein hübsches Mädel ist und du eine alte Rabuse!«
Dabei legte er wie scherzend die Arme um das Mädchen und drückte es an sich.
Einen Augenblick hielt die Ida still; sie war zusammengefahren, – dann schüttelte sie den Schwager ab und schalt: »Laß los, du Dummer! Mach', daß du zu deiner Frau kommst!«
Der Vizewachtmeister ließ sie frei. Dieser eine Augenblick, den sie seine Umarmung gelitten hatte, gab ihm die Gewißheit, daß er auch hier Sieger sein würde. Wie sie zusammengeschauert war in seinen Armen! Das kannte er!
Stolz, aufrecht, einen höhnischen Triumph in den Augen, betrat er die Stube, und die sieche Frau wußte sofort, daß die schlimme Sache reif war.
Sie brach unter diesem Schlage zusammen; wie betäubt lag sie auf ihrem Lager, und sie brütete stumm über eine Rache, die sie an diesem Viechskerl, der sie zertreten, zertrampelt hatte, nehmen könnte, an ihm und der andern, die ihre Schwester war. – – –
* * *
Währenddessen saß in der rückwärtigen Dienstwohnung, die nur durch den Flur von der Heppnerschen geschieden war, der Wachtmeister Schumann mit seiner Frau an dem runden Sofatische.
Die ganze Stube glich mit den gehäkelten Deckchen auf den Polstermöbeln, den vielen Blumenstöckchen, dem Kanarienbauer und dem Nähtisch am Fenster weit eher dem Putzstübchen einer alten Jungfer, als dem Wohnraum eines Wachtmeisters, und die kleine, zartgliedrige Wachtmeisterin selbst, die sich nie so recht wohl fühlte und auch im Hochsommer ein Filettuch 74 um die Schultern trug, paßte recht gut in diese nette, saubere Umgebung.
Sie hatte einen großen Kummer, – daß ihre Ehe kinderlos bleiben zu sollen schien, – und tausend kleine. Aber sie fiel ihrem Gatten niemals mit diesen großen Kleinigkeiten zur Last und kam sich selbst sehr heldenhaft vor, daß sie ihr Leid so still und allein trug. Er hatte Ärger genug im Dienst, – wie oft hörte sie seine Stimme auf den Treppen wettern! – zu Hause sollte er seine Ruhe haben. Ein Einziges konnte sie am Ende nicht mehr ertragen, ohne sich bei ihm zu beklagen: dieses schreckliche Gezänk bei dem Nachbar, dem Vizewachtmeister. Sie zuckte zusammen, wenn drüben der Streit anhob, und allmählich wuchs aus dieser besonderen Abneigung eine allgemeine gegen dieses ganze, lärmvolle Leben hervor, in dessen Mitte zu verweilen sie gezwungen war. Sie wurde die eifrigste Fürsprecherin der Ruhepläne ihres Mannes und konnte kaum mehr den Augenblick erwarten, in dem er den bunten, reichbetreßten Rock, neben dem sie anfangs so gern spazieren gegangen war, endgültig ausziehen würde. Im Grunde war ihr das Waffenhandwerk ihres Gatten immer ein wenig zuwider gewesen. Wenn sie ihrem Manne die Ausrüstung abnahm, hielt sie den Säbel stets in den Händen, als ob er schon von Blut triefte, und ganz und gar fürchterlich war es ihr, wenn noch dazu das »Schießgewehr« in der Wohnung blieb, – der Revolver, den der Wachtmeister beim felddienstmäßigen Exerzieren am Säbelkoppel trug.
Das alles würde wegfallen, wenn er seinen Soldatenrock mit der hübschen dunklen Uniform der Bahnbeamten vertauscht haben würde, – diese geringen Unbequemlichkeiten und vor allem der 75 beständige Lärm, die Flüche, mit denen die säumigen Mannschaften zum Dienst gejagt wurden, das Trappen der nägelbeschlagenen Stiefel auf den Steinstufen, das Schreien und Kommandieren von den Reitplätzen her, die seitlich rückwärts der Kaserne sich breiteten, der selten wohltönende Gesang der Leute an den Abenden und nicht zuletzt das abscheuliche Gezänk nebenan.
Der Wachtmeister hatte bereits eine Probedienstzeit abgeleistet, und ein Assistentenposten an einer kleinen Nebenbahnstation stand ihm in Aussicht.
Als Schumann zu den Schießübungen auf dem Truppenübungsplatze war, hatte sie ihre Neugier nicht länger zu bezähmen vermocht und war einmal hingefahren. Es war eine Sekundärbahn, die sich ein Flüßchen aufwärts langsam in das Gebirge hineinhaspelte. Das Stationsgebäude lag eine kurze Strecke vom Dorfe entfernt inmitten einer grünen Baumanpflanzung. Die Wohnung hatte zwar auch nur Stube, Kammer und Küche, – die Küche war sogar kleiner als die jetzige –, aber es war so wunderschön ruhig in dem Tale zwischen den Waldbergen, und sie wurde die Sehnsucht nach diesem Ort des Friedens nicht wieder los.
Nun rückte Schumann plötzlich von neuem mit der Absicht heraus, im Dienste zu bleiben.
Sie ließ ihn ausreden und hörte ihm aufmerksam zu. Dabei blieb sie ihm ruhig gegenüber sitzen und legte ihm sein Abendbrot vor wie jede andere Mahlzeit, geschäftig und sorgend, als ob er von etwas ganz Gleichgültigem spräche. Aber als er fertig war, verhehlte sie ihm ihre Meinung nicht. Sie hielt sich für eine Frau, die dem Gatten in seine Sachen niemals hineinredete, – aber das ging doch auch sie recht wesentlich an. 76
Was er da erzählte, daß er sich wie ein schlechter Kerl, wie ein Deserteur vorkäme, wenn er den Dienst quittierte, das war Unsinn und unpraktisch und unklug obendrein. Einer puren Einbildung wollte er ohne weiteres ein paar Lebensjahre opfern, ohne daß es ihm einer Dank wissen würde. Wuchs etwa die Summe, auf die er schon nach zwölf Dienstjahren Anspruch hatte? Und mußte er nicht die gleichen Prüfungen und Probezeiten durchmachen, trotz seiner achtzehn Soldatenjahre, wie die, die gerade das Dutzend hatten voll werden lassen? Fing er etwa mit einem höheren Gehalt an, als drüben Schmidt von der 4. Batterie, der mit dem letzten Tag des zwölften Jahres abgegangen war? – –
Zuletzt spielte sie ihren Haupttrumpf aus. Sie wußte, daß die ländliche Stille der kleinen Station es in den Wochen der Probedienstzeit auch ihrem Mann angetan hatte, und beichtete nun ihre heimliche Reise.
Damit hatte sie gesiegt.
Eines wußte immer mehr als das andere von den anspruchslosen Reizen jenes Ortes zu berichten, und was dem einen entgangen war, das holte der andere nach.
Dabei belebten sich die halb schon verblaßten Bilder der Vergangenheit für den Wachtmeister mit frischen Farben, die alten Erinnerungen gewannen neue Kraft und zogen ihn mit starken Armen zu sich hin, – und in demselben Maße zerstreuten sich die Wolken seiner selbstquälerischen Vorwürfe.
Er sah in eine klare, helle Zukunft, die sich in dem schmalen Tal zwischen den waldigen Höhen abspielte, und es wollte ihm mit einem Male so vorkommen, als würde er dort in der Stille, wo man der Erde gleichsam näher war, erst sich selber finden und erst richtig zu leben anfangen. 77