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Frau Susanne Mengershausen hatte außer dem Rechtsanwalt Gustav Herold, ohne es zu wissen, noch einen zweiten Verteidiger: es war der Referendar Doktor Hans Fritze, zur Zeit dem Untersuchungsrichter Dreiundzwanzig zur Ausbildung überwiesen ... Er hatte zwar natürlich nichts zu bedeuten bei seiner Behörde ... Referendare haben überhaupt nirgendwo etwas zu bedeuten ... sie sind nur ein belangloses Anhängsel der menschlichen Gesellschaft ...
Aber ein Referendar ist außer dieser seiner amtlichen Eigenschaft auch noch Mensch. Und der Mensch hatte nur noch einen Gedanken auf der Welt: Susanne Mengershausen muß gerettet werden ...
Dieser Gedanke hatte von ihm Besitz ergriffen wie eine fixe Idee. Unter ihrem Zwange hatte er das dürftige Heftchen, das bisher über den »Fall Mengershausen« sich angesammelt hatte, sofort nach dem Termin im Gefängnis mit fiebernden Wangen durchstudiert. Es bestand aus dem Protokoll über die erste polizeiliche Vernehmung der Denunziantin – über die polizeiliche Untersuchung im Hause des Verstorbenen und die Beschlagnahme des Zettels mit den Schriftzügen, die wörtlich übereinstimmten mit dem hinterlassenen Brief des Toten ... auch dieser Brief selber war beschlagnahmt worden und befand sich bei den Akten.
Den Protokollen schloß sich unmittelbar dasjenige über die polizeiliche Verhaftung der Frau Mengershausen an. Und dann folgte das sehr summarische Protokoll über ihre erste Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter und ferner das Protokoll über die Vernehmung der Denunziantin Anna Krölke, ebenfalls vor dem Untersuchungsrichter. In diesen beiden Verhandlungen hatte Hans Fritze nicht als Gerichtsschreiber fungiert, sondern sein Kollege Voß, ein hundeschnäuziger, siebenmal gesiebter Berliner Junge. Und er selber, Hans Fritze, war auch nicht einmal als passiver Zuhörer zugegen gewesen. Er hatte sich nämlich an diesem Morgen ... verschlafen ... und hatte sich über den Anschnauzer seines Chefs mit der seligen Erinnerung an den gestrigen Faschingsball der Rheinländer in der Philharmonie getröstet ...
Von nun an aber, oh ja, von nun an würde er keinen Termin versäumen in der Sache Mengershausen! Der Untersuchungsrichter hatte seinen kurzen Bericht mit allen Zeichen der Genugtuung entgegengenommen und ihm erklärt, er solle diese Sache nun weiter bearbeiten ... Hans Fritze hatte sich Mühe gegeben, sein Entzücken über diese Aussicht auf einen persönlichen Anteil an der Sache nicht zu verraten.
Und dann hatte er sich in die Akten förmlich hineingekniet. Die kurzen Vernehmungen boten wenig Anhaltspunkte. Um so eifriger studierte er die beiden Dokumente. Da war zunächst der Abschiedsbrief des Verstorbenen ... der Abschiedsbrief an seine Frau ... Auch wer minder unerfahren, wer abgebrühter, hartherziger gewesen wäre als Hans Fritze, hätte diesen Brief nur mit tiefer Erschütterung lesen können ... Er war so unglaublich echt, atmete so ganz das Wesen reifster Männlichkeit und lauteren Seelenadels, daß es wie eine lächerliche Phantasterei erschien, wenn man sich vorstellte, dieses Schriftstück, diese letzte, aus mächtigster Seelennot geborene Beichte eines Sterbenden an die Gesellin seines Lebens sei ein verbrecherisches Falsifikat ... sei die Ausgeburt der verwahrlosten Psyche einer raffinierten, scham- und ehrvergessenen Mörderin..
Und zudem stimmte er wörtlich, auch absolut wörtlich mit dem andern Zettel überein ... jenem andern Zettel, der statt der zitternden, zerfahrenen Schrift eines Mannes, der sich selber aufgegeben, die zierlichen und bizarren, durch manch einen grilligen Schnörkel charakterisierten Schriftzüge der schönen Frau trug ...
Diese Bleistiftabschrift war auf zwei Briefbogen geschrieben, zwei kleinen hellblauen Luxusbogen, die zweifellos der Schatulle der schönen, eleganten Frau entstammten ... Von ihnen stieg ein Duft empor, der dem jungen Leser mit zwingender Gewalt das Bild des elfenbeingelben Profils unter den tiefniederhangenden blauschwarzen Scheiteln vor die Sinne zurückzwang ... unwillkürlich preßte er mit einer jähen Bewegung das Papier vors Gesicht, sog den sinneverwirrenden Hauch in sich hinein ... berührte mit den frischen Lippen die Bogen, auf denen die schlanke, feingeäderte Hand geruht haben mußte, die er so kraftlos, ach, so mitleidswürdig verzagend an dem schwarzen Gewande hatte niederhängen gesehen ...
