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Der Augenblick war da, mit dem Gustav Herolds Phantasie seit mehr denn vier Wochen sich täglich und stündlich beschäftigt hatte ... Er stand in dem niedrigen, dumpfigen Zimmerchen, das als einziges Mobiliar den graugestrichenen Tisch in der Mitte aufwies und die vier Stühle an seinen vier Seiten. Hinter ihm war die Tür ins Schloß gefallen, die Schritte des Schließers entfernten sich klappernd auf den Fliesen des Korridors.
Und Gustav Herold fühlte, wie sich eine dunkle, lähmende Spannung auf sein ganzes Wesen legte. Ihr sich zu entraffen, reckte er gewaltsam den mächtigen Thorax, straffte die Sehnen der Arme, ballte die Fäuste ... nein, er wollte sich nicht unterkriegen lassen ... Alles war wohl durchsonnen ... nur noch als Rechtsanwalt stand er in diesem Augenblick an dieser Stelle, nur als Verteidiger ... was den Menschen in ihm an das Schicksal dieser Frau gefesselt hatte, das lag hinter ihm ... das war überwunden, erstickt, ausgelöscht, war ja niemals wahr gewesen ...
Zum erstenmal mit Susanne allein –! so allein, wie er noch niemals mit ihr zusammen gewesen. Und hier – hier sollte sich das vollenden –! War das nicht wie eine Mahnung, den Ton des Beieinander ganz auf korrekte Erfüllung der Berufspflicht zu stellen ... auch den leisesten Hauch, den Blick des Auges unter die Herrschaft dieser einen, einzigen Pflicht zu stellen –!?
Und sie –?! mit welchen Gefühlen mochte sie diesem Augenblick entgegenharren –?! Wer war's, auf den sie wartete –? der Verteidiger? der Retter vor der dräuenden Not einer Anklage auf Leib und Leben? oder ... der Freund ... der Vertraute jener seltsamen Zwiesprache, bei der in jähem Bekenntnis die Herzen sich ausgetauscht hatten?! Der Mann, zu dem sie gesprochen hatte wie ... wie doch wohl zu keinem andern ... auch zu dem »dunklen Freunde« nicht ... war's der –?!
Einerlei – einerlei –! Wen immer du suchst, schöne Frau – finden wirst du hier nur einen – nur den Verteidiger –!
Horch – ein stumpfer, schwerfälliger Schritt da draußen ... und ein elastischer, lebhafter ... Räuspern und Schlüsselklappern, und Rascheln und Knistern eines Frauengewandes ... Und nun knarrte der Schlüssel im Schloß ... nun knackte der Riegel zurück ... nun öffnete sich die graue Eisenpforte ... und da war sie ... sie stand an der Tür ... sie legte die weiße Hand auf die Brust, die hoch ging unterm schwarzen Witwenkrepp ...
»Wenn Se wer'n fertig sind, Herr Rechtsanwalt – denn sind Se so jut un klingeln!« hüstelte der alte Schließer und humpelte hinaus.
Die graue Eisentür fiel zu, der Schlüssel knackte und rasselte, der schlürfende Schritt entfernte sich. Gustav und Susanne waren allein.
»Endlich ... endlich ...« flüsterte Susanne heiser. Die hohe, schlanke Gestalt wankte, der Kopf sank vornüber ... schnell sprang Gustav Herold zu, ergriff die eiskalten, zitternden Hände, wollte sie an seine Lippen ziehen, doch da taumelte Susanne so haltlos, daß sie gefallen wäre, hätte er nicht mit raschem Griff die Rechte um ihren Nacken gelegt und sie aufgefangen. Er führte sie zu dem Stuhl, der an der Breitseite nach der Tür zu stand ... sie fiel auf den Sitz, ihr Oberkörper sank schwer nach vorn, die Ellenbogen schlugen hart auf die Tischkante, der Kopf mit den tiefniederhängenden schwarzen Scheiteln und dem schweren Flechtenbau drückte sich tief in die straffe Fülle der gekreuzten Arme hinein. So lag sie ein paar Sekunden regungslos – nur ein stöhnendes Schluchzen durchrüttelte in schweren Stößen den zuckenden Körper.
Und Gustav Herold fühlte, wie all die mühsam erquälte Fassung seiner Seele abfiel wie ein zerfetztes Bettlergewand. In schreckhafter Klarheit stand diese eine Erkenntnis vor ihm: daß er diesem Weibe verfallen sei – daß ihr Schicksal das seine sei, daß ihrer beider Leben ineinandergeschmiedet und zusammengeflochten seien ...
»Gnädige Frau –« stammelte er nur hilflos verloren, »gnädige Frau ...«
»Lieber Freund – o lieber Freund ... wenn Sie ahnen könnten ...«
»Fassen Sie sich, Frau Susanne – ich bitte Sie um das eine, fassen Sie sich –! Wir haben so unendlich viel miteinander zu beraten – Sie müssen sich aufraffen, müssen sich zur Ruhe und Klarheit zwingen ...«
Susanne richtete sich auf – in einem tiefen Atemzuge weitete sich ihre Brust – sie lehnte sich halb zurück, ließ ihre Arme in den Schoß gleiten, neigte den Kopf ein wenig nach hinten und sah dem Rechtsanwalt, der über sie geneigt neben ihr stand, zum ersten Male tief und voll in die Augen, mit einem rätselhaften, schmerzlichen Lächeln.
