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»Reserve hat Ruhe,
Reserve hat Ruh',
Und wenn Reserve Ruhe hat,
So hat Reserve Ruh'.«
(Reservistenlied.)
Das Generalkommando gab »in Anbetracht der besonderen Umstände und in vorzugsweiser Erwägung der aus einer Befolgung des vorgeschriebenen Weges resultierenden Umständlichkeiten« dem Antrag des Osterländischen Feldartillerie-Regiments Nr. 80 statt und willigte ein, daß »der am 16. September tödlich verunglückte Kanonier Heinrich Karl Klitzing der 6. Batterie im nächsten zuständigen Friedhofe beerdigt werde.« Die Ordre schloß: »Die Kosten des Begräbnisses des pp. Klitzing sind einstweilen vom Regiment zu liquidieren, demnächst aber bis 1. Oktober a. c. anher zu melden.«
Demzufolge wurde die Feier auf Donnerstag, den 19. September, vier Uhr nachmittags, festgesetzt.
Aber das Manöver hatte sich während der drei dazwischen liegenden Tage nach der Ebene gezogen, so daß zwischen dem Jagdschlößchen und dem Quartierort, den das Regiment am Beerdigungstage belegen sollte, nahezu drei Meilen lagen. Diese Entfernung zurückzulegen brauchte es einen Fußmarsch von vier Stunden. 437
Es war daher unmöglich, eine größere Zahl Mannschaften an dem Begräbnis teilnehmen zu lassen. Die Leute würden von den Übungen des Vormittags erschöpft sein und sollten am nächsten Morgen wieder frisch ihren Dienst tun. So verlas denn der Wachtmeister am Mittwoch Abend einen Befehl, »diejenigen, die der Feierlichkeit beiwohnen wollten und sich den beschwerlichen Hin- und Rückmarsch zutrauten, sollten vortreten.«
Die Mannschaften zogen bedenkliche Gesichter. Fast alle hätten gern dem Kameraden, der einen so rühmlichen Tod gestorben war, die letzte Ehre erwiesen, aber acht Stunden auf den Beinen – noch dazu nach den Anstrengungen des Manövers – das war zu viel.
Nur drei meldeten sich: Graf Plettau, Wolf und Truchseß.
Oberleutnant Güntz zeigte eine erstaunte Miene. Von den ersten zwei hätte er es niemals erwartet, und für den schwerfälligen Brauer bedeutete der Entschluß sicherlich auch eine große Überwindung. Aber brav war es jedenfalls von ihnen gemeint, und so mochten sie denn ihren Willen haben.
Für Vogt, der mit einem Heftpflaster über seiner Stirnwunde schon wieder Dienst tat, wollte er selbst sorgen: der Kanonier sollte auf dem Bock des Krümpers neben dem Kutscher hinfahren. Denn er als Batterieführer und Reimers als Leutnant der Batterie waren nebst dem Wachtmeister gewissermaßen verpflichtet, an dem Begräbnis teilzunehmen. Außerdem sollte Sergeant Wiegandt als Vertreter der Unteroffiziere mitfahren, und schließlich hatten sich aus dem Stabsquartier Oberst von Falkenhein und Major Schrader mit ihren Adjutanten angesagt. 438
Das Jagdschloß hatte am Ende des einen Seitenflügels einen kleinen, zu einer Kapelle eingerichteten Raum, und an den Park schloß sich ein von einer Hecke umfriedigter Platz, der als Gottesacker diente.
Die Grabsteine trugen bis auf den jüngsten, frischesten, alle den Namen Scheithauer. Die Angehörigen der Kastellansfamilie waren es, die darunter ruhten. Das Amt schien sich schon in sechs Generationen vererbt zu haben. Zuletzt war nur eine Tochter übrig geblieben. Diese letzte Scheithauer, die alte, wunderliche Frau, hatte einen Gottfried Stelzner geheiratet, der vor einem Jahrzehnt gestorben war. Und gleichsam zur Rechtfertigung, daß ein Stelzner sich in die alt eingesessene Familie der Scheithauer eindrängte, war auf seinem Stein eingegraben: »Hier ruhet in Gott Gottfried Stelzner, Schloßverwalter und Ehegatte der Martha Katharina Stelzner, geborenen Scheithauer.«
Dann war noch ein namenloses Grab da, das eines Handwerksburschen, den man im Winter erfroren im Walde gefunden hatte. Es war nicht zu erkunden gewesen, wer er war und von wo er kam, aber die Alte hatte ihm genau den gleichen Stein auf den Hügel setzen lassen wie den Scheithauers und ihrem Mann. Statt eines Namens war ein einfaches Kreuz darein gemeißelt.
Der Pfarrer des Dorfes unten im Talgrunde war gehalten, die gottesdienstlichen Verrichtungen in dem Jagdschlosse zu versehen. Das reiche Wildpretdeputat, das ihm als Entgelt zustand, war längst in eine stattliche Rente umgewandelt worden und vermehrte das Einkommen des Stelleninhabers beträchtlich. Aber die Pfarrherren waren verwöhnt, weil ihr geistlicher Beistand so selten in Anspruch genommen 439 wurde, und betrachteten selbst den seltenen Fall als eine unwillkommene Plage.
Daher gedachte der Pfarrer, ein kleiner, dicker, kurzatmiger Herr, auch dieses Mal durchaus nicht den Rahmen des üblichen Begräbnissermons zu überschreiten. Er wunderte sich nicht wenig darüber, daß sogar ein Oberst und ein Major einen gemeinen Kanonier zur letzten Ruhe begleiteten – der Oberst hatte noch dazu seine Ordensbänder angelegt –, und er beschloß, im Grunde nur um der Offiziere willen, über den »hochherzigen Opfertod des teueren Verstorbenen« sich etwas länger auszulassen.
Draußen ging ein feiner Regen nieder. Deshalb fand die kurze Feier in der Schloßkapelle statt.
Es fehlte dem armen Schreiber im Tode an nichts.
Der Major hatte die Summe, die für das Begräbnis ausgeworfen werden konnte, aus eigenen Mitteln verdoppelt. Ein schöner eichener Sarg stand infolgedessen in der Mitte des kleinen Raumes. Er war von den Kränzen bedeckt, die die Batteriekameraden, Schrader namens der Abteilung, und Falkenhein für das Regiment, dem Toten widmeten. Es waren volle Lorbeerkränze, mit schlichten Schleifen geschmückt. Die weißhaarige Kastellanswitwe aber hatte alles gepflückt, was der Herbst im Parke an Blumen noch verschont hatte, und die vielfarbigen Astern und Georginen mit Immergrün zu Guirlanden gewunden, die den Sarg ein wenig phantastisch bekränzten. In einer Ecke des Dachbodens war ihr eine vielleicht vor einem Jahrhundert vergessene Kiste voll altertümlich gegossener Lichter unter die kramenden Hände geraten, und sie hatte zwei vielarmige Leuchter damit besteckt.
Nun brannten die Kerzen mit ihren feierlichen 440 Flammen auf dem Altare, ihr Wachs verbreitete einen leisen Weihrauchduft, und der Lorbeer erfüllte die Kapelle mit seinem herben Geruch. Der Pastor stand zu Häupten des Sarges und sprach seine Predigt, hinter ihm hatte sich der Küster mit gefalteten Händen aufgestellt. Zu beiden Seiten saßen die Offiziere und Mannschaften. Sie hielten die Helme auf den Knieen und sahen mit ernsten Gesichtern darauf nieder. Die Alte kauerte in einem Betstuhl und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Damit war die Kapelle gefüllt. Der Sohn der Alten stand, den mächtigen Oberkörper in einen altväterlichen schwarzen Rock gepreßt, bereits in der Tür.
Als der Geistliche sein »Amen« gesprochen hatte, nahmen die vier Kanoniere den Sarg auf die Schultern und trugen ihn nach dem kleinen Friedhof. Der Küster schritt voran, dann folgten der Reihe nach hinter dem Sarge der Pfarrer mit den beiden Stabsoffizieren, Güntz und Reimers, die zwei Adjutanten, Heppner und Wiegandt, und zuletzt die Frau mit ihrem Sohne.
Klitzing hatte auf Erden nicht Eltern und nicht Verwandte gehabt, und er hatte nur einen, – Vogt, – Freund genannt, und doch empfanden in diesem Augenblick, bei diesem seltsamen Leichenbegängnis, alle eine aufrichtige Trauer. Wachtmeister Heppner, dem gewiß kein weiches Herz in der Brust schlug, mußte sich zusammennehmen, um nicht dem Beispiel Wiegandts zu folgen, dem die hellen Tränen in den Schnauzbart liefen.
Am Grabe sprach der Pastor den Segen und das Gebet. Dann hoben die vier Soldaten den Sarg an den schwarzen Bändern in die Höhe, der Küster nahm die haltenden Bretter weg, und der Verschiedene schwebte langsam zu seiner Ruhestätte hinab. 441
Keiner der Kanoniere hatte es sich träumen lassen, dieses Amt je zu verrichten. Aber es vollzog sich alles mit einer schönen, gemessenen Würde.
Der Oberst trat noch einmal vor und weihte dem Toten ein paar einfache Worte. Er redete von der echten kameradschaftlichen Treue, die er bis in den Tod bewährt habe, und pries den Fürsten und das Vaterland glücklich, die so brave Soldaten in ihrem Heere zählten.
Drei Hand voll Erde warf noch jeder auf den Sarg, dann war die Feier zu Ende.
Mit rascheren Schritten strebte das kleine Trauergeleite aus dem Friedhofe hinaus. Vogt blieb allein am Grabe zurück.
