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Alles, was unser Luther in der vierten Bitte als zur Leibesnahrung und Notdurft gehörend bezeichnet – alles das besaß der Roplain-Wirt, aber auch nicht mehr. Er war nicht reich, wie es die Leute von ihm behaupteten, auch nicht geizig, was sie ihm ebenfalls nachsagten. Durch weise Vergrößerung seiner geringen Einnahmen und Vermeidung jeglicher unnützen Ausgaben hatte er sich trotz der herrschenden schlechten Zeiten nur vor der Notwendigkeit, Schulden zu machen, zu schützen gewusst, und war auf diese Weise in den Ruf des Reichtums sowohl als auch des Geizes geraten. Dass man ihn reich nannte, war ihm schon recht, und er widerstritt dem nicht, wenn derlei auch in seiner Gegenwart behauptet wurde, dass man ihn aber geizig schalt, verdross ihn doch manches Mal, und er fühlte sich oftmals versucht, es den Leuten zu zeigen, wie unrecht sie mit dieser Behauptung hätten. Als besonnener Mann bedachte er sich jedoch immer wieder und tat nichts, um den Leuten eine andere Meinung von sich beizubringen. »Mögen sie doch nur schwatzen«, sagte er sich, »wenn ich nur mein Herz von diesem Laster frei weiß; besser ist's, von Reichtum und Geiz zu hören, als von Verschwendung und Schulden.« Schulden! Ja, das war ein hässliches Wort, ein Wort, welches Roplain durchaus nicht leiden konnte. Schulden – das war der Name jener unbequemen Gäste, welche aus seinem Hause zu vertreiben er lange Jahre hindurch sich saure Mühe hatte kosten lassen.
Denn er war nicht immer der »reiche« Roplain gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo fast niemand gewusst hatte, ob ein Andreew Osch – wer kümmert sich auch um einen einfachen Knecht? – im Gebiet sei oder nicht. Erst als er die Tochter des Roplain-Wirtes heiratete, und mehr noch, als er nach seines Schwiegervaters Tode das über die Maßen verschuldete Roplain-Gesinde, eine unbedeutende Pachtstelle, übernahm – erst dann begann man ihn ein wenig mehr zu beachten.
Die Leute zerrissen und zersplissen sich damals die Köpfe, aus welchen Gründen wohl Osch die Unmasse von Schulden auf seine Schultern lade. »Aus Dummheit«, meinten die einen, »weil er auch einmal den Wirt spielen will«, die anderen; alle jedoch kamen darin überein, dass er es länger als ein Jahr im Roplain-Gesinde nicht treiben werde. Aber er trieb es doch länger dort. Es vergingen ein, zwei Jahre, und Oschs Habe kam nicht unter den Hammer. Es vergingen noch einige Jahre, und siehe da – statt herab, begann es mit dem Roplain-Wirt bergan zu gehen. Statt der fünf Kühe standen jetzt sieben in seinem Viehstalle, drei Pferde nannte er sein, und die dem Gute zu zahlende Pachtschuld worauf die Hälfte ihrer früheren Höhe zusammengeschmolzen. Außerdem bezahlte er seine Dienstboten mit einer Pünktlichkeit, die seinem Schwiegervater durchaus fremd gewesen war und die den reichsten Wirten im Gebiet als Beispiel dienen konnte. Das war denn auch der Grund, weshalb Osch nie über Mangel an Knechten und Mägden zu klagen brauchte, wie es sein Vorgänger beständig hatte tun müssen, sondern sich die besten Kräfte aussuchen konnte.
So kam es, dass das Roplain-Gesinde mehr und mehr in Ruf kam und Osch, ehe er seine Schulden getilgt, schon wohlhabend, und als er keinen Gläubiger mehr hatte, reich genannt wurde. Und da im Allgemeinen der Reiche auch als der Glückliche gepriesen wird, so konnte es nicht fehlen, dass auch Roplain als solcher angesehen und – beneidet wurde. Und in der Tat, Osch fühlte sich auch nicht gerade unglücklich nach all den überstandenen schweren Zeiten, aber des Lebens ungetrübte Freude genoss er doch auch jetzt nicht, etwas gab's doch, was ihm manchen trüben Augenblick bereitete, manchen schweren Seufzer auspresste, und diese Quelle des Kummers und der Sorge war sein Andreew, sein einziger Sohn. Wohl trug er des Vaters Taufnamen und dessen Züge, aber seinen Charakter hatte er nicht. An wem die Schuld lag, dass er leichtsinnig und liederlich geworden war – ob an dem Vater, der, mit der Not kämpfend, mit dem Tilgen seiner Schulden sich abmühend, zu wenig acht auf die Erziehung seines Sohnes gegeben, ob an der Mutter, welche ihr einziges Kind zu sehr gehätschelt, zu wenig gezüchtigt, ob an Andreew selbst, der die Vermahnungen des Vaters, die freundlichen Belehrungen der Mutter in den Wind geschlagen hatte, – wer konnte das ermessen! Trug der Vater die Schuld, so litt er auch am meisten unter der Entdeckung dieser traurigen Tatsache, weniger oder gar nicht besorgt zeigte sich die Mutter, welche, wie ja meist eines einzigen Kindes Mutter, an die Unfehlbarkeit ihres Andreew glaubte und sich von diesem Glauben selbst durch seine Fehler nicht abbringen ließ, für deren jeden sie leicht eine passende Entschuldigung fand. Und um die Wahrheit zu sagen, so schlecht, dass er kein gutes Haar auf dem Haupte gehabt hätte, war Andreew auch nicht. Nein. Er besaß manche schätzenswerte Eigenschaft. Eine derselben war schon z. B. sein Fleiß. In der Schule hatte er sich freilich nicht durch besonderen Eifer hervorgetan, dagegen arbeitete er zu Hause, dass es eine Freude war, ihm zuzusehen! Mit sechzehn Jahren füllte er bereits die Stelle eines vollständig erwachsenen Menschen aus und handhabte Pflug, Sense und Dreschflegel gleich einem Spielzeug. Neunzehn Jahre alt, war Andreew nicht besser und nicht schlechter als Hunderte seinesgleichen, die, ohne ein anderes Ziel zu kennen, ohne etwas anderes anzustreben, als die Befriedigung ihrer Sinne, dahinleben. Sobald sich ihm nur eine Gelegenheit bot, betrank er sich, war ein großer Liebhabervon Krugs- und dergleichen Freuden, besuchte jeden Club, spielte Karten, das heißt um Geld, wenn er welches hatte, und erlaubte seinem Herzen gern, sich in heimlicher Liebe zu irgendeinem Mädchen zu entflammen. Lange Zeit merkte der Vater von den üblen Eigenschaften seines Sohnes nichts, denn dieser wusste ihm alles, wovon ihm sein Instinkt sagte, dass es des Vaters Missfallen erregen würde, geschickt zu verbergen. Und wie es oft geschieht, dass uns Fremde über den Stand unserer Angelegenheiten die Augen öffnen, so geschah es auch bei Roplain.
Von einem längeren Besuche heimkommend, kehrte er ermüdet in den Kirchenkrug ein, um sich zu erholen. Der Abend brach schon herein. Nachdem er in der Krugsstube eine Weile gesessen, wollte er sich wieder erheben und fortgehen, als zwei junge Menschen eintraten, ein paar Flaschen Bier verlangten und, ohne ihn zu erkennen, vielleicht auch ohne ihn zu bemerken, sich in Oschs Nähe setzten und zu plaudern begannen.
»Aber sage mir doch, Paul«, sprach der eine, nachdem sie eine Weile über allerhand gleichgültige Dinge geschwatzt hatten, und dämpfte seine Stimme bis zum Geflüster, »wie steht es mit Dsen? Du lebst ja in seiner Nachbarschaft und wirst gehört haben, ob er schon gesund ist? Wahrscheinlich wohl noch nicht?«
»Wer gibt das?«, lachte der Angeredete leise, »eine solche Scharte heilt nicht so leicht, wenn sie noch dazu im Kopfe eines Schneiders sitzt!«
»Na, auch im Kopfe eines anderen Menschen würde ein solches Loch sobald nicht verheilen«, sagte der Erste, »das hieß in Wahrheit gut gegeben! War auch nötig. Dsen fing auch an, sich zu hochnäsig zu betragen. Und weshalb schwänzelte er denn den ganzen Abend um Marija Leepkahj, er wusste es doch recht gut, dass sie des jungen Osch Geliebte war!«
»Geh, frag' einmal« versetzte der andere, »es war eine Dummheit von ihm, als ob Mangel an Mädchen wäre! Aber es ist nur ein Glück, dass niemand außer uns beiden weiß, wer an dem Malheur schuld ist, sonst würde es Andreew schlimm gehen. Ich glaube es sicher, dass ihm der Vater zwei solche Löcher in den Kopf schlagen würde, wenn er es erführe; ich kenne ihn wohl, lebte bei ihm ein Jahr als Knecht.«
»Ja«, sagte der Erste, »da werde ein anderer daraus klug! Alle Welt hält den Alten für verständig, streng und so sparsam, dass er einen Kopeken dreimal herumdrehe, ehe er ihn aus der Hand gebe – und der Sohn legt los, dass es eine Art hat! Wie kommt das, Paul?«
Paul lachte herzlich auf, leerte sein Glas und strich seinen flaumigen Schnurrbart zurecht.