»Ruhe und Klarheit –! Ach, Sie haben gut reden, lieber Freund ... Sie waren draußen! Aber ich ... ich bin gefangen ... war gefangen durch all diese entsetzlichen Tage und Nächte hindurch – das muß man erlebt haben, glauben Sie mir –! Gefangen –! das ist so grauenhaft ... so ... unmöglich ... nein, dann lieber gleich tot –!«
»Ich glaub's – o, ich glaub's, gnädige Frau ... Aber glauben Sie mir, auch ich bin ein Gefangener gewesen in all der Zeit ... Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben erfahren, was es heißt, gelähmten Armes, geknebelten Willens dasitzen und so gut wie nichts, ach nein, nichts, gar nichts tun können für einen Menschen, den man, ach so gern – –«
Mit gespanntem Harren brannten Susannes Augen in denen des Mannes: »Nun –?!« sagte sie langsam, »warum reden Sie nicht weiter?!«
Gustav Herold fühlte das Verlangen in diesem Blick. Nein – das durfte ja nicht sein ... er mußte ja fest bleiben ...
Er richtete sich ein wenig auf.
»Nein, gnädige Frau – nein, so dürfen wir nicht reden. Wir haben soviel ernste, soviel schauderhaft wirkliche Dinge zu bereden ... wie uns dabei ums Herz ist, darauf kommt es jetzt nicht an ... Und darum lassen Sie mich nicht davon sprechen, wie mir zu Mute gewesen ist in all diesen entsetzlichen Wochen ... hören Sie lieber das Wenige, das ich für Sie habe tun können ... und was von anderer Seite aus für Sie geschehen ist ... Lassen Sie sich berichten ... und dann, dann wollen wir beraten, was nun noch für Sie geschehen kann ...«
»Ach – nicht so schnell, nicht so schnell von der Stelle, Doktor! bedenken Sie doch – keine Menschenstimme hab' ich gehört seit jenem grauenhaften Tage, als das Gesetz die Hand auf mich legte – begreifen Sie denn nicht, wie ich danach lechze, ein menschliches Wort zu hören, haben Sie denn in diesem Augenblick nichts andres für mich übrig, als den Rechtsanwalt –?! sind Sie nicht auch ein bißchen als ... als Freund gekommen!?«
»Frau Susanne –!« stammelte Gustav Herold. »Einer von uns beiden muß doch in diesem Augenblick der Vernünftige sein – in vierzehn Tagen ist Termin ... Termin gegen Sie ... Sie stehen unter der Anklage des Mordes! des Gattenmordes! Das ist eine Tatsache – eine nackte, brutale Tatsache – mit der wir uns vor allen Dingen auseinandersetzen müssen! Da heißt's, das bißchen Verstand zusammennehmen, das diese Wochen uns überhaupt noch gelassen haben –!«
»Vierzehn Tage noch –!« rief Susanne, »ganze vierzehn Tage! Sie werden mich täglich besuchen – Sie müssen mich besuchen! Ich bin verschmachtet, ausgehungert, verdorrt und verkommen in meiner Einsamkeit! Helfen Sie mir, zunächst einmal wieder Mensch zu werden! Später will ich Ihnen gerne Rede stehen – später! jetzt will ich nichts als Sie sehen – Sie fühlen, wenn Sie mögen ...«
Und ehe Gustav Herold es verhindern konnte, hatte sie seine linke Hand ergriffen und die heißen, zuckenden Lippen draufgepreßt. Und ein paar schwere, glühende Tropfen brannten dabei auf seiner Haut ...
»Gnädige Frau – was tun Sie, gnädige Frau –?!«
»Ach was, gnädige Frau –! bin ich für Sie nichts als gnädige Frau –?! Dann ist es ein trauriger, kläglicher Wahn gewesen, das einzige, was mich getröstet hat in all diesen entsetzlichen Wochen – der Gedanke, von dem ich gelebt habe, ja gelebt –! ohne den ich mich längst am Eisengitter meines Fensters aufgehängt hätte – ja, das hätte ich getan, wenn dieser einzige Gedanke nicht gewesen wäre ... der Gedanke: er ist da ... er sehnt sich wie du auf den Augenblick, wo die gräßlichen Paragraphenmauern einstürzen werden zwischen uns –! Sagen Sie mir, daß es so gewesen ist, Gustav Herold! sagen Sie mir, daß Sie niemals, niemals irre geworden sind an mir – Sie wenigstens nicht!«
Susanne war aufgesprungen – mit beiden Händen umklammerte sie des Mannes Arme, ihre Augen, zuckend wie Irrlichter, standen dicht unter seinem Gesicht ...
Er schwieg ... bis ins Tiefste zerwühlt, entwurzelt, hinweggerafft vom Sturm ihrer Leidenschaft.
