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Eine Künstlerkatastrophe. Ein tragisches Geschick ereilte den bekannten, aus unserer Stadt stammenden Kunstmaler Alex Graber. Mit besonderer Genugtuung berichteten wir seinerzeit von dessen großen Erfolgen, dem Erwerb seines bedeutsamsten Werkes durch die *** Galerie; wir konnten dabei auch von seiner bevorstehenden Trauung mit der Tochter des bekannten Großindustriellen Elmshorn melden. So glücklich die Zukunft für den so vielversprechenden Künstler schien, so verhängnisvoll traf ihm die Mißgunst des Schicksals. In der gleichen Nacht, in der er die Nachricht von dem Tode seines Schwiegervaters erfuhr, der infolge vollständigen finanziellen Ruins und unehrlicher Geschäftspraktiken Selbstmord verübte, verließ ihn seine Frau in Begleitung ihres Liebhabers, eines vielgenannten, jungen Dramatikers. Alex Graber, der sich infolge nervöser Erregungen in seiner Arbeit bereits gelähmt fühlte, wurde durch diese beiden letzten Ereignisse in seinem Seelenleben so schwer erschüttert, daß er am gleichen Tage noch in eine Anstalt gebracht werden mußte, nachdem er von seinen Dienern im eigenen Atelier mitten unter den von ihm selbst zertrümmerten und vernichteten Werken seiner Kunst am Boden sitzend, lachend und weinend zugleich vorgefunden worden war. Das Vermögen der Elmshorn ist völlig verloren, es sollen sogar noch Schulden von mehr als einer Million ungedeckt sein. Damit ist aber auch Alex Graber in vollständige Mittellosigkeit geraten, da seine Frau das letzte Geld für sich und ihren Liebhaber zusammenraffte. Der geistig umnachtete Künstler aber wird in irgendeiner Anstalt untergebracht werden müssen, bei dem völligen Ruin auf Kosten der Heimatstadt, wenn nicht einstige Anhänger seiner Kunst für ihn eintreten. So wird ein erfolgversprechendes Genie der Armenkasse einer Gemeinde zur Last fallen, falls sich sein verirrter Geist nicht doch noch aufhellen sollte, so daß er dadurch vielleicht einen Teil der alten Schaffensfreude wiederfindet.«
*
Lotte Rödern trug wiederum das schwarze Kleid.
Nun war sie ganz einsam in dem stillen Hause an den Berghängen von Spaar; bald nach dem Weggange und dem Abschied von Doktor Arnold Anwander, der die Professur in Halle angenommen hatte, hatte an einem Morgen Frau Sabine tot in den Kissen gelegen. So ruhig, mit einem friedlichen Lächeln auf den wachsgelben Zügen, hatte Lotte Rödern die Mutter vorgefunden, als hätte diese eben noch von dem »Vati« geträumt, von »Vater Rödern«, wie er bei einem Kinderfeste seine Schar anführte, als hätte sie den Toten wiedergefunden, als wäre sie dann gleich mit ihm gegangen, in ein Reich, das die Ruhe war, der Frieden nach einem harten Leben. So glücklich sah der lächelnde Zug im Antlitz der toten Mutter aus, daß Lotte den Schmerz an diesem jähen Verlust leichter trug.
Die Herzlähmung, die Frau Sabine immer schon befürchtet hatte, hatte sie plötzlich fortgerufen.
Die Einsamkeit war für Lotte Rödern eine schwere Zeit gewesen; ihr war es in den ersten Tagen immer, als müßte sie die Tote aus einem Zimmer holen, als hörte sie plötzlich das Knarren des Fahrstuhles, als riefe sie von irgendwo die weiche, zarte Stimme der Mutter.
So lang wurden die Tage für Lotte Rödern. Sie hatte niemanden mehr zu hegen und zu pflegen, ihr Mitleid, ihre Sorge konnte über niemanden mehr wachen. Da waren die Tage dann allzu lang, und sie konnte noch mehr träumen wie bisher.
Das Vermögen, das geblieben war, hatte sich als so groß erwiesen, daß sie ohne Sorgen in dem einsamen Häuschen in dem stillen, grünenden Garten, über den sich Weinberge in Terrassen aufbauten, weiterleben konnte. Ohne Sorgen! Ihr bescheidenes Leben konnte die ihr zufallenden Zinsen nicht aufbrauchen. Ihr Träumen, mit dem sie die meisten Tage verbrachte, ihre Bücher, die sie so sehr liebte, und der Garten, der die sorgsame Pflege noch mit reicher Ernte segnete, erforderten keine großen Geldopfer.
Aber schwer empfand Lotte Rödern ihre Einsamkeit doch; ihr fehlte ein Mensch, mit dem sie sprechen konnte, oder doch einer, den sie pflegen durfte, für den sie Mitleid verschwenden konnte wie für die Mutter.
Wenn in ihre Einsamkeit dann auch die Briefe aus Halle kamen, so füllten diese die Leere in ihrem Leben doch nicht aus; die geschriebenen Worte klangen nicht und hatten keine Wärme. Und als in einem solchen Brief aus Halle einmal die Nachricht kam, daß Doktor Anwander nun ein anderes Glück gefunden zu haben glaube, daß er eine Braut gewonnen habe, der er neue Liebe und auch Vertrauen schenken könne, da nickte Lotte Rödern und wünschte dem Freunde alles Glück.
Sie fühlte dabei nur Stille und Ruhe. Sie hätte ihm doch nie Liebe schenken können. Sie wußte es jetzt ebenso gewiß wie damals.