Und nun verglich er die beiden Zettel ... verglich sie Wort für Wort, Buchstaben für Buchstaben ... Und sieh, da war eine vollkommene Übereinstimmung ... es war ja lächerlich, absurd, zu denken, es sollte möglich sein, das Nervensystem eines andren Menschen mit so absoluter, mathematischer Sicherheit zu dirigieren, daß er gezwungen wäre, einen Brief von sechs Seiten, den ihm, während er im hypnotischen Zustande befangen gewesen wäre, ein andrer diktiert, mehrere Stunden oder gar Tage später noch wörtlich gleichlautend mit dem Diktat niederzuschreiben ... Nein, es war am Tage, kein halbwegs Unbefangener konnte das verkennen: die Zeilen, welche die Handschrift der Frau trugen, waren die Abschrift, und die des Mannes das Original –! Freilich, eins entging dem jungen Juristen nicht: in Frau Susannes Abschrift waren an zwei Stellen Worte durchgestrichen und andere, verbesserte darübergeschrieben. Die Verbesserungen stimmten mit dem Wortlaut des anderen Briefes überein. Aber auch das erklärte sich ohne jeden Zwang aus der fieberhaften Erregung, in der sich die Schreiberin befunden haben mußte, als sie die Abschrift von dem Briefe des verstorbenen Gatten nahm. Sie hatte eben, wie man das doch in der Regel beim Abschreiben tut, gleich einen ganzen Satz überlesen und ihn dann aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, und dabei waren ihr statt der Worte des Originals ein paar Synonyma untergelaufen ... später hatte sie beim nochmaligen Durchlesen und Vergleichen des Briefes das Versehen bemerkt und abgeändert ...
Entscheidend war doch schließlich, daß der Brief, so wie er dastand, das Gepräge unbedingtester Lebenswahrheit trug ... daß er völlig aus der Situation eines Mannes heraus entstanden war, der mit zitternder Zärtlichkeit von dem geliebten Weibe Abschied nimmt – und von dem geliebten Leben, ehe es zur schalen Karikatur, zum ekelhaften Zerrbild des menschlichen Beisammenlebens entartet in all den tristen Phasen eines unerbittlichen psychischen Niederganges ...
Nein – wer diesen Brief ... erfunden hätte ... erfunden zu dem Zwecke, daß er einen bestialischen Mordplan verdecke ... der mußte ein Stück Psycholog, ein Stück Poet und darüber hinaus ein ganzer Teufel sein ...
Und wer war's, der diese unglückselige Frau solcher Höllenkünste zieh –? Nun – Hans Fritze hatte diese Anna Krölke noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen ... Nur ihre Unterschrift war da ... ihre Unterschrift unter dem Protokoll, das sein Kollege Voß niedergeschrieben. Diese Unterschrift –! die ordinären Schriftzüge eines ungebildeten Weibes, dem aber oft genug Billetts von den Händen der Damen der großen Welt durch die Finger gegangen sein mußten, so daß sie begriffen haben mochte, ihre eigene Volksschulklaue bedürfe einer gewissen ... Stilisierung, um sich neben diesen Handschriften sehen lassen zu können –! Wie lange mochte Fräulein Anna Krölke im Schweiße ihres Angesichts studiert haben, bis sie ihrer unausgeschriebenen Kinderschrift diese läppischen Krickelkrackel hinzugefügt hatte, die offenbar bestimmt waren, feine Bildung und Individualität zu markieren –! Hans Fritze meinte sie ordentlich vor sich zu sehen, diese Zofe, die sich ohne Schamerröten selber bezichtigte, sie habe das Zubettgehen ihrer Herrschaft vom Badezimmer aus belauscht, und die sich dann noch einbildete, man werde auf ihr Zeugnis hin eine makellose Frau einer so abenteuerlichen, grauenhaften Mordtat schuldig sprechen –!
Diese Anna Krölke – die sollte man einmal ein wenig aufs Korn nehmen –! Wenn ich der Verteidiger wäre, dachte Hans Fritze – ich stellte jetzt ein ganzes Heer von Detektiven an und ließe diese Weibsperson auf Schritt und Tritt beobachten, bis ich herausbekommen hätte, wes Geistes Kind sie ist! Ihre ganze Vorgeschichte wollte ich ermitteln, ihre Herkunft, ihr bisheriges Lebensschicksal ... Gewiß, oh gewiß, es würde sich lückenlos nachweisen lassen, daß sie ein phantastisch-verlogenes, seelisch völlig verkommenes Individuum ist – mit einer hübschen Larve, mit einer guten Figur, einer sympathischen Stimme, einem Benehmen ausgerüstet, das in einem wechselvollen Leben den Damen der großen Welt abgelauscht und mit natürlichem Raffinement kopiert ist –! Oh ... wenn ich der Verteidiger wäre – Frau Susannes Verteidiger –! ich wollte Tag und Nacht nicht rasten und nicht ruhen, bis ihre Unschuld vor aller Welt dastände, leuchtend wie – wie dies mattgelbe Oval unter den tiefniederhängenden Wolken der blauschwarzen Scheitel ... leuchtend wie der Blick dieser dunklen, opalisierenden Augen ...
Hin und her wälzte der kleine Referendar den Fall der schönen Frau in seinem unerfahrenen Hirn. Aber immer wieder landete sein Denken bei dem einen Punkte: mochte Anna Elsbeth Krölke auch noch so sehr ein verwahrlostes Geschöpf sein, verzehrt von der Eifersucht der in den Tiefen Geborenen auf die Geschlechtsgenossin, die immer auf den Höhen wandelte – wie konnte das Mädchen auf den Einfall gekommen sein, gerade diese, diese Beschuldigung sich auszutifteln? Und Hans Fritze versuchte es intensiv, sich in die Psyche der Anna Krölke hineinzuversenken. Das Motiv war ja einwandfrei gegeben. Ihre Wut auf die Herrin, die den Fehltritt ihrer Angestellten deren Eltern mitgeteilt hatte. Und dann war der zweite feste Punkt:
Nach des Geheimrats Tode hatte das Mädchen auf dem Schreibtisch seiner Herrin den liegengebliebenen Zettel gefunden, der eine Abschrift von dem Abschiedsbriefe ihres Gatten war ... und hatte diesen in die Nachttischschublade ihrer Herrin geschmuggelt, bevor sie sich zur Polizei begab, um ihre Herrin zu denunzieren ...