»Wie das kommt, Mahrz?«, wiederholte er; »na, das ist auch eine Frage! Der Vater weiß einfach von allem nichts. Du hast keine Alten und weißt deshalb nicht, wie leicht sie sich durch allerhand Dummheiten betölpeln lassen. Besonders noch die Mütter! Bei Gott, über die meinige kann ich nicht klagen, aber Andreews Mutter ist ein Goldstück! Zusammen mit dem Sohne machen sie beide den Alten völlig blind; nun, verstehst du es jetzt?«
Mahrz lächelte und schüttelte den Kopf.
»Wenn auch«, sagte er, »aber so viel Geld, wieviel man Andreew verbrauchen sieht, wird ihm sein Vater niemals geben!«
»Aber du bist mir vernagelt!«, rief Paul aus. »Verdient denn Andreew gar nichts? Und als ob der Sohn eines solchen Wirtes nicht überall Kredit hätte! Die Alte gibt, was sie kann, und wenn das nicht ausreicht – nun, was ist da zu machen?« … Und sich zu Mahrz heranbeugend fuhr er ganz leise fort: »Als Freund kenne ich den Stand seiner Angelegenheiten ganz genau und weiß, dass du es nicht weitererzählen wirst: Andreew schuldet unserem Krüger hier bereits dreiundzwanzig –«
Er vollendete den Satz nicht, sondern rieb schnell den Daumen seiner Rechten an deren Zeigefinger und lächelte.
»Wirklich?« wunderte sich Mahrz.
Roplain erhob sich und verließ die Krugsstube.
*
Als am folgenden Tage der Wirt und die Wirtin sich allein befanden, erzählte er der Frau das gestern Gehörte wieder. »Was sagst du dazu?« fragte er ernst und traurig.
Die Wirtin begann zu weinen.
»Glaubst du denn auch all dem, was die Leute schwatzen?«, sagte sie, »kann unser Andreew fähig sein, solche Räuberstücke auszuführen? Ach Gott, ach Gott, welch schlimme Menschen, welch schlimme Zungen! Was hat nur unser Sohn den Leuten Böses getan, dass sie so von ihm sprechen?«
»Lass uns Andreew selbst über die Sache befragen«, sprach Roplain, öffnete das Fenster und rief nach seinem Sohne, welcher im Gehöft Holz spaltete.
Er kam herein. Ein schöner, kräftig gebauter Jüngling, auf den jedes Elternpaar hätte stolz sein können.
»Hast du am vergangenen Sonntage Dsen im Club getroffen?« fragte der Vater.
Andreew blickte den Vater und dann die Mutter an, welche sich mit einem Schürzenzipfel die Augen trocknete, und erwiderte mit unsicherer Stimme:
»Ja.«
»Nun, so wirst du es wohl auch wissen, wer ihm den Kopf zerschlagen hat?«
Der Sohn versuchte des Vaters strengen, forschenden Blick auszuhalten, indem er antwortete:
»Den Kopf zerschlagen? Davon weiß ich nichts.«
Roplain stieg das Blut in die Wangen.
»So, davon weißt du nichts? Nun, so weiß ich mehr als du: Du selbst hast die Heldentat vollbracht!«, sagte er.
»Wer dir das erzählt hat, der hat gelogen«, versetzte Andreew dreist; »ich sage dir noch einmal, ich habe Dsen nicht geschlagen!«
»Lügner, du!« fuhr der Vater auf, »entblödest du dich nicht, mir ins Gesicht zu lügen, werde ich vielleicht Zeugen holen müssen?«
»Wenn du von Zeugen sprichst, so kannst du nur falsche meinen«, versetzte Andreew, der erprobten Verschwiegenheit seiner Freunde gedenkend.
»Schamloses Kind!« rief der Vater zornbebend aus und schlug Andreew auf die Wange, »ist Paul Puhlit etwa ein falscher Zeuge, sprich?«
»Andreew, Andreew, leugne nicht länger, wenn du schuldig bist«, flehte jetzt die Mutter, sich zwischen Vater und Sohn stellend, um etwaige weitere Tätlichkeiten zu verhindern, »erzürne den Vater nicht noch mehr. Antworte deiner Mutter, die dich fragt: Hast du den Dsen geschlagen?«
»Ja«, erwiderte Andreew kaum hörbar, mit kreideweißen Lippen.
Die Mutter sank auf einen Stuhl und barg ihr Gesicht hinter der Schürze.
»Mit was für einer Geliebten hast du an jenem Abend am meisten getanzt?«, forschte der Vater weiter, besonderen Nachdruck auf das Wort Geliebte legend.
»Mit Marija Leepkahj«
Osch lachte bitter auf.
»Hörst du, Marija«, sagte er zu seiner Frau gewandt, »hörst du, welches die Tänzerinnen deines ehrbaren Sohnes sind? Zwei Kinder hat diese Geliebte schon, willst du der Vater des dritten sein?«
Andreew schwieg still. Die Mutter begann heftig zu schluchzen.
»Wenn man mit so feinen Damen Verkehr hat, so kann man unmöglich mit so wenig Geld auskommen, als du bisher von mir erhalten hast – wie steht es um deine Ausgaben, deine – Schulden?«
Andreew wandte sich ab und antwortete nicht.
»Wie steht es um deine Schulden, rede!«, wiederholte der Vater.
»Du weißt es ja schon, wozu fragst du denn noch?«, entgegnete kleinlaut der Sohn.
»Ich will es aber aus deinem eigenen Munde hören, vielleicht bin ich auch in diesem Punkte falsch berichtet.«
Eine Weile stand Andreew stumm da, sein Gesicht glühte wie im Feuer, seine Blicke hafteten scheu am Boden. Dann trat er, ohne die Augen zu erheben, mit einer hastigen Bewegung an den Vater heran und ergriff dessen Hand.
»Vater, lieber Vater, vergib mir nur noch diesmal«, bat er mit tränenvoller Stimme, »ich weiß selbst nicht, wie das alles gekommen, mein verfluchter Leichtsinn hat mich so weit getrieben – aber ich verspreche dir – ein anderes Mal, in Zukunft – nie mehr Schulden – in Zukunft will ich ordentlich sein –.«
Tränen stürzten aus seinen Augen, er warf sich auf ein Bett und schluchzte.
»Vergib ihm doch!«, bat die Wirtin. Doch dieser mütterlichen Bitte hätte es nicht bedurft. Tränen der Reue sind das beste Wasser, um die Flammen des Zornes zu löschen. Auch bei Osch erloschen sie schnell, angesichts der tiefen Zerknirschung seines Sohnes. Er trat an das Bett, legte die Hand auf Andreews Schulter und sagte:
»Gut, ich will dir glauben, mein Sohn. Doch sei auch ein Mann und halte dein Wort. Gar leicht vergisst man in solchen Augenblicken gegebene Versprechungen – ich hoffe, dass dies bei dir nicht der Fall sein wird. Bedenke auch, dass wir nicht so reich sind, als wir gelten, und richte deine Ausgaben in Zukunft nicht nach unserem Ruf, sondern nach unserem wirklichen Vermögen ein.« –
Diese Worte waren die ersten und die letzten in dieser Angelegenheit. Die Krugsschuld wurde ohne weitere Vorwürfe getilgt und Vater und Sohn lebten wieder im besten Einvernehmen miteinander. Andreew, überwältigt durch die väterliche Milde, war wie verwandelt. Er besuchte keinen Club mehr, blieb nicht mehr sonntags nach dem Gottesdienste »im Gespräch mit Freunden« bis zum späten Abend im Kirchenkruge, ging nicht mehr zu den Nachbarn, »die Zeitungen zu lesen«, hatte sich mit einem Wort wirklich gebessert. So verging mehr als ein halbes Jahr. Roplains Herz wurde von Tag zu Tag leichter, sein Auge glänzte vor Freude, wenn er die schöne, von Gesundheit strotzende Gestalt seines Sohnes ansah, welcher jetzt in allem das verjüngte Ebenbild des Vaters zu werden versprach. Auch die Mutter freute sich, aber nicht über Andreews Besserung, deren bedurfte er ja nicht, sondern über den schönen Einklang, welcher jetzt zwischen Vater und Sohn herrschte.
