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Charles Péguy

So nahe liefen bei Meaux die Gräben, daß der Leutnant Pèguy dem Leutnant Stadler einen Gruß senden konnte, in einer Schachtel zugeworfen: »In diesem letzten Kriege der Menschheit soll es weder Sieger noch Besiegte geben, nur Edelleute.« Wir zeigten den Zettel und die runde Büchse, in der er lag. Man erzählte es weiter und las es dann in der Frankfurter Zeitung. Die Legende war ein guter Wunsch, ironische Gegenstimme im Chore des zur Zeit im Hinterlande gebrüllten »Gott strafe England«. Den Leutnant Péguy traf halbwegs zwischen den Dörfern Villeroy und Monthyon am 5. September eine Kugel vor die Stirn, während er seinen auf den Boden gestreckten Schützen »Feuer« kommandierte. Den Leutnant Stadler zerriß etliche Tage später – man war auf dem Rückweg von der Marne – eine Granate bei Arras. Die beiden Namen verband nur ein ganz Äußerliches: daß Stadler 1913 einige der alten polemischen Artikel Péguys gegen Jaurès übersetzt hatte, für ein Büchlein, das bei F. Pfemfert erschien. Ich glaube, weder der Übersetzer noch der Verleger wußten, was sie damit meinten. Daß diese Seiten dem deutschen Leser einen Begriff von Péguy geben sollten, konnten nur die glauben, die selber keinen damit verbanden. Woran auch ein paar hymnische Strophen in der »Aktion« nichts änderten. Aber diese falsche Verbindung stellte vielleicht Rollands Jean Christophe her, der in den Cahiers erschienen war und eben auch den deutschen Lesern bekannt gemacht wurde, so wenig Péguy den billigen Sentimentalismus dieses Romanes leiden mochte, von dem er sagte, daß man ihn in allen französischen Häusern lese, in denen sich ein Klavier befinde. Rolland überließ ihm ohne jedes Entgelt das vielbändige Buch mit der gleichen Noblesse, mit der er später den Nobelpreis dem Roten Kreuz schenkte. Péguys Wahrhaftigkeit war der Schild, sein Wort die immer treffende Lanze. Er war Lateiner und Katholik, und das heißt nationaler Franzose. Lateiner, wie Péguy dem Wort den Sinn gab: »Der Räuber und der Hirt, die diese Sprache schmiedeten, wußten nicht, für welchen Gott sie diese Arbeit taten. Als sie veritas, die Wahrheit, sagten, als sie vita, das Leben, sagten, als sie crux, das Marterholz, sagten, wußten sie nicht, glaubten Vertumnus und Pomona zu dienen und diesen lateinischen Göttern, die gröber und familiärer, bauern- und arbeiterhafter, dunkler und kleiner, auch böser und tückischer waren. Sie wußten nicht, daß sie dem Gotte dienten, der kam, und daß Rom eines Tages römisch sein würde.« Und Katholik: »Man ist dreimal in Ägypten gewesen, und es ist dies ein seltsames Land. Und einmal war es Joseph, der Jakob hinführte, das heißt Israel. Und einmal war es Joseph, der Jesus hinführte und mancherlei Volk Frankreichs und die andern französischen Barone ...« Oder: »O mon peuple français, dit Dieu, tu es le seul qui ne fasses point des contorsions, et dans ton péché même tu fais moins de contorsions que les autres n'en font dans leurs exercices. Quand tu pries agenouillé, tu as le buste droit, et les jambes bien jointes, bien droites au ras du sol, et les deux regards des deux yeux bien parallèlement montants droit au ciel. O seul peuple qui regardes en face la fortune et l'épreuve et le péché même ... Peuple, le seul qui pries et le seul qui pleures sans contorsions.« Es wird den liberal-jüdischen und den konservativ-protestantischen Deutschen, denen beiden Anatole France, der liebenswürdige Küster der Enzyklopädistenkirche, als der »große Franzose« gilt, nicht klarzumachen gelingen, daß und warum sich der französische Nationalismus aus diesen zwei sich wechselseitig bedingenden Energien konstituiert: aus dem Lateiner und dem Katholiken. Von vieren ist Claudel der kirchlichste, Jammes der naivste, Suarès der aufgeregteste, Péguy aber der strengste und humanste Katholik. Und auch der fröhlichste. Was er von der Vulgata sagte, daß sie eine harte und zarte Sache sei, une chose dure et tendre, das ist sein Glaube, und das ist seine Rede, in der er ihn ausdrückte. Seine Prosa hat cette noble hardiesse latine, in der er sich die Evangelien übersetzt dachte; gute runde Worte, wie sie die Weinbauern der Loire haben, liebte er, der selber bäurisch war und ohne alle Finessen. Über das, was er als Kind aus dem kleinen Katechismus der Diözese von Orleans über seinen Glauben erfahren, hat er diesen nie weder »erweitert« noch »vertieft«; der Katechismus genügte ihm vollständig, denn er war ein im Blute Gläubiger, das heißt einfach, herzlich und streng. Und hat aus seinem Glauben theologische Tiefen gewonnen wie kein Gelehrter, ihm Gütersloh darin kongenial.