Aber – die Frage: wie war das Mädchen auf die Idee gekommen, das Dokument, das der Zufall ihr in die Hände gespielt, just auf diese – diese über alle Begriffe groteske Erfindung und Verknüpfung gegen ihre Herrin auszuspielen? Dazu gehörte denn doch eine Phantasie – eine Phantasie, die eigentlich über den möglichen Bildungsgrad eines solchen Geschöpfes weit hinausging –! Anna Krölke mußte sich folgendes gesagt haben: daß der Geheimrat Selbstmord begangen hat, liegt absolut klar am Tage. Daß er den Brief hinterlassen hat, in dem er sich zu dem Plane dieses Selbstmordes bekennt, ist ebenfalls eine unumstößliche Tatsache ... Diesen Voraussetzungen gegenüber gab es überhaupt keinen anderen logisch denkbaren Weg, als den, auf den Anna Krölke schließlich verfallen war ... Die Fabel der hypnotischen Beeinflussung ...
Aber – wenn es wirklich eine Fabel, eine Erfindung war – wie kam das Mädchen aus dem Volke just auf diesen – auf diesen Einfall!? wie kam es überhaupt auf die Begriffe der Hypnose und der Suggestion –?!
Nun freilich – das mochte sich am Ende nachweisen lassen. – Und überhaupt: vielleicht war der ganze Einfall doch nicht so sehr über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit hinaus, wie es sich beim ersten Erwägen anließ. In dem großen Berlin gab es Gelegenheit genug, sich einen Anflug von Aufklärung über alle möglichen okkulten Themata anzueignen. War es denn so ganz ausgeschlossen, daß Anna Krölke einmal irgendwo einen Experimentalvortrag über Hypnose mit angehört hatte? Noch vor wenigen Tagen hatte der Referendar in der Presse die Ankündigung einer solchen Vorführung gelesen. Also –!
Und dann – dann gab es noch eine zweite Lösung. Vor wenigen Tagen hatte in dem Gebäude des Reichstages eine Ausstellung mehrerer gemeinnütziger Gesellschaften wider die Schmutz- und Schundliteratur stattgefunden. Hans Fritze war zwar nicht dort gewesen, hatte aber ein paar ausführliche Berichte der Presse über die Ausstellung und die Vorträge gelesen, die dort gehalten worden waren. Und dabei war immer wieder betont worden, wie häufig es vorkomme, daß diese Art von Literatur, indem sie Verbrechen darstelle, Verbrechen anstifte ...
Warum sollte das, was so fatal nach der Hintertreppe duftete, nicht vielleicht tatsächlich ... über die Hintertreppe heraufgekommen sein –? War es denn nicht möglich, daß Fräulein Anna Krölke ihre Kenntnisse über Hypnose und über die Möglichkeit, durch Hypnose ein Verbrechen zu begehen, einem derartigen literarischen Gebräu verdankte –?!
So grübelte der kleine Referendar. So türmte er in seinem Herzen einen mathematischen Entlastungsbeweis für die unglückliche Frau auf, deren Schicksal ihn angepackt hatte, wie noch kein andres Erlebnis seines jungen Daseins. Und immer wieder schwur er sich im stillen zu ihrem Verteidiger ... zu ihrem Ritter ... ihrem Retter ...
Und nach der schlaflosen Nacht, die dem ungeheuren Erlebnis gefolgt war, brachte schon der folgende frühe Morgen seine Ängste, seine Pläne einen Schritt vorwärts. Kaum hatte er das Amtszimmer seines Chefs betreten, da sagte der Untersuchungsrichter zu ihm:
»Herr Kollege, Sie sind nun einmal mit der Sache Mengershausen bekannt – Sie können sie nun auch weiter bearbeiten und mich gleich heute als Gerichtsschreiber zum Tatort begleiten. Um drei Uhr Augenscheinseinnahme in der Bleibtreustraße. Halten Sie die Akten bereit – wir fahren dann zusammen im Auto hin.«
An diesem ganzen Vormittag wurde der Aktenstoß, der zur Rechten des Referendars Hans Fritze lag, damit er für seinen Chef die erforderlichen Verfügungen entwerfe und ihm darüber nachher Vortrag halte, nicht kleiner. Wohl blätterte der junge Herr ohn' Unterlaß ein Aktenstück nach dem andern durch ... wohl überlasen seine Augen mechanisch Protokolle, Personalberichte, Gerichtsbeschlüsse ... bis zum Zentrum seines Wesens drang das alles nicht vor, formte sich nicht zu Bildern, verdichtete sich nur zur schattenhaften Phantasievorstellung einer Berufshandlung ...