*
Im Herbste wurde von einigen Knechten ein großartiger Club arrangiert. Man erzählte sich, dass zwei Hirschenhöf'sche Kolonisten, aus der musikalischen Familie Märtz, mit Klarinetten, und zwei Letten, der eine mit einer Violine, der andere mit einem »Bass«, den Abend verherrlichen würden. Schon Wochen vorher wurden die Einladungen erlassen. Auch Andreew wurde aufgefordert. Weshalb sollte er auch nicht nach längerer Zeit wieder einmal hingehen, um seine Füße nach den Klängen einer so prächtigen Musik zu regen! Er sprach mit der Mutter, sie möge dem Vater sagen, dass er auch den Club besuchen würde. Selbst es zu tun, scheute er sich.
»Ich habe nichts dawider, magst hingehen«, sagte der Vater zu Andreew. »Wo anders als in den Clubs kann sich auch ein junger Mensch ein frohes Stündchen suchen, wenn unser verschlafenes Gebiet weder einen Verein – außer dem Feuerversicherungs-Verein – noch eine Büchersammlung besitzt, wo man seine freie Zeit auf nützliche und angenehme Art verbringen könnte! – Bleibe jedoch nicht bis zum Morgen, sondern sei schon vor Mitternacht zu Hause – ich werde dich erwarten«, fügte er bestimmt hinzu.
Andreew versprach es.
Im Club empfingen ihn seine alten Freunde mit unverstellter Freude. Paul Puhlit, welcher seinen Freund schon längst darüber aufgeklärt hatte, wie der Vater hinter dessen Geheimnisse gekommen war, stellte ihm sofort ein halbes Dutzend ihm unbekannter Geliebten vor, und Schneider Dsen – Handwerker sind die eifrigsten Förderer der Clubs und fehlen daher auf keinem derselben – schloss mit ihm in aller Form Frieden. Die Musik war gut, das heißt rauschend und taktfest, mehr Eigenschaften braucht gute ländliche Musik nicht zu haben, und die Fröhlichkeit groß und allgemein. Um Mitternacht hatte sie ihren Höhepunkt erreicht. Andreew hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Sich draußen die vom Tanzen glühende Stirn kühlend, dachte er, was er tun solle. Das dem Vater gegebene Wort brechen? Nein, das durfte er nicht. Aber inmitten dieses Jubels, dieser fröhlichen Musik, erschien ihm des Vaters Befehl kalt und zwecklos. Weshalb durfte er nicht bis zum Schluss des Clubs bleiben? … Da näherte sich ihm Paul. –
»Aber Heide, wo lebst, wo steckst du?«, rief er aus. »Soeben beginnt die Française und du musst mein vis-à-vis sein. Komm eine Geliebte habe ich auch schon für dich besorgt, die Krone des heutigen Abends, die schöne Mada Ssehtmal.«
»Ich muss nach Hause«, entgegnete Andreew.
»Oho! Was soll denn das heißen?« fragte Paul überrascht. »Du bist doch nicht etwa krank geworden, was?«
»Krank! – Krank bin ich nicht.«
»Na, was denn? Verrissen hast du dich doch auch mit niemand?«
»Ich bin schon ermüdet«, sagte Andreew.
»Sprich doch keine Albernheiten!«, versetzte Paul ärgerlich, »ein Kerl wie ein Riese und schon ermüdet. Lächerlich! Erzähle lieber die Wahrheit und sage, dass dich dein Alter mit der Rute in der Hand zu Hause erwartet. Ist es nicht so?«
Wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, so hätte Paul bemerken können, wie sein Freund über und über rot wurde, so aber hörte er nur, wie Andreew kurz auflachte und antwortete:
»Der Alte mit der Rute in der Hand! Wie soll ich das verstehen? Was meinst du damit?« Und Pauls Arm ergreifend, wandte er sich wieder dem Tanzraum zu, um mit der schönen Mada die Française zu beginnen.
Der Tag begann bereits zu grauen, als Andreew nach Hause kam. Er hatte die schöne Mada eine gute Strecke begleitet und für seinen Ritterdienst drei oder vier Küsse erhalten, welche ihn außerordentlich froh gestimmt hatten. Je mehr er jedoch sich dem Roplain-Gesinde näherte, je mehr sank seine heitere Laune, und indem er in das vordere Wirtszimmer trat, fiel es ihm wie ein Stein auf das Herz. Obwohl Andreew die Tür leise geöffnet hatte und die Eltern in dem hinteren Zimmer schliefen, so hatte der Vater doch sein Kommen gehört. Er steckte den Kopf durch die Türöffnung, sah Andreew einen Augenblick an, schloss dann die Tür, und Andreew hörte, wie er sich heftig ins Bett zurückwarf.
Als Andreew ausgeschlafen hatte und um die Mittagszeit aufgestanden war, trat der Vater zu ihm in das Zimmer. Nachdem er eine Weile den Sohn stumm gemustert hatte, sagte er in strengem Tone:
»Weshalb kamst du nicht zur Zeit nach Hause? Du versprachst es doch! – Dass dieses das letzte Mal sei, wo du meinem Befehl nicht gehorchst. Ich werde sonst gezwungen sein, anders mit dir zu verfahren. Lass dir das gesagt sein!«
Damit verließ er Andreew, welcher froh war, dass der Verweis so kurz ausfiel; er hatte sich auf einen viel längeren und strengeren gefasst gemacht. Und doch könnte er eine gewisse Bitterkeit gegen den Vater nicht unterdrücken. Was war es denn für ein großes Unglück, dass er über die bestimmte Zeit geblieben war? Der Vater wusste es doch, dass der Club nicht im Kruge, sondern im Hause eines ordentlichen Wirtes stattgefunden, wo man sich weder betrinken durfte noch konnte! Und dazu hatte er so lange Zeit sich ordentlich gehalten! Das hätte der Vater wohl erwägen sollen, ehe er so harte Worte gegen Andreew aussprach! »Sonst werde ich gezwungen sein, anders mit dir zu verfahren« … Was hatte er damit sagen wollen? Er wollte doch nicht wirklich »die Rute« in die Hand nehmen? …
Am folgenden Sonntage zog Andreew seine Sonntagskleider an, um Paul einen Besuch abzustatten. Denn das, was der Freund ihm frei ins Gesicht gesagt hatte, dass er wahrscheinlich seit der blutigen Geschichte mit Dsen unter des Vaters Zuchtrute stehe, das hatte er von anderen in mehr öder minder verblümter und spöttischer Weise auch hören müssen, und da er sich durch derlei Anspielungen verletzt fühlte, so wollte er zeigen, dass er ebenso frei sei wie früher.
»Wohin gehst du?«, fragte ihn der Vater, welcher bemerkt hatte, dass er sich in der Kleete ankleidete. »Zu Paul«, versetzte Andreew. »Er bekommt die Balss, und ich habe jetzt lange keine Zeitung gelesen.«
»Weißt du, Andreew«, sprach Osch, und ging einige Male in der Kleete auf und nieder, »ich habe dir schon immer etwas sagen wollen: Mir gefällt deine Freundschaft mit Paul gar nicht. Er ist als höchst leichtsinnig verschrien, und ich weiß, dass es wahr ist. Es wäre daher besser, wenn du nicht mit ihm verkehrtest. Willst du dich jedoch von ihm, als von einem alten Schulfreunde, nicht ganz lossagen, nun, so möge er dich hier besuchen. Ich werde nichts dagegen einwenden. Es sieht übrigens auch besser aus, dass er dich besucht und nicht du ihn, denn du bist eines Wirten Sohn, er aber ist nur ein einfacher Knecht. Was die Zeitung betrifft, so werde ich übermorgen nach Riga fahren und dir die Balss oder welches Blatt du willst, kommen lassen, an dem du dich dann sattlesen kannst. Ohne Zeitung kann man ja auch nicht auskommen, man lebt wie im Sacke!«
Zu dem Tropfen Wermut, welcher sich schon in dem Herzen Andreews befand, kam jetzt ein zweiter hinzu, den selbst die Freude über die in Aussicht gestellte Zeitung nicht versüßen konnte. Nun verbot ihm gar der Vater, seine Freunde zu besuchen! Was würde nicht noch kommen! … Aber er gehorchte und legte die Sonntagskleider, nachdem er etwas entgegnet hatte, wieder ab.
»Aber was soll ich denn jetzt zu Hause anfangen?« sagte er halblaut zu sich, und hängte die Kleider in den Schrank.
»Mein Lieber, was hast du denn an anderen Sonntagen getan?«, sprach der Vater, »du könntest wohl auch einmal das Gesangbuch oder die Bibel zur Hand nehmen – eine Schande wäre das nicht!«
Der Sohn wandte sich ab, damit der Vater nicht sein Lächeln bemerkte. Wollte der Alte wirklich ein altes Weib aus ihm machen! Ins Zimmer gekommen, fing er mit dem Knecht Adam an, »um Zündhölzchen« zu spielen.