Für sie gab es keine zweite Liebe, denn die erste lebte noch, nicht in Hoffnungen, nicht in einer Sehnsucht, die eine Erfüllung kannte, nicht in törichten Erwartungen, sondern in Erinnerungen. Die Einsamkeit ließ ihr ja nichts als ihre Träume. Und wenn Lotte dann im Garten ausruhte, wenn ihre Träumeraugen zurückschauten, wo sich die dunkle Albrechtsburg über den Dächern der alten Stadt erhob, mit den hellen Domtüren und den zierlichen Strebepfeilern, dann erstand das kleine Häuschen wieder, in dem sie als Kind glücklich war, dann saß sie wieder mit Alex auf den roten Stufen und erlebte wieder das Kinderfest mit den großen Erwartungen, und wieder fand sie sich dann mit der Königskrone oben auf der Boselspitze mit dem König, der ihr eine verwunschene Krone zu bringen versprochen hatte. Und wieder sah sie sich dann träumend auf der schönen Aussicht –.
Erinnerung war ihre Liebe noch, Erinnerung, die nichts mehr von Hoffen weiß.
Und da die Erinnerung daran frei war, so blieb dies Träumen immer schön.
Daß der eine doch noch den Weg zurückfinden könnte, daß er ihr noch eine Krone reichen könnte, daran hatte sie den Glauben auch begraben, so lockend, so ferne manchmal auch noch eine Weise ertönen wollte.
Sie wußte, daß jener ein anderes Glück gewonnen hatte, daß er berühmt und reich geworden war, daß er eine stolze, reiche Schönheit sein eigen nannte.
So lebte Lotte Rödern beschenkt von der Erinnerung.
Das allein belebte ihre Einsamkeit.
Und in diesen Tagen las sie die Nachricht von dem Zusammenbruche von Alex Graber. Die Zeitung zitterte in ihrer Hand. Er, der nach dem Schönsten, nach dem Höchsten gestrebt hatte, der gewiß auch an sein erreichtes Ziel geglaubt hatte, war aus solcher Höhe in den tiefsten Abgrund gestürzt worden; um alles war er betrogen worden, so daß sogar sein Geist darunter leiden mußte. Wie jammervoll mußte es gewesen sein, als der Diener den einst beneideten, den so zukunftsreichen Künstler unter den selbstvernichteten Werken lachend und weinend wie einen Irren vorgefunden hatte.
Und dieses Bild voll Grauen erstand vor Lotte immer wieder, wenn ihre Augen auf dem Zeitungsblatt ruhten, das ihr die Nachricht gebracht hatte.
Da konnte kein Gedanke ihrer eigenen Enttäuschung gelten, daß er ihr Märchen zerstört hatte; da vergaß sie, daß er es war, der sie um ihre Liebe betrogen hatte, daß er nicht gekommen war, daß er das Märchen und die versprochene Krone vergessen hatte; da regte sich in ihrem Herzen nur ein Gefühl: tiefes, unendliches Mitleid, Erbarmen mit dem Betrogenen, der ihr nun der Ärmsten einer schien.
Sie selbst war ja reich! Und die Erinnerung hatte sie, und den Frieden und die Stille in diesem ihren Garten. Ihm aber war alles zusammengebrochen, sogar die Kraft zur Arbeit, sogar das edelste Gut, das Bewußtsein klaren Denkens, eigenen Willens.
Die Tränen rannen über ihre Wangen, und sie fand für ihn, der sie verlassen hatte, der ihr diese Einsamkeit gebracht, nur die Worte: »Ärmster du! Und niemand, der dir helfen will!«
Sie ahnte es; ihr erbarmender Sinn fühlte die schlimme Verlassenheit von Alex Graber.
Ihre Gedanken hatten lange darüber gesonnen und gegrübelt, was in jener Notiz über die einstigen Anhänger seiner Kunst zu lesen war, die helfend eintreten sollten, damit der hoffnungslos Zusammengebrochene nicht der Armenpflege seiner Heimat zur Last werde.
Immer wieder hatten ihre Augen diese Zeilen gefunden.
Wie furchtbar mußte sein Schicksal sein.
Und ob ihm Hilfe von anderen kommen werde?
Lotte Rödern litt unter den Zweifeln daran; sie fürchtete die Undankbarkeit.
Dann aber, wenn der geistig Umnachtete nicht die milde, behütende Pflege privater Fürsorge finden sollte, mußte er in eine Anstalt unter Irre und Wahnsinnige, dann verwirrte sich sein Geist noch mehr, dann fand er wohl nie mehr den Weg zu langsamem Erwachen aus Nacht und geistigem Tod.
Sie zitterte.
Und immer größer, immer erbarmender wurde ihr Mitleid. Helfen wollte sie, Rettung bringen, wenn sonst niemand des Zusammengebrochenen gedachte. Sie war ja so allein! Hier in dem Hause der Stille und Ruhe, in dem sie nur mit ihrer Erinnerung ein Heim hatte, war noch Raum für einen Müden und Erschöpften, für einen, den das Leben so hart geschlagen hatte. Helfen! Hier unter den Blumen, in der Ruhe, mit dem Blick auf die alte Stadt, die seine Kindheit bedeutete, mußte ihm Genesung werden.
Sie wollte ihn pflegen, wenn sonst niemand dies tat.
Ihr ganzes Denken war ein Erbarmen, das in der selbstlosesten Liebe die Wurzeln hatte; helfen, retten um seinetwillen, aufopfern für ihn.