Der Pfarrer verabschiedete sich eilig von den Offizieren, nahm einen Wettermantel um und verschwand sogleich, von dem Küster gefolgt, auf einem abwärts führenden Waldwege. –
Vor dem Portal des Schlößchens waren die beiden Krümperwagen bereits vorgefahren. Es gab noch einen kleinen Aufenthalt: Truchseß hatte sich auf dem Herwege die linke Ferse wund gelaufen; er stand mit verlegenem Gesicht beiseite. Schließlich bat Güntz den Oberst, er möchte dem Unglücksmenschen erlauben, auf dem Bock des Stabskrümpers den freien Platz einzunehmen. Falkenhein hatte nichts dawider, und die Mienen des Brauers erhellten sich bedeutend.
Die Alte schloß den Schlag, als die Offiziere eingestiegen waren.
Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber dafür setzte ein eisiger Wind ein. Der Oberst schlug seinen Kragen hoch und sprach sie an: »Nun, Frau, bei Ihnen hier oben wird's wohl nun bald Winter?« 442
Mit ihrer ruhigen Stimme antwortete die Frau: »Ja, Herr, das muß es wohl.«
»Ist es da nicht sehr einsam hier?« fragte Falkenhein weiter.
Lächelnd schüttelte die Alte den Kopf. Der Wind hatte ihr das schwarze Tuch vom Kopfe gerissen und zerzauste ihre weißen Haare.
»Na, dann adieu!«
Der Wagen fuhr an.
Aber Vogt fehlte noch. Er mußte erst vom Grabe weggeholt werden. Auf dem Bocke sitzend, schaute er zurück und suchte den Fleck Erde zu erspähen, wo sein lieber Freund begraben lag. Die Hecke verbarg die Stelle, und er sah nur, wie der Sohn der Alten aus der Tür trat. Den schwarzen, altväterischen Rock hatte er ausgezogen, er trug eine Hacke und eine Schaufel auf der Schulter. –
Graf Plettau und Wolf blieben allein zurück.
Die beiden Krümperwagen verschwanden allmählich in der Ferne, und die Landstraße dehnte sich wieder leer und kahl unter dem trüben Himmel. Nirgends war ein Lastgeschirr oder ein Bauernwagen zu sehen, auf dem man ein Stück hätte fahren können.
Plettau kraute sich den Kopf.
»Ja,« sagte er, »uns sind keine Equipagen hingestellt. Wir sind schlimm daran. Aber es hilft nichts – wir müssen.«
Er zog seine Uhr hervor, ein Erbstück, das durch einen Zufall an ihm hängen geblieben war, ein ganz flaches silbernes Gehäuse mit einem buntgemalten Zifferblatt.
»Halber fünf,« brummte er. »In drei einhalb Stunden schaffen wir's, da können wir also um acht im Quartier sein.« 443
Und er schritt kräftig aus. Wolf ging neben ihm her.
Auf der Chaussee war die Gewalt des Windes erst richtig zu spüren. Ein wahrer Orkan fegte über die Hochebene hin. Die Ebereschenbäume bogen sich wie Gerten und gaben ein Blatt nach dem anderen drein, so daß zuletzt nur noch die roten Beerenbündel an den kahlen Zweigen schaukelten.
Mit vorgehaltener Schulter kämpften die beiden Wanderer gegen das Wehen an. Große, eiskalte Regentropfen wurden ihnen ins Gesicht gepeitscht, und sie zogen die Köpfe tief in die Kragen ein und vergruben die Hände in den Manteltaschen.
»Sieh her!« sagte Wolf. »Das ist schon mehr Schnee.«
Ein Gemisch von Hagel und Schnee prasselte in schrägen Streifen auf die Erde nieder. Plötzlich war die Landschaft mit einem weißen Schleier verhüllt. Die kleinen Eiskörnchen prallten von dem glatten Grunde der Landstraße ab und ertranken dann in den Pfützen.
Plettau schloß blinzelnd die Augen und erwiderte: »Wahrhaftig, ein rechtes Sauwetter! Da ist der gute Klitzing am Ende besser dran in seinem Grabe.«
Sie verstummten mit einem Male. Ein Windstoß packte sie und schleuderte sie seitwärts an den Wegrand.
Die Chaussee begann sich nach der Ebene zu senken. An den Kehren wütete der Sturm mit unwiderstehlicher Gewalt. Die biegsamen Ebereschenstämmchen wurden entwurzelt, die Kronen geknickt. Die beiden Soldaten waren gezwungen, sich unterzufassen, und stapften aufeinander gestützt in den Wind hinein, der sich wie mit mächtigen Armen ihren Knieen entgegenstemmte. Zuweilen meinten sie fast zu ersticken. Der 444 Sturm pfauchte ihnen mit so rasender Wucht ins Gesicht, daß sie durch die Nase nicht genug Atem holen konnten. Dann mußten sie stehen bleiben, sich umdrehen und, die Rücken dem Winde zugewandt, Luft schöpfen. Und wieder stapften sie darnach vorwärts, die Augen geblendet durch die Eiskörner und hinter den festgeschlossenen Lippen nach Atem keuchend.
Endlich schien das Wetter ausgetobt zu haben. Es hörte auf zu hageln. Aber die Felder schimmerten weiß und hauchten eine eisige Luft aus, in der die letzten kargen Überreste des Sommers gleichsam sichtbar erstarrten. Der Sturm ließ nach, und es blieb nur ein schwaches Wehen zurück, das gerade hinreichte, die Tropfen von den kahlen Zweigen der Bäume herabzuschütteln.
Im Kampfe mit dem Winde war es Plettau und Wolf warm geworden. Nun beschleunigten sie ihren Schritt, um nicht diese behagliche Wärme bei dem müheloseren Gehen einzubüßen.
Plettau klopfte sich die großen Tropfen aus den Falten seines Mantels und fing ein munteres Gespräch an.
Oben auf dem kleinen Friedhofe war er nicht weniger ergriffen gewesen als irgend einer von den anderen, die an dem Begräbnisse teilgenommen hatten. Aber das schien weit hinter ihm zu liegen. Eine warme Suppe, die er sich durch Vogt bei dem Quartiergeber bestellt hatte und die er dicht am Küchenofen zu verzehren gedachte, bedeutete ihm in diesem Augenblick die Erfüllung aller Wünsche.
Wolf dagegen war durch die Feier in eine tiefe Erregung versetzt worden. Er fühlte sich beglückt durch die Gewißheit, daß es wirklich noch Menschen gab, die für eine edle, große Sache ihr Leben willig 445 einsetzten, und die hochherzige Aufopferung des Schreibers mußte ihm als ein neues, starkes Glied in der Kette seiner auf das eine Ziel gerichteten Gedanken dienen, so wenig die begleitenden Umstände dazu passen wollten.
Er riß die Unterhaltung an sich und begann sich von den Gedanken, die ihm heiß auf der Seele brannten, frei zu reden. Er schilderte mit schönen, beredten Worten den Jammer und die Leiden der Menschheit und goß das große Mitleid seines Herzens in eine bewegliche Klage. Und da die Not friedlich kein Ende nehmen wollte, predigte er mit einer edlen, glühenden Begeisterung den Kampf. Er wollte gewiß nicht in den Reihen der Kämpfer fehlen, und er pries die Helden glücklich, die in diesem echten Freiheitskriege fallen würden. Zuletzt malte er ein schwärmerisches Bild des Weltenglücks, wie er es von dem freien Staate erwartete.
Während er seine utopistischen Phantasien träumte, fing es an dunkel zu werden.
Die Schatten der Nacht brachen von oben herein und vereinigten sich mit den düsteren Nebeln, die auf den Feldern lagerten. Der Nachtwind verstärkte sich ein wenig und trieb die tief am Himmel weidende Wolkenherde langsam vor sich her, dem Gebirge zu. Zerreißend und wieder sich verbindend glitten die schwerfälligen Wolkenungeheuer über die viertelsgefüllte Mondsichel weg, einzelne Sterne blinkten durch die Lücken, um im nächsten Augenblick hinter einer neuen Wand zu verschwinden.
In der Finsternis vermochten die beiden Wanderer nicht mehr zu beurteilen, wieviel von ihrem Wege sie bereits zurückgelegt hatten. Das Uhrzifferblatt war 446 in dem schwachen Lichte des Mondes nicht zu erkennen.
»Ich möchte wohl wissen, wo wir sind,« murmelte Plettau.
Wolf kehrte sich gegen den Wind und riß ein Streichholz an. Sofort hatte ein Luftzug die aufzischende Flamme verlöscht, aber die Phosphorkuppe glühte noch einen Augenblick nach. Das genügte gerade.
»Halber acht,« sprach der Graf. »Gottlob! Bald da!«
Kurze Zeit darauf saß er vor seiner ersehnten Suppe. Er hatte sich von der Bäuerin ein paar riesige Filzschuhe geliehen und streckte seine müden Füße behaglich unter dem Tische aus. Sein Gesicht trug den Abglanz einer vollkommenen Glückseligkeit, als er einen Löffel nach dem anderen zum Munde führte.
Wolf hatte sich zurückgelehnt, ohne seinen Napf geleert zu haben. Er sah dem Kameraden beim Essen zu.
* * *
Das Manöver neigte sich seinem Ende zu.
Zwei Biwaks waren in der letzten Übungswoche angesetzt, aber Regen und Kälte scheuchten die Truppen unter Dach. Man begnügte sich mit dem Abkochen auf freiem Felde und kroch für die Nacht in unglaublich engen Notquartieren unter. Nur bei den Infanteriefeldwachen lagen die armen Teufel bis zum grauenden Morgen im strömenden Regen.
Dann kam der letzte Manövertag. Eine leichtverschleierte Herbstsonne machte ihn einigermaßen erträglich. Die Übung endete am frühen Vormittag, und nach einer Schlußparade rückten die Truppen in ihre Garnisonen ab. Die Fußtruppen wurden in lange 447 Eisenbahnzüge verladen, die berittenen Waffengattungen legten ihre Wege in mäßigen Märschen zurück.
Das Osterländische Feldartillerie-Regiment konnte von Glück sagen. Es hatte bis zur Garnison nur einen Marsch von vier Stunden vor sich.