»Warum schweigen Sie, Gustav Herold –?! warum reden Sie nicht –?! wär's möglich –?! auch Sie – auch Sie hätten mich fallen lassen –?!«
»Frau Susanne – haben Sie Mitleid mit mir ... fragen Sie nicht ... jetzt noch nicht! Lassen Sie mich erzählen – lassen Sie mich ruhig erzählen – Sie werden begreifen, wie es mich hin und her gezerrt und geschleudert hat in den vergangenen Tagen ... hin und her zwischen Grauen und Jauchzen, zwischen Gewißheit und Zweifel ...«
»Zweifel –?! also doch Zweifel?! Zweifel woran?! Nein, Gustav Herold – Sie hätten nicht zweifeln dürfen an mir ... Sie, ja Sie hätten sagen müssen: Was immer sie getan hat, getan haben kann – ist recht gewesen, muß recht gewesen sein, denn sie hat es getan –! Sehen Sie, das – das hab' ich von Ihnen erhofft – das ist's, was mich aufrecht gehalten hat in der Tortur, dem Martyrium dieser entsetzlichen Einsamkeit ... auf Sie hab' ich gehofft, gebaut ... ich habe geglaubt. Sie würden zu mir stehen – Sie müßten zu mir stehen ... Sie würden sich sagen ... was Susanne Mengershausen tut, das ist, als hätte ich selber es getan –! Ist sie unschuldig – gut, so bin ich da, um die Welt an ihre Unschuld glauben zu lehren, ist sie schuldig – gut, so werde ich mit ihr tragen, was doch nur für mich geschehen sein konnte – nur für mich –!«
Der Rechtsanwalt stand wehrlos, im Innersten zerrissen. Was sollte das alles –?! Kannte sie ihn so schlecht, daß sie wähnen konnte, er würde zu ihr stehen, auch wenn sie in Wahrheit ... das war, was die Anklage ihr zutraute –?! Wußte sie nicht, daß Recht und Unschuld die Grundpfeiler seines Lebens waren –?! Wußte sie nicht, daß er ein Mann war, ein Mann, der nicht einen Augenblick das Leben ertragen hätte, wenn die Ehre verloren war –?!
Lange und verlangend sah Susanne ihn an. Dann ließ auch sie ihre Hände, die bis dahin seine Arme umklammerten, ermattet am Leibe heruntersinken ... ein wehmütiges und gar ein bißchen verächtliches Lächeln spielte um ihre schmalen Lippen.
»Ich scheine Sie erschreckt zu haben, lieber Freund ... Sie sehen vielleicht erst in diesem Augenblick, wer Susanne Mengershausen ist – wer sie ... vielleicht sein könnte ... Nun, beruhigen Sie sich – ich spreche ja nur von Möglichkeiten, die ich geträumt habe ... Wenn ich mich getäuscht habe, nun, so platzt eine Seifenblase ... im übrigen ändert das ja nichts am Stande der Dinge ... also wenn Sie wollen ... wenn Sie mir wirklich – nichts andres zu sagen haben, als was Sie jeder andern Klientin an dieser Stelle sagen würden –«
»Frau Susanne –« sagte Gustav Herold heiser, »quälen Sie mich nicht. Ich will ... ich will jetzt nur als Verteidiger zu Ihnen treten ... ich will, weil ich muß. Weil die Forderung des Augenblicks so dringend ist, daß alles andre neben ihr verstummen muß, auch die Sprache der Seele ... wir dürfen uns nicht verlieren, wir dürfen's nicht. Sie müssen mich klar sehen lassen ... müssen mir die volle Wahrheit geben, damit ich weiß, was ich zu tun habe. Ja, ich will's Ihnen nur frei gestehen – es sind viel düstere Stunden gekommen in diesen Wochen – Stunden, in denen auch ich zusammenbrach unter der Wucht der Verdachtsmomente, die sich zusammenballten gegen Sie ... Doch – das alles liegt ja zum Glück da hinten. Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß alles gut – daß alles glänzend steht. Ich habe die Akten studiert – es ist nicht die leiseste Sorge, daß irgend ein Gericht der Welt Sie schuldig sprechen könnte. Und nichts andres brauche ich mehr, als ein einziges Wort aus Ihrem Munde – dies eine Wort: Ich bin unschuldig ...«
Frau Susanne trat einen halben Schritt zurück und ließ sich langsam mit matten, doch beherrschten Bewegungen auf den Stuhl fallen. Mit einer leichten, kaum angedeuteten Bewegung wies sie auf den Stuhl, der an der andern Breitseite des Tisches, ihr gegenüber, für den verhörenden Beamten, den beratenden Verteidiger aufgestellt war.