Die Woche verging. Am Sonntage war der Vater noch nicht aus der Stadt zurück. Andreew ging allein zur Kirche. Nach dem Gottesdienste traf er im Kruge Paul.
»Nun, weshalb ließest du mich am vergangenen Sonntag umsonst auf dich warten?« war das erste, was dieser ihn fragte.
»Was soll man tun?«, antwortete Andreew, »wenn der Vogel im Bauer sitzt und das Bauer verschlossen ist, wie soll er dann entkommen?«
»So! Also du stehst allen Ernstes unter polizeilicher Aufsicht, nun, ich gratuliere!«, rief Paul aus. »Aber was ist deinem Alten eigentlich eingefallen, Andreew?«
»Geh, frag' ihn! Er fängt nachgerade an, mich wie ein kleines Kind zu behandeln! Ich wollte wohl keinem davon etwas erzählen, aber vor dir habe ich von jeher keine Geheimnisse gehabt, und so sollst du es wissen.«
Und Andreew klagte dem Freunde sein Leid, indem er ihm ohne Rückhalt alles erzählte, was zwischen ihm und seinem Vater vorgefallen war.
»Wahrhaftig, ein komischer Kauz, dein Alter!«, wunderte sich Paul. »Will er dich zum Mönch machen? Und die Freundschaft mit mir findet er auch anstößig? Na! – Aber dich zu besuchen erlaubt er mir doch! Was sollen wir jedoch bei dir anstellen? In Gegenwart deiner Alten können doch junge Leute wie wir nichts Vernünftiges vorbringen. Alte haben ihre Rede, Junge ihre! – Aber lass uns nicht so trocken dasitzen, wie Heringe ohne Lake. Wer weiß, wann sich uns wieder so günstige Gelegenheit bietet, ein Glas Bier zusammen zu trinken. Und ohne dich, glaub' oder glaub's nicht, schmeckt mir nichts halb so, als mit dir! Hast du Geld?«
Andreew errötete und antwortete: »Nein.«
»Dacht' ich's doch!«, lachte Paul, »der Alte ist nicht so dumm, den einen Flügel zu stutzen und den anderen nicht. Sei jedoch ruhig. Solange ich noch habe, hast du auch! Meine Alte hat Lämmer verkauft und als christliche Mutter mich dabei nicht vergessen. Sieh her!« Und erzog aus der Tasche seines Beinkleides drei zerknitterte Einrubelscheine.
»Aber das ist auch meine ganze augenblickliche Habe«, fuhr er fort, »du bekommst nicht einen roten Groschen vom Wirt, welcher jetzt Geld für die Herbstpacht sammelt. Ich denke jedoch, dass dies für heute Abend genügen wird.«
Es genügte. Nein, es blieb sogar noch etwas übrig. Als spät um Mitternacht die Freunde Arm in Arm den Krug verließen, klimperten noch fünfzehn oder zwanzig Kopeken in Pauls Tasche.
»Wahrhaftig, du bist der beste Kerl auf der ganzen Welt!«, sprach Andreew unterwegs mit halbsteifer Zunge, »bei Gott, der allertreueste, obwohl du daran schuld bist, dass ich in das verdammte Pech geraten bin – bei Gott!«
»Glaub's mir«, beteuerte Paul mit ebensolcher Zunge, »glaub's mir, dass durch mich nie und nimmermehr die geringste Ungelegenheit über dich kommen wird – nie und nimmermehr! Und dafür werde ich schon sorgen, dass wir noch manches Mal, außer in Roplain, zusammenkommen, trotz deines wunderlichen Alten! – Wer konnte auch ahnen, dass die Wände Ohren haben!«
Als die Freunde scheiden mussten, erneuerten sie nochmals die Freundschaftsversicherungen.
»Leb' wohl, Brüderchen!« rief Andreew und schüttelte heftig Pauls Hand.
»Leb' wohl!«, erwiderte dieser und umarmte Andreew.
»Freund auf ewig!«
»Freund auf ewig!« wiederholte Paul.
Nachdem sie sich ein paarmal geräuschvoll geküsst hatten, trennten sie sich, und jeder ging seines Weges.
*
»Wann kamst du gestern nach Hause?«, fragte die Mutter am Montagmorgen Andreew, eine Schüssel Grütze im Wirtszimmer für ihn auf den Tisch stellend, »ich hörte dich nicht.«
»Ich weiß nicht«, antwortete der Sohn kurz, mit dem Löffel in der Grütze, welche ihm ganz widerlich vorkam, herumrührend, »was wäre dann?«
»Nichts, ich dachte bloß, dass der Vater, wenn er erführe, du habest gestern so lange im Kruge gesessen, wieder sehr böse sein würde. Du hättest das nicht tun sollen, Andreewin.«
»Nicht tun sollen!«, fuhr Andreew heftig auf, dessen Sinne sich von dem nächtlichen Rausche noch immer nicht völlig beruhigt hatten, und warf den Löffel auf den Tisch, »nicht tun sollen! Was hab' ich denn getan? was verbrochen? Fängst du jetzt auch an, gleich dem Vater, über mich herzufallen? Einmal in einem halben Jahre bleibe ich länger aus dem Hause, und gleich werde ich mit Vorwürfen überhäuft! Wollt ihr denn wirklich, dass ich zu Hause faulen soll, die alten Weiber hinterm Ofen hervorjagen und mich selbst dorthin hocken?«
»Zanke dich doch nicht, zanke dich nicht«, suchte die Mutter Andreew zu beruhigen; hob den Löffel, der auf die Erde gefallen war, auf, wischte ihn sorgsam ab und steckte ihn wieder in die Grütze. »Ich sage ja auch von meiner Seite nichts, wenn nur nicht der Vater –«
»Der Vater!«, unterbrach Andreew die Mutter, sprach aber in gelinderem Tone als vorhin, »was will der Vater eigentlich von mir? Alle Welt lacht, dass man aus mir einen Mönch machen wolle, dass man mich in einem Fass halte und durch's Spundloch füttere! Bei Gott! Wenn man in der Jugend nicht einen frohen Augenblick genießen soll, wann ist denn die Zeit dazu? Auf Krücken werde ich nimmermehr zum Kruge laufen, auf drei Beinen nicht tanzen! – Ich habe gestern mit Paul einige Flaschen Bier und ein paar Schnäpse getrunken – wem hat das Schaden gebracht? Bin ich dadurch schlechter geworden? Hat meine Gesundheit darunter gelitten? Ich war heute Morgen ebenso wie alle anderen bei der Arbeit und habe sogar mehr verrichtet, als jeder einzelne von ihnen. Blick' mich, blick' Adam an, des Vaters lieben Knecht, der keine Nacht ohne Schlaf verbracht hat – wie sieht er aus, wie ich! Wie eine Gräte im Vergleich zum Fisch … Und wenn ich allein so leben würde! Von meinen Bekannten ist jedoch keiner besser als ich, ausgenommen Adam, einen Menschen, an dem sich der Herrgott auch versehen, indem er nicht ein Weib aus ihm gemacht hat. Und keinen Vater, keine Mutter hört man so unzufrieden mit ihrem Kinde sein, als euch mit mir!«
»Sage nicht euch«, sprach die Mutter in begütigendem Tone, »ich habe ja niemals gesagt, dass ich mit dir unzufrieden sei. Es ist ja wahr, vergeht die Jugend ohne Freude, das Alter bringt keine mehr, ich sehe es bei mir selbst. Aber ich habe nur Furcht, dass du dich nicht wieder mit dem Vater verfeindest, und deshalb sprach ich.«
Diese Furcht war denn auch die Ursache, weshalb der Vater, heimgekehrt, nichts von Andreews Zusammentreffen mit Paul erfuhr. Die Mutter schwieg davon vollständig, und wer anders sollte dem Vater davon Mitteilung machen? Das Gesinde, einschließlich des guten Adam, gewiß nicht. Weshalb sollte es sich in die Familienangelegenheiten des Wirtes mengen? Was konnte daraus Gutes entstehen? Des Wirtes Zorn gegen die Seinigen, der Wirtin und Andreews Feindschaft gegen das Gesinde, wären die Folgen solcher Plapperhaftigkeiten gewesen. Man muss eben zu leben wissen!
Und so geschah es denn oft und öfter, dass Andreew, während der Vater in diesen und jenen Geschäften aus dem Hause war, zusammen mit Paul bald den Krug, bald ihre Schätze, bald die trockenen, bald die nassen Clubs besuchte. Aber das fing auch an zu geschehen, während der Vater zu Hause war. Er erlaubte ja dem Sohne, die Clubs zu besuchen, und dieser war jetzt so klug, zur bestimmten Zeit zu Hause zu sein. Aber kann man, während man zum Club geht, sich nicht verirren und anderswo hingeraten? Genügte es nicht manchmal, dass man sich nur, um den Schein zu wahren, im Club ein wenig zeigte und gleich darauf wieder verschwand … Und dann schlief ja Andreew in seinem eigenen Zimmer und sah eines Tages, wie die Katze durch dessen geöffnetes Fenster herein- und hinaussprang …
Ja, so kam es, dass Andreew, während sein Vater immer froheren Sinnes in die Zukunft schaute, immer fester und fester umschlungen wurde von den Fesseln der Leichtfertigkeit, immer weiter sich von dem Wege entfernte, auf welchem ihn Roplain wandeln wähnte.