Und ohne Besinnen, ohne langes Zögern schrieb sie bald darauf an die Leitung der Anstalt, in der Alex Graber ein vorläufiges Asyl gefunden hatte.
*
Nun saß sie in dem Erkerchen der Wohnstube des stillen Hauses und hielt bereits den Brief in der Hand, der ihr von dem Direktor der Anstalt zugegangen war. In dem schwarzen, enganliegendem Kleid, das die zierlichen Formen ihrer Gestalt kräftig umschloß, saß sie am Fenster, von der hereinfallenden Sonne beleuchtet. Ein Glanz lag auf ihrem braunen Haar, der fast wie flüssiges Kupfer leuchtete. Die sinnenden Augen aber mit den langen Wimpern, an denen noch eine Träne wie eine stürzende Perle hing, lasen nochmals den Brief:
»Leider können wir über das Schicksal von Alex Graber keine erfreuliche Nachricht geben. Vollständig unempfindlich gegen Fragen und Eindrücke, die von außen kommen, sitzt der Kranke immer an einer Stelle und starrt unempfindlich für alles vor sich hin; er beantwortet keinerlei Fragen und spricht auch aus eigenem Willen nichts. Er gehorcht nur mechanisch der an ihn gestellten Aufforderung. Er gehört zu den sogenannten gutmütigen Kranken; sein Leiden ist auf seine gewaltige, seelische Depression zurückzuführen, die zuerst einen Anfall von Tobsucht zur Folge hatte und nun zum Tiefsinn wurde. Die Möglichkeit einer Heilung ist nicht ausgeschlossen, wenn der Kranke schließlich wieder Interesse für Fragen und Dinge gewinnen kann, vor allem aber, wenn er zur Arbeit bestimmt werden könnte. Zunächst besteht wenig Hoffnung dafür, da in einer allgemeinen Anstalt unter vielen Kranken dem einzelnen niemals die Aufmerksamkeit und die Pflege gewidmet werden kann, wie es bei privater Fürsorge möglich ist. Aber trotz mancher Zeitungsaufrufe fand sich für den jungen, einst vielgenannten Künstler keine Hilfe von privater Seite, so daß der Kranke schon in den nächsten Tagen in eine öffentliche Anstalt überführt werden müßte. Auf Ihre Anfrage können wir unsere Zustimmung versichern, falls wirklich die Pflege des Patienten von privater Seite übernommen werden sollte; sein Zustand ist in keiner Weise von gemeingefährlicher Art, so daß gegen die geäußerte Absicht, die wir sogar im Interesse des Patienten selbst begrüßen würden, keinerlei Bedenken besteht. Gerade die Natur und Stille dürften schließlich von heilendem Einfluß sein –«
So wurde von der Leitung der Anstalt berichtet, von dem Direktor, einem erfahrenen Arzte für seelische Erkrankungen, selbst unterzeichnet.
Wiederholt schon waren ihre Augen über den Bericht geflogen. Zwei Punkte waren es, die immer wieder ihr ganzes Sinnen fesselten: wenn der Kranke wieder Interesse an Dingen und vor allem wieder eine Freude oder einen Willen für seine Arbeit finden konnte, dann war Heilung denkbar. Und gerade die Natur und die Stille sollten von beruhigender, heilender Wirkung sein.
Konnte sie ihm nicht beides bringen?
Wie schwer es für sie selbst werden konnte, die durch ihn den Glauben an das größte und edelste Gefühl an treue Liebe verlieren mußte, den wiederzusehen, der ihr diese Enttäuschung zufügte, wie ein solches Selbstvergessen eigenen Leids und eine völlige Hingabe an die Pflege dieses einen selbst über ihre Kraft gehen konnte, daran dachte sie nicht. Nur von dem Willen, zu helfen, nur von Mitleid war sie erfüllt, von Mitleid, das ihm keiner mehr brachte.
Sie dachte auch nicht daran, daß vielleicht die Schmähsucht der Menschen flüsternd Häßlichkeiten weitertragen konnte, wenn sie den Kranken in ihrem Hause pflegte.
Nur helfen und froh sein, wenn sein umnachteter Geist wieder zum Lichte und zur Befreiung den Weg finden konnte.
Ebenso rasch entschlossen war ihr Handeln; er sollte auch nicht für einen Tag in die ihm drohende Anstalt, sondern so rasch als möglich eine aufopfernde Pflege und die Ruhe in der Natur finden.
Der Direktor der Anstalt empfing sie selbst; ein wenig senkten sich ihre Augen, als sie ihr Verlangen vorbrachte und ihre Absichten ausführte.
Professor Dr. Spalthan, der Direktor, ein Mann von sechzig Jahren bereits, mit weißem, aber immer noch sehr dichtem Haar, hörte ihr aufmerksam zu und antwortete dann:
»Ich begreife Ihre Absicht und sehe darin auch die Möglichkeit einer Genesung, wenn ihn Bilder an seine Kindheit erinnern. Vielleicht wird es dann auch noch möglich sein, daß er nach Stift und Pinsel greift, wovon ich mir am meisten verspreche. Aber nur die größte Vorsicht kann den richtigen Weg finden. Ich werde Sie nun zu dem Kranken führen. Erschrecken Sie nicht, wenn seine äußere Erscheinung eine völlig andere ist als die Ihrer Erinnerung. Sein Leiden hat die unverkennbaren, verwüstenden Spuren mit grausamer Härte in seinem Gesichte eingegraben.«
Trotzdem Lotte Rödern nun vorbereitet war, so hätte sie den Kranken doch, als sie langsam auf ihn zukam, nicht wiedererkannt. Die Hand des Direktors hatte auf Alex Graber gewiesen, der auf der Terrasse in einem Stuhl, verkrochen in einer Ecke saß.