»Also gut –« sagte sie mit völlig veränderter Stimme, »kommen wir zur Sache. Ich kann nicht mehr von Ihnen verlangen, als Sie zu geben haben. Sie sind als mein Verteidiger hier und als weiter nichts – ich werde mich bescheiden müssen. Also erzählen Sie, fragen Sie – ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
Gustav Herold wand und quälte sich, ein einziges gutes Wort für die unglückliche Frau zu finden, aber er fand es nicht. Er hätte sich zu ihren Füßen werfen mögen, hätte sie bitten mögen: befiehl mir, für dich zu sterben – ich will es tun, ohne Widerstreben, freudig, dankbar ... dann ist alles vorbei ... vorbei diese klägliche Hilflosigkeit, vorbei der Sturm der Sehnsucht, der mich in deine Arme trieb, vorbei das eisige Grauen, das mich von dir zurückstößt ... Alle Sinne, jede Faser seines Herzens verlangten nach ihr ... schrieen und befahlen, daß dies alles ein Traum sein müsse ... daß eine Stunde des Erwachens, der Erlösung kommen werde, in welcher der Bann dieser entsetzlichen Stunde gewichen wäre, und sie ihm gegenüberstände, wie sie ihm einst gegenübergesessen bei jenem ersten Erkennen ... inmitten des Festtrubels bei Kroll ... Ach – wie fern, wie weltenfern lag jene Stunde dahinten, in der märchengrauen Vergangenheit –! Wohl hatte auch über jener Stunde eine süßbeklommene Bangigkeit gelegen ... das trübe Bewußtsein doppelten Unrechts, eines Unrechts an dem vertrauenden Weibe, dem vertrauenden Freund ... Und dennoch, wie Kinderunschuld däuchte den Rechtsanwalt die leise schmerzende Beimischung von Gewissensqual im Vergleich zu der niederwuchtenden Angst, die ihn jetzt preßte. Denn – durfte er noch an ihre Unschuld glauben –?! Warum tat sie das Einzige nicht, das er in inbrünstiger Sehnsucht erharrte – warum streckte sie ihm nicht schlicht und einfach die Hand hin, sah ihm grade in die Augen und sagte: ja, ich bin unschuldig! Warum erlöste sie ihn nicht von dem Krampf, der ihn schüttelte, da sie doch wissen mußte, was ihn so schwach, so wirr, so elend machte – ihm die fröhliche Sicherheit des Willens und Handelns lähmte, die ihm sonst zu eigen war ... und die ihm sogar getreu geblieben wäre, wenn eine starke Empfindung, wenn ein schicksalsallmächtiges Liebesbegehren ihn gezwungen hätte, sich von der Gefährtin seines Lebens abzukehren und ein Band zu zerreißen, das zu schwach gewesen war, auch seine Seele zu umspannen und festzuhalten –! Warum sprach sie dies eine Wort nicht –?! Er hatte sie gefragt – ausdrücklich gefragt – warum antwortete sie ihm nicht –! Weil sie nicht ... antworten konnte –?!
Nein – sie antwortete nicht. Sie saß ihm gegenüber, nun ganz beherrscht ... sah ihn mit großen, kalten, erwartungsvollen Augen an ... Der Krampf, der sie noch vor wenigen Sekunden bis ins Innerste durchrüttelte, schien plötzlich von ihr gewichen ... auch sie schien nun willens, der Stunde ihr Recht zu geben und sich ganz nur als Klientin zu empfinden, wie er sich nur als Anwalt zu empfinden beschlossen hatte ... Ach, ein Beschluß, der über seine Kräfte ging ...
Nun, da sie von ihm endlich nichts weiter zu begehren schien denn frostige Sachlichkeit – nun hätte er unsäglich viel darum gegeben, sie wieder vor sich zu sehen, wie sie ihm entgegengetreten war – in Weichheit zerflossen, ganz hingegeben an die tränenschwere Seligkeit des Wiederfindens nach unsäglicher Trennungsqual ...
Doch – das war vorbei ... für jetzt war es vorbei. Nun gut – an's Werk denn!
Und Gustav Herold berichtete. Er berichtete auf Grund eines Plans, den er sich vorher bedachtsam zurechtgelegt. Sorgfältig trennte er aus dem wechselvollen Erleben und Erkunden der letzten Wochen alle die Dinge heraus, die »aktenkundig« waren, deren Wissenschaft also schon heute den Untersuchungsbehörden und der zuständigen Strafkammer angehörte – in Kürze der ganzen Welt angehören würde ...
All diese gewissermaßen offiziellen Momente des Tatbestandes trug er in übersichtlicher Kürze seiner Klientin vor, um ihr zunächst einmal einen Einblick in die Lage ihres Falles zu gewähren, wie er sich vor dem Auge des juristischen Beurteilers, dem das Aktenmaterial zur Verfügung stand, darstellen mußte.
Sorgfältig aber verbarg und unterdrückte er zunächst alles das, was allein in seiner Wissenschaft stand ... seine Kenntnis von Susannes Briefwechsel, von der Person des seltsamen Vertrauten, mit dem sie mehr denn ein Jahr in seelischem Austausch gestanden hatte, und vollends gar die Dinge, die er über das Wesen dieses Menschen ausgekundschaftet hatte und über den verhängnisvollen Einfluß, den er durch seine fragwürdige literarische Tätigkeit auf Susannes gegenwärtige Lage gewonnen hatte.