Wohl erhob sich manchmal in seiner Brust eine drohende Stimme, die sprach: Du tust nicht recht, indem du den Vater so hintergehst, wohl schlug ihm manchmal seltsam das Herz, wenn er dem ahnungslosen Vater schamlose Lügen auftischte; aber dann beruhigte er sich wieder schnell, indem er sich sagte, dass der Alte ihn ja selbst zu all dem zwinge, indem er ihm Genüsse untersage, zu welchen ihn seine Jugend berechtige.
Aber so ganz konnte er sein Gewissen doch nicht beschwichtigen, wie ehedem. Wenn er früher etwas vor dem Vater verborgen hatte, so hatte er sich mit dem Gedanken beruhigen können, dass er vielleicht, wenn er es auch erführe, nicht zürnen würde. Jetzt wusste es Andreew genau, dass er gegen das feste Gebot seines Vaters handelte.
*
Es war wieder Sommer, der Vorabend eines großen Marktes. Die umherliegenden Krüge waren voll von Zigeunern, Viehhändlern und allerlei Volk, welche alle vom morgenden Tage auf ehrliche oder unehrliche Art zu profitieren hofften. Auch der dem Roplain-Gesinde nahegelegene Kirchenkrug wimmelte von Menschen.
Roplain war nicht zu Hause, sondern in der Stadt. Beim Fortfahren hatte er dem Sohne wiederholt angesagt, falls er nicht zurück sein sollte, in den Nächten vor und nach dem Markte die Pferde streng zu bewachen, denn bekanntermaßen gehen die Pferdediebe in diesen Nächten am eifrigsten ihrem Handwerk nach. Deshalb hing auch, als Andreew und Adam in der Dämmerung die Pferde zur Nachthut ritten, letzterem eine Flinte über der Schulter.
»Was glänzt da wie Silber?« sagte Adam, längs dem Brunnen reitend, von welchem, wegen seiner großen Entfernung vom Hause, das Wässer nur zum Kochen der Speisen und zum Trinken geholt wurde, »es scheint Geld zu sein.«
»Es ist ein Schlüssel«, erwiderte Andreew, vom Pferde springend und den Gegenstand aufhebend, »unseres Schrankes Schlüssel – die Mutter wird ihn verloren haben.«
Er steckte ihn in die Tasche.
»Ich werde hohen Finderlohn verlangen, wenn es eures Geldschrankes Schlüssel ist« scherzte Adam, sich umwendend.
»Ich weiß nicht, ob du das können wirst, wenn der Finderlohn sich nach dem Gelde wird richten müssen, welches hinter dem Schlüssel liegt.«
»Nun, ein paar Hunderte befinden sich doch wenigstens hinter ihm!«
»Kann ich nicht sagen, du weißt ja, der Vater hält mich für einen schlechten Geldzähler und tut es daher immer selbst!« lachte Andreew. –
Als die eisernen Koppeln den Pferden angelegt waren und Adam ein Feuer angemacht hatte, sagte Andreew nach einer Weile:
»Weißt du was, Adam? Sei so gut und bleib ein Stündchen allein bei den Pferden. Ich möchte gern einen Augenblick zum Kruge hinlaufen und nachsehen, wie bunt es dort hergeht. Es ist ja nicht weit, und der Teufel wird die Pferde unterdessen nicht holen! Verschlafen bist du auch nicht, und ich werde dir dafür wieder ein anderes Mal gern zu Willen sein.«
»Heute Abend solltest du nicht gehen!«, versetzte Adam.
»Wieso? Warum nicht? Hast du Angst vor Dieben?«
»Das nun wohl nicht, wozu hab' ich denn diese« – er schlug auf die Flinte – »hier mit! Aber mir scheint es, dass wir Gewitter bekommen werden. Die Luft ist sehr drückend und – sieh dorthin!« Er zeigte nach Südwesten, wo ein düsteres Gewölk am Horizont hing. »Der Regen wird dich unterwegs überraschen, und du hast nichts als einen dünnen Rock an.«
»Ach, bis dieser Plunder in die Höhe gestiegen ist, bin ich schon zurück, er, bewegt sich ja fast gar nicht!«
»Der Gang solcher Wolken ist nicht zu berechnen«, erwiderte Adam, dürres Holz ins Feuer werfend, »sie können schnell den Himmel überziehen. Bleib lieber, komm, krieche unter meinen sicheren, dicken Mantel und lass uns plaudern – was kann's denn da auch zu sehen geben!«
»Gesteh lieber die Wahrheit: dir bangt vor Dieben!« sagte Andreew.
»Meinetwegen, so geh, wenn du das denkst!«, rief der Knecht aus, ein wenig ärgerlich darüber, dass man seinen Mut in Zweifel zog.
»Nun denn: auf Wiedersehen!«, sprach Andreew und eilte fort.
Die Nacht war so still, dass Adam seinen festen Schritt noch lange vernehmen konnte.
»Das Gewitter wird ihn überraschen«, sprach er zu sich selbst, »heute dieses, über kurz oder lang ein anderes, denn so kann es nicht lange gehen. Armer Junge, arme Eltern!« Er seufzte auf und versank, in das Feuer starrend, in Gedanken. –
Nachdem er ungefähr eine halbe Werst gegangen war, blieb Andreew plötzlich vor einer großen Tanne stehen, deren untere Zweige fast die Erde berührten. Forschend blickte er durch dieselben, es war jedoch schon so dunkel, dass man fast nichts mehr unterscheiden konnte.
»Guten Abend!« sagte da eine Stimme, und die Gestalt Pauls löste sich von dem Stamme des Baumes los. »Aber du lässt mal lange warten! Ich dachte schon, du würdest gar nicht kommen!«
»Heidenmensch, wie konnte dir das in den Sinn kommen? Wann hab' ich dir schon mein Wort gebrochen, was?«, versetzte Andreew, des Freundes Hand schüttelnd, »wenn mich Adam nicht beurlaubt hätte, was er beinahe auch nicht wollte, so wäre ich wenigstens gekommen, es dir zu sagen!«
»Und allein würde ich nicht zum Kruge gehen«, sprach Paul, »aus zwei Gründen nicht; erstens hab' ich verteufelt wenig Geld, und zweitens, ohne dich – du weißt schon!« Und vertraulich sich an Ahdreews Arm hängend, fing er an zu gehen.
»Wie steht's um deine Kasse?«, fragte er nach einer Weile.
»Man kann sich in ihrem Boden spiegeln!«, lachte Andreew, »schauderhafte, nie dagewesene Ebbe! Nur mit Müh' und Not hab' ich einige Lehmstücke zusammenkratzen können, von denen ich jedoch hoffe, dass sie uns heute Abend die Köpfe warm machen werden!«
»Nein, das meinte ich nicht!«, sprach Paul, den Freund zu langsamerem Gehen zwingend. »Das ist sehr schlimm! Hör', was ich dir schon neulich mitzuteilen vergaß: Marija Leepkahj muss verrückt geworden sein! Denke dir, sie trug mir auf, da sie dich gar nicht mehr zu Gesicht bekomme, dir zu sagen, dass sie nicht länger auf die anderen fünfzig Rubel, die du ihr versprochen hast, warten wolle – denke dir, nicht länger als bis Martini! Du mögest das Geld hernehmen, wo du wollest, und wenn du nicht zahlst, so geht sie zum Vater!«
»Ist sie nicht gescheit!« rief plötzlich Andreew erschrocken aus und blieb stehen, »wahrhaftig, die Person ist toll geworden! Wo soll ich so viel Geld herreißen in so leeren Zeiten?«
»Ich stellte ihr das ja auch vor«, versetzte Paul, »sie erwiderte jedoch, dass sie das nichts angehe, sie habe lange genug gewartet und jetzt dringend Geld nötig.«
»Bei Gott, dann geht's mir schlimm! Aber wie kommt sie zu dieser greulichen Drohung? Ob nicht jemand sie gegen mich aufgestachelt hat? … So viel Geld! Fünfzig Rubel zu schaffen, wo ich nicht weiß, wo fünfzig Kopeken herzunehmen! Auf deine Hilfe kann ich ja auch nicht mehr rechnen?«
»Leider nein«, erwiderte Paul trübe, »du weißt, wie schwer es mir ankam, die ersten fünfzig für dich zusammenzukratzen – und damals waren bessere Zeiten. Zwar habe ich wohl noch einige Rubel bei meinen alten Wirten ausstehen, aber die zu bekommen ist jetzt ganz unmöglich. Dazu sitzt mir selbst das Pech auf dem Halse – werde wahrscheinlich Mada Ssehtmal heiraten!«
»Was soll man machen, schlechte Zeiten!«
»Pech, furchtbares Pech!«
Eine Weile schritten die beiden schweigend weiter. Jeder seinen Gedanken nachhängend.