Um die unvermeidlichen Stockungen einer allzulangen Marschkolonne zu vermeiden, hatte der Oberst den einzelnen Batterien verschiedene Straßen zugeteilt. Kurz vor der Kaserne war dann ein Treffpunkt für den Beginn des gemeinsamen Einmarsches festgesetzt.
Die sechste Batterie war ein leicht abfallendes Stück der Chaussee getrabt und erklomm darnach einen Höhenkamm in langsamem Schritt. Die Pferde gingen nicht mehr drängend in den Geschirren. Geduldig und brav, aber ohne Übermut, zogen sie die Geschütze. Wachtmeister Heppner kraute sich den Kopf: die Gäule waren dieses Mal entschieden mehr strapaziert als in früheren Jahren. Das ganze schöne Fleisch hatten sie sich abgerackert, und ein paar sahen auch schon recht struppig im Haar aus. Ganz abgesehen davon, daß irgendwo da oben in einer Knochenmühle die Gebeine des armen »Türken« vielleicht schon zu Dungmehl vermahlen waren, und daß die »Eidechse« durch den riesigen Riß in der Hinterbacke, den ihr die Roßärzte mit wer weiß wie vielen Nadeln zugeflickt hatten, auch nicht schöner geworden war.
Aber das kam eben davon, wenn die Offiziere nicht auf einen so erfahrenen Berater, wie er es war, hören wollten. Er hatte ja nun doch Wegstetten gegenüber recht behalten, als er die Bespannung des sechsten Geschützes mit den sechs Hellbraunen für zu schwach erklärte. Das gewährte ihm natürlich eine gewisse Genugtuung, aber ein totes und ein verschimpfiertes Pferd – es war zu teuer bezahlt. 448
Er blickte finster in die Höhe und sah gerade Vogt auf seinem Lafettensitz sitzen, die Stirnwunde immer noch mit einem Pflaster bedeckt.
Da besann sich der Wachtmeister: richtig, einen Kanonier hatte dieser Eigensinn Wegstettens ja auch noch gekostet, und einen braven dazu, wenn ihm früher auch Klitzing als ein ziemlich trauriger Kerl erschienen war.
Er strich seinem »Dornröschen« zärtlich die Mähne glatt und klopfte ihr den schönen Hals. Ja, wenn sich die Leute in Dinge mischten, von denen sie nicht genug verstanden!
Und die Stute kaute auf ihrer Kandare, daß der weiße Schaum die schmutzige Straße mit hellen Tupfen sprenkelte, und nickte ein paar Mal eifrig mit dem Kopfe.
Nun hatte die Batterie die Höhe erreicht. Von der Spitze her ging ein Köpferecken und Ausspähen durch die Kolonne. – Weit abwärts im Tale sah man die Kaserne liegen.
Es war noch vollauf Zeit bis zum Rendezvous, deshalb blieb die Batterie in ihrem bequemen Schritt. Gleichwohl wurde das Marschtempo allmählich ein beschleunigteres. Die Pferde witterten natürlich auf dem unbekannten Wege nicht die Nähe des Stalles, aber die Mannschaften waren ungeduldig und trieben die Tiere unwillkürlich an. Nachdem sie die Kaserne einmal wahrgenommen hatten, wollten sie auch möglichst bald in diesem Zuhause sein.
Die Hälfte von ihnen schlief ja nur mehr eine einzige Nacht in jenen Mauern, dann wurde der bunte Rock ausgezogen, und man war wieder sein eigener Herr. 449
Es war, als ob die Leute mit der Parade am Schluß des Manövers ihren letzten Dienst getan hätten. Bei diesem Vorbeimarsch vor dem Kommandierenden General waren sie noch Soldaten gewesen, – wenn jetzt irgend etwas kommandiert wurde, führten sie die Befehle nicht mehr mit den geschwinden, knappen Bewegungen aus, an die sie sich während zweier Jahre gewöhnt hatten. Mit einer gewissen Absichtlichkeit nahmen sie sich dabei Zeit. Der Drill, auf dessen Einbläuung ein stattliches Teil der ganzen Dienstzeit verwandt worden war, begann bereits zu schwinden, und es blieb nur mehr ein leidlich freiwilliger Gehorsam übrig. Man konnte doch nicht gut vom Gaule steigen und so wie man war, mit Beinleder und Peitsche, zur Reserve übertreten. Es gehörte sich am Ende, daß man seine Pferde in den Stall stellte und sein Zeug wieder abgab. Im übrigen aber konnte der Teufel die Vorgesetzten getrost schon heute holen, und morgen gar, da wollte man's ihnen schon zeigen, daß man ein freier Mann war, dem niemand mehr dreinzureden hatte, daß man ungestraft auf Militär und Regierung pfeifen durfte.
Wie ein Taumel der Aufsässigkeit war es in die Mannschaften gefahren. Es gab viele unter ihnen, die vielleicht niemals daran gedacht hätten, sich mit sozialdemokratischen Bestrebungen zu befassen, die vielleicht gefügig und brav zu ihrem Pflug und zu ihrem Spaten zurückgekehrt wären. Aber nun erkannten sie mit einem Male, wie unnötig schwer ihnen das wenige, das sie als Soldaten hatten lernen müssen, gemacht worden war. Sie streiften das Übermaß von kleinlichen Regeln, denen sie unterworfen gewesen waren, wie eine lästige Zwangsjacke ab, und die Erkenntnis eines so lange getragenen, überflüssigen Zwanges löste als 450 unausbleibliche Folge einen starken Gegenreiz aus, der sich ganz naturgemäß in einem jähen Gesinnungswechsel kundtat. Von den Leuten, die am nächsten Morgen bei der Entlassung in das Hoch auf Kaiser und König einstimmten, trug sicherlich ein gut Teil bereits das sozialistische Lied auf den Lippen, das dann nach Mitternacht in den Kneipen der Heimat gesungen wurde.
Und die übrigen, die sich aus Trägheit oder aus Dummheit nicht unmittelbar solchen politischen Erwägungen hingaben, waren gleichwohl nicht frei von diesen Gedanken. Irgend ein Brocken war bei jedem hängen geblieben, und dieses Samenkorn trugen die von der Fahne heimkehrenden Bauernburschen dann in die entlegensten Dörfer. Dort blühte die neue städtische Weisheit auf, und sie trug vielfältige Frucht, weil sie gar so angenehm in die Ohren klang. Und die hohen Herren oben wunderten sich über die wachsende Zahl der sozialistischen Stimmen in den rein ländlichen Wahlbezirken.
Aber sie wuchs immerfort und mußte mit jedem Jahre wachsen, weil das Heer, wie es beschaffen war, zugleich eine Art Schule der Sozialdemokratie darstellte. – –
Als die Batterie vom Höhenkamm aus die Kaserne in der Ferne des Tals erblickte, stimmte irgend einer ein lustiges Lied an. Das brachte frisches Leben in die Marschkolonne. Die Fahrer setzten sich straffer in den Sätteln zurecht, und die Kanoniere hoben die Köpfe empor.
Nur das sechste Geschütz tat nicht recht mit.
Inoslawski stimmte zwar munter ein, einen polnischen Text zu der Melodie improvisierend, und 451 Graf Plettau brummte fröhlich mit; – er besann sich, das Lied vor mehr denn fünf Jahren auch gesungen zu haben, – aber den übrigen Mannschaften des Geschützes lagen andere Dinge im Sinn.
Vogt saß auf seinem Lafettensitz und schaute trübselig den neuen Nachbar an, der an Klitzings Stelle getreten war, den blaukragigen Unterlazarettgehilfen. Beim Ausmarsch war der Freund sein Nachbar gewesen. Da war das Gespräch herüber und hinüber gegangen, herzlich, lustig und vertraulich, und es war fast gemütlich auf der Lafette gewesen. Klitzing konnte manchmal ein wenig boshaft sein und hatte sich derb lustig gemacht über die Bauern, denen ein Tropfen an der Nasenspitze hing, wenn sie neben den Truppen in die kühlen Herbstmorgen hineinstiefelten, über die Infanteristen, die sich im Staub der Landstraße mühselig dahinwälzten und den Tornister von einer Schulter auf die andere schoben, über wohlbeleibte Offiziere, die ihre dicken Bäuche vor sich auf dem Pferdehals gelagert hatten, oder über andere, die klapperdürr wie Bohnenstangen in den Sätteln schaukelten. Da war die Zeit wie im Fluge verstrichen. Aber nun lag der fröhliche, gute Kamerad droben in den Bergen, und Vogt mußte sich das zweite Dienstjahr allein behelfen. Er dachte daran, wie einsam es erst in der Kaserne für ihn sein würde, wenn die zerstreuenden Abwechslungen der Herbstübung wegfielen und der einförmige Winterdienst wieder seinen Anfang nahm.
Nein, er für sein Teil hatte nicht die geringste Lust, in den munteren Gesang einzustimmen. Er rückte sich mit einem Seufzer auf seinem harten Sitze zurecht und stieß den Lazarettgehilfen an, der mit vorgeneigtem Kopfe schlaftrunken hin- und hertaumelte. 452 Der Blaukragen hatte sich im letzten Quartier einen Rausch gekauft und konnte vor Jammer kaum die Augen offen halten.
Oben auf der Protze saß zwischen Truchseß und Plettau Wolf.
Je näher er dem ersehnten Tage der Freiheit kam, desto zaghafter wurde er. Er hütete sich ängstlich, daran zu denken, was nach der Entlassung kommen würde, immer in der Furcht befangen, es möchte zwischen Lipp' und Bechersrand noch ein Hindernis auftauchen, das ihn zurückhielt und von neuem fesselte. Jetzt war nur noch dieser letzte Tag und diese letzte Nacht zu überstehen, – dann war er frei. Er glaubte endlich aufatmen zu dürfen. Was konnte sich nun noch ihm entgegenstellen? Dienst gab es nicht mehr, lediglich die Sachen waren abzugeben. Dann nahm er seine Entlassungspapiere in Empfang und konnte hingehen, wohin er wollte.