Susanne hörte in stummer Aufmerksamkeit zu, anfangs noch hin und wieder zusammenschauernd unter den Nachwehen der nervösen Krise, aus der sie sich emporgerafft, dann aber immer gesammelter und gelassener. Es machte fast den Eindruck, als sei es gar nicht ihre eigene Angelegenheit, deren Vortrag sie entgegennähme ... als sei, was der Rechtsanwalt ihr auseinandersetzte, ein interessanter Rechtsfall, an dem sie völlig unbeteiligt sei ... Und wie Gustav Herold in nüchtern logischer Deduktion die Lage des Falles Mengershausen entwickelte, da kam auch über ihn die objektive Ruhe des Juristen, die das wirksamste Gegengift ist gegen alle persönliche Leidenschaft ... Eine halbe Stunde mochte verstreichen, während das erste Beisammensein mit Gustav Herold und Susanne Mengershausen unter vier Augen sich nicht viel anders abspielte, denn irgend eine jener zahllosen Konferenzen zwischen Angeschuldigtem und Verteidiger, wie sie täglich zu Dutzenden in diesem Raum sich vollziehen mochten.
Das Bild, das Gustav Herold entrollte, war das eines Falles, der nicht gerade ganz einfach, aber doch durchaus hoffnungsvoll lag. Und während er sprach, immer Aug' in Auge mit seiner Klientin und nur selten einmal einen Blick auf die Notizen werfend, in denen er die Disposition seiner Auffassung der Lage zusammengestellt hatte, bemerkte er gar wohl, daß auch seine Hörerin mit geheimer Beruhigung von seiner Auffassung ihrer Lage Kenntnis nahm. Und wie Susanne ruhiger und ruhiger wurde, da überfiel den Rechtsanwalt plötzlich eine seltsame Empfindung, eine fast boshafte Schadenfreude ... der läppische Gedanke ... na warte nur – du wirst schon noch andre Augen machen, wenn du erst alles weißt –! Und mit einer fast hämischen Spannung harrte seine Seele des Augenblicks, wo der nüchtern deduzierende Verstand den ersten Teil seiner Darlegungen beendet haben würde, wo der jähe Umschwung kommen müßte, dessen Wucht die gefaßte Gelassenheit dieser schönen Maske erschüttern möchte ...
»Was ich Ihnen bisher erzählt habe, gnädige Frau, das ist der Inhalt der Akten contra Mengershausen. Was jetzt kommt, weiß einstweilen nur ich.«
Susanne stutzte – die schwarzen Augen öffneten sich einen Augenblick ganz groß und weit, doch rasch legte sich die lange Wimper wieder über das Weiße, das sie plötzlich entblößt hatte, so daß die schwarze Pupille einen Augenblick wie ein kreisrunder Fleck in dem milchigen Weiß geschwommen war ...
»Bitte –« sagte sie mit kaum merklich vibrierendem Ton.
»Ich habe bisher vergessen. Ihnen zu referieren, daß das Gericht die Beschlagnahme Ihres gesamten Briefwechsels angeordnet und durchgeführt hat.«
Susanne war zusammengefahren, wie von einem starken elektrischen Schlag durchzuckt. Ein Laut war ihr entfahren, fast ein Schrei ... Aber schon hatte sie sich wieder in der Gewalt ...
»Mein Briefwechsel – fragte sie mit umflorter Stimme. »Das – darauf war ich allerdings nicht gefaßt ... Zu welchem Zweck, wenn man fragen darf –?«
»Diese Maßregel war zu erwarten – wenn ich der Untersuchungsrichter gewesen wäre, ich hätte sie sogar ganz gewiß schon in der ersten Stunde verfügt,« sagte Gustav Herold. »Der Schluß ist außerordentlich naheliegend ... Eine Frau, welche beschuldigt wird, ihren Gatten beseitigt zu haben, mußte sich auf eine solche Maßregel gefaßt machen ... Denn das Gericht mußte sich sagen: wenn die Angeschuldigte nicht sehr vorsichtig mit der Behandlung ihrer Korrespondenz gewesen war – dann würden sich Spuren ihrer verbrecherischen Absicht auch in ihrem Briefwechsel vorfinden ... allerhand Beziehungen, welche bei dem Entschluß eine gewisse Rolle gespielt hatten ...«
Gustav Herold war kaum imstande, den gelassenen Ton des ruhig forschenden Verteidigers beizubehalten, während jede Fiber seines Wesens sich strammte und straffte im qualvollen Bangen der Erwartung. Wie während der ganzen Unterredung umfaßten seine Augen mit eingehender Prüfung das Gesicht und die ganze Gestalt der schönen Frau, ohne doch als Zentrum ihres Blicksbereichs die Augen seines Gegenübers eine Sekunde lang loszulassen. Und bisher hatten die schwarzen Augen den Blick der blauen ohne Zucken ausgehalten ... Nun aber blieben sie gesenkt und hafteten an dem zerfahrenen Spiel der schlanken weißen Finger, die unwillkürlich einen mit Stenogramm beschriebenen Foliobogen, der dort von einer früheren Vernehmung liegen geblieben sein mochte, in lauter kleine Fetzen zerpflückten.