»Ach – Gott wird schon sorgen! Was soll man sich da so viel grämen!«, begann Paul wieder.
Andreew seufzte auf und sagte nichts.
»Man müsste versuchen, das dicke Kringelweib totzuschlagen!«, sagte Paul plötzlich, wie es bei Leichtsinnigen geschieht, einen scherzenden Ton anschlagend, »man sagt, sie sei reich, und dann wäre uns geholfen.«
»Wie kannst du nur solche Dummheiten sprechen!«, versetzte Andreew, dem das missfiel.
»Ach, glaube doch nicht, dass ich dir erlauben werde, dir lange über solchen Unsinn den Kopf zu zerbrechen«, lachte Paul. »Das würde uns ja den ganzen Abend verderben. Kommt Zeit, kommt Rat. Bis Martini sind's noch etliche Wochen, in so langer Zeit lässt sich vieles tun. Daher munter, Bruder! Hörst du schon, wie's im Kruge brummt und summt, wie in einem Bienenkorbe?«
Aber kam der brummende, summende Ton wirklich aus dem Kruge oder vom Himmel, aus der schwärzer und schwärzer werdenden Wolke? …
*
Nachdem sie die Kleeten und die Milchkammer verschlossen hatte, blieb Mutter Roplain noch einen Augenblick im Gehöft stehen und blickte nach dem dunklen, langsam wachsenden Gewölk hinauf.
»Wir bekommen heute Nacht Gewitter«, murmelte sie; »ich dacht' es, die Schwalben flogen den ganzen Abend sehr niedrig, und der Regenpfeifer schrie im Walde. Welch schwere, drückende Luft … wie ein Alp liegt sie mir auf der Brust! Ah! … Wie seltsam mir ums Herz ist, ganz eigentümlich … kalt! … Wo kommt der kühle Luftzug her, der mich fasste? Und wieder welch unerträgliche Hitze!« …
Ein Schauder lief ihr durch die Glieder, sie trat ins Haus, legte die Schlüssel fort und setzte sich dann in der Gesindestube an den Tisch zum Abendbrot nieder.
Aber ohne etwas genossen zu haben, legte sie den Löffel wieder fort.
»Wirtin, schmeckt Ihnen die Grütze nicht?« fragte das Mädchen, welche das Abendessen bereitet hatte, »ich glaube, sie doch gut gekocht zu haben!«
»Ich habe heute Abend keinen Hunger«, erwiderte die Wirtin, und ging in das vordere Wirtszimmer. Dort befand sich ein Schrank, hinter diesem stand Andreews Bett. Die Wirtin trat an das Bett, machte es auf und erinnerte sich erst dann, dass Andreew heute Nacht draußen bei den Pferden schlafen werde. Wie zerstreut sie doch heute war! … Sie trat ins andere Zimmer. Es erschien ihr in dem seltsam durch die dunkle Wolke zerteilten Zwielicht fremd und so leer. Aber es befand sich doch alles dort ebenso wie immer! Ihr und ihres Mannes Betten, der Tisch, die Stühle – nichts war von seinem Platze gerückt. Weshalb herrschte hier eine solche Stille? Stand die Uhr nicht? Richtig, jemand musste sie angehalten haben. Sie berührte den Pendel, welcher, nachdem er einige Schwingungen gemacht hatte, wieder stehenblieb. Wiederum dieselbe unheimliche Stille. Eine unerklärliche Angst überfiel die Wirtin, sie ging schnell in die Gesindestube zurück.
»Ich weiß nicht, was geschehen wird«, sagte sie zu dem Gesinde, »aber mir ist nicht gut um's Herz. Wird der Blitz diese Nacht bei uns einschlagen oder werden uns unsere Pferde gestohlen werden? … Peterit, du könntest recht hinlaufen und Andreew und Adam ansagen, dass sie ja acht auf die Pferde geben! In solchen Nächten kann man nie wachsam genug sein!«
»Lass doch nicht, Wirtin«, sagte Adams Vater, sich sitzend in seinem Bette erhebend, »lass doch den müden Hütejungen keine unnützen Schritte machen! Auch wenn Adam allein bei den Pferden wäre, würde dir keines gestohlen werden, dafür steh' ich!«
»Nun, so mag's auch bleiben, Peterit. Aber das Vieh muss auf jeden Fall aus dem Stalle getrieben werden, das Vieh und die Schafe. Geh Peterit, geht Mädchen, helft! Wer kann wissen, was geschieht!«
Die Wirtin setzte sich auf einen Brettstuhl, um die Mädchen zu erwarten.
»Wenn doch der Wirt schon zu Hause wäre!«, rief eine Alte in einem Winkel aus.
»Ja, wenn er schon zu Hause wäre!«, seufzte die Wirtin, »das ist auch mein Wunsch. Ich würde gleich viel ruhiger sein. Unterwegs kann es einem verschieden ergehen. Vielleicht ist ihm ein Unglück geschehen, und mein Herz ahnt es und ist deshalb so unruhig.«
»Gott beschütze und bewahre ihn!«, sagte Adams Vater, »Wirtin, sprich nicht so!«
Da zerriss ein schmaler, weißer, schlangengleicher Blitz das düstere Gewölk und verschwand.
Der Alte bekreuzigte sich.
»Gott sei uns allen gnädig!«, murmelte er.
»Ach, Herr Jesus Christus!« betete laut eine angstvolle Stimme.
»Sind die Stalltüren auch ordentlich geschlossen?«, fragte die Wirtin die hereinkommenden Mädchen mit merklich bebender Stimme.
»Ja«, antwortete das eine. »Aber, Wirtin, Ihnen muss das Blut zu Kopfe gestiegen sein, werden Sie nicht ein Glas kaltes Wasser trinken? Ich werde es holen.«
»Tu' es, meine Tochter, vielleicht hilft das etwas.«
Sie trank, ging dann hinein und versuchte zu schlafen. Umsonst! Sobald sie die Lider schloss, tanzten vor ihren Augen feurige Flämmchen, die kamen und schwanden, kamen und schwanden … Sie erhob sich, öffnete das Fenster, damit frische Luft ins Zimmer könne; aber draußen herrschte die gleiche Schwüle wie drinnen – sie schloss das Fenster wieder.
Sich auf die Ofenmauer setzend, faltete sie die Hände und fing an, die Verse eines geistlichen Liedes vor sich herzusagen. Das beruhigte sie ein wenig, ihre Augenlider sanken nach einer Weile schwer herab – sie verfiel in einen leichten Schlummer.
Plötzlich fuhr sie mit einem Schrei empor – das Zimmer war hell erleuchtet, das Haus brannte. Sie wollte hinauseilen, um das Gesinde zu wecken – da stand jedoch auf der Schwelle ihr Mann, ein brennendes Licht in der Hand haltend.
»Was gibt's? Weshalb schriest du? Bist du nicht gesund?«, fragte der Wirt, erschrocken in das bleiche, veränderte Gesicht seiner Frau blickend. »Sprich doch, Marija!«
»Gott sei Dank, dass du zu Hause bist!«, rief die Wirtin mit erhobenen Händen aus, »Gott sei Dank! Mir fällt es wie ein Stein vom Herzen, ja, nun ist alles wieder gut. Wenn du wüsstest, wie ich mich um dich gesorgt habe – oh!«
Einige Tränen rollten ihr die Wangen hinab.
»Du bist krank«, sagte der Wirt besorgt, »sprich, was fehlt dir?«
»Nein, nein«, antwortete die Wirtin, sich beruhigend, »ich bin nicht krank, es war nur die Sorge um dich, die mich so aufregte.«
Sie trocknete ihre Tränen und setzte sich wieder auf die Ofenmauer.
Der Wirt entledigte sich seines Mantels, zog etwas Glänzendes aus dessen einer Tasche und legte es auf den Tisch.
»Also du bist nicht krank?«, fragte er, den Mantel weghängend. »Gottlob, aber mir ist, als ob du mir etwas Schlimmes zu sagen hättest. Ist alles zu Hause in Ordnung – wo ist Andreew?«
»Zu Hause ist alles wie gewesen, Andreew hütet mit Adam die Pferde«, berichtete die Wirtin.