Und so geschah es, daß er die Kaserne mit Freuden begrüßte. Seine Augen leuchteten auf, als er sie im Tale unten erblickte. Das im Sonnenschein hellflimmernde Gebäude erschien ihm an diesem letzten Tage seiner Dienstzeit nicht mehr als eine Zwingburg. So hell und freundlich glänzten in diesem Augenblick die weißen Mauern, daß er dabei nicht mehr wie sonst an Schlagworte wie Sklaverei und Tyrannei zu denken vermochte. Eher schien ihm der Bau eine Durchgangspforte zur Freiheit zu sein, eine Pforte, durch die er in kürzester Frist schreiten würde.
Eine kleine Strecke vor der Kaserne fand sich das Regiment zusammen. Das Trompeterkorps ritt wie beim Ausmarsch vorweg und blies den Hohenfriedberger Marsch. An den Wänden des Heergeräteschuppens brach sich der Schall, und die 453 zurückkehrenden Tonwellen begegneten denjenigen, die eben erst aus den blanken Trompeten in die Mittagsstille des Tages hineinschmetterten. Beide zusammen bildeten auf diese Art ein neckendes Frage- und Antwortspiel, das die Trompeter fast aus dem Takt brachte.
Der Oberst und die erste Abteilung des Regiments zogen an der Kaserne vorüber nach der Stadt. Die zweite Abteilung aber bog in den Hof ein. Die Pferde zappelten unruhig in den Geschirren, weil sie die Nähe der lang entbehrten, gewohnten Ställe spürten, und die Mannschaften setzten sich auf das Kommando »Richt euch!« noch einmal notdürftig zurecht.
Nun dröhnten die Geschützräder über die kleine Brücke, die von der Chaussee über den Straßengraben zum Eingangstor führte. Während des Manövers waren die eisernen Torflügel sauber mit grauer Farbe gestrichen worden, und auch das Schilderhaus des Postens glänzte in schönen gelbweißen Streifen. Das schwarzgeteerte Dach hob sich stattlich davon ab.
Wolf lächelte vor sich hin. Tor und Posten konnten ihn nicht mehr festhalten. Morgen schritt er an der Schildwache vorüber durch das feste Tor, als ein freier Mann.
Vor dem Stabsgebäude hielt Major Schrader und ließ die drei Batterien seiner Abteilung an sich vorübermarschieren. Mit »Augen links« sahen ihm die Mannschaften stramm ins Gesicht. Er nickte befriedigt und saß ab.
Die Batterien marschierten vor ihren Wohngebäuden auf.
»Ha–lt! Batterie – abgesessen! Abspannen! Einrücken!«
Mit klirrenden Tauketten trotteten die Gespanne 454 in den Stall. Überall war köstliche, frische Streu gestreut, und in den Raufen war etwas Heu aufgesteckt. Die Pferde zupften an den Halmen, noch ehe ihnen die schweren Gebisse der Zäumung aus dem Maul genommen waren. Als sie hernach vom Kummet und Sattel befreit wurden, schüttelten sie sich lebhaft und schauten ungeduldig in die noch leeren Krippen.
Mancher von den Fahrern machte sich länger als sonst mit seinen Pferden zu schaffen, und die Tiere bekamen keinen Knuff, wenn sie sich immer wieder quer in den Weg stellten. Man war am Ende doch ganz gehörig an so ein paar Gäule gewöhnt, wenn man zwei Jahre lang tagaus, tagein mit ihnen zu tun gehabt hatte. –
Noch am Nachmittag lieferten die alten Mannschaften alles Packzeug und alle entbehrlichen Ausrüstungs- und Uniformstücke ab. Sie behielten nur die Garnitur, die sie auf dem Leibe trugen, und das Seitengewehr. Denn immerhin blieben sie bis zum Morgen des Entlassungstages Soldaten.
Aber es war unmöglich, sie mit der gewohnten Strenge zu behandeln, und die Vorgesetzten ließen ihnen vom ersten bis zum letzten die Zügel locker, wie es nur immer anging. Nur wenn der Übermut die äußerste erlaubte Grenze überschritt, gab es eine Mahnung oder ein Zureden, und diese Sanftheit nahm sich in dem beständig scheltenden und schimpfenden Mund der Unteroffiziere spaßhaft genug aus.
Nach dem Dienstverlesen zerstreute sich die außer Rand und Band geratene Kameradschaft in die Stadt. Sie standen in den Haustüren und hielten die Dienstmädchen eng umschlungen. Wenn ein Vorgesetzter vorüberging, traten sie nachlässig und langsam in 455 die vorschriftsmäßige Positur, und Offiziere und Unteroffiziere sahen seitwärts an ihnen vorbei, um nicht diese Unordnung und diese beginnende Aufsässigkeit rügen zu müssen. In den Wirtschaften ging es lärmend zu. Die einen wurden über allem Bier und Schnaps sentimental, lagen sich in den Armen und schwuren sich ewige Treue, bei den anderen kam die Roheit und die lange zurückgedrängte Wut gegen die bisherigen Machthaber zum Ausdruck. Gefährliche Reden flogen von Mund zu Mund, und manch einer brüstete sich, diesen Wachtmeister oder jenen Sergeanten zu stellen und zu verkeilen, – wenn man nur erst in Zivil war.
»Wenn man nur erst in Zivil war,« – das war die Parole, die für diesen Abend ausgegeben zu sein schien. Es war, als ob diese schreienden und prahlenden Menschen das letzte, kaum merkbare Bestehen des Zwanges, dem sie sich so lange gehorsam unterworfen hatten, nicht mehr ertragen könnten, und als ob dieser Abend mit einer offenen Auflehnung enden würde.
Aber trotz der allgemeinen Trunkenheit und trotz aller wilden Reden strebten doch am Ende alle, schwankend und taumelnd, stützend und gestützt, der Kaserne zu, als die Zeit des Zapfenstreichs heranrückte. Ein winziges Teil Besonnenheit bewahrten sie sich auch im Rausch. Was hatte man schließlich davon, wenn man diese letzte Nacht noch »durchmachte«? Es gab nur zuguterletzt noch ein paar Tage Arrest. Da war es gescheiter, sich noch das eine Mal zu bezähmen. »Draußen« konnte man ja dann Tag und Nacht tun und lassen, was man wollte. – –
Wolf hielt sich diesem lauten Treiben fern, – vielleicht als einziger Reservist im ganzen Regiment. Er 456 mochte den Lärm und die Trinkereien nicht leiden. Den ganzen freien Nachmittag blieb er auf seiner Stube, behaglich vor sich hinträumend und den Leuten des jüngeren Jahrgangs zuschauend, die durch den Abgang der »Alten« plötzlich das Doppelte zu tun bekamen.
Wenn ein Unteroffizier auf die Schwelle trat, schnellte er in die Höhe und nahm Stellung, so rasch und knapp, wie er es die zwei Jahre seither getan hatte. Warum nicht auch noch die letzten Stunden die Komödie mitspielen, nachdem man so lange Schauspieler gewesen war? Aber es zuckte dabei ganz unmerklich um seinen Mund, und auch von den Vorgesetzten wußte ihm keiner für sein vorschriftsmäßiges Gebahren Dank. Sie meinten, dieser eingebildete Mensch müßte doch stets etwas Extraes für sich haben, und es wäre ihnen beinahe lieber gewesen, wenn er wie die übrigen getobt und sich betrunken hätte.
Aber Wolf war eigensinnig darauf bedacht, bis zum letzten Augenblick auch nicht zu dem geringsten Tadel Anlaß zu geben.
Mit fast liebevollem Eifer reinigte und putzte er das Zeug, das er abzuliefern hatte, und er erlebte die Genugtuung, daß der Kammersergeant Keyser, sein alter Feind, seine Sachen den anderen als Vorbild vorhielt, als sie ihr nur mangelhaft gereinigtes Zeug abgaben. Der Sergeant hörte freilich im Nu mit seinen Lobsprüchen auf, als er an dem eingenähten Namen erkannte, wer der Kanonier war, den er als so mustergiltig gepriesen hatte, – indessen, was konnte einen das noch kümmern?
Nach dem Dienstverlesen strich Wolf ruhelos auf dem Kasernenhofe auf und ab. Wollte denn dieser Tag kein Ende nehmen? Die Sonne war schon längst 457 hinter den Höhen im Westen untergegangen, aber immer noch blieb eine matte Helligkeit über die Gegend ausgegossen. Er verließ die Kaserne durch das hintere Tor und umschritt das riesige Viereck der Exerzierplätze. Die weite Fläche war frisch aufgeschüttet, wiederum mit diesem klaren Koksabfall, der in der nassen Jahreszeit einen so häßlichen schwarzen Brei bildete. Gedankenlos stocherte er mit der Stiefelspitze in dem losen Geröll herum. Er ebnete den Boden mit der flachen Sohle und zog dann kleine Kanäle hinein.
Als er die Augen wieder von seiner Spielerei emporhob, war es endlich dunkel geworden. Die hellen Mauern der Kaserne schimmerten schwach durch den abendlichen Dunst zu ihm herüber, und vor dem Lattentore flammte die erste Laterne auf.
Und dann folgte auf den letzten Abend die letzte Nacht.
Der größte Teil der alten Mannschaften schlief den schweren Schlaf der Trunkenheit. Nur zwei derb angezechte Krakehler wollten lange nicht Frieden geben. Wenn der eine am Einschlafen war, weckte ihn der andere wieder mit einem neuen Schimpfwort. Doch allmählich wurde auch ihr Hin- und Widerreden immer undeutlicher. Aus halber Schlaftrunkenheit heraus stammelten sie noch wüste Drohungen, und plötzlich verstummten beide mitten in einer unflätigen Beschimpfung.