»Ich kenne den Menschen, sagte Gott, ich hab' ihn ja gemacht, und ist ein drolliges Wesen. Denn in ihm spielt diese Freiheit, welche Geheimnis der Geheimnisse ist. Wenn man ihn zu nehmen versteht, läßt sich viel mit ihm anfangen. Ich weiß ihn zu nehmen. Es ist mein Geschäft. Und diese Freiheit selber ist ja meine Schöpfung ... Er hat viel Glauben und viel Barmherzigkeit. Was man nur nicht von ihm verlangen kann, das ist, Herrgott noch einmal, ein bißchen Hoffnung, ein bißchen Vertrauen, ein bißchen Hingabe in meine Hände, ein bißchen Rast. Ja du, meine Tochter Nacht, dir gelingt es manchmal. Du erreichst das manchmal von diesem rebellischen Menschen, das er zustimmt, sich mir ein bißchen überläßt, ein bißchen auf seinem Ruhebett sein schmerzendes Herz loser macht ...«

Im Februar 1900 gab Péguy das erste Heft der »Cahiers de la Quinzaine« heraus; ihre bis zur Tode Péguys ununterbrochene Reihe enthält die bedeutendsten Kundgebungen, politische, moralische, ästhetische, des wirklichen Frankreichs, welches weder das der Kammern noch der Zeitungen ist. Die Cahiers hatten kein Programm und waren keine Partei; jedes der Hefte war eine ganz unabhängige Publikation des Verfassers. »Es ist seit Beginn dieser Hefte eine absolute Regel, unser Prinzip und das fundamentale Statut und, wie ich denke, das Beste an unserer Raison d'être, daß der Verfasser frei in seinem Hefte ist, und ich nur dazu da bin, die zeitliche Herrschaft dieser Freiheit zu sichern.« Aber es gab das eine Band, das die oft sehr Verschiedenen einigte; die vollkommene geistliche Rechtlichkeit. Mit Inbrunst sagen, was man weiß, und nichts mehr; und dies, sein Werk, verrichten, so gut man kann, mit handwerklicher Liebe; unbekümmert um Karriere, Rücksichten, Freunde, Respekt die erkannte Wahrheit sagen, wie man sie weiß. Péguy verlangte das nicht etwa von seinen Freunden und Helfern, sondern es ergab sich von selbst aus der vollkommenen Reinheit seines Wesens, der Unbekümmertheit seines Herzens, der Armut, ja der herrlichen Armut seiner Lebensführung. Als er fiel, hatte er einen Centime in der Tasche. Soll ich noch seine Freiheit nennen? Er schrieb 1907: »Als Mitarbeiter der Hefte verlange ich für meine Werke und Aufsätze diese ganze geistige und zeitliche Freiheit, die ich allen unseren Mitarbeitern versichere. Aber als Herausgeber der Hefte will ich sie nicht in meine persönlichen Streitigkeiten hineinziehen ... ni dans cet approfondissement de mon être religieux auquel il est évident que je procède depuis plusieurs années avec une sévérité croissante.« Die Cahiers verschlossen sich dem Ungläubigen nicht, wenn der Unglaube seine ehrliche leidenschaftliche Wahrheit war. Von der Armut aber noch einiges.