»Hm – meine Korrespondenz? Was ... was verstehen Sie darunter? etwa den ganzen ... den ganzen Inhalt meines Schreibtisches?«
»Selbstverständlich.«
»Hm – das alles also – das alles hat das Gericht an sich genommen? Das ist jetzt alles bei den Akten?«
»Nein – nicht alles. Und nun muß ich Ihnen, gnädige Frau, eine Mitteilung machen, die Sie wohl in Ihrem eigenen Interesse am besten gegen Jedermann geheim halten werden. Ich hatte den Beschluß des Gerichts vorausgesehen – und da habe ich mich für verpflichtet und ... berechtigt gehalten, sofort nach meinem ersten Besuche bei Ihnen ... Einblick in Ihre Korrespondenz zu nehmen – selbstverständlich nach Genehmigung und im Beisein Ihrer Frau Mama – und habe nur einen Teil des Vorgefundenen an seinem Platze gelassen – den Rest aber, den bedeutsamsten Teil des ganzen Briefbestandes – den habe ich an mich genommen.«
Der schwere, langbefranste Vorhang über den schwarzen Augen flog plötzlich empor. Und in dem Blick, der sich in Gustav Herolds Augen bohrte, lag ein solches Chaos von Angst, Wut, Befehl, Flehen, Grauen und Hoffnung, daß nun Gustav Herold das Auge senken mußte, um das Entsetzen zu bemustern, mit dem dieser Blick seine Seele durchfröstelte ...
»Sie verstehen, gnädige Frau, daß dieser Schritt, den ich getan habe, in schroffem Widerspruch mit meinen Pflichten als Rechtsanwalt – das heißt als mitwirkender Faktor der öffentlichen Rechtspflege – steht. Angenommen, Sie wären schuldig, so würde ich mich durch diese Handlungsweise glattweg zu Ihrem Mitschuldigen gemacht haben. Ich habe es also nur tun können und kann es nur verantworten im felsenfesten Vertrauen auf Ihre Unschuld. Und nun muß ich Ihnen aufs neue die Frage vorlegen, die ich Ihnen schon einmal gestellt habe, ohne daß Sie mir eine klare Antwort darauf gegeben haben. Diese Frage ist die – bitte, beantworten Sie sie mir jetzt noch nicht –! Die Frage ist die: sind Sie unschuldig?! Wenn Sie diese Frage bejahen, so halte ich mich für berechtigt, den Briefwechsel auch weiterhin dem Gerichte geheim zu halten. Wohlverstanden – für berechtigt auch dann nicht im Sinne meiner Berufspflicht –! Diese würde mir unter allen Umständen gebieten, den Briefwechsel, den ich dem Zugriff der Behörden entzogen habe, noch nachträglich auszuliefern – bevor die Entscheidung gefallen ist. Aber ... vom menschlichen Standpunkte aus ... in vollem Bewußtsein des Konflikts, in den die Erfüllung dieser Menschenpflicht mich gegenüber meiner Berufspflicht versetzt – zur Vereinfachung der Situation, zur Vermeidung unnützen Skandals ... zur Vermeidung des Schimpfs, der auf das Andenken meines Freundes Artur Mengershausen fallen müßte ... Sie werden wohl wissen, was ich meine, und ich komme auf das alles noch ausführlicher zurück! – aus diesen tausend Gründen würde ich es persönlich verantworten, den Briefwechsel vor wie nach zu unterdrücken – wenn Sie mir erklären, Aug' in Auge mir erklären, daß Sie unschuldig sind. Wenn Sie es mir erklären, mir, dem Manne, den Sie mit Ihrer Freundschaft beehrt haben ... den Sie in einer, ach, so fernen Stunde noch innigerer Vertraulichkeit gewürdigt haben ... und der – so meine ich – schon deshalb Wahrheit von Ihnen verlangen kann. Und nun bitte ich Sie – sagen Sie mir, daß Sie unschuldig sind. Seien Sie sich aber dabei bewußt, daß, wenn Sie jetzt die Unwahrheit sagen – daß Sie mich dann in Ihr Schicksal mit hineinverstricken.«
Susanne hatte sich weit in ihrem Stuhl zurückgelehnt. Sie hatte die Augen geschlossen, den Kopf nach hinten zurückgeneigt, sie hatte die Arme erhoben, die Hände hinter dem Nacken verschränkt. In dieser Stellung saß sie eine ganze Weile lang völlig regungslos. Nur ihre Brust ging schwer, in harten, unregelmäßigen Stößen. Gustav Herold starrte ein paar Sekunden lang regungslos das schöne, stumme Weib vor seinen Augen an. Die Stellung, die sie angenommen, enthüllte plötzlich und rücksichtslos die Herrlichkeit ihres Leibes, und Gustav Herolds Sinne wurden jählings wach, flatterten taumelnd empor, wie ein aufgescheuchter Möwenschwarm, der kreischend den Störer seiner Ruhe umkreiste ... Und im gleichen Augenblick erkannte kühl und klar sein ungetrübter Verstand, daß dieses Schweigen auch schon ein Bekenntnis ... ein Schuldbekenntnis war ...