»Das ist gut, Gott sei Dank!« sprach Roplain. »Mir war die ganze Fahrt über um die Pferde bange. Aber jetzt muss ich die Einkäufe und den Wagen in Sicherheit bringen; bald wird das Gewitter da sein. Ich wäre auch noch nicht zu Hause, aber um ihm zu entgehen, beeilte ich mich.«
Der Wirt brachte nach einer Weile eine Menge verschiedener Pakete herein, welche er teils auf den Tisch, teils auf die Stühle legte, und ging dann wieder hinaus.
Die Wirtin erhob sich und trat an den Tisch. Das Erste, was ihr in die Augen fiel, war ein kleines neues Pistol, welches unverhüllt dalag. Die Wirtin erfasste dasselbe und betrachtete es von allen Seiten. Sie hatte noch nie ein Pistol in der Hand gehabt … Wie freundlich die kleine Waffe aussah, konnte eine solche wirklich den Tod bringen? Wie konnte der Tod aus diesem kleinen, runden Löchlein hervorkriechen – der große, furchtbare, unerbittliche Tod? … Wunderten sich darüber auch diejenigen, welche dieses zierliche Ding gegen die eigene Brust kehrten und wussten, dass der Tod sie im nächsten Augenblick verschlungen haben würde? … Aber woher kamen ihr all diese wunderlichen Gedanken, früher hatte sie nie so gedacht. War sie vielleicht doch krank, wie ihr Mann sagte? … Sollte sie durch diese Waffe ihr Leben verlieren? … Sie schüttelte sich, legte das Pistol behutsam zurück auf den Tisch und öffnete ein rundes Päckchen. Eine Mütze für Andreew, ein seidenes Tuch für sie. Das erste seidene Tuch! Bisher hatte sie nur Kattun, gleich den ärmsten Mägden, um den Kopf gebunden. Jetzt war sie anderen Wirtinnen gleich! Nein – jetzt war sie die erste unter ihnen! Denn welche konnte sich mit der Roplaineete messen, wenn sie sonntags zur Kirche ging, schön geputzt, neben sich den Sohn, kräftig wie eine Eiche, schön wie der Tag? …
Ein schwacher, dumpf grollender Ton durchzitterte die Luft. Der Wirt trat ins Zimmer.
»Der Wagen ist geborgen, das Pferd sicher eingeschlossen«, sagte er, »und jetzt zur Ruhe. Ah – du hast dir schon die Einkäufe angesehen!«
»Ja, für wen hast du das hübsche Pistol besorgt?«
»Für mich selbst. Weißt du, man fährt doppelt so sicher mit solch einer Waffe. Ich fuhr diesmal ganz allein über die Kangern'schen Berge, hatte aber nicht im mindesten Angst. Als ich glücklich herüber war, schoss ich den einen Lauf in die Luft, um das Pistol zu probieren, es knallt gut – lauter, als man es von solch einer kleinen Waffe erwarten könnte. Doch gib mir den Schlüssel zu meinem Schrank, ich möchte sie noch heute Abend fortlegen.«
»Ich habe den Schlüssel verlegt, das kann ja ebenso gut auch morgen geschehen«, antwortete die Wirtin, nachdem sie vergebens die Taschen zweier Kleider durchsucht hatte.
»Meinetwegen.«
»Aber möchtest du nicht noch etwas essen?«, fragte die Frau.
»Nein, schlafen, schlafen ist das Beste nach solch einer Fahrt!« versetzte Roplain und löschte das Licht.
Aber obgleich er sehr ermüdet war, versank er doch nicht, durch die seltsame Unruhe der Frau erregt, in einen festen Schlaf.
Das Gewitter stieg höher und höher.
*
Während so im Roplain-Gesinde alles verstummte, fing es im Kirchenkruge an, immer lebhafter, immer lustiger herzugehen. Manche sangen, manche tanzten sogar, viele tranken lärmend Brüderschaft und schworen sich ewige Freundschaft, die vergessen war, ehe noch der Rausch verging, in dem sie geschlossen worden. Etliche spielten Karten. Eine Partie in der großen Schankstube, eine andere – das auserwählte Volk des Krügers – in einem kleineren Nebenzimmer, wozu nicht jedermann der Zutritt offenstand.
Unter den Bevorrechteten, die dieses Heiligtum des Mammons betreten durften, befanden sich natürlicherweise auch die beiden intimen Freunde des Krügers – Andreew und Paul.
Mit heißen Köpfen und glänzenden Augen standen sie da, an die Wand gelehnt, und sahen dem Spiel zu. Es war sehr interessant. Ein sommersprossiger Pfefferkuchenhändler hatte ein dickes Taschenbuch vor sich liegen, aus welchem er, gerade als ob es nie geleert werden könnte, einen Zehnrubelschein nach dem anderen hervorzog und verlor – denn er war stark betrunken. Man erzählte sich, dass er kurz vorher auf einem anderen Markte über dreihundert Rubel gewonnen habe, die ihm jetzt wieder »abzunehmen« jedermanns heilige Pflicht sei. Ein dicker Viehhändler war nicht so betrunken, spielte aber unvorsichtig und geriet leicht in Hitze. Einmal verlor er sechzig Rubel, ein zweites Mal gewann er dagegen wieder fünfundsiebzig. Am besten spielte ein ältlicher Mann mit herrlichem Bart, welcher ein prächtiges Modell zu einem Moses abgegeben haben würde, wenn er nicht zu viel Farben auf der Nase und zu viel Gesetzestafeln in der Hand gehabt hätte.
Nachdem sich die Freunde lange Zeit das wechselnde Glück und die glücklichen Menschen, welche mit Geld »wie mit Kaff« umgehen konnten, angeschaut hatten, stieß endlich Andreew Paul leise an, und beide zogen sich in eine Ecke zurück.
»Wenn wir auch Geld hätten!«, sagte Andreew.
Paul zuckte die Achseln. »Wenn wir hätten! Aber wo hernehmen? Wenn wir nur fünfundzwanzig oder auch nur zwanzig Rubel zum Anfangen hätten, ich stehe dafür, dass wir beide zusammen, wenn nicht mehr, so doch die notwendigen fünfzig Rubel gewinnen würden. Aber was soll man machen? Beim Krüger sitzen wir schon zu tief drin, der pumpt uns nichts mehr. Könnte nicht deine Alte –?«
»Alte –?«
»Nein, die wird nicht, die darf nicht. Aber mir fiel soeben etwas ein«, flüsterte Andreew. »Ich habe bei mir den Schlüssel des Schrankes, in welchem meines Vaters Geld steht. Der Vater ist nicht zu Hause, du weißt, ich kann das Fenster meines Zimmers auch von außen öffnen. In meinem Zimmer steht der Schrank. Wie wär's, wenn ich das erforderliche Geld von dort holte? Morgen lege ich ja alles – vielleicht mehr noch – wieder zurück. Was meinst du?«
»Ich meine, dass wir heute Nacht nie gesehenes Glück haben werden!«, erwiderte Paul hastig. »Mensch, weshalb ist dir das nicht schon früher eingefallen? Aber tut nichts, dafür sind ihre Köpfe schon um so viel wärmer geworden als die unsrigen. Ah, wie wir sie verledern werden! Den bunten Pfefferkuchen, den dicken Borg, die Blaunase und alle Übrigen! Nur sei aufmerksam auf unsere Zeichen!«
»Ich gehe also!«
»Geh, halte dich nicht auf und sei bald zurück.«
Er begleitete Andreew bis zur Krugstreppe.
»Teufel, wie hoch der Bleiklumpen schon gestiegen – – ha, welch ein Blitz! Andreew, Andreew!«
Paul lief von der Treppe herunter und rief noch einmal nach seinem Freunde. Er sollte nicht gehen, er sollte zurückkehren.
Andreew hörte aber nicht mehr, und besorgt kehrte Paul in den Krug zurück.
Obwohl es fast rabenschwarze Nacht ringsum war, so schritt Andreew doch schnell vorwärts, denn es war ja nicht das erste Mal, dass er den Weg vom Kruge nach Hause im Dunkeln machte. In der Nähe des Gesindes verlangsamte er jedoch unwillkürlich seine Schritte. Der kleine Rausch, den er gehabt, war ziemlich vergangen, er begann zu überlegen. Weshalb näherte er sich so vorsichtig dem Hause, was wollte er tun? Wie, er wollte von des Vaters Eigentum nehmen, ohne dass der davon wusste – wer tat so? … »Stiehl nicht, bestiehl nicht deinen leiblichen Vater!« warnte ihn eine Stimme. Unsinn! Wollte er denn stehlen, wirklich stehlen? Nein, gewiss nicht, ein Dieb hat nicht die Absicht, das Genommene wieder zurückzulegen, Andreew jedoch hatte sie. »Aber, wenn du nichts mehr zurücklegen kannst, wenn du alles verspielst, was dann?« … Das konnte nicht geschehen; wenn er mit Paul im Einverständnis spielte, so mussten sie gewinnen. Ja, sie mussten. Und dann, wenn er das Geld auch wirklich stahl, desto besser! Er stahl es ja doch nur für eine Nacht, und gestohlenes Geld bringt Glück! Andreew entsann sich, vor kurzem in der Zeitung gelesen zu haben, wie ein Knabe seinem Vater einen Rubel entwand, damit achttausend in der Petersburger Lotterie gewann, dann einen Prämienschein kaufte, auf welchen wiederum vierzigtausend fielen. Konnte es ihm nicht ebenso ergehen? Was der Vater für Augen machen würde, wenn er in seinem Schrank plötzlich einige tausend Rubel vorfände! …
»Geh nicht! Geh nicht!«, warnte ihn sein Gewissen.