Da sah Lotte Rödern ein fahlgraues Gesicht mit Bartstoppeln, die das Hagere und Leidende des schmalen Antlitzes noch schärfer ausdrückten; ein tiefer Schmerz schien die Züge verzerrt zu haben.
Die dünnen, zusammengepreßten Lippen zuckten wie in einem Krampf. Das aschblonde Haar, das sonst so weich war, hing ihm ungepflegt in die Stirne.
Nur die Augen hatten noch die alte, tiefblaue Farbe, starrten aber irrlichternd in die Ferne, manchmal ging dann wie ein Frostschauern ein Zittern über seine etwas zusammengekauerte Gestalt.
Professor Spalthan sagte mit halblauter Stimme zu seiner Begleiterin:
»Sein Wille ist völlig gebrochen. Verlangen Sie sein Aufstehen, er wird es tun, fordern Sie ein Lachen, dann verzerrt sich dieses verstörte Gesicht grimassenartig zu einem Lachen; was Sie von ihm verlangen, er wird immer den Willen dazu haben, ohne aber einen eigenen irgendwie zu bekunden.«
Lotte Rödern hatte mit entsetzten Augen auf die Jammergestalt geschaut; wie hatte in den vorher so kräftigen, stolzen Zügen diese Umnachtung gewüstet und zerstört.
Ihr Mitleid wurde noch größer; und gegen ihren Willen rannen ein paar Tränen über ihre Wangen. Mit erstickter Stimme rief sie seinen Namen:
»Alex!«
Aber der Kranke gab kein Zeichen irgendwelchen Erkennens.
»Alex, kennst du mich nicht mehr?«
Da sie die Frage laut und herausfordernd rief, so hob sich der aus die Brust gesenkte Kopf.
Die blauen, wie leer starrenden Augen trafen sie; aber kein Erkennen lag in ihnen; sie schauten ins Wesenslose.
»Alex – Lotte ist gekommen, Lotte! Deine Königin aus dem Kinderfest. Weißt du das nicht mehr? Die Krone trugst du –«
Aber kaum hatte sie diese Worte gesagt, da kam Leben in die willenlos gebrochene Gestalt. Die Augen begannen zu leuchten und der Ausdruck des Schmerzes prägte sich noch schärfer aus. Die Lippen öffneten sich, die Hände ballten sich, und eine Stimme wie ein Röcheln war zu hören:
»Nimm sie mir ab die Krone, nur Dornen sind es noch. Siehst du das nicht, wie sie sich in mein Gehirn einbohren – die Krone – sie zerfleischt mich – reiß sie mir herunter – du –«
Dann begann er zu wimmern und wieder in sich zusammenzusinken.
Kein Erkennen, kein Lichtblick.
Da fragte Professor Spalthan, der zuschaute, wie tief Lotte Rödern von dem Grauen dieses Wiedersehens erschüttert wurde:
»Wollen Sie es jetzt noch wagen?«
»Ich will es! Geben Sie ihn mir; vertrauen Sie ihn mir an.«
»Wollen Sie keinen Pfleger mitnehmen?«
»Nein! Keiner kann für ihn tun, was ich für ihn opfern will.«
»So wünsch' ich alles Gute. Hoffnung besteht ja!«
Hoffnung!
Daran klammerte sich Lotte.
Und so war sie es, die den, der ihr die verwunschene Krone zu bringen ausgezogen war, wieder zurückführte; einen gebrochenen Kranken, der keine Krone aus dem Märchen mit sich führte, sondern den eine andere Krone drückte, die aus Dornen, die seinen Sinn umnachtete, die ihn dem geistigen Tod nahegebracht hatte.
Gab es noch einen Weg zu neuem Leben?
Hoffnung besteht ja, hatte Professor Spalthan gesagt.
Und Lotte Rödern besaß die Hoffnung und den Glauben, der Berge versetzen konnte, wie ein Bibelwort sagt.
Mit ihrer Liebe wollte sie ihn pflegen.
*
Alex Graber saß in dem Fahrstuhl, in dem einmal Frau Sabine Rödern die Schönheit der Sommertage und die Wärme der Sonnenstrahlen des Frühlings genossen hatte; er ließ sich wie ein Kind fahren. Apathisch setzte er sich und stand auf; er tat, was von ihm gefordert wurde. Er widersetzte sich nie, sondern gehorchte wie ein folgsames Kind, ohne aber einmal mit eigenem Willen etwas auszuführen.
Es waren für Lotte Rödern schwere Tage, denn keiner brachte irgendeine Besserung.
Der Kranke erkannte sie nicht; er blieb teilnahmlos gegen die Blumenpracht des Gartens, er hörte verständnislos zu, wenn Lotte Rödern ihm vorzulesen versuchte. Nur dann begegnete sie einem wärmeren Strahl aus den blauen Augen, der wie ein langsames Aufdämmern war, wenn sie aus Märchenbüchern der Kinderzeit las. Da verriet ein gespannter Ausdruck, daß der Kopf mit allen Sinnen lauschte. Und die Klänge aus den Märchen waren für Alex Graber wie Musik, die beruhigt. Der schmerzgequälte Ausdruck verschwand langsam und wich einem stillen Aufhorchen. Aber der Mund blieb immer noch still, und die Augen blickten auf Lotte immer noch wie auf eine Fremde.