Und immer von Zeit zu Zeit flogen seine Blicke zu der Verfügung hinüber, die sein Chef noch gestern Abend in später Stunde in die Akten eingezeichnet und mit dem Vermerk »Sehr dringlich!« an die Gerichtsschreiberei weitergegeben hatte, deren Ausfertigungsvermerke nun bereits am Rande standen und bewiesen, daß die Justizmaschine im »Fall Mengershausen« tadellos funktionierte ... Die Verfügung lautete kurz und bündig:
Verfügung.
1. Morgen, am 31. Januar 1911, 3. n. Einnahme des richterlichen Augenscheins am Tatort, im Hause des verstorbenen Geh. Sanitätsrat Dr. Mengershausen, Charlottenburg, Bleibtreustraße 123.
2. Zum Termin an Ort und Stelle vorzuführen die Angeschuldigte.
3. Nachricht der Königlichen Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger.
4. Zu laden zum Termin an Ort und Stelle die Zeugin Anna Krölke.
5. Der Referendar Dr. Fritze wird zum Gerichtsschreiber bestellt.
B. 30. 1. 11.
Der Untersuchungsrichter XXIII.
Dr.
Alberti.
Gott – wie grausam, wie seelenlos nüchtern das klang! Hans Fritze meinte die erbarmungslose Roheit dieses Juristenhandwerks nie so schneidend gefühlt zu haben, wie in diesem Augenblick ... Die dürren, schematischen und so verzweifelt sachgemäßen Anordnungen seines Chefs – die bedeuteten Menschenschicksale ... Katastrophen, Tragödien ...
Und für ihn selber – für den kleinen Referendar in der zweiten Station des juristischen Vorbereitungsdienstes ... was bedeuteten sie für ihn –?! Auch für ihn bedeuteten sie ein Schicksal ... das ahnte das junge Knabenherz ...
Sie bedeuteten, daß er als Beamter, nur mit der mechanischen Funktion des Schreibens nach Diktat beauftragt, das Haus betreten würde, in dem ein großer Mensch die furchtbaren Kämpfe durchlebt hatte, die einem so tragischen Entschluß vorausgegangen sein mußten ... mußten ... das Haus, in dem dieses Mannes Weib – wie auch immer sie zu ihm gestanden haben mochte – und konnte es denn anders sein? mußte sie ihn denn nicht verehrt, geliebt, vergöttert haben, ihn, der ein Arzt und Menschentröster gewesen war sein Leben lang? Von dessen Verehrung die Spalten aller Blätter voll waren, die Todesanzeigen all der zahlreichen Korporationen, denen er als hochgeehrtes Mitglied, meist an leitender Stelle angehört hatte –? Und dann hatte man ihr mitgeteilt, er liege in seinem Arbeitszimmer mit durchschossener Schläfe ... dann hatte man ihr den Brief gegeben, in dem er Abschied von ihr nahm ... und der nun, von einem grauen Amtskuvert umschlossen, als Überführungsstück zu den Akten gegen »die p. Mengershausen« »asserviert« war! Und er, Hans Fritze – er würde schließlich auch das Allerheiligste dieses Hauses betreten ... das Gemach, in dem diese Frau des großen Mannes Weib gewesen war ...
Des großen Mannes ... des ... alten Mannes ...
Sie, die schöne ... die junge ... die Frau, an die nur zu denken schon das Blut in Wangen und Augen trieb ... die Gedanken trübe, den Willen rebellisch machte –!
Und punkt dreiviertel Drei stieg Doktor Hans Fritze wirklich mit seinem Chef, dem Untersuchungsrichter Dreiundzwanzig, vor dem Portal des riesigen Justizpalastes in Moabit ins Automobil und rollte gen Charlottenburg ...
Weiß der Teufel, wie es zugehen mochte, daß selbst in dem großen Berlin so etwas sofort herumkam –! Vor dem Hause 123 in der Bleibtreustraße standen ein paar Dutzend Gaffer, als die beiden Justizbeamten dem Wagen entstiegen ...
In dem Korridor des eleganten Hauses, der völlig als behaglicher Wohnraum ausgestattet war, wurden sie von dem Rechtsanwalt Herold empfangen ... dem Manne, den Hans Fritze zur Stunde glühender beneidete, als er je irgendeinen Menschen auf Erden beneidet hatte ... Auch ein junger, bebrillter Herr war anwesend, der sich als Assessor Neumann, Vertreter der Königlichen Staatsanwaltschaft, vorstellte. Und dann saß da in einer Ecke eine schlanke, mit billiger, geschmackloser Eleganz aufgetakelte Person – an ihren roten Haaren, ihren dreisten, frechen Blicken erkannte Hans Fritze sie sofort als die Denunziantin ... Übrigens verteufelt hübsch war die Kanaille! Wenn er ihr auf der Straße begegnet wäre – er würde sie als eine der Stammgäste des Café Riche eingeschätzt haben ...
»Ist die Angeschuldigte schon zur Stelle?« fragte der Untersuchungsrichter den Rechtsanwalt.
»Allerdings ... ich habe den vorführenden Beamten veranlaßt, sich mit ihr in das Speisezimmer zu begeben. Herr Assessor Neumann war schon anwesend, als sie vorgeführt wurde. Er wird mir bezeugen, daß ich nur in seiner Gegenwart mit ihr geredet habe.«
Herr Neumann nickte bestätigend.
»Sie ... sind ein Freund dieses Hauses, nicht wahr, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Richter.