Als ich, um 1908 war es, Péguy in dem kahlen Zimmer der Rue de la Sorbonne besuchte, trug ich eine alte Ausgabe der Imitatio bei mir, die ich am Quai Voltaire für sechs Sous erstanden hatte. Und der anwesende François Porché, damals ein Dichter noch, sprach aus, was Péguy dachte, als er sagte, daß allein die Armut auf Erden die wahre Nachfolge Christi sei, die Armut als eine Konzeption des Universums. Man muß dazu eines der schönsten und tiefsten Gedichte Péguys lesen: »Eva«. Eva war ein armes Weib, das viele Kinder begraben hatte und gezwungen war, Feuer zu machen, wenn es kalt wurde, und gezwungen war, die Lampe anzuzünden, um zu sehen, und das war ihr Sturz, ihre Strafe, daß wir »gezwungen sind, immer und ewig unsere Hauswirtschaft zu machen, und sogar die Wirtschaft unserer Seele. Et ce n'est point d'être des criminels de marque, des criminels pour poètes romantiques, c'est d'être des pécheurs, et même des petits pécheurs.« Die Armut hat ihren göttlichen Purpurmantel verloren; würfelte man nicht um ihn? Sie ist heute nichts als eine soziale Ungerechtigkeit und ein wirtschaftliches Phänomen. Der Arme schämt sich ihrer; er verbirgt sie, oder er rebelliert gegen sie. Die Armut heiligt nicht mehr. Ja sie ist nicht einmal mehr »poetisch«. Der Reichtum hat sie falsch gemacht.

Der arme Péguy schenkte seiner geliebten Erde, was er hatte: sein Herz, seine Kunst. Er hat ihr auch, ohne um Rechtens zu hadern, sein Leben gegeben. Zur rechten Zeit.

Als Péguy, 1903 und die »Humanité« war gegründet, von Jaurès Abschied für immer nahm, von des guten, stiernackigen Jaurès Rücken, der sich bedrückt von ihm wandte nach dem verzweifelten Wort, daß ihm Aktionäre seiner Zeitung wichtiger wären als die Mitarbeiter, die ihm Péguy anbot, da erlebte dessen heroischer Sozialismus – er kannte und billigte keinen andern – die letzte Erschütterung, nach jener ersten in der Dreyfusaffäre, wo die Genossen ihn nicht verstanden, als er nur das Entweder-Oder eines Schuldig oder Nichtschuldig gelten lassen konnte, nicht aber Verurteilung und Begnadigung. Das Abrücken von der Verantwortung empfand er als Entehrung Frankreichs, und über alles die Ehre eines Landes! Dagegen gibt's keine Staatsraison, denn Frankreich dürfe seine Seele nicht verlieren, indem es um eines zeitlichen Vorteiles willen einen Unschuldigen opfert. Er war in gar keinem Sinn ein Politiker, sondern als ein Mystiker der geborene Feind des Politischen. Ein Jahr vor der Ermordung Jaurès schrieb der den Krieg witternde, und ihn als den endlich eintretenden Beginn einer Epoche – nach der leeren Periode seit Hugos Tod, dem Ende des 19. Jahrhunderts – erhoffende Péguy: »Ich bin ein guter Republikaner, ich bin ein alter Revolutionär. In Kriegszeiten gibt's nur eine Politik, und das ist die des Nationalkonvents. Aber man darf sich nicht täuschen, daß die Politik des Nationalkonvents bedeutet: Jaurès auf dem Karren, und Trommelwirbel, um diese mächtige Stimme zu decken.« Kein Mensch aber glaubte es ihm, wenn er sagte, daß in der ganzen deutschen Sozialdemokratie weniger revolutionäres Mark und Blut sei, als in der letzten Trompete der Eskadron der napoleonischen Garde war. Am andern Tage nach der Ermordung Jaurès sagte er zu einem Freunde: »Eine ungeheuerliche Tat. Und trotzdem... Es war in diesem Manne eine solche Macht der Kapitulation! Was hätte er im Fall einer Niederlage getan!«