Wenn sie ihn dann im Fahrstuhl so vor das Haus hinbrachte, daß sein Blick auf die alte Stadt mit den steilen Giebeldächern, mit dem schwerfällig plumpen Turm der Stadtkirche, auf die emporragende Albrechtsburg und den Dom gerichtet war, dann beruhigte sich auch das Starre in seinen Zügen.
Es war, als fingen seine gelähmten Gedanken ein langsames Träumen an.
Und dann konnte Lotte Rödern, die oft in seiner Nähe blieb, um die geringste Veränderung beobachten zu können, eines Tages bemerken, wie ein Lächeln dem starren Ausdruck folgte.
Daß er lächeln konnte, gab ihr, die fast schon den Mut verlieren wollte, neue Hoffnung. Dies Lächeln verriet doch ein neues Fühlen. Der Bann war gebrochen, der eiserne Ring, der mitleidlos sein Gehirn umspannt hatte, war gesprengt.
Der Blick auf die im Sonnenschein daliegende alte Heimat hatte dieses Lächeln geweckt.
Dies Bild mußte er zuerst erkannt haben. Die Lähmung war gewichen.
Deshalb führte ihn Lotte Rödern andern Tages wieder dahin, von wo aus sein Auge die alte Heimat sah; sie selbst blieb in seiner Nähe und verfolgte mit Spannung, wie die Züge wieder das stille Lächeln fanden. Dann aber sah sie, wie seine schmal und dünn gewordenen Hände unruhig wurden, wie sein Kopf sich wie suchend umblickte, wie die blauen Augen wieder ruhelos wurden. Doch abermals wandten sie sich dem fernen Bild zu und lächelten.
Keine Bewegung war Lotte entgangen; sie verstand, daß ein neues Leben erwachen wollte.
Aber wie sollte sie Hilfe bringen? Wie sollte sie unterstützen, was hier gegen Nacht und Finsternis anzukämpfen schien?
Doch ihr Gefühl, mehr noch wohl die Liebe erriet den Weg.
Leise huschte sie in das Haus zurück.
Hinter der Burg, gerade hinter der Kirche St. Asra färbte sich in kupferfarbenem Rot der abendliche Himmel. Fenster glitzerten.
Da spielten die Hände des Kranken wieder in seltsamer Ruhelosigkeit.
Leise, auf den Zehen war Lotte Rödern neben Alex Graber hingetreten; und von der Seite her, daß er sie nicht sehen konnte, schob sie in die unruhigen Hände einen Zeichenblock und einen Bleistift. Seine nervösen Hände hielten das Gereichte, wie irr noch und suchend; gequält schauten seine Augen nieder auf Papier und Bleistift.
Verstanden sie den Zweck? Sollte jetzt die Nacht weichen.
Atemlos, die Hand gegen das heftig pochende Herz gepreßt, verfolgte Lotte Rödern, was nun geschehen würde.
Sollte das gelingen, was sie mit raschem Erkennen gewagt hatte?
Minuten waren es; die Hände hoben den Block, drehten ihn und ließen ihn wieder sinken; die Augen, die zuerst gequält, gespannt umhergeirrt waren, bekamen wieder den ruhigen, stillen Blick, schauten wieder hinaus, wo das Rot des Abends immer leuchtendere Töne gewann, und lächelten. Dann aber glitt die rechte Hand mit dem Bleistift über das Papier.
Alex senkte den Blick – er schaute auf seine Hand, er folgte ihr – er blickte wieder in die Ferne – und in feinen Strichen zeichnete die Hand die Linien der fernen Burg, die Umrisse der schlank emporragenden Domtürme. Rascher bewegte sich die Hand – ein gespannter Ausdruck trat in die sonst wie erstorbenen Züge.
Alex zeichnete.
Und da tropften ungezählte Tränen über die Wangen von Lotte Rödern.
Jetzt wußte sie, daß ihm Rettung werden sollte.
*
Am folgenden Tage zeigte der Kranke eine starke Unruhe, die von Lotte Rödern verstanden wurde; er strebte hinaus. Es zeigte sich in seinem Wesen zum ersten Male ein eigener Wille, der sich durch-setzen wollte.
Aber immer noch schaute er Lotte Rödern mit fremden Augen an, in denen wohl ein Fragen, ein Suchen schien. Aber noch kein Erkennen. Nur die Erinnerung an den Blick auf die alte Stadt war in seinen langsam wiedererwachenden Gedanken haften geblieben.
Und er ging zum ersten Male selbst zur Türe, er wies mit der Hand nach der Ferne, die seine Gedanken suchten.
Es waren die ersten Anzeichen neuer Lebensenergie
Draußen im Garten saß er dann wieder.
Die Morgensonne war hinter den Spaarer Bergen aufgestiegen und beleuchtete das Dächermeer der Stadt. Die Haube des alten Nachtwächters, des Turmes der Stadtkirche, funkelte in dem leuchtenden Oxydgrün des Kupferdaches, die Domtürme schimmerten in Weiß, tiefblau wölbte sich der Himmel, über den nur einige Federwolken zogen.
Lotte Rödern war ihm langsam gefolgt; diesmal aber reichte sie ihm einen großen Karton und stellte neben ihn den geöffneten Kasten mit den bunten Pastellstiften. Da konnte sie anfangs wieder das Kämpfen in den Zügen des Kranken verfolgen, wie dabei seine Hand bald den einen Farbstift herausgriff, ihn drehte und wendete, einen zweiten holte, nach dem Wischer faßte, wie in ihm erst der neue Wille, das Erfassen dieser Dinge zum Durchbruch kommen mußte.