»Allerdings. Meine Frau und ich gehörten zu den nächsten Freunden der Familie.«
»Also bitte, meine Herren –! Sie haben wohl die Güte, uns zu führen, Herr Rechtsanwalt.«
Die Herren betraten das Speisezimmer, ein Berliner Zimmer mit schweren, prachtvollen Spätrenaissancemöbeln in schwarzer Eiche. Die kärgliche Beleuchtung eines wolkenverhangenen Wintermittags, der nur durch das einzige Seitenfenster aus dem Hofe in das weite Gelaß drang, ließ kaum die Umrisse einer schwarzgekleideten Frauengestalt erkennen, die sich nun erhob ... in ihrem eigenen Hause eine Gefangene ... denn neben ihr schoß stramm und stur die Reckengestalt eines behelmten Schutzmannes in die Höhe, der nun auf den Untersuchungsrichter zutrat und dienstlich meldete:
»Untersuchungsgefangene Mengershausen zur Stelle.«
Mit geschäftsmäßiger Gelassenheit ersuchte der Untersuchungsrichter die Herren Platz zu nehmen. Auch ihr, die in diesen Räumen die Hausfrau war, wies er mit einer Handbewegung einen Stuhl an ...
»Ich werde zunächst einen Situationsplan der Wohnung aufnehmen. Vielleicht aber können wir uns diese Arbeit vereinfachen, wenn Sie, Frau Mengershausen, etwa einen Plan der Räumlichkeiten besitzen sollten?«
»Ich glaube mich zu erinnern, daß so etwas existiert. Mein Mann hatte jedenfalls früher einen solchen Plan ... wenn er noch vorhanden ist, so muß er in der rechten Schublade seines Schreibtisches liegen.«
Der Richter bat sich den Schlüssel aus. Frau Mengershausen entnahm ihn ihrem Schlüsselkorbe, welcher im Büfett eingeschlossen war, und dann sandte der Richter seinen Gerichtsschreiber auf die Suche nach dem Plan ... Und mit heißem Grauen betrat Hans Fritze ganz allein das Arbeitszimmer des verstorbenen Gelehrten ... die Stätte seiner letzten unglückseligen Tat ... Rasch war der Plan gefunden, und der Referendar hastete in das Speisezimmer zurück.
Der Richter hatte sich inzwischen bei Frau Mengershausen durch einige Fragen über die Einrichtung der Räume und die häuslichen Gewohnheiten des Ehepaares orientiert. Nun drückte er seinen Klemmer schärfer auf die Nase und studierte den Plan.
»Also bitte, Frau Mengershausen – hier ist das gemeinsame Schlafzimmer, nicht wahr? und dieser Raum hier nebenan offenbar die Badestube ... von der aus die Zeugin Krölke Sie belauscht haben will ... Man sieht schon aus dem Plan, daß sie nur durch eine Rabitzwand vom Schlafzimmer getrennt ist – es dürfte also zweifellos möglich sein, von dort aus jedes Wort zu vernehmen, das im Schlafzimmer gesprochen wird. Nun, davon werden wir uns nachher ja überzeugen. Bitte, Herr Kollege, versehen Sie diesen Plan mit dem Asservierungsvermerk – er soll als Anlage unseres Protokolls bei den Akten bleiben. Und nun, meine Herren, wenn Sie einverstanden sind, schlage ich vor, wir begeben uns ohne Verzug an den Tatort.«
Die Herren erhoben sich. In natürlicher Diskretion vermied es jeder, Frau Susanne Mengershausen anzusehen. Nur einer konnte den Blick nicht von ihr wenden – der kleine Referendar ... Ihm war, als kehre sein ganzes Innere sich um ... aber er mußte, er mußte sie anschauen, unverwandt ... Kaum konnte er die Züge des regungslosen Gesichtes erkennen, in dem dämmernden Halblicht der Stube. Aber nun sah er, daß sie wankte ... zwischen ihren zusammengekniffenen Lippen quoll ein jäher Laut hervor, den sie nicht unterdrücken konnte ... da flogen die Blicke all der fremden Männer zu ihr hinüber ... Gustav Herold aber trat drei rasche Schritte zu seiner Klientin ... und hielt dann dennoch an ... der stämmige Schutzmann war herzugesprungen und hatte die schlanke Gestalt in seinen kräftigen Fäusten aufgefangen ...
»Entschuldigen Sie, meine Herren –!« stammelte Frau Susanne, »es ... es ist schon vorüber.«
»So – dann also bitte –!« sagte der Untersuchungsrichter und schritt voran, indem er sich des Planes als Führers bediente. Hinter dem Eßzimmer lag Frau Susannes Gemach, sehr modern in englischem Geschmack ausgestattet ... in lichten Farben, mit steifen, schlanken Möbeln. Und dann – Hans meinte zu ersticken bei diesem Anblick – dann war man im Schlafzimmer ...
Mit eiserner Ruhe musterte der Untersuchungsrichter die Einrichtung.
»In welchem der beiden Betten schliefen Sie, Frau Mengershausen?«
Susanne konnte nicht reden. Mit einer schwachen Handbewegung bezeichnete sie das am nächsten nach der Tapetentür zum Badezimmer hin gelegene Bett als das ihre.
