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Paul! Himmelherrgott, Paul! Nein!? Ja!? Herrgott, Paul!
Von nun ab geschah im Leben Herrn Ewald Brocks und seiner Erzieherin eine ziemliche Weile, wohl drei Semester lang, nichts, das mich zum Erzählen reihen könnte. Es ist ein langweiliges und unerbauliches Geschäft, täglich der Wissenschaft nachzugehen, von der nur teuflische Frivolität behaupten kann, daß sie leicht zu fassen sei. Herr Ewald Brock entdeckte in ihr vielmehr eine überaus spröde Materie. Indessen, er ließ nicht ab, sich in sie einzubohren, und siehe, er nahm zu an Kenntnis und Erfahrung und klomm in einem zwar nicht hastigen, aber sicheren Tempo von Staffel zu Staffel, von Station zu Station des Staatsexamens. Nach jeder bestandenen Prüfung aber brachte er ein Bouquet nach Hause und sprach: »Das haben wir wieder mal sehr gut gemacht, Paul.«
Paul aber pflegte zu erwidern: Von Zeit zu Zeit seh ich den Schwarzen gern.« Sie meinte damit den Examenzylinder.
Schließlich war Herr Ewald Brock so weit, daß er ihn nur noch einmal aufzusetzen hatte. Da kam ein Brief seines Vaters:
Lieber Sohn!
Die verhältnismäßig schnelle Folge, in der Du nun endlich Deine Examenspflichten bis auf eine erledigt hast, läßt mich hoffen, daß auch diese letzte bald und löblich gethan sein wird. Ich freue mich herzlich dieser Hoffnung.
Du bist recht spät vernünftig geworden, lieber Ewald, und ich frage mich manchmal, was wohl der äußere oder innere Anlaß gewesen sein mag, daß Du Dich plötzlich aufgerüttelt und entschlossen hast, ein ersprießlich thätiges Leben zu führen, wie es sich für einen Mann in Deinen Jahren geziemt. Gleichviel, was der Grund sein mag, wir haben alle Ursache, ihm von Herzen dankbar zu sein. Ist es ein Mensch gewesen, der Dich vermocht hat, in Dich zu gehn, so wird es mir eine große und herzliche Freude sein, ihn kennen zu lernen und ihm meinen Dank auszusprechen. Ich wäre ihm so viel Dank schuldig, wie Deiner guten Mutter, denn durch ihn wärest Du uns ein zweites Mal geschenkt worden. Ich habe Dich schon zu den Verlorenen gerechnet, Ewald.
In diesem Zeitpunkt aber, da Du endlich an der Schwelle zu einem bürgerlichen Berufe stehst, ist es vonnöten, mancherlei ins Auge zu fassen. Ich weiß nicht, ob Du schon ans Heiraten gedacht hast. An der Zeit wäre es wohl. Du bist jetzt dreiunddreißig Jahre alt.
Deine Mutter, Du wirst es ihr nicht verdenken, hat bereits Umschau nach passenden Partien gehalten. Die geeignetste scheint ihr Fräulein Bertha Petermann zu sein, die Tochter des Dir ja wohl bekannten Pastors in unserer Gemeinde. Er hat Dich ja komfirmiert. Fräulein Petermann muß Dir auch bekannt sein, obwohl Du Dich freilich letzter Zeit in Halle kaum hast sehen lassen. Sie verkehrte viel mit Deinen Schwestern. Es ist ein ruhiges, gründlich gebildetes Mädchen, jetzt fünfundzwanzig Jahre alt.
Ich schreibe Dir alles dies, damit Du, wenn Du nach Absolvierung der letzten Station zu uns kommst, darauf vorbereitet bist, daß Mama Dir Vorschläge dieser Art machen will.
Nun sieh zu, daß Du die letzte Station bald hinter Dir hast. Und mach auch Deinen Doktor. Hast Du Dir schon ein Thema zur Dissertation überlegt?
Dein
treuer Vater.
Dieser Brief hinterließ in Herrn Brock junior fatale Gefühle.