Aber als Lotte Rödern dann noch den Karton auf die kleine Staffelei gestellt hatte, da erschien das Lächeln wieder in dem hageren Antlitz, das durch den nun wuchernden Bart wie ein fremdes aussah. Da der Bart ungepflegt blieb, da Alex Graber in keinen Spiegel schaute und nach keinem Rasiermesser verlangte, so glich er fast einem schon alten Manne, wenn nicht die tiefblauen Augen dagegen gesprochen hätten.
Das Lächeln blieb. Und jetzt legte er die Pastellstifte zurück, griff mit beiden Händen nach der Staffelei und rückte dieser näher heran, wie vorbereitend für eine Arbeit. Die Lippen bewegten sich und murmelten.
»Näher – das Licht darf aus der Fläche nicht blenden – das täuscht sonst in der Farbenbewertung –«
Lotte Rödern hatte jedes Wort verstehen können, trotzdem es nur ein dumpfes Murmeln war.
Aber er hatte gesprochen; er hatte mit dem klaren Verstehen für das gesprochen, was er tun wollte.
Damit aber war auch dieser Bann endgültig gebrochen.
Nur eine Erinnerung an das Vergangene war für ihn noch tot; das Erwachen aus der Nacht geistigen Todes war noch kein vollständiges.
Aber die Hand arbeitete dann in einer fieberhaften Hast, wie gejagt, als gäbe es Verlorenes einzubringen. Immer klarer, immer heller wurde bei diesem Schaffen sein Blick; all seine Sinne waren gespannt und der Arbeit zugewandt. Manchmal nur hielt seine Hand still, und dann irrten seine Augen in die Ferne, als wollten sie etwas suchen. Dabei strich er mit dem Handrücken über die Stirne, als wollte er etwas fortwischen, als spüre er noch einen Schleier, der seinen Blick trübte, den er nun wegnehmen wollte. Dabei erschien dann wieder der gequälte Ausdruck, der aber sofort wieder verschwand, wenn die Augen abermals auf die Arbeit auf dem Karton fielen. Dann hastete er weiter.
So eifrig war er im Schaffen, daß er widerspenstig, trotzig, mit starrem Eigensinn sogar abwehrte, als ihn Lotte Rödern um die Mittagsstunde fortholen wollte; er wollte nichts essen, er wollte von seiner Arbeit nicht mehr fort, so daß Lotte ihm den Willen lassen mußte. Doch als sie auf einem kleinen Tischchen neben ihm mehrere Brötchen bereitstellte, da griff er öfters danach.
Und so ließ ihn Lotte Rödern schaffen, ohne ihn zu unterbrechen.
Sein eigener Wille sollte sich immer mehr stärken.
Alex Graber aber ruhte erst, als in den matten, duftigen Farben das Pastell fertig war; sein Blick war nun leuchtend, klar und hell. Die Augen prüften scharf, und die Hand setzte da und dort noch stärkere Lichter auf.
Und als Lotte ihn so ruhen sah, das erste Werk prüfend, als sie in seinen Augen wieder den alten Blick zu erkennen vermeinte, da wagte sie mehr, da unternahm sie es, jenen letzten Schleier fortzunehmen, der den Kranken umfing.
So ruhig, wie in früheren Tagen stellte sie sich neben das Bild, daß Alex sie sehen mußte, und sagte mit einem Lächeln und mit einer Stimme, die nichts von der Erregung verriet, die in diesem Augenblick in ihr war;
»Du darfst zufrieden sein, Alex. Das ist dir gut gelungen. Aber willst du jetzt nicht aufhören, Alex?«
Wiederholt hatte sie seinen Namen genannt.
Da hob er lauschend den Kopf. Seine Lippen bewegten sich, mit beiden Händen griff er nach der Stirne, als wollte er dort wieder etwas wegwischen, dann ließ er sie sinken und schaute stumm, aber mit weitoffenen Augen auf Lotte. Ein langes Schauen war es.
Lotte Rödern spürte das Klopfen des Herzens.
Sollte es ihr gelingen? Oder sank er wieder in die alte Nacht zurück?
»Alex! Denkst du denn nicht mehr an unsere schöne Aussicht? Wollen wir nicht wieder einmal hinausgehen?«
Da brach der Bann; die Lippen bewegten sich.
»Ja! Die schöne Aussicht! Ja! Bist du da, Lotte?«
»Ja, Alex!«
»Aber – die Krone – der Abschied – war es denn nicht schon der Abschied?«
»Weißt du das alles noch, Alex? Wie wir König und Königin waren?«
»Auf der Boselspitze! Da versprach ich dir die Krone, Lotte. Aber – Lotte – du bist da?«
Er sprang auf; in seinen Zügen war ein angestrengtes Arbeiten, ein gequältes Suchen; seine Hände griffen dabei in die Luft, als wollten sie etwas fassen, etwas festhalten. Angstvoll wurde dann der Blick, und zuletzt wurde seine Stimme wie ein Lallen:
»Du? – Habe ich denn geträumt? – Doch nein – nein – Frau Marga – Loslie – der Betrug – meine Lebensfreude – Betrug – Hab' ich denn geträumt, daß du da bist, Lotte?«
Und er sank in seinen Stuhl zurück und hob beide Hände wie ein Bittender empor.
Lotte Rödern fühlte, wie sie nun stark bleiben mußte; sie nahm seine Hände und streichelte sie.