»Und dort also schlief der Verstorbene. Wir werden mal versuchen, die Szene, über welche die Zeugin Krölke ausgesagt hat, so zu reproduzieren, wie sie sich nach deren Behauptungen abgespielt haben müßte, ihre Wahrheit unterstellt. Die Zeugin Krölke hat in ihrer protokollierten Aussage behauptet, Ihre Stimme, Frau Mengershausen, habe so geklungen, als ob Sie neben dem Bette Ihres Mannes gestanden und sich zu ihm niedergebeugt hätten. Bitte wollen Sie sich also einmal an das Kopfende des Bettes stellen. Und nun ist es wohl das Einfachste, ich gebe Ihnen das Schriftstück von Ihrer eigenen Hand, nach Ihrer Behauptung die Abschrift, die Sie von dem Briefe Ihres verstorbenen Mannes genommen haben, und Sie lesen uns dieses Konzept hier laut vor, während wir uns in das Badezimmer begeben und feststellen, ob man den Wortlaut verstehen kann. Der Herr Vertreter der Staatsanwaltschaft hat vielleicht die Güte, von hier aus den Vorgang zu überwachen und darauf zu achten, daß Sie mit entsprechend lauter Stimme lesen.«
Hans Fritz fühlte, wie ihm das Herz still stand. Solch eine Folter konnte ein Mensch über einen andern verhängen, mit dem felsenfesten Bewußtsein, sich in Ausübung seines Amtes zu befinden –!
Er sah den Rechtsanwalt Herold an, überzeugt, der würde doch jetzt irgendwie intervenieren ... aber nein, der Verteidiger rührte sich nicht ... Offenbar wollte er auch den leisesten Anschein vermeiden, als begünstige er irgendwie die Angeschuldigte ... Und wieder hefteten sich Hans Fritzes Augen auf Frau Susanne ... Er konnte ihre Züge nicht deutlich erkennen, sie stand scharf gegen den zweiten hellen Ausschnitt des hinteren der beiden Fenster, durch die der falbe Tag hereinstierte. Mit bebenden Händen nahm sie aus der Hand des Untersuchungsrichters das verhängnisvolle Blatt entgegen, das ihre Schriftzüge trug ... Ihre Augen irrten über die Buchstaben von ihrer eigenen Hand hin, als ständen unverständliche, sinnlose Worte dort in irgendeiner verschollenen Schrift aus grauen Vorzeiten ...
Der Untersuchungsrichter hatte sich gleichmütig der Tapetentür zugewandt, die ins Badezimmer führte. Da schluchzte Frau Susanne plötzlich so heftig auf, daß alle Männer entsetzt zu ihr herumfuhren.
»Das kann ich nicht –« wimmerte sie, »nein, nein ... das kann ich nicht ...«
Der Untersuchungsrichter sann einen Augenblick nach. Es schien ihm denn doch aufzugehen, daß er seinem Opfer eine unerfüllbare Zumutung gemacht ...
»Sie mögen recht haben ... vielleicht ist es besser, Sie lesen irgend etwas Gleichgültiges. Da –« er reichte ihr eine Zeitungsnummer, die er aus der Rocktasche gezogen – »lesen Sie bitte irgend etwas Beliebiges aus dem Blatte da – den Leitartikel an der Spitze, oder was Sie wollen. Nur langsam und deutlich bitte – und mit ein wenig eindringlicher Stimme ... als wenn Sie ... na, Sie werden mich schon verstehen.«
Und wieder wandte er sich zum Badezimmer. Der Verteidiger und der Referendar folgten. Nur Assessor Neumann und der Schutzmann blieben im Schlafzimmer bei Frau Susanne zurück.
Das Badezimmer entsprach in seiner luxuriösen Ausstattung durchaus dem Charakter der Wohnung. Die eingelassene Badewanne aus Majolikafliesen, die Wände mit weißen Kacheln bekleidet, die Decke desgleichen. Und dann als Scheidewand zwischen den beiden Zimmern nicht viel mehr als ein Stück Pappdeckel – eine dünne Gipsdielenwand, wie der Untersuchungsrichter durch Beklopfen feststellte ...
Und nun klang Frau Susannes klare Stimme ganz deutlich aus dem Nebenzimmer:
»Der neue Minister des Innern von Dallwitz hat es für opportun gehalten, sich mit einer liberal angehauchten Rede im preußischen Abgeordnetenhause einzuführen. Liberal allerdings in Gänsefüßchen. Aber gewisse Auch-Liberale sind schon wieder einmal entzückt, daß ein Minister mit Filzparisern, statt mit Kürassierstiefeln auftritt, und zeigen nicht übel Lust, der preußischen Regierung alle ihre Sünden zu vergeben, da Herr von Dallwitz –«
»Danke – das genügt –!« rief der Untersuchungsrichter vernehmlich und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. »Die Krölke hat recht, man versteht hier jedes Wort. Also dieser Punkt ist erledigt. Hören wir also die Zeugin Krölke. Ich bitte, Herr Kollege!«
Während der Referendar sich entfernte, um die Zeugin zu holen, fühlte Gustav Herold, wie die fieberhafte Spannung auf das Kommende ihm Kehle und Lunge zusammenpreßte. Er wußte ja noch nichts – er, der Verteidiger, der Freund, er wußte noch nichts –! die andern alle, die gleichgültigen Menschen, der Richter, der Staatsanwalt, der Gerichtsschreiber – sie alle hatten von dem Inhalt der Akten Kenntnis nehmen dürfen – sie alle wußten bereits, wer Fräulein Anna Krölke war, was ihre Beschuldigung bedeutete für das unglückselige Weib, das dort am Fenster lehnte, stumm und regungslos in dem Augenblick, da sie in ihrer eigenen Behausung wie eine Verfehmte, eine Ausgestoßene stand ... und vor einer Folterung, die grausamer war als die brutalste Peinigung, die nur jemals die zügellose Phantasie eines mittelalterlichen Henkersknechtes ersonnen hatte –!