Und plötzlich richtete sich die zurückgesunkene Frauengestalt mit einem Ruck auf. Die Augen öffneten sich, schauten mit klarem, scharfem Blick in das Gesicht des Juristen, die festen Arme, mit harter Bewegung ineinander verschränkt, stemmten sich mit den Ellbogen auf die Tischkante. Einen Augenblick preßten die herben Lippen sich fest zusammen, als hätten sie ein Geheimnis zu hüten, das keine Macht der Erde ihnen entreißen sollten ... so saß Susanne Mengershausen, plötzlich völlig verändert, gerüstet und entschlossen zum Verzweiflungskampf ...
»Sie haben mir noch nicht erzählt, welchen Teil meiner Korrespondenz Sie an sich genommen haben,« sagte Susanne Mengershausen ganz ruhig. »Wollen Sie mir darüber nicht noch genauere Mitteilungen machen –?«
»Und Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet!« brauste Gustav Herold auf.
»Und ich werde sie Ihnen auch nicht beantworten, lieber Freund,« sagte Susanne ruhig. »Sie werden darüber nachdenken, ob Sie mir diese Frage überhaupt stellen dürfen. Sie sind inkonsequent, mein Herr! Sie haben für mich getan, was man nur für eine Frau tun kann, der man glaubt – von deren Unschuld man überzeugt ist. Wer aber glaubt, muß nicht auch noch wissen wollen.«
»Sie haben recht!« rief der Rechtsanwalt. »Als ich die Papiere an mich nahm, da glaubte ich an Sie – – aber dann – ich sagte es Ihnen ja bereits – dann sind Stunden gekommen, in denen mein Glaube bis ins Innerste erschüttert wurde ...«
»Nun – und jetzt? in diesem Augenblick –?!«
Mit scharfer, kühler Prüfung hielten Susannes Blicke die Augen ihres Verteidigers fest. Der mußte die Stirn senken. Er fand den Mut nicht, seinen Unglauben zu bekennen ... noch minder den, einen Glauben zu heucheln, der längst zerbrochen war ...
Und während sein Verstand, sein Gewissen sie längst aufgegeben hatten, schrieen seine Sinne in hoffnungsloser Wildheit dazwischen: Verloren –! für immer verloren –! verloren, wenn du sie jetzt nicht hältst – verloren, wenn du sie aufgibst –!
Ein halb schmerzliches, halb verächtliches Lächeln kräuselte Susannes Lippen.
»Sie Kind – Sie großes Kind Sie –! Sie elender Pfuscher von einem Psychologen –! Sie haben den traurigen Mut, mir die Tat zuzutrauen, die Beschuldigung zu glauben, gegen die Sie mich verteidigen sollen – und dann stutzen Sie, weil ich Ihnen ein Wort, ein einziges Wort verweigere, das Sie nun einmal von mir verlangen, Sie kindischer Dickkopf Sie –! Wäre ich die, für die Sie mich halten in diesem Augenblick – widersprechen Sie nicht, bitte, das ist zu abgeschmackt! – wäre ich die, was könnte mich hindern, nach soviel Lug und Trug auch noch die eine kleine Lüge Ihnen hinzuwerfen, um die Sie betteln, Sie Schwächling Sie –! Mein Wesen genügt Ihnen nicht – die Vorstellung, die Sie von mir haben, ist so matt und flach, daß sie versagt im ersten Augenblick der Prüfung – aber ein Wörtchen, ein armseliges Wörtchen würde genügen, um Ihnen Zuversicht und Mut wiederzugeben –! Was soll ich von so einer Schlappheit halten? was von solch einer Freundschaft –?! Sie ist keinen Pfifferling wert – ich verlache sie – ich verwerfe sie –!«
Die Stirne noch immer tief gesenkt, erschüttert, zerrissen hatte Gustav Herold dem Ausbruch der Freundin gelauscht. Durfte er ihr Unrecht geben –? hatte sie nicht recht, wenn sie seinen Kleinglauben schalt – wenn sie das Vertrauen zu ihm verloren hatte –?! Nein – es war aus. Er hatte alles verscherzt – ihre Freundschaft ... oder wie immer das Gefühl sich nennen mochte, das sie zu ihm hingezogen ... und das Vertrauen dazu, das bißchen Vertrauen in die handwerksmäßige Tüchtigkeit, das die Klientin dem Verteidiger entgegenbringen muß, wenn es sich um Tod und Leben handelt ... Alles, alles war vorbei. Ihm blieb nichts andres als sich stumm zurückzuziehen.