Lächelnd sagte sie dann:
»Nicht geträumt hast du, Alex – nein! Aber du hast ja versprochen, zurückzukommen – in die Heimat. Und da bist du nun, Alex!«
»Ja, ja – zurückkommen – ja! – Aber die Krone – die hab' ich auch versprochen – und nur Dornen gruben sich mir in das Hirn – nur eine Dornenkrone blieb mir – ich kann dir keine bringen, Lotte – die mußt du mir nehmen –«
Wieder schien es, als wolle der irrlichternde Geist Gewalt über ihn bekommen.
Da strich Lotte Rödern wie beruhigend über sein Haar. Weich und kosend streifte ihre Hand darüber. So weh tat ihr das Herz! Doch ihre Stimme beherrschte sie; diese klang noch fest:
»Nein, Alex – die Dornen sind dir genommen. Meine Hand allein spürst du. Und das schmerzt doch nicht. Spürst du die Hand, Alex?«
»Ja – so weich – so gut!«
»Und Dornen schmerzen dich nicht mehr?«
»Nein, Dornen schmerzen nicht mehr,« wiederholte er mit träumender Stimme, während der Ausdruck in seinem Gesicht immer friedlicher wurde. »Laß mir die Hand – die tut so wohl – da weichen die Schatten –«
Und still stand Lotte neben ihm; wie eine Mutter ihr krankes, genesendes Kind streichelt, so liebkoste ihre Hand sein Haar.
Da hob er den Blick; nun war Klarheit in den tiefblauen Augen, nun sprach er auch mit einem langsamen Zögern, das noch eine Gefahr fürchtete:
»Lotte – ich – ich muß wohl krank gewesen sein? – Aber daß du da bist – und ich bin bei dir? – Lotte – das mußt du mir erklären!« Und jetzt traf sein Blick das Pastellbild der fernen Stadt mit den Lichtern über den steilen Giebeldächern: er schien zuerst darüber zu erschrecken, aber es war ein freudiges Erschrecken, ein Auftaumeln. Seine Hand zeigte danach: »Das – das hier! – das habe ich gemacht? Lotte?«
»Ja, Alex! Heute – –«
»Ich – ich habe gearbeitet, Lotte! Lotte, ich kann wieder arbeiten – ich – ich habe wieder Schaffensfreude – Lotte, ich – ich kann wieder leben – –«
Und wieder sank er in den Stuhl zurück und die Tränen rannen aus seinen Augen.
Es war die Freude des Genesenden.
»Alex – alles – alles wird wieder gut!«
»Lotte!«
Nur dies Wort brachte er noch über die Lippen; in dem Schluchzen erstickte seine Sprache, während die Hand von Lotte Rödern immer noch kosend über sein Haar hinstrich.
*
Die Hand von Alex zitterte, als er nach dem Briefe griff, den ihm der Postbote über das Efeugitter des Gartens reichte. Sein Gesicht war wohl noch fahl und gelblich blaß, aber der ungepflegte, struppige Bart war verschwunden. Immer noch zeigten seine Züge den Ernst aus seiner Jugendzeit, aber der Blick der Augen war nicht mehr verstört und irr, sondern von klarer Reinheit.
Alex war genesen.
Rasch war er in der Stille dieses alten Hauses im Anblick seiner alten Heimat und der waldigen Berghöhen von Siebeneichen, in der Ruhe des Gartens und bei der Pflege durch Lotte Rödern vollends gesund geworden. Daß er wieder Kraft zum Arbeiten fand, daß er eine Sehnsucht danach bekam, das erst heilte ihn aus den Banden geistiger Umnachtung.
Bald versuchte er wieder die ihm vertrauteste und liebste Kunst, die mit der Nadel auf der Kupferplatte.
Der Blick auf die alte Stadt war wieder sein erstes Werk, dann grub er den Garten und das im Grün träumende stille Haus, das ihm die Genesung gebracht hatte, auf einer Kupferplatte ein. Auch die Leinwand spannte er wieder in den Blendrahmen und begann zu schaffen.
Er fühlte eine neue Kraft erstehen, die ihm der stille Frieden in der Natur gab, die er aus den Geschichten und Bildern gewann, die Lotte Rödern ihm aus Büchern an stillen Abenden vorlas. Dann war ihm, als kauerten sie wieder wie als Kinder auf den roten Stufen, wobei er zu zeichnen versucht hatte, was sie aus Märchenbüchern erzählte. Und so manche Phantasien wuchsen aus diesen Geschichten zu fertigen Werken.
Alex war wieder gesundet.
Aber die Armut drückte ihn; er wußte, daß er nichts gerettet hatte, daß alles Vermögen der Elmshorn verloren war und er von dem Mitleid lebte, mit dem Lotte ihn, den Niedergebrochenen, zu dieser kleinen Friedenshütte geholt hatte. Dies Mitleid, diese erbarmende Güte, diese verzeihende Aufopferung von der einen, die er in seinem ruhelosen, gejagten Leben wirklich betrogen hatte, lastete auf ihm.
Er hatte nichts zu geben.
Einstmals hatte sich sein Trotz und Eigensinn gesträubt, den Weg in seine Heimat, den Weg zu ihr mit leeren Händen zu gehen, und nun hatte sie ihn, da er noch ärmer war, selbst geholt.
Das tat weh!
Und nun zitterte seine Hand so sehr, als er nach dem Brief faßte; er wußte, daß dieser eine Entscheidung bedeutete.
»Gurlitt, Kunsthandlung, Berlin« stand auf der Umhüllung.