Und nicht einmal das Antlitz der Freundin konnte er sehen ... ihr nicht einmal mit kurzem Augengruß den Trost zuwinken, daß er nicht nur körperlich nahe sei – daß er an sie glaube ... daß er bereit sei, sich für sie einzusetzen mit der letzten Kraft – sie zu retten um jeden Preis –!
»Es ist ein wenig finster hier, Herr Landrichter –« sagte er mit heiserer Stimme. »Wäre es nicht zweckmäßig, wenn man das elektrische Licht aufdrehte –!?«
»Nichts dagegen einzuwenden«, sagte kurz der Untersuchungsrichter.
Und Gustav Herold schritt zur Tür hinüber, suchte nach dem Schalter und ließ die Birnen aufglühen. Blitzschnell flog sein Blick zu der Freundin hinüber. Die hatte die Hand auf die Augen gelegt, geblendet, unfähig, all dies jähe Licht zu ertragen, das nun plötzlich aufgleißte, zurückgeworfen vom lichten Getäfel der Wandbekleidung, dem matten Flimmern des gestickten Überbettes, dem anmutigen Faltenfall des spitzenüberrieselten Betthimmels ...
Und als sie dann die Hände sinken ließ – auch dann gingen ihre Augen nicht in die Runde ... sie blieben tief gesenkt ... und Gustav begriff, daß es der Freundin unmöglich sein mochte, in diesem Augenblick einem Mann ins Auge zu schauen ... und ihm am letzten ...
Und nun öffnete sich die Tür, und im Rahmen tauchte der grellfarbige, extravagante Hut, das dreiste Rotblond der Anna Krölke auf. Sie trat mit ein paar raschen Schritten bis in die Mitte des Zimmers vor, stand dann, die Hände leicht auf den langen, flachbeknopften Stiel ihres Regenschirms gestützt, begrüßte die Herren mit leichtem Kopfnicken, während sie von ihrer früheren Herrin nicht die geringste Notiz nahm.
»Fräulein Krölke,« sagte der Untersuchungsrichter, »das Gericht hat sich in dies Haus begeben, um den Ort zu besichtigen, an dem nach Ihrer Angabe die von Ihnen angezeigte Straftat begangen worden sein soll. Sie geben zu, daß dies Zimmer der Schauplatz der Ereignisse ist, die Sie der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht haben, nicht wahr? Und dieser Raum nebenan die Badestube, von der aus Sie das Verfahren der Angeschuldigten belauscht zu haben behaupten –?!«
Ein halb verlegenes, halb selbstzufriedenes Lächeln ging über Anna Krölkes Lippen, deren brennendes Rot der Nachhilfe durch den Schminkstift nicht zu entbehren schien. Sie nickte nur bestätigend, und ihre graugrünlichen Augen unter den langbewimperten Lidern gingen dabei mit rascher Prüfung zwischen den drei Herren hin und her, die sie sich gegenüber sah. Der Richter, der bebrillte Staatsanwaltschaftsassessor schienen nicht allzu viel Eindruck auf sie zu machen; um so nachdrücklicher verweilte ihr Blick auf der trainierten, straffaufgerichteten Gestalt, den scharf modellierten, angespannten Zügen des Rechtsanwalts Herold ... Dann senkte sie plötzlich die Augen, wie niedergezwungen von seinem Blick, um sie nach einem Weilchen wieder zu erheben und abermals langsam und schmelzend auf den blonden Mann zu richten, der dort am Bette stand, wirkungsvoll umrahmt durch die braunen Streifen des aufgeschlagenen Pelzfutters ... während der Anzug der beiden Justizbeamten die billige Durchschnittsware des Kleiderbazars verriet ...
»Sie haben ausgesagt,« fuhr der Untersuchungsrichter fort, »Ihrer Vermutung nach müsse Frau Geheimrat Mengershausen, während sie in der von Ihnen beschriebenen Art auf ihren schlafenden Mann einzuwirken versuchte, etwa dort gestanden haben, wo sie jetzt steht – wenn ich Ihre damalige Aussage richtig verstanden habe. Stimmt das?«
»Gewiß, Herr Richter – da wird sie wohl gestanden haben ... wenigstens so angehört hat es sich ...«
»Und nun wollen Sie uns zeigen, an welcher Stelle und in welcher Stellung Sie die Äußerungen Ihrer Dienstherrin belauscht haben –
Ohne die leichteste Verlegenheit zu zeigen, schritt Anna Krölke mit wippenden Hutschleifen zur Tür des Badezimmers hinüber, stellte sich an die Wand und legte den Kopf so dicht daran, als der Umfang ihres Hutes es gestatten wollte.
»So hab' ich das gemacht, Herr Richter ...«
»Schön – das wollte ich für den Augenblick von Ihnen wissen, weiter nichts. Meine Herren – ich für meine Person bin orientiert. Haben der Herr Vertreter der Staatsanwaltschaft oder der Herr Verteidiger noch Fragen, die sich auf die örtlichen Verhältnisse beziehen?«
Rechtsanwalt Herold trat unwillkürlich zwei Schritte vor.