Wolf schloß in dieser Nacht kein Auge. Er vernahm jeden Schlag der Uhr, und die halbstündigen Pausen, die dazwischen lagen, schienen sich ihm tausendfach zu verlängern.
Eine halbe Stunde vor der Reveille stand er auf. Das kalte Wasser machte ihn von Grund aus wach, 458 und er fühlte sich nach dieser schlaflosen Nacht tausendmal frischer und kräftiger, als wenn er sonst sein wohlgemessenes Teil Ruhe genossen hatte. Er öffnete das Fenster des Waschraumes und ließ sich die Brust von der kühlen Luft des grauenden Morgens fächeln. Ein schöner Herbsttag bereitete sich draußen zu dem ersehnten Feste der Freiheitsstunde vor. Leichte Nebel lagerten noch auf der Erde, aber sie duckten sich bereits scheu, weil sie die siegende Sonne aufsteigen spürten.
Mit leuchtenden Augen blickte der frühwache Mann über die gegenüberliegenden Dächer nach den Hügeln, hinter denen das Licht des Tages hervortreten mußte. Er reckte sich straff empor und breitete die Arme weit aus.
Jetzt erst wagte er an sein Glück zu glauben.
Wie einen kostbaren Schatz entnahm er seine Zivilkleider dem Kistchen. Die Trompete draußen rief gerade zum Wecken, während er sich ankleidete. Ein weißes Hemd, ein sauberer Kragen, die bequeme Joppe, der weiche Schlapphut, – wie leicht, wie locker saß das alles! Auch ein Merkzeichen, daß der beengende Zwang zu Ende war.
Er stand fertig da, als die Kameraden gähnend und mit wüsten Köpfen vom Schlafsaal kamen. Sie staunten ihn an.
»Du hast es ja ganz verdammt eilig!« sagte einer zu ihm.
Und Wolf antwortete munter: »O ja. Lang genug habe ich ja gewartet.«
Nun kam die letzte Verrichtung als Soldat an die Reihe, – die Ablieferung der Bekleidungs- und Ausrüstungsstücke, die man bis zum Schluß auf dem Leib getragen hatte. 459
Keyser, der Kammerunteroffizier, ging durch die Stuben und ließ sich die einzelnen Stücke vorzählen.
Dann warf er sie einem Kanonier über den Arm, der sie nach der Kammer tragen mußte.
Er hatte absichtlich Wolfs Stube zuletzt vorgenommen und fertigte auch alle anderen Reservisten vor ihm ab. Den einen Tort wollte er diesem »Roten«, der ihm die sechs Wochen Arrest eingebracht hatte, wenigstens noch antun: er sollte so lange als möglich lauern, bis er endgiltig aus der militärischen Zucht herauskam.
Wolf lächelte insgeheim über diese törichte Schererei. Er wartete ruhig und nickte Findeisen zu, seinem Landsmann, der ganz beladen mit den bereits abgegebenen Röcken und Hosen hinter dem Sergeanten stand. Der stämmige, breitschultrige Mensch, dem als Rekrut wegen seines breiten Rückens ein Höcker angedichtet worden war, hörte mit ingrimmiger Miene die Schimpfworte an, die ihm Keyser an den Kopf warf, weil er den Packen Zeug ungeschickt hielt. Er preßte die Lippen zusammen und streifte den Unteroffizier mit bösen Blicken.
Einen Augenblick regte sich noch einmal der Zorn über diese Schmähreden in Wolf, aber er hieß seine Empörung schweigen und stand ruhig beiseite. Einmal mußte er ja doch an die Reihe kommen.
Endlich trat der Sergeant zu ihm. Er musterte die Sachen genau, – die Knöpfe des Rockes blitzten und nirgends fand sich ein Riß. Er faltete die Hosen übereinander und klopfte mit der Hand darauf, – kein Stäubchen flog heraus. Auch am Lederzeug war nichts auszusetzen, und die Stiefel waren ebenso in dem vorschriftsmäßigen Zustand, nicht blank gewichst, sondern 460 nur mit Fett eingerieben, um ein Eintrocknen des Leders zu verhüten.
Mißmutig brummte Keyser ein: »'s ist gut.«
Er kehrte sich ab, warf Findeisen die Sachen über den Arm und gab ihm die Stiefel in die Hand. Aber der Kanonier, der schon vier Paar an den Strippen hielt, ließ sie zu Boden fallen.
Scheltend hob sie der Sergeant auf. Der Staub der Dielen war in dicken Streifen auf dem eingefetteten Leder haften geblieben.
Da kam Sergeant Keyser auf einen Einfall. Er hielt die Stiefel Findeisen vor das Gesicht und brüllte ihn an: »Leck' das ab, du Schwein!«
Wörtlich meinte er diesen Befehl nicht gerade, das sah man ihm an, aber in seinen Augen begann eine jähzornige Wut aufzuglimmen.
Findeisen war vor den Stiefeln zurückgewichen. Er biß die Zähne knirschend zusammen und sah dem Unteroffizier trotzig mitten ins Gesicht.
Das machte Keyser wild. Eine rote Glutwelle stieg ihm in den Kopf, und nochmals zischte er dem Kanonier zu: »Hund, wirst du das gleich ablecken?«
Plötzlich erlosch der entschlossene Widerstand in den Augen Findeisens. Der ganze, starke, breitbrustige Mensch duckte sich wie unter einer Peitsche, er wurde leichenblaß, und wirklich berührte er mit der Zunge den Stiefel.
Und der Sergeant rieb ihm das Leder roh ins Gesicht, so daß die Haut mit Schmutz und Fett befleckt wurde.
Dann drehte er sich um und sah Wolf geradeaus in die Augen. »Siehst du, Mensch!« höhnten diese triumphierenden, herausfordernden Blicke. »Bis zum 461 Vieh erniedrigt sich dein Genosse, wenn wir es wollen. Wir, die die Macht haben!«
Wolf traf ihn mit der geballten Faust mitten ins Gesicht.
Der Unteroffizier taumelte. Er stieß einen gurgelnden Schrei aus und wollte sich auf den Reservisten stürzen.
Da geschah etwas Unerwartetes, so plötzlich und so schnell sich abspielend, daß sich Wolf hinterdrein kaum darüber Rechenschaft zu geben wußte.
Findeisen hatte die Stiefel und das Zeug, alles, was ihn beschwerte, zu Boden geworfen. Mit einem Male packte er den Sergeanten, er hielt ihn einen Augenblick mit seinen mächtigen Armen empor und schleuderte ihn dann, den Kopf voran, vorwärts an die Wand.
Wie der Schädel an die Wand anprallte, gab es einen dumpfen Knall, und der Körper fiel schwer zu Boden.
Von der Schwelle her tönte ein Haltschrei. Vizewachtmeister Heimert stand in der Tür und warf sich auf Findeisen. Der Kanonier wehrte sich, schlug, biß und kratzte; er hatte das Gefühl, es könnte hier um sein Leben gehen, aber Heimert war ihm gewachsen.
Andere kamen herzu, Unteroffiziere und Mannschaften. Sie rissen den rasenden Soldaten zu Boden und fesselten ihn.
Wolf stand regungslos dabei und ließ sich ohne Widerstand die Arme auf den Rücken binden. Es war ihm wirr im Kopf, und er glaubte einen wüsten Traum zu träumen.
Das war doch spaßhaft, daß sein erster Traum, nachdem er glücklich vom Militär frei war, so gruselig ausfiel. Das war schon mehr ein Alpdrücken. 462
Er schüttelte den Kopf und zerrte an den Stricken, die ihm die Hände fesselten, um nur endlich aus diesem häßlichen Schreckbild zu erwachen. Die Schnüre gruben sich immer tiefer in das Fleisch, und der Schmerz führte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Mit ungläubigen Blicken schaute er sich um.
Da war wirklich noch die alte Stube, in der er zwei Jahre lang hatte hausen müssen. Eine Masse Menschen stand darin beisammen und sprach mit aufgeregten Gesten aufeinander ein. Dicker Staub schwebte in der Luft, wie von einem Kampfe, und bei den Spinden lag neben einem Packen Uniformstücken ein Mensch, die Arme auf dem Rücken zusammengeschnürt, mit leichenblassem Gesicht und keuchender Brust, – Findeisen. Und vier Kameraden hoben einen anderen auf, der an der Fensterwand hingestreckt war, – Keyser, den Kammersergeanten. Das Gesicht des Unteroffiziers war ganz weiß, und die Glieder hingen ihm schlaff am Leibe herunter.
»Der ist hin!« sagte die Stimme des Wachtmeisters Heppner. »Tragt ihn in seine Stube und legt ihn aufs Bett!«
Und die vier Kameraden trugen den Toten an Wolf vorbei zur Tür hinaus.
Der Wachtmeister jagte die müßigen Mannschaften hinterdrein, und nur die Unteroffiziere blieben bei den beiden Gefesselten in der Stube.
Heppner trat auf Wolf zu und musterte ihn von oben bis unten.
»Das feine Zivil, mein Jungchen,« sprach er, »das wird wohl noch eine Zeitlang im Kasten liegen müssen.«
Er suchte aus dem Packen Zeug, der in der 463 Stube verstreut war, die Sachen Wolfs heraus und warf sie dem Reservisten über die Schulter.
»Da!« höhnte er. »Das wird dir besser zu Gesicht stehen! Am besten aber, sag' ich dir, grau und grau, mein Sohn, wenn du erst karrst! Einstweilen zieh' dich drüben mal erst wieder als Kanonier an!«
Er befahl zwei Unteroffizieren, Wolf und Findeisen in Arrest zu führen.
»Nehmt euch in acht!« warnte er die Wächter. »Den beiden Lumpenhunden ist alles zuzutrauen. Und wenn sie mucksen, dann wißt ihr ja, wozu ihr die Plempe an der Seite baumeln habt.«
Die beiden Gebundenen wurden über den Hof nach dem Wachtgebäude geführt. Vor den Wohnbaracken sammelten sich gerade die Reservisten. Die meisten hatten einander untergefaßt und fochten in ausgelassener Laune mit ihren troddelverzierten Spazierstöcken in der Luft herum.