Paul merkte seine Verstimmtheit und fragte: »Na, Gelehrtes, was ist Dir ins Weisheitsmagazin gefahren? Hast Du Angst vor der letzten?«
»Ich wollte, ich fiele durch!« sagte Herr Ewald mit einer beängstigenden Entschiedenheit.
»Ewa! Du wirst doch nicht . . : Du wirst doch nicht übergeschnappt sein vor lauter Gelehrsamkeit? Gott, was man für Sorge mit den Kindern hat! Schließlich bist Du wirklich so freundlich und fällst mir durch!«
»Ich bitte Dich, mach keine Witz!« jammerte Herr Brock, »da lies mal den Brief!«
Paul las den Brief, nickte ein paarmal ernsthaft mit dem Kopfe, legte ihn dann sorgfältig zusammen und sagte: »Ist das gründlich gebildete Mädchen hübsch?«
Jetzt wurde aber Ewald wild: »Herrgott, so sei ernsthaft!«
»Bin ich ja!« sagte Paul. »Das ist doch auch bei Hallenser Pfarrerstöchtern wesentlich, ob sie hübsch sind.«
»Es ist komplett schnuppe, ob sie hübsch ist,« schnaubte Ewald.
»Ich hätte Dich für wählerischer gehalten.«
»Herrgott!« Herr Ewald rollte die Augen.
Da that Paul erschrocken und erstaunt:
»Nu! Nu! Es scheint also, Du willst nicht heiraten?«
»Das Geburtshilf-Phantom werd' ich heiraten! Alle Spirituspräparate werd' ich heiraten! Den Professor Froscher werd' ich heiraten! Den Teufel werd' ich thun!«
Herr Ewald Brock nahm den väterlichen Brief und machte eine Papierwurst daraus.
»Na! Na! Na! Bloß nicht so heftig, Du Gewaltsames! Wenn ich Dich recht verstehe, so gedenkst Du ledig zu bleiben?«
»Ich will . . . Ich will . . . Gar nichts will ich!« stöhnte Ewa und er warf die Last seines Leibes auf den Divan, daß sie noch einmal emporschnellte.
»Das versteh' ich nun nicht,« bemerkte Paul recht gelassen. »Du willst nicht heiraten und willst auch nicht ledig bleiben. In diesem Leben ist aber eine andre Situation nicht möglich, wenigstens nicht standesamtlich. Es bleibt eigentlich bloß noch Selbstmord übrig. Du willst doch nicht, Ewa?«
Jetzt schrie aber Herr Brock auf wie weiland Achilleus, als er verwundet war:
»Paul, das sag ich Dir! Wenn Du jetzt nicht ernsthaft wirst, erlebst Du was! Das, hä, das ist frivol! Das gehört sich nicht! Das ist . . . oh!«
Er stand auf und rannte zum Schreibtisch.
»Was willst Du denn thun, Ewald?«
»Wirst Du gleich sehen!«
Und er riß einen Briefbogen aus der Schatulle und schrieb geräuschvoll unter wilden Atemstößen folgenden Brief an seinen Vater:
Lieber Vater!
Ich danke Dir für Deinen Brief. Die letzte Station ist in drei Wochen. Ich denke daß ich sie bestehen werde. Auch den Doktor werd ich machen. Meine Dissertation ist fertig. Ihr Thema lautet: »Über das Phänomen abnormer Knochenbiegsamkeit bei den sogenannten Schlangenmenschen.« Ich habe besondere Gelegenheit zu eingehenden Versuchen auf diesem wenig behandelten Gebiete gehabt. Professor V. hat die Arbeit bereits für eine schätzbare Bereicherung unserer anatomischen Kenntnisse erklärt. Aber Fräulein Petermann heirat ich nicht. Ich heirate überhaupt nicht. Es giebt nur eine Person die ich heiraten würde und das ist dieselbe der ich es zu verdanken habe daß ich mein Examen bestehen kann. Aber diese Person will nicht.
Macht keine Versuche weiter. Das steht fest.
Dein treuer Sohn Ewald |
In seinem Leben hatte Herr Ewald Brock noch niemals so schnell einen Brief geschrieben. Er nahm sich nicht Zeit, ihn noch einmal zu überlesen, sondern kuvertierte ihn hastig, schrieb die Adresse und ging nach seinem Hut.
