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Sechstes Kapitel

Glück auf!

 

Als die Spielsaison vorüber war, zog das junge Ehepaar aufs Land. Es mietete sich eine kleine Wohnung in Espergerde und blieb da den ganzen Sommer über.

Onkel Franz aber führte einen längst gehegten Plan aus; er reiste nach Tirol und Oberitalien und blieb die ganzen Ferien über dort. Zwar tat er es nicht, weil er einen einzigen Augenblick geglaubt hätte, er könne seinen Gedanken entfliehen, sondern weil er dann wenigstens davon erlöst war, Kaja mit Peter Dam zusammen sehen zu müssen, denn dieser Anblick wurde ihm mit jedem Tag unerträglicher. Peter Dam hatte eine eigene kameradschaftlich ausgelassene Art, Kaja zu behandeln, die Onkel Franz nicht vertragen konnte. Er wußte nicht, ob ihre Fröhlichkeit deshalb immer gezwungener wurde, weil sie dies merkte, aber er kannte sie zu genau, um sich von Worten täuschen zu lassen; nicht der geringste falsche Klang in ihrer Stimme entging seinem Ohr.

Der beständige Kampf, seine eigenen Gefühle zu unterdrücken, griff ihn an; seine Augen wurden größer, sein Gesicht schmaler. Sie fragte ihn, ob er nicht wohl sei. Er antwortete, daß ihm nichts fehle, daß er aber glaube, eine Reise werde ihm gut tun. Sie atmete freier auf, als er dies sagte; er sah es, und es tat ihm weh. Er wußte ja nicht, daß der Kampf auch bei ihr begonnen hatte – der schwerste Kampf, den ein Mensch auf Erden führen kann – der Kampf, sich von dem, was man liebt, entfernen zu müssen. Ohne sich bei ihr zu verabschieden, reiste er ab – er schickte ihr nur ein paar Worte auf einer Postkarte.

Auf sie wirkte sein Fernsein wie eine Befreiung; sie wollte der nagenden Sehnsucht, die sie erfüllte, nicht nachgeben, sie wollte mit Peter Dam glücklich sein. Ihre ganze Zärtlichkeit, ihr ganzer Hingebungsdrang konzentrierte sich auf ihn. Vor der Leere in seinem Seelenleben, vor der Flüchtigkeit seiner Gedanken verschloß sie die Augen. Mit unglaublicher Willenskraft arbeitete sie sich wieder in den Zustand der Verliebtheit hinein, in dem sie sich befunden hatte, als sie zum ersten Male seine hohe Gestalt und sein schönes herrliches Gesicht gesehen hatte. Sie klammerte sich mit ängstlichem Eifer an jeden schönen Eindruck, den sie von ihm hatte, kam all seinen Wünschen mit einer Art angestrengtem Enthusiasmus zuvor, so daß eines Peter Dams ganzer Mangel an Seelenkunde dazu gehörte, um nicht darüber stutzig zu werden.

Peter Dam selbst befand sich außerordentlich wohl bei all dieser Fürsorge; aber sie rief nicht die besten Eigenschaften in seiner Natur hervor, sie machte im Gegenteil, daß die rohen Seiten sich hervorwagten. Er wurde rücksichtslos gegen Kaja. Er bildete sich ein, daß seine Macht über sie ohne Grenzen sei, und daß er sich deshalb erlauben könne, was er wolle. Er ging und kam, wie es ihm behagte, und blieb oft bis spät in die Nacht aus.

Und wenn er heimkam, fragte sie ihn nie, wo er gewesen sei; es war ihr todesangst, sie könne dann den letzten festen Grund unter den Füßen verlieren.

Sie kämpfte, als gälte es ihr Leben, um sich zu zwingen, ihn so zu lieben, wie er nun einmal war – mit seinen billigen Redensarten, seiner dänischen Gutmütigkeit, mit seinem leichten Gerührtsein und seinem unentwickelten Verstand, immer mit sich selbst beschäftigt, aber auch immer einnehmend, wenn er es selbst wollte. Schließlich wurden ihr aber doch die Phrasen zu leer und die Rücksichtslosigkeit zu verletzend, und als Onkel Franz Kaja im Herbst wieder sah, fiel es ihm auf, welche Veränderung mit ihr vorgegangen war. Es war, als sei sie eines Kampfes müde geworden, der ihr alle Kräfte geraubt hatte.

Im Winter richtete sie sich aber doch wieder auf. Peter Dam spielte eine große Rolle, die ihn ganz erfüllte. Er übte sie mehrere Male am Tage vor Kaja ein und war dabei ihrer lebhaftesten Teilnahme immer ganz sicher. Sie korrigierte, half und brachte ihn auf den richtigen Weg, sie feilte daran, vertiefte sie und munterte ihn selbst auf. Und sie ging so vollständig auf in ihrer Lehrtätigkeit, daß sie alles um sich her vergaß; ja, es gab Zeiten, wo sein Spiel sie so gefangen nahm, daß er seine alte Macht über sie wieder ganz zurückgewann.

Bei der ersten Aufführung saß sie dicht an der Bühne und folgte ihrem Manne von dem ersten Moment seines Auftretens an gespannt mit den Augen.

Es war auch für sie etwas Berauschendes in dem Beifallssturm, der nach seiner ersten größeren Partie losbrach.

Aber dann bekam sie auf einmal ihren aufmerksamen Blick wieder; sie neigte sich gegen die Rampe vor und beobachtete ihn genau. Jeden unechten Klang in seiner Stimme fing sie auf, für jede Spur von falschem Pathos im Ton hatte sie das feinste Gehör.