Dahin hatte er seine Radierungen gegeben, um zu prüfen, wie seine Kraft, seine Kunst nun bewertet wurde. Er mußte von dem Almosen, das er hier Tag für Tag empfing, frei werden.
Oder hatte er sich in seinem Können wieder getäuscht? War diese Schaffenskraft, die in der Stille der Natur, im Frieden, in der Ruhe einer Heimat, eines gesicherten Hafens gereift war, wieder nur ein gaukelndes Irrlicht?
Er riß die Umhüllung auf:
»Sehr geehrter Herr Graber!
Ihre Radierungen haben ein gesteigertes Interesse gefunden, eine Bewunderung sogar, was die Sicherheit des Striches, und die Feinheit der Ausführung betrifft. Die ganze Durchsichtigkeit, das Zarte, wie beispielsweise der Dom mit der Burg aus dem Morgennebel gleich Fata Morgana aufsteigt, das Kräftige mit Licht und Schatten, wie in dem Bild des sommerlichen Gartens, das Plastische und dennoch Weiche des weiblichen Porträts verraten die Meisterschaft auf der Kupferplatte. Die Radierung ist Ihr Gebiet. Wir übernehmen alle Arbeiten unter der Voraussetzung, daß uns alle Rechte der Vervielfältigung zustehen. Den von Ihnen geforderten Betrag erhalten Sie sofort angewiesen, wenn wir Ihre Zustimmung haben. Würden Sie sich nicht entschließen können, einen bestimmten Auftrag zu übernehmen? Wir beabsichtigen die Neuausgabe der Grimmschen Märchen im Originaltext und der Märchen von Tausendundeiner Nacht, aber ungekürzt. Wir würden Ihnen bezüglich des Honorars im weitesten Maße entgegenkommen, da uns gerade Ihre Phantasie und Ihre vollendete Technik, die keine Schwierigkeiten zu kennen scheint, geeignet zur Durchführung der uns vorschwebenden Aufgabe erscheint. Wir erwarten baldigst Ihre Zusage.
In Ergebenheit
Gurlitt,
Kunsthandlung.«
Immer noch zitterte seine Hand; aber nicht mehr in Angst, sondern in Schaffensfreude.
Jetzt verstand er diese.
Sein Werk war gut, er war doch ein Künstler! Hier hatte er das gefunden, was er gesucht hatte. Nun war er nicht mehr der Bettler, der Almosen nahm.
Ein Auftrag noch dazu, und einer, der ihn aufjubeln ließ.
Radierungen zu den Grimmschen Märchen, zu Tausendundeiner Nacht. Hatte nicht Lotte als Kind schon daraus vorgelesen, hatte er nicht als Knabe schon zu den Märchen Zeichnungen zu machen versucht? Stammte aus diesen Märchen nicht auch das eine von der verwunschenen Krone?
Hatte er diese jetzt nicht gewonnen?
Er mußte Lotte suchen. Sie mußte es hören, und dann mußte sie wieder wie einst die Märchen lesen, während sein Stift die vorübergleitenden Bilder festzuhalten versuchte.
Das Glück – neues Leben in Arbeit und Schaffenslust!
Als er beim Hause angekommen war, blieb er plötzlich stehen.
Ohne Krone? Das durfte er nicht. Er wußte nun doch, welche Krone es war, die reich und wunschlos glücklich machte.
Die Liebe! Aber nicht Rausch und Leidenschaft, sondern die stille, hingebende Liebe, die im Frieden und in der Ruhe des Selbstgenügens nur der Liebe lebt, die Eigens für Fremde opfert, die Liebe, die eine friedvolle Heimat hat, wie er hier sie gefunden.
Das mußte die Krone sein, von der das Märchen erzählte.
Die Krone der Liebe!
Die mußte er ihr bringen!
Da ging er wieder nach dem Garten; an dem kleinen Gartenhäuschen, wo die Mittagssonne mit starker Glut ihre Strahlen hinwarf, dort war ein Myrtenstrauch gepflanzt, der schon die kleinen, weißen Blüten geöffnet hatte.
Und da pflückte er Zweiglein um Zweiglein und wand diese zu einem Kranz.
Die Myrtenkrone, die hatte er nun, die Krone der Liebe, die heimischen Herd beschenkt, die Frieden und Stille ist! Die Krone, die letzte seines Lebens wollte er ihr bringen, um sie zu schmücken.
Endlich hatte er das Märchen verstanden.
Das war die verwunschene Krone, die ihm doch so nahe war, die er nicht erkannte, die er erst nach Irrwegen und tiefsten Enttäuschungen gefunden hatte.
Und stolz, wie ein Sieger, aufrecht in seiner Freude, ging er nun zum Haus zurück.
Er durfte ihr diese Krone bringen, denn sie war heiß erkämpft und erstritten.
Frei war er ja von allen, was ihn gefesselt hatte; die Ehe mit Frau Marga war längst geschieden; die geistige Nacht war gewichen, und die Kraft in seiner Kunst hatte er wiedergewonnen.
Da durfte er ihr die Krone reichen, welche die Lösung des Lebens bedeutete Liebe im stillen, friedsamen Heim, im Schaffen und Wirken in gemeinsamer, selbstloser Hingabe.
Das war die schönste, die herrlichste, die reich und wunschlos glücklich machte.
Und diese Krone im Myrtenkranz betrog ihn nicht.
Lotte Rödern aber nahm die Krone aus seiner Hand – und ganz leise flüsterte sie glückselig:
»So hat das Märchen doch nicht gelogen.«