Als der kleine Zug an der lauten Schar vorüberkam, verstummten die lustigen Lieder. Die Reservisten traten bestürzt zur Seite und blickten scheu flüsternd hinter den Gefangenen her.
Findeisen hielt den Kopf gesenkt. Man hatte ihm die Mütze aufgestülpt, sie hing ihm über die Stirn herunter, und er vermochte kaum darunter vorzuschauen. Wolf hatte die Augen voraus gerichtet. Aber er ging wie in einem Nebel. Er sah nichts von dem, was um ihn her vorging, und als er ein Rinnsal überschritt, strauchelten seine Füße.
Der wachthabende Unteroffizier wollte den Arrestanten zwei nebeneinanderliegende Zellen aufschließen. Der eine der Begleiter protestierte dagegen.
»Sie könnten sich verständigen, durch Klopfen 464 und so,« sprach er. »Sperr' sie lieber so weit als möglich auseinander!«
So wurde Wolf in diejenige Zelle des Wachtgebäudes eingeschlossen, die der Landstraße am nächsten lag, Findeisen in die am anderen Ende des Flurs gelegene.
Der Unteroffizier hatte dem Reservisten Rock und Hose, Mütze und Halsbinde auf den Schemel gelegt; daneben standen die Stiefel, die noch die Spuren des Dielenstaubes trugen, – um derentwillen der Streit entbrannt war.
»Ziehen Sie sich rasch um!« sagte der Begleiter. »Ich will Ihr Zivilzeug gleich wieder mit hinüber nehmen.«
Aber Wolf blieb regungslos bei dem Schemel stehen.
Er hörte, wie der Schlüssel im Schloß umgedreht wurde – ohne zu begreifen, was geschah. Dann entfernten sich die Schritte von seiner Tür, abermals klirrte das große Schlüsselbund, eine andere Tür wurde geöffnet, knarrte unwillig in den Angeln und wurde wieder zugeschlagen und verschlossen.
Auf dem steinbelegten Flur schallten die Stimmen der Unteroffiziere, die ins Wachtzimmer zurückkehrten.
»Was haben die Kerls denn verbrochen?« fragte der Wachthabende.
Die Antwort verhallte halb hinter einer Ecke des Ganges: »Totgeschlagen – unseren Kammersergeanten.«
Der Reservist stand noch immer neben seinem Schemel. Er suchte sich vergeblich zu besinnen, warum er hier war. Was wollte er noch hier, da er doch heute endlich von dem verhaßten Zwange 465 freigekommen war? Er strich sich mit der Hand über die Augen, als hätte er eine Binde abzustreifen, und drückte mechanisch die Klinke der Tür nieder.
Es hatte schon seine Richtigkeit: er war eingeschlossen.
Da klirrte abermals der Schlüssel im Schloß. Der Wachthabende trat ein. Ein Kanonier trug hinter ihm einen Wasserkrug in die Zelle, setzte ihn nieder und entfernte sich sogleich wieder.
»Warum haben Sie sich noch nicht umgezogen?« fragte der Unteroffizier.
Der Reservist schaute ihm verständnislos ins Gesicht.
»Himmeldonnerwetter!« fluchte der Vorgesetzte. »Umziehen sollen Sie sich und gleich auf der Stelle!«
Und Wolf setzte sich gehorsam auf den Schemel nieder. Er legte mit automatenhaften Griffen die Joppe und die Beinkleider ab, er nestelte gemächlich den Kragen los und zog die Schuhe aus. Zuletzt nahm er noch den Hut ab.
Ebenso mechanisch, wie er sich seines Zivilanzugs entledigt hatte, kleidete er sich wieder in die Uniform ein.
Der Wachthabende hatte ein paar Mal zur Eile getrieben und nahm nun die Kleider über den Arm.
»Alles wird Ihnen aufgehoben werden,« sagte er im Gehen.
Wolf nickte und blickte seinen Sachen stumpf nach. Einmal schien er nach etwas greifen zu wollen, – der Unteroffizier hatte unsaubere Finger und beschmutzte den frischen weißen Kragen; er sollte ihn wenigstens an den Kanten anfassen –, aber die ausgestreckte Hand sank matt zurück.
Der Wachthabende zog bei diesem Gebaren ein bedenkliches Gesicht. Als er in der Wachtstube dem 466 Einlieferer der Arrestanten die Kleider übergab, deutete er mit dem Daumen rückwärts über die Schulter und sprach: »Mit dem dort ist es aber nicht ganz richtig.«
»Meinst du?« fragte der andere.
»Ja, es scheint ganz so. Deshalb hab' ich ihm auch die Hosenträger abgenommen. Nun kann er sich wenigstens nicht aufhängen.« – –
Wolf hatte unwillkürlich die vorgeschriebene Stellung eingenommen, als der wachthabende Unteroffizier die Zelle verließ.
Sobald danach die Tür ins Schloß gefallen war, stellte er den rechten Fuß vor und ließ in seiner straffen Haltung nach, – genau so wie wenn »Rührt euch!« kommandiert worden wäre.
Er sah an sich hinunter auf seinen abgetragenen Dienstrock, dessen grünes Tuch grau und fadenscheinig war und dessen krapprote Aufschläge eine karmoisinrot-schmutzige Farbe angenommen hatten. Die blankgeputzten Knöpfe blitzten, und ein dunkler Flicken in der Ecke des Vorderschoßes hob sich kräftig von dem abgeschabten Zeuge ab.
An diesem Flicken erkannte er den Rock wieder, den er zwei endlose Jahre zu tragen gezwungen gewesen war, den er noch immer trug, – und mit einem Schlage hatte er sein Schicksal begriffen.
Unter der Wucht seines Unglücks brach er zusammen. Er sank auf den Schemel und barg das Gesicht in den Händen.
Noch immer war es ihm unmöglich, geordnet zu denken. Nur das eine faßte er, daß sein Traum von Freiheit und Leben zerstört und zertrümmert vor ihm lag. Dieser eine fürchterliche, trostlose Gedanke 467 füllte so sehr sein Hirn aus, daß das ganze übrige Denkvermögen wie gelähmt erschien. Die Sinne nahmen äußere Eindrücke wohl auf, aber was sie empfanden, wurde nicht weitergegeben und verarbeitet.
Die Zelle lag in der äußersten Ecke des Wachgebäudes. Etwa zehn Schritte entfernt lief die Landstraße an der nicht allzu dicken Backsteinmauer vorüber. Dazu war die kleine Scheibe des Fensters offen. So hörte man deutlich das Knarren und Knirschen der Räder, die sich in den frischaufgeschütteten Kies der Chaussee hineinwühlten, das anfeuernde »Hüh!« der Fuhrleute und das Knallen der Peitschen. Selbst die Schritte der Vorübergehenden klangen, untermischt mit abgerissenen Worten, in die Zelle hinein.
Wolf saß noch immer auf dem Schemel. Sein Ohr vernahm alle diese Geräusche, aber er achtete nicht darauf.
Plötzlich hob er den Kopf jäh in die Höhe.
Die undeutlichen Töne eines fernen Singens schlugen an das kleine Fenster, in ihrer Folge zuweilen von einem Windstoß zerrissen. Der Gesang kam näher und näher. Nun schienen die Sänger um eine Ecke zu biegen, ein Gleichtritt wurde hörbar, und deutlich schallte es von der Landstraße her, aus vollen Kehlen gesungen:
»Reserve hat Ruhe,
Reserve hat Ruh',
Und wenn Reserve Ruhe hat,
Dann hat Reserve Ruh'.«
– das Lied der Reservisten, die die Kaserne verließen und nach der Bahnstation marschierten.
Ab und zu unterbrach das derbe, übermütige 468 Scherzwort eines Spaßvogels den Gesang. Dann brachen die Reservisten in ein helles Gelächter aus und riefen noch kräftigere Witze zurück. Aber immer wieder nahmen sie das stumpfsinnige Lied auf. Sie wiederholten beständig dieselben albernen Worte und trotteten schwerfällig im Takte des Liedes ihren Weg.
Wolf hörte die rauhen Klänge sich allgemach entfernen und schließlich in der Richtung nach der Stadt zu verklingen.
Und wieder schlug er die Hände vors Gesicht.
So blieb er lange Zeit
Als er sich endlich wieder aufrichtete, hatte er überwunden. Er wollte den Kampf mit dem Schicksal aufnehmen.
Aufrecht und mit festen Schritten ging er in der Zelle auf und ab. Er legte sich alles zurecht, was zu seiner Verteidigung dienen konnte, – wie er an sich gehalten hätte, um nur ja nicht seine Dienstzeit durch sein Verschulden zu verlängern, wie er selbst ruhig mit zugesehen hätte, daß Findeisen dem erniedrigenden Befehle des Sergeanten gehorchte, wie ihm aber dann der höhnische Blick Keysers das Blut in Wallung gebracht und ihn zu der unseligen Tat getrieben hätte. Gewiß hatte er seine Hand gegen einen Vorgesetzten erhoben, aber für ihn war das Bild des Kanoniers, der den Staub vom Stiefel leckte, gleichsam eine Beleidigung der ganzen Menschheit gewesen.
Dem würden sich auch die Richter nicht verschließen können, und allermindestens mußten sie sein Vorgehen milde beurteilen. Und wenn sie auch gerade die entgegengesetzte Weltanschauung hegten als er, der Angeklagte, über den sie ihr Urteil sprechen sollten, 469 – durften sie darum das Edle seiner Motive verkennen?
Und er dachte sich eine Verteidigungsrede aus, die den Richtern in die Herzen dringen mußte. Es kamen begeisterte und überschwängliche Worte darin vor von allgemeiner Menschenwürde, die keiner ungestraft verletzen dürfte, und von einer gerechten Empörung, die nicht nur entschuldbar, sondern im Grunde sogar lobenswert war.