»Ich hätte eine große Anzahl von Fragen an die Zeugin zu stellen, Herr Richter!« sagte er hastig, und eine fieberhafte Erregung zitterte durch seinen Ton.
Ganz verblüfft, mit weit aufgerissenen Augen starrte die Zeugin Krölke ihn an, und auf ihrem Gesicht war zu lesen, daß sie erst in diesem Augenblick zu begreifen begann, der schöne Mann da drüben, der einzige, der ihr gefiel im Kreise – denn Referendarius Fritze hielt sich ganz bescheiden im Hintergrunde und ward von ihr gar nicht beachtet – dieser eine also stehe auf der Gegenseite ... sei ein Feind ... und gleich darauf hob sie die Augen aufs neue zu ihm mit einem Ausdruck sanft klagenden Vorwurfs ... schüchterner Bitte um Schonung und Glauben ...
»Bedaure, Herr Rechtsanwalt,« sagte der Untersuchungsrichter. »Für mich ist der Zweck des heutigen Termins erschöpft. Ich bin nur hergekommen, um den Augenschein des Tatortes einzunehmen. Und nur zu dieser Untersuchungshandlung bin ich auch verpflichtet, dem Verteidiger, der Angeschuldigten und der Königlichen Staatsanwaltschaft die Anwesenheit zu gestatten. Die weitere Vernehmung der Zeugin und der Angeschuldigten werde ich zwar ebenfalls heute und zwar in diesem Hause noch vornehmen, aber nicht an Ort und Stelle, und hierbei steht Ihnen nach dem Gesetze keinerlei Mitwirkung zu.«
Und wiederum stand Doktor Gustav Herold gesenkten Blickes, befangen, mit wehrlos herabhängenden Armen. Wieder reckte sich gegen ihn und seine Schutzbefohlene die barbarische Maxime des Gesetzes empor, die den Angeschuldigten während des ganzen Untersuchungsstadiums isoliert und entrechtet ... Frau Susanne warf einen Blick voll entsetzten Flehens zu ihrem Rechtsbeistand hinüber, aber der konnte nur mit einem Achselzucken antworten. Es war alles umsonst ... der Paragraphenwall türmte sich zwischen ihm und der Freundin auf, schied sie und würde sie scheiden, so lange, bis die Untersuchungsbehörde ihr Material beisammen haben würde ...
Der Assessor von der Staatsanwaltschaft verabschiedete sich alsbald gelassen und gleichgültig von dem Untersuchungsrichter. Für ihn war der Fall Mengershausen nur eine Nummer in den Registern. Je kürzer und schmerzloser der Termin sich abwickelte, um so eher konnte er zu den Aktenstößen zurück, die in Moabit seiner harrten.
Gustav Herold aber fragte zu seiner Klientin hinüber, die durch die ganze Breite der weißbespreiteten Betten von ihm getrennt war:
»Haben Sie irgendwelche Wünsche an mich, gnädige Frau?«
Susanne warf ihm einen Blick zu, so voll herzzerreißender Verlassenheit, voll unendlichen Hilfeflehens, daß er am liebsten zu ihr hinübergestürzt wäre, sich vor sie hingestellt hätte und diesen automatisch funktionierenden Justizmaschinen ins Gesicht geschrieen:
Wer dies Weib noch einmal berühren will – ja, wer sich auch nur erfrechen will, eine Frage an sie zu richten – der soll erst kommen und mich von diesem Platze reißen –!
Aber der Mann der Ordnung und Vernunft war viel zu mächtig in ihm. In völlig korrekter Haltung ging er um die Fußenden der Betten herum zu seiner Klientin hinüber, schüttelte ihr die Hand und sagte gemessenen Tones:
»Seien Sie guten Mutes, gnädige Frau! Die Herren werden alle verstehen, daß Sie das dringende Bedürfnis haben, sich mit mir, Ihrem Verteidiger, endlich einmal unter vier Augen aussprechen zu können. Aber da das Gesetz das verbietet, so gilt es eben auszuhalten. Seien Sie inzwischen überzeugt, daß von meiner Seite aus alles geschehen wird, was im Augenblick für Sie geschehen kann.«
In dem Blick, den er ihr zuwarf, als er ihr nochmals die schlanke Hand mit kräftigem Drucke schüttelte, lag nichts von all dem heißen, angstvollen Gefühl der Sehnsucht, der Hilfsbereitschaft, des Mitleids, des Glaubens an ihre Unschuld und Seelengröße, das seine ganze Seele durchschwoll wie ein majestätischer Orgelakkord. Keiner der anwesenden Vertreter staatlicher Justizhoheit hätte diesen Blick beanstanden können, so wenig wie die Worte, die ihn begleiteten. Auch Gustav Herold war in diesem Augenblick ein Rad im großen Betriebe des Justizmechanismus ... Verteidiger und Klientin, so standen Gustav Herold und Susanne Mengershausen einander gegenüber ... immer noch ...
Ein paar zeremonielle Verbeugungen wurden ausgetauscht zwischen den Männern – und Gustav Herold war Susanne Mengershausens Augen entschwunden ...
»So, Schutzmann Fehse – führen Sie die Angeschuldigte wieder auf den Korridor. Und Sie, Fräulein Krölke, warten ebenfalls draußen, bis ich Sie hereinrufen lasse.«
Dann wendete er sich an seinen Referendar: »Kommen Sie, Herr Kollege – wir wollen zunächst das Augenscheinsprotokoll entwerfen und dann zu den Vernehmungen schreiten.«