Länger als es die deutschen Leser dieser Aufzeichnungen vielleicht begreifen werden, verweile ich bei der Erinnerung an diesen außerordentlichen Mann, der so kompliziert erschien, weil er ein Kind war und darum durchaus ein Genie inmitten einer nichts als talentierten Welt, die sich nicht um ihn kümmerte, der den Ruhm suchte, sich in diese Welt historisch einzuschreiben, sein Werk ignorierte, das Gedanke in höchster Aktion war. Keinerlei eigensinniger Doktrinarismus hatte je Herrschaft über ihn. Sozialist war er der Armut wegen, die, von Elend bedroht, Gefahr lief, ihre Würde und ihre Bedeutung zu verlieren. Katholik war er im Herzen, ganz außerhalb der Gemeinde der Gläubigen. Bergson, gewiß, der half ihm da. Über Sünde und Gnade bekam er von ihm Einsichten, aber doch nur jene, welche die Kirche meint, wenn sie von der Verhärtung der Herzen spricht, was bei Bergson hieß, daß die Gewohnheit, in ganz fertigen Ideen zu denken, den Geist töte, und daß wir zu Mechanismen würden, wenn wir solcher Neigung nachgäben. Péguy betete, pilgerte zur Kathedrale nach Chartres, der Kirche seiner Diözese, achtzig Kilometer zu Fuß, um sein krankes Kind der Jungfrau zu schenken. Aber er ging weder zur Messe, noch nahm er die Sakramente und war in keiner Weise klerikal. Als die Schriften Bergsons auf den Index kamen, schrieb er ein Heft gegen diesen Index, von dem nichts weder in der Bibel noch in den Evangelien stünde. Und mit Thomas von Aquin solle man ihn nur in Ruhe lassen, er gäbe die ganze Summa für das Salve Regina, und neben dieser Summa wäre das Evangelium nichts weiter dann als eine Art Fioretti von Geschichtchen. Christus hat nie einen abstrakten Gedanken geäußert. Und dies war das ganze einzigartige Beispiel von Péguys Leben: daß er immer praktisch war. Er gab mit seinem Leben das Beispiel eines heroischen Sozialisten. Mit seinem Leben das Beispiel eines Heiligen. Daß das, was er schrieb, nicht auf den Index kam, hinderte ja nur die Klugheit Roms: er hatte, da ihn ja kaum ein Dutzend las, keine Bedeutung für die Kurie, die sich hütete, ihm durch Verfolgung eine zu geben, diesem großen Christen, der schrieb: »Die Katholiken sind wahrhaft unerträglich in ihrer mystischen Sicherheit. Sie bilden sich ein, der natürliche Zustand des Christen sei der Friede, der Friede durch Intelligenz, der Friede in der Intelligenz, aber das dem Mystiker Eigentümliche ist eine unbesiegbare Unruhe. Wenn sie glauben, daß die Heiligen ruhige brave Herren gewesen sind, so irren sie sich!« Sorel, den Stammgast an den Dienstagen in der Bude der Cahiers, entzückte diese Haltung, aber das gläubige Ziel verwirrte den freidenkerischen Theoretiker der Gewalt zu dem Sarkasmus, daß Péguy glaube, die Achse der Welt gehe durch die Nummer 8 der Rue de la Sorbonne. Péguy brach mit ihm, und Sorel hat es nie verwunden.

Er hatte seine beiden Söhne im Gebet der Jungfrau geweiht. Aber sie, die nicht getauft waren, taufen zu lassen, »das«, sagte er, »ginge ihn nichts an. Ich kann mir gut denken, daß der eine Pfarrer oder Pastor wird und der andere Großrabbiner.« Seine Religiosität kannte nur zwei Elemente: das Gebet für den Sünder und das Mysterium der Gnade, diese ausschließliche Angelegenheit Gottes. In der Begnadung unterscheiden sich die Menschen. »Ich kenne Juden voll erstaunlicher Gnaden und Katholiken, die gar keine haben. Auch Atheisten können begnadet sein. Nicht aber Rentner, Funktionäre und Mönche. Denn sie riskieren nichts. Nur jene, deren Leben unsicher ist, können begnadet werden: Spieler, Abenteurer, Arme und Elende, Kaufleute, Ehegatten, Familienväter, diese großen Abenteurer der modernen Welt.« Er mochte Bekehrte gar nicht. Jeder ist seinem Lose verpflichtet. Man muß bleiben, was man ist, auch in der geringsten Ordnung, was besser ist als einer, der in einer weit höheren Ordnung nicht mehr er selber ist. Jede Konversion ist ein bißchen Verrat. Péguy nahm es einem Enkel Renans sehr übel, daß er sich zur Kirche konvertierte. Er sah darin einen Skandal, daß dieser Enkel mit Sack und Pack in einen Clan desertierte, der für seinen Großvater nur Abscheu und Verachtung empfunden hatte.

Péguy fiel am Tage vor Beginn der Schlacht an der Marne, welche für viele das Valmy eines neuen Jahrhunderts bedeutete.


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