Er berauschte sich selbst an seinen Gedanken. Es wurde ihm heiß dabei, und er sah sich fast schon freigesprochen. Immer mehr Argumente trug er zusammen. Er ersann kunstvoll gesteigerte Perioden und wirksame Gegensätze, und schloß seine Apologie mit einem schwungvollen Appell an das Gerechtigkeitsgefühl der Richter.
Die Stunden verrannen. Er schritt unablässig in dem engen Raume hin und wider. Sein Gesicht glühte, und seine Augen leuchteten. Das Essen in dem Napfe, das ihm zum Mittag hereingestellt wurde, ließ er unberührt. Was galt ihm Speise und Trank? Er rang um ein Höheres, – um seine Freiheit.
Am Nachmittag wurde er dem untersuchungführenden Richter, der telegraphisch aus dem Divisionsstabsquartier herbeigerufen worden war, vorgeführt.
Die Verhandlung fand am Tatorte, in der großen Stube VII der sechsten Batterie, statt. Am Tische saß der Kriegsgerichtsrat, ein dicker Mensch, dessen Kopf rot aus dem engen Kragen emporquoll. Er hatte ein paar Bogen Papier vor sich und wippte, während er seine Fragen stellte, beständig einen Bleistift auf und ab. Ein Protokollführer harrte mit angesetzter Feder.
Das Verhör begann. 470
Findeisen schwieg hartnäckig auf alle Fragen. Der Richter versuchte mit Zureden und mit Schelten etwas aus ihm herauszubekommen, – der Kanonier blieb stumm. Er hielt den Kopf zu Boden gerichtet und schielte nur zuweilen flüchtig nach der Tür. Aber zwei Unteroffiziere im Ordonnanzanzug waren an der Schwelle postiert.
Wolf erzählte den Vorgang wahrheitsgetreu und in zusammenhängender Rede. Die Feder des Protokollführers flog hurtig über das Papier. Danach las der Untersuchungsrichter den Schriftsatz vor.
»So ist es gewesen?« fragte er Wolf.
»Jawohl.«
Der Richter wandte sich an Findeisen: »Ich frage auch Sie: ist es so gewesen? Wenn Sie Einwendungen dagegen haben, heraus damit! Denn günstig für Sie steht die Sache so nicht gerade. Also ich frage Sie: haben Sie gegen diese Darstellung etwas zu erinnern?«
Da gab Findeisen die erste Antwort während der ganzen Verhandlung, – er schüttelte den Kopf.
»Also nein?« fragte der Richter.
Der Kanonier wiederholte: »Nein.«
Vizewachtmeister Heimert als einziger Zeuge vermochte nichts anderes zu bekunden, als was Wolf bereits ausgesagt hatte, und Findeisen beharrte von neuem in seinem Schweigen.
Daher schloß der Richter das Verhör. Er ließ Wolf in den Arrest zurückführen, während Findeisen der Leiche des Sergeanten gegenüber gestellt werden sollte.
Der Tod Keysers war durch Zertrümmerung der Schädeldecke bei dem Anprall an die Wand erfolgt. Indessen betonte der ärztliche Befund, daß die 471 Verletzung nur deshalb zu einem tödlichen Ausgange geführt habe, weil der Schädel des Unteroffiziers ungewöhnlich dünnwandig gewesen sei.
Die zwei Ordonnanzen nahmen Findeisen in die Mitte und eskortierten ihn zum Lazarett. Wolf ging neben dem Diensthabenden quer über den Hof wieder nach dem Arrestgebäude.
Der sonnige, klare Himmel vom Morgen war jetzt durch Wolken verhüllt. Ein kalter Wind strich über den Platz, und es sah nach Regen aus.
Ein paar Mannschaften standen in der Stalltür und schauten verlegen dem Arrestanten nach. Die ihm entgegenkamen, blickten zur Seite. Weise war unter ihnen, aber Vogt, der gerade mit einem Stück Wurst in der Hand aus der Kantinentür trat, nickte dem Kameraden offen zu.
Wolf stieg gelassen die Vortreppe zu dem Wachtlokal hinauf. Vor der Tür blieb er einen Augenblick stehen. Er sog die frische Luft tief in die Lungen ein und ließ die Augen noch einmal in der Runde herumschweifen. Gleich darauf war er wieder in seine Zelle eingeschlossen.
Das Verhör hatte ihm die Augen geöffnet: er war auf einem grundfalschen Wege gewesen, als er seine Richter mit einer flammenden Rede zu überzeugen hoffte. In dem kalten, nüchternen Gerichtsverfahren mußten seine Worte verdreht und phantastisch klingen, und er wußte, ihm selbst würde die beredte Zunge den Dienst versagen, wenn er in die Mienen seiner Richter blickte. Die Anschauungen dieser Männer waren durch einen unüberbrückbaren Abgrund von den seinen geschieden. So guten Willen sie vielleicht auch hatten, sie waren schlechterdings nicht imstande, ihn zu begreifen. 472
Nein, ruhig und ohne jede Schönrednerei wollte er sich in der Verhandlung geben. Sprachen nicht die nackten Tatsachen laut genug zu seinen Gunsten?
An eine Freisprechung freilich glaubte er nicht mehr. Im Gegenteil: ganz sicher wurde er verurteilt. Aber die Strafe mußte mild ausfallen. Er rief sich alle ähnlichen Fälle, deren er sich entsinnen konnte, ins Gedächtnis zurück. Da hatte es sich fast stets um Strafen unter einem Jahre Gefängnis gehandelt. Allerdings fehlte wohl überall der tätliche Angriff auf den Vorgesetzten, dessen er sich schuldig gemacht hatte. Aber konnte das so viel ausmachen?
Er meinte, mit etwa sechs Monaten Gefängnis davon zu kommen, und wappnete sich schon im voraus für diese schweren einhundertundachtzig Tage mit Geduld. Die war freilich vonnöten, aber was half es? Das war ja gewiß, auch einhundertundachtzig Tage gingen schließlich zu Ende.
Ein wenig unsicher blieb er trotz alledem. Und er hätte gleich noch einen weiteren Tag Haft darangegeben, wenn er den Gesetzesparagraphen einmal hätte durchlesen dürfen, der die Strafandrohung für den »tätlichen Angriff« enthielt.
Mit einem bitteren Lächeln setzte er sich wieder auf den Schemel. So durfte er also über seine nächste Zukunft beruhigt sein. Frei Quartier und freie Kost hatte er. Was fehlte ihm da noch? –
Diese traurige Gewißheit war dem Reservisten kaum zur Erkenntnis gekommen, so ließ auch die unnatürliche Anspannung nach, in der er seit dem Morgen unaufhörlich gedacht und gegrübelt hatte.
Mit einem Male empfand er Hunger, einen so wütenden Heißhunger, daß er die stehengebliebene Mittagsmahlzeit hastig zu sich heranzog. Das Fleisch 473 lag, von einem geronnenen Fettkranz umgeben, in der erkalteten Brühe. Beim ersten Bissen empfand er einen starken Ekel gegen die Speise, aber er schlang das Fleisch hinunter und löffelte die Brühe bis zum letzten Tropfen aus.
Dann stellte er den Napf wieder auf den Boden. Er fühlte in seiner Sättigung ein Wohlbehagen, und doch begriff er angesichts der unsauberen Reste nicht, wie er die Mahlzeit hatte hinunterwürgen können.
Langsam richtete er sich von seinem Sitze in die Höhe. Er dehnte sich wie nach einem langen Schlafe und sah sich rings in der Zelle um.
Er war bald damit fertig: graugetünchte Wände, in der Ecke der Steinkrug und der Schemel, an die Mauer angeschlossen, die tagsüber hochgeklappte Pritsche. Das vergitterte Fenster lag hoch über der Diele. Er konnte es allenfalls erreichen, wenn er auf den Schemel stieg. Aber auch das nützte nichts. Der Ausblick war durch einen hölzernen Kastenvorsetzer abgeschnitten; nur von oben schimmerte das Licht herein. Man mußte den Kopf gehörig wenden und drehen, wenn man ein Stück Himmel erblicken wollte.
Wolf blieb wie an diese Stelle gebannt stehen. Er legte die Wange an die kalten Steine der Mauer und schaute empor. Graue Wolken zogen über das winzige Stückchen Himmel hinweg, das zwischen den hölzernen Wänden des Kastens sichtbar war. Zuweilen aber füllte ein klares, tiefes Blau den ganzen engen Rahmen aus.
Eine Scheibe in dem Fenster war zurückgeschlagen, und durch die Öffnung strich ein frischer, reiner Luftzug herein. Der Gefangene meinte, ohne diesen Mundvoll freier Luft gar nicht atmen zu können und preßte 474 sein Gesicht wie ein Erstickender an das Holzwerk des Fensters.
Allmählich wurde es draußen finster. Der Wind verstärkte sich, und einzelne schwere Regentropfen trommelten auf die Bretter des Vorsetzers. Im Hofe blies der Trompeter vom Dienst zum Futterschütten.
Der arme Teufel in der engen Zelle besann sich, daß er an diesem Abend zum ersten Mal wieder den Kreis der Gesinnungsgenossen hatte aufsuchen wollen. Statt dessen verrenkte er sich den Hals, um wenigstens ein Stück Himmel zu sehen, nicht immer bloß die gräßlichen, grauen Wände seines Gefängnisses.
Mit dem zunehmenden Abend verschwand auch dieser tröstliche Anblick. Alles war grau in grau um ihn.
Da, als ihm gerade der feuchte Wind entgegenschlug, holte er noch einmal tief Atem. Dann stieg er von seinem Schemel herunter.
In der Zelle war es ganz finster.