Und als er mit einem großen Lorbeerkranz am Arm, strahlend von befriedigter Eitelkeit, heimkam, konnte sie es nicht unterlassen, zu sagen:

»Du hast hier bei mir besser gespielt; da warst du natürlicher.«

Aber Peter Dam war der Kritik nicht zugänglich, am allerwenigsten an diesem Abend, wo ihm so viel Weihrauch gestreut worden war. Er donnerte los mit heftigen Worten, die gerade nicht immer fein gewählt waren, und schließlich nahm er seinen Hut und ging auf und davon, ohne ihr Adieu zu sagen.

Sie fühlte sich merkwürdig einsam, als er fort war, und machte sich Vorwürfe darüber, daß sie ihn nicht als das große Kind nehmen konnte, das er doch eigentlich war.

»Warum verlange ich immer mehr von ihm, als er geben kann?« dachte sie und preßte die kleinen Hände im Schoß zusammen. »Ich müßte doch wissen, daß ich mich mit einem Kind verheiratet habe.«

Und sie lächelte auf eine Weise, die ihr plötzlich eine große Ähnlichkeit mit Onkel Franz verlieh.

In diesem Augenblicke klingelte es, und Kaja ging hinaus, um zu öffnen. Onkel Franz stand draußen mit einem prachtvollen Strauß gelber Rosen.

»Ich möchte gratulieren,« sagte er und reichte ihr die Blumen. »Dein Mann hat heute abends einen großen Sieg gewonnen.«

»Ja, nicht wahr?« sagte sie und verbarg das Gesicht in den Rosen.

»Aber wo ist er denn?« Onkel Franz lugte durch die offene Tür ins Wohnzimmer hinein.

»Er ärgerte sich und ging fort,« antwortete Kaja.

Sie bückte sich mit einem leichten Lächeln und hob den Lorbeerkranz auf, den er auf den Boden geworfen hatte.

»Peter kann so schwer einen Tadel ertragen,« fügte sie entschuldigend hinzu.

»Na, und du warst wohl ein wenig streng gegen ihn, als er, von all dem Weihrauch ganz berauscht, heimkam!« warf Onkel Franz hin.

Als sie sein gutes Lächeln sah, traten ihr die Tränen in die Augen.

»Ja, das war ich wohl,« antwortete sie, »aber nun ist es ja zu spät.«

»Durchaus nicht,« sagte Onkel Franz eifrig, »ich werde ihn schon finden; ich gehe gleich und hole ihn.«

Und ehe sie sich besinnen konnte, war er schon die Treppe hinunter. Sie blieb einen Augenblick mit dem Lorbeerkranz in der einen Hand und den Rosen in der anderen unbeweglich stehen. Dann legte sie den Kranz auf den Flügel, füllte eine Vase mit Wasser und stellte die Rosen eine nach der anderen hinein. Langsam und sorgfältig ordnete sie die Blumen, dann setzte sie sich auf einen Stuhl neben der Tür nach dem Flur und lauschte gespannt auf jeden Laut, der vom Treppenhaus hereindrang. Die Vase hielt sie in der Hand, und jeden Augenblick beugte sie sich vor und strich mit der Wange über die seidenweichen Blätter. Sie dachte daran, wie sie in alten Tagen, wenn sie Onkel Franz recht innig liebkosen wollte, ihre Wange an die seinige geschmiegt hatte, und sie fragte sich, ob er wohl jetzt ab und zu ihre Liebkosungen vermisse. Aber dann setzte sie plötzlich das Glas hart auf den Tisch und sprang auf; sie hatte Schritte auf der Treppe gehört, und ehe es klingelte, hatte sie schon geöffnet.

Peter Dam kam herein, Onkel Franz am Arme führend, und beide sahen sehr aufgeräumt aus.

»Ich danke euch, daß ihr kommt,« sagte sie leise und herzlich.

»Ja, wenn er einem die Ehre erweist« – Peter Dam schlug Onkel Franz kräftig auf die Schulter – »dann muß man bei Gott nachgeben. Er ist sonst nicht verschwenderisch mit seinem Lob, aber heute abends spart er keine Lobpreisungen.«

Kajas Augen strahlten.

»Du hast ja auch ausgezeichnet gespielt,« sagte sie.

»Na, das gefällt mir« – er umschlang sie, legte den Arm um sie und lachte vergnügt – »nun nimmst du auch Vernunft an, wie ich merke.«

In der fröhlichsten Stimmung gingen sie alle drei ins Speisezimmer, wo Kaja den Tisch mit Blumen geschmückt und feinen Wein aufgestellt hatte.

Den ganzen Abend war Peter Dam das liebenswürdigste Kind von der Welt. Er war niemals liebenswürdiger, als wenn seine Eitelkeit befriedigt war, und doch hatte er zugleich so viel Künstlerblut in sich, daß die Eitelkeit ihn nicht lächerlich erscheinen ließ.

Onkel Franz war nahe daran, an diesem Abend sein Herz an ihn zu verlieren, und Kaja betrachtete ihn vergnügter als seit vielen Monaten. Es hob ihn in ihren Augen, daß Onkel Franz ihn als Künstler anerkannte, sie hätte nie gedacht, daß er es jemals so rückhaltlos tun würde wie jetzt. Sie erhob ihr Glas und nickte Peter Dam zu:

»Glück auf!« sagte sie leise, ebensoviel zu sich selbst als zu ihm.

Und Onkel Franz – nicht Peter Dam – antwortete in derselben stillen innigen Art:

»Glück auf!«


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