»Na?« fragte Paul.
»Was denn!?«
»Ich denke, ich sollte sehen, was Du schreibst?«
»Ist nicht nötig.«
»Du hast es aber doch vorhin gesagt?«
»Aber jetzt sag ich Dir, es ist nicht nötig!«
»Wenn ich aber doch gerne möchte?«
»Daß Du wieder unpassende Witze machen kannst? Wie?«
»Nein, nein: Paß mal auf, wie ernsthaft ich sein kann.«
»Also: Da!« Und er gab ihr den Brief.
Während sie ihn las, lief er, den grauen Cylinder auf dem Hinterkopfe, die Hände in den Taschen, trotzigen Antlitzes im Zimmer hin und her. Wie ein Junge, der auf Prügel gefaßt ist.
Paul las sehr langsam. Ein paarmal lächelte sie und schielte Herrn Ewald an. Wie sie fertig war, legte sie den Brief auf den Tisch und sagte: »Der reine Telegrammstil, und die Kommas fehlen alle. Aber komisch bist Du, Ewa! Wer sagt Dir denn, daß ich nicht will?«
Ewa blieb wie angepflockt stehn und riß die Augen auf. Dann nahm er seinen Hut, rückte ihn düster in die Stirne und sagte leise: »Du, Paul, ich sage Dir, ich, hä, ich laß mir den Ton jetzt nicht mehr gefallen!«
Da ging Paul auf ihn zu, nahm ihm den Hut ab und streichelte seine dicken Backen: »Soll ich denn noch ernster werden?«
Da merkte Herr Brock, daß sie keine Witze machte. Erst konnte er bloß glotzen. Aber dann packte es ihn, wie wenn mit einem Schusse eine andre Seele in ihn führe, eine heiße, junge, tanzende Seele, und er nahm Paul um die Hüften, hob sie auf und preßte sie in seine Arme und trug sie unbarmherzig drückend im Zimmer herum und sagte nichts als: »Paul! Himmelherrgott, Paul! Nein!? Ja!? Paul! Herrgott, Paul!«
Schließlich, daß sie zu zappeln anfing und zu kneipen, legte er sie auf den Divan nieder, küßte ihr die Hände und legten seinen Kopf mit seligem Gebrumme in ihren Schoß.
Schade, daß er in dieser Lage nicht sehen konnte, was sie für Augen zu allem machte. Es hätte sich wohl verlohnt, diese lachenden, glückoffenen Blicke zu sehen, die zu denen gehörten, wie sie den Menschen für gewöhnlich nur einmal im Leben gegeben werden. Ich möchte nicht gerne in Überschwänglichkeit verfallen, sonst hielte ich Ihnen eine lange Rede über diese Blicke, obwohl sie einer Schlangendame angehörten. Nur soviel möcht' ich mir zu bemerken erlauben, daß es keine Worte giebt, die nur halb so viel zu sagen vermöchten, wie solche Blicke, die, wie mir scheint, das Höchste sind, was die Natur mit dem Menschen vermag.
* * *
Als Herr Ewald Brock ruhig geworden war, fragte er: »Aber wie ist es denn gekommen, Du, daß Du Deinen Willen geändert hast? Hä?«
»Ich habe meinen Willen nicht geändert, Ewa!«
»Aber Du hast mir doch verboten, zu denken, daß . . .«
»Ja, daß ich von Dir geheiratet sein will, freilich.«
Herr Ewald Brock machte eines seiner verdutztesten Gesichter. Es wurde ihm schon wieder bange.
»Na?« fragte er.
»Aber mein Gutes! Das will doch nicht heißen, daß ich Dir verbiete, Dich von mir heiraten zu lassen! Ist das nicht ein kleiner Unterschied, Ewa?«
Ewa brauchte einige Überlegung. Aber schließlich nickte er das Nicken verstehender Menschen.
»Na, siehst Du! Schließlich kommst Du hinter alles. Man muß Dich bloß sanft hinführen. Das ist die ganze Kunst.«