Aber Andreew ging.
Behutsam näherte er sich dem Fenster, behutsam öffnete er es und stieg ins Zimmer. Er tappte nach dem Schrank, nach dem Schlüsselloch, zog den Schlüssel aus der Tasche und schloss den Schrank auf. Indem er ihn öffnete, knarrte die Tür ein wenig. Andreew erschrak furchtbar und drückte mechanisch die Hände gegen die Brust, welche die mächtigen Schläge des Herzens fast zu sprengen drohten. Wenn er jetzt von der Mutter überrascht würde. Mit angehaltenem Atem horchte er. Durch die halb offene Zimmertür vernahm er ruhiges gleichmäßiges Atmen. Gott sei Dank, die Mutter war nicht aufgewacht. Mit zitternden Händen tastete er nach dem Geldkästchen, öffnete es und nahm daraus des Vaters kleine Geldtasche hervor. Er steckte sie in den Busen, verschluss geräuschlos den Schrank und schwang sich behend ins Freie.
Alles war gut gegangen – Andreew atmete erleichtert auf.
Aber in den wenigen Minuten, welche er im Zimmer gewesen, war eine rasche Veränderung draußen vor sich gegangen. Laut und lauter, in immer kürzer werdenden Zwischenräumen, rollte jetzt der Donner, kochend stiegen die bisher fast bewegungslosen Wolken in die Höhe, die Blätter an den Bäumen, welche um das Haus standen, fingen an zu rauschen, und aus der Ferne näherte sieh ein Zischen, als käme es aus dem Rachen einer riesenhaften Schlange. Dazwischen ertönte das ängstliche Geschrei der aus dem Schlaf aufgeschreckten Vögel und das Pfeifen des wachsenden Windes. Von Zeit zu Zeit überflogen bläulichweiße Flammen den Himmel, Tageshelle auf einen Augenblick ringsum verbreitend und dann wieder einer noch schwärzeren Nacht Platz machend.
Eine nie gekannte, unsagbare Angst überfiel Andreew. Nachdem er einige zwanzig Schritte gegangen war, blieb er stehen – seine Füße trugen ihn nicht weiter. Wie, wenn der über ihm zuckende Blitz auf ihn niederführe? … War er es nicht wert, dass er vom Blitz erschlagen wurde? … Er hatte des Vaters Gebot hundertmal übertreten, hatte ihn hintergangen, belogen … bestohlen … Was fehlte noch? … »Morden, morden musst ihn nur noch, morden!« … schien eine Stimme zu schreien. Andreew zitterte am ganzen Körper. Nein – ein Dieb wollte er nicht sein … Mochte kommen, was da wollte, er musste das Geld in den Schrank wieder zurücklegen. Er wandte sich um, schlich zurück, trat wieder ans Fenster. Den Schlüssel und die Geldtasche in der einen, öffnete er das Fenster mit der anderen Hand und hob den einen Fuß ins Zimmer. Da stießen seine zitternden Finger an einen kalten Gegenstand, er rollte von der Fensterbank herunter und zersprang hell aufklingend auf der Erde.
Es war das Glas, aus welchem die Mutter am Abend Wasser getrunken hatte.
»Wer ist da?« fragte ihre Stimme ängstlich, »Vater, Vater, hörst du?«
Andreew gerann das Blut in den Adern. Wie gebannt stand er da, unfähig, ein Glied zu rühren.
»Wer ist da?«, fragte auch auf einmal der Vater, die Tür breiter öffnend. »He, ist hier jemand?«
Der Vater, wahrhaftig der Vater! Schrecklicher als ein Donnerschlag traf seine Frage des Sohnes Ohr. Fort, fort! Und er riss seinen Fuß zurück, ins Freie.
»Stehe, bewege dich nicht, wenn du ein Mensch bist – wenn dir dein Leben lieb ist, ich schieße sonst! Sprich!«
»Er hat keine Waffe!«, dachte Andreew, und floh.
Der Schuss fiel und mit seinem Knall vermischte sich ein Donnerschlag, welcher die Grundfesten der Erde zu erschüttern schien.
»Herrgott!«, schrie die Wirtin auf, »jetzt sind wir verloren! Weh, weh!«
»Es hat eingeschlagen! … Man schoss! … Wer schoss? … Es brennt! … Nein! Man schoss! … Licht! Licht!« … hörte man in der Gesindestube durcheinander schreien. Dann wurde die Stubentür heftig aufgerissen und wieder zugeschlagen.
»Alle Kräfte haben mich verlassen … Gott stehe mir bei!« wimmerte die Wirtin, eine Decke um ihre Schultern werfend, »was schreien die Leute, hat es, oder hat es nicht eingeschlagen?«
Da hörte man eine grelle Stimme draußen aufschreien: »Hilfe, Hilfe, ein Mensch liegt im Gehöft vom Blitz erschlagen!«
»Wer?!«, stöhnte die Wirtin. »Weh, weh!«
»Ein Dieb – stieg durchs Fenster – ich – schoss – ich habe ihn wahrscheinlich getroffen!« … stieß der Wirt in furchtbarer Erregung hervor und suchte nach Zündhölzchen.
Er entzündete ein Licht und wollte es eben in eine Laterne stellen, als ein Mädchen ans offene Fenster heraneilte und mit gellender Stimme rief:
»Wirt, Wirt – komm, rette – Andreew ist erschossen …«
»Andreew!«, schrie der Vater, und seine Stimme hatte allen menschlichen Klang verloren, »Andreew … Andreew!« … und er eilte hinaus.
»Verloren, alles verloren … alles … alles«, ächzte die Wirtin, sich ihrem Manne mit bleischweren Füßen nachschleppend, »helfet … rettet …«
Die Stimme des Donners, welcher jetzt unaufhörlich rollte, verschlang ihre Klagen, der Himmel glich einem Flammenmeere, so dass man auch ohne das Licht der Laterne, welche eine alte Frau in der Hand hielt, hätte sehen können, was im Gehöft vorging.
Adams Vater kniete auf der Erde und hielt den Kopf des Unglücklichen in seinem Schoß, während ein Mädchen das aus dem Mund hervorquellende Blut zu stillen bemüht war. Die Übrigen standen untätig ringsherum und rangen verzweifelt die Hände.
»O, welch' ein Versehen, welch' ein Versehen …« stöhnte der Vater, »mein Sohn, mein lieber Sohn – stirb nicht … o, stirb nicht …«, flehte die Mutter, und beide warfen sich nieder zur Erde.
Als wollte er noch etwas sagen, versuchte Andreew den Kopf zu erheben, stieß einige unverständliche Laute hervor und sank zurück.
Die schweren, kalten Tropfen des niederströmenden Regens schlugen in das Antlitz eines Toten.
»Tot!«, sagte Adams Vater leise, und wischte sich die Augen.
Ein kreischender Ton entfuhr den Lippen der Wirtin, sie fiel zurück – eine Leiche zur Leiche.
»Bringt sie unters Dach, es fängt an, zu stark zu regnen«, sagte der Wirt, starr umherblickend, nach einer Weile mit beängstigend ruhiger Stimme. »Unters Dach!«
Dann ging er ins Zimmer, um sich einen Rock anzuziehen.
Das Licht, welches er vorhin hastig auf den Tisch gestellt, stand schief, die Flamme flackerte stark im Zuge und langsam troff der Talg auf das neue seidene Tuch. Roplain achtete nicht darauf. Todesmatt sank sein Körper auf einen Brettstuhl nieder. Er schlug die Hände vors Gesicht. Weshalb lebte er noch? Weshalb brach nicht auch sein Herz?
Da trat Adams Vater herein.
»Ich fand dieses in Andreews Hand«, sagte er halblaut, die Geldtasche und den Schlüssel auf den Tisch legend. Dann entfernte er sich wieder.
Roplain warf einen gleichgültigen Blick auf den Tisch – – dann jedoch verzerrte sich sein Gesicht zur Fratze, er ergriff das Pistol. Warum hatte diese elende Waffe nur zwei leere Läufe! … Er schleuderte sie von sich, fasste mit beiden Händen seinen Kopf und schlug ihn in wahnsinnigem Schmerz gegen die Wand …