Aber plötzlich wurde in der Tür ein helles Viereck sichtbar, – das Guckfenster, durch das die aufsichtführenden Unteroffiziere die Arrestanten beobachten konnten. Draußen auf dem Flur war Licht angezündet worden, und die unstäte Helligkeit der ungeschützten, hin und her flackernden Gasflamme drang in das Dunkel.
Zu gleicher Zeit trat der Wachthabende auf die Schwelle. Er brachte einen drittel Laib Brot und schloß die Pritsche von der Wand los.
»Soll ich das Fenster schließen?« fragte er noch.
Wolf antwortete eilig: »Nein, nein, Herr Unteroffizier.«
Dar Wachthabende nickte, sah sich noch einmal 475 um, ob auch alles in Ordnung wäre, und verließ wieder die Zelle. Zweimal drehte sich der Schlüssel im Schloß.
Der Reservist hörte ihn den Gang entlang zu Findeisens Zelle gehen. Kurze Zeit darauf kamen die sporenklirrenden Schritte wieder vorüber, und es wurde still wie vorher.
Wolf lag auf der Pritsche und nagte an einem derben Stück Brot, das er sich von dem Laib abgebrochen hatte. Er zog den Krug in Greifweite heran und trank ab und zu einen Schluck Wasser zu seiner Mahlzeit.
Darüber verfiel er in ein gemächliches Hindämmern. Er vergaß mehr und mehr seine Lage. Als das Brot aufgezehrt war, dehnte er sich behaglich ein paar Mal; er rückte sich auf dem harten Holz zurecht und schlief am Ende fest ein.
Mitten in der Nacht begann er zu frieren. Unwillkürlich wehrte er sich gegen ein Erwachen, als wüßte er auch im Schlummer, wie trostlos es sein mußte; er schob die Hände in die Rockärmel und kroch auf der Pritsche ganz in sich zusammen, aber schließlich ermunterte ihn die Kälte doch.
Erstarrender als der Frost der Herbstnacht legte sich das Bewußtsein seines Unglücks auf ihn. Er bebte vor Kälte und vermochte sich gleichwohl nicht aufzuraffen. Er sehnte sich danach, durch Auf- und Ablaufen diese eisigen Schauer aus den Gliedern zu vertreiben, aber wie gelähmt blieb er auf seinem Lager hingestreckt liegen.
Im Dunkel der Nacht verblaßten die Hoffnungen, deren heller Schimmer ihm am Tage so große Zuversicht in die Brust gestrahlt hatte. Eine namenlose Angst beschlich ihn, daß er zu jahrelanger Haft verurteilt werden könnte, und die Finsternis, die ihn 476 angähnte, schien ihm ein Gleichnis dieser furchtbaren Zeit zu sein, – ein Grauen ohne Ende.
Er fühlte, wie sich ihm bei diesem Gedanken die Sinne verwirrten. Zitternd führte er die Hände zur Stirn. Er preßte sie fest auf die Schläfe, als ob er einen Reif um den Schädel legen wollte, den diese schrecklichen Ahnungen auseinander zu sprengen drohten. Es trieb ihn von der Pritsche auf, und er schritt fieberhaft in dem engen Raum auf und ab, an den Wänden und an der Tür sich stoßend.
Sein Fuß streifte den Krug in der Ecke. Das Wasser hatte sich in dem steinernen Gefäß wundervoll frisch erhalten. Er trank in langen Zügen davon. Das ernüchterte ihn ein wenig, und er zwang sich zur Ruhe. Was half dieses Toben? Selbst wenn die schlimmsten Erwartungen sich verwirklichten, war er dann nicht immer noch Herr seines Entschlusses? Eine Gelegenheit zu sterben fand sich überall. Darum Ruhe für jetzt!
Er zog den Rock aus, legte sich von neuem nieder und deckte sich notdürftig mit dem Kleidungsstück zu. Auf diese Art hatte er es wärmer.
Und nun wollte er wieder einzuschlafen suchen.
Vom Fenster her hörte man das einförmige Rauschen des Regens. Der Nachtwind fing sich in dem hölzernen Vorsetzkasten, sandte einen feuchten Hauch in die Zelle und flog mit einem leisen Stöhnen weiter.
Zwischen diesen Geräuschen glaubte Wolf ein undeutliches Scharren und Kratzen zu vernehmen. Es setzte zeitweilig aus und fing dann wieder von neuem an. Waren es Ratten, die in einem Kanal unter dem Fußboden der Zelle ihr Wesen trieben?
Am Morgen sprang er jäh von dem Lager in 477 die Höhe. Der Schlüssel fuhr hastig ins Schloß, und die Tür wurde heftig aufgerissen.
Der Wachthabende trat auf die Schwelle.
»Ist der wenigstens noch da?« rief er.
Die Dämmerung erhellte die Zelle nur schwach. Aber der Unteroffizier unterschied die Gestalt des Häftlings und atmete erleichtert auf.
»Gottlob!« sagte er. »Das ist mir wenigstens erspart, daß alle beide durchgebrannt sind.«
Er rief einen Kanonier der Wachmannschaft zu sich und suchte mit einer Laterne jeden Winkel und jede Ecke ab.
Während er knieend unter die Pritsche leuchtete, flüsterte der Kanonier verstohlen Wolf zu: »Der andere ist ausgebrochen.«
Der Reservist verstand ihn im ersten Augenblick gar nicht.
Ausgebrochen? Wie sollte das möglich sein?
Er musterte die Zelle und konnte nicht begreifen, wie einer imstande sein sollte, aus diesem Raume »auszubrechen«. Überall waren glatte Wände, die Tür bestand aus derben Brettern und war mit einem starken Schloß verschlossen, und das Fenster hoch oben war durch starke Eisenstäbe verwahrt und überdies so klein, daß sich ein Mann gar nicht hindurchzuzwängen vermochte, besonders einer mit einem so breiten, mächtigen Körper wie Findeisen.
Mit einem Male erinnerte er sich an das Kratzen und Scharren in der Nacht, seine Augen suchten ein Werkzeug, mit dem man allenfalls eine Wand hätte durchbrechen können. An den starken eisernen Trägern, die die herabgelassene Pritsche stützten, blieben sie haften. Es mochte wohl möglich sein, damit in eine 478 Mauer eine Bresche zu legen. Aber nein, – oben am Fenster konnte man die Dicke der Wand messen; sie war fast einen halben Meter stark.
Und doch war Findeisen entkommen.
Die Not hatte den schwerfälligen Geist des Burschen erfinderisch gemacht. Seitdem er der Leiche des Sergeanten gegenübergestellt worden war, mußte er schon daran glauben, daß er einen Totschlag begangen hatte. Von diesem Augenblicke an wähnte er seinen Kopf nicht mehr sicher auf dem Halse zu tragen. Die Furcht vor dem Tode gab ihm Listen ein, die er sonst nie ersonnen hätte.
Er hatte sich der eisernen Pritschenfüße als Werkzeug bedient, ganz wie Wolf es vermutete. Die Stirnwand der Zelle nach außen zu durchbrechen hatte er sogleich als unmöglich erkannt, dagegen ließen die Seitenwände eine bedeutend geringere Stärke vermuten. Sie klangen weit hohler beim Klopfen. Findeisen wußte, daß die eine davon nur wiederum an eine Arrestzelle grenzte. Damit war ihm nichts geholfen. Aber hinter der anderen lag ein Schuppen, in dem die Löschgeräte aufbewahrt wurden. Von dort aus führte ein bequemes Fenster, das nur mit Draht bezogen war, aufs freie Feld.
Und sobald es ruhig im Wachtgebäude geworden war, hatte er sich an die Arbeit gemacht, zwischen dem Bohren und Wuchten ängstlich auf den Flur hinaushorchend. Die Wand war nur das Längsmaß eines Ziegels stark, und nachdem der erste Stein Brocken für Brocken herausgebrochen war, kostete es nur noch eine leichte Mühe, das Loch zum Durchschlüpfen zu erweitern.
Die Posten, die in der Nacht aufgezogen waren, 479 gaben an, keine auffällige Beobachtung gemacht zu haben. Übrigens waren sie durch die Wachinstruktion entschuldigt; es war ihnen gestattet, bei dem strömenden Regen in den Schilderhäusern unterzutreten. So wußte man nicht einmal, wann die Flucht des Gefangenen stattgefunden hatte.
Ein Steckbrief wurde hinter dem Entsprungenen erlassen. – Vergebens. Der Kanonier Findeisen blieb verschwunden.
Wolf dagegen wurde an dem gleichen Morgen, an dem Findeisen sich abseits von allen begangenen Wegen durch das Dickicht und Gestrüpp des meilenweiten Forstes nach der Grenze schlich, als Untersuchungsgefangener in das Arresthaus der Hauptstadt eingeliefert.
Der Zug, in dem er mit seinem Transporteur fuhr, kreuzte auf einer Zwischenstation einen anderen. Aus allen Wagen schauten Reservisten heraus, Leute von allen Truppengattungen bunt durcheinander gemischt, aber einmütig in ihrer ausgelassenen Freude.
Gleichzeitig setzten sich die beiden Züge wieder in Bewegung, und die Reservisten fingen an zu singen:
»Reserve hat Ruhe,
Reserve hat Ruh',
Und wenn Reserve Ruhe hat,
Dann hat Reserve Ruh'.«
Wolf hielt die Augen starr auf die staubigen Dielen des Wagenabteils gerichtet.
Als der Gesang in der Ferne verklungen war, hob er den Kopf mutig empor. Das helle Licht des Tages flößte ihm neue Zuversicht ein. Seine Tat war ja, gerade wenn man sie recht im hellsten Lichte, recht eingehend und deutlich betrachtete. am allerentschuldbarsten. 480
Vielleicht war er in sechs Monaten auch frei. –
Eine Woche darauf wurde der Kanonier Hermann Wilhelm Wolf der sechsten Batterie Osterländischen Feldartillerie-Regiments Nr. 80 wegen tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten (M.‑St.‑G.‑B. § 97) vom Kriegsgericht der 42. Division zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. 481