»Mit einem Worte, gnädige Frau – Sie verzichten auf meine Hilfe – Sie wünschen, daß ich Ihre Verteidigung niederlege, nicht wahr –!?«
Da fuhr Susanne auf mit einer hastigen Bewegung, deren Sinn Gustav Herold nicht recht verstand. Es konnte schonende Abwehr, es konnte auch Erschrecken sein ... Einen Augenblick sann sie nach mit gekrauster Stirn. Dann sagte sie mit milderem, bedachtsamem Tone:
»Nein, lieber Freund – so war's denn doch nicht gemeint. Ich ... werde nicht so leicht mit einem Menschen fertig, den ich ... der mir so wert gewesen ist, wie Sie. – Nur ... zur Besinnung möchte ich Sie bringen ... Sie zur Ordnung rufen, sozusagen ... damit Sie wissen, wer denn eigentlich hier vor Ihnen sitzt. War es recht von Ihnen, überlegen Sie doch, lieber Freund – mir – mir eine solche Frage zu stellen –?! Entweder Sie vertrauen mir – und dann bedurften Sie meiner Bestätigung doch nicht, daß ich dies ... dies Ungeheuerliche ... nicht begangen habe ... oder aber. Sie vertrauen mir nicht – und was kann dann ein Ja von mir bedeuten –?! Also war es nicht gedankenlos, war es nicht – kleinlich von Ihnen, von mir eine feierliche Bestätigung meiner Unschuld zu verlangen –? durfte ich von Ihnen nicht erwarten, daß Ihr Glaube an meine Unschuld die unerschütterliche Basis unserer ganzen Aussprache sei –?«
Was war das für ein Weib –? Ein paar Worte von ihr, und Gustav Herold fühlte seine Seele um und um gekehrt ... Wenn diese Sprache nicht echt war – was war dann Wahrheit auf Erden ... Wahrheit zwischen Menschen –! Beschämt, bittend sah er zu ihr hinüber. Da zuckte ein leichtes Lächeln auf dem strengen, düsteren Gesichte der schönen Frau – mit einer raschen Bewegung streckte sie ihm über den Tisch hinüber die schlanke, duftende Hand hin, und Gustav Herold ergriff sie mit beiden Händen, drückte den bebenden Mund darauf, die fiebernden Augen ...
»Susanne –« stammelte er, »Susanne ...«
Und wie sein Haupt so tief niedergebeugt auf der weichen, leise zuckenden Hand der Freundin lag, da fühlte er, wie ihre Linke ihm leise über das Haar strich ... immer und immer wieder ... Und es war, als ströme von dieser linden Berührung eine Macht in ihn hinüber, die ganz von ihm Besitz ergriffe ... wie eine laue, wohlige Dämmerung umfing es ihn, eine Ruhe, die er nicht mehr empfunden seit dem ersten Augenblick, da Susannes Bild vor ihm aufgetaucht war ... weit, weit da hinten ... damals, als er sterbensmatt nach seiner Operation in der Klinik des Geheimrats Mengershausen lag ... und die Bilder des Lebens erst langsam wieder vor ihm, träumerisch verschwommen sich zu regen begannen ... Es war ihm, als müsse es süß sein, so ruhen zu dürfen ... sich nimmer wieder aufrichten, nie wieder die Lippen trennen zu müssen von dieser seligen Stelle, nichts andres mehr fühlen zu müssen als dieses Streicheln auf seinem Haar.
Lieber Freund –« sagte Susanne. »Lieber, lieber Freund –!«
Da klangen auf dem Korridor draußen viele harte Schritte. Sie näherten sich der Türe. Und Gustav Herold fuhr auf – in erschrecktem Zusammenschauern ward er sich bewußt, wo er war ... und was dies alles zu bedeuten hatte, dies erste Beisammensein unter vier Augen mit ihr ... Hastig fuhr er empor. Und auch sie hatte sich aufgerichtet ... in tiefstem Erschrecken starrten die beiden Menschen einander an. Die Stunde, der furchtbare Augenblick forderte seine Rechte ...
Das harte Geklapper der vielen Schritte draußen auf den Fliesen scholl an der Tür vorüber, entfernte sich, verhallte im Korridor ... Es mochte ein Trupp der weiblichen Gefangenen sein, die von Aufsehern zu irgendeiner Arbeit geführt wurden oder von dort zurückkamen ... Einerlei – das war die Gegenwart ... die Wirklichkeit ... die den Schleier der traumentrückten Versunkenheit zerriß ... Und Gustav Herold raffte sich zusammen.
»Sie haben noch nicht alles gehört ... Sie haben gefragt, mit Recht gefragt, was ich denn mit Ihren Briefen angefangen habe ... Nun gut – lassen Sie sich berichten.«
Und nun erzählte Gustav Herold, wie sich alles zugetragen. Wie er in ihrem Schreibtisch, in all den vielen Schubladen den bunten Wirrwarr von Schriftstücken aller Art entdeckt ... wie er sie in drei große Gruppen gesondert habe – zunächst die Korrespondenz ihres Gatten ... die er unberührt gelassen habe ... die wüste Masse von Erinnerung und Andenken der verschiedensten Art ... viel wertloser Kram darunter, ein wirres Chaos eines nicht allzu wohlgeordneten Daseins ...
»Ach ja –« Frau Susanne lächelte in einer Art von kindlichem Schuldbewußtsein ... »Ordnung ist nie mein Fall gewesen –!«
Das alles habe er verbrannt, meldete Gustav Herold. Und Susanne lächelte wieder, da habe er ihr einen großen Dienst erwiesen ...
Und dann – dann kam Gustav Herold auf den dritten Teil der Korrespondenz – auf das unübersehbare Heer von Verehrern, das auf sie zugeflattert sei ... Und noch immer lächelte Susanne ...
»Was wollen Sie, lieber Freund? Das ist nun einmal so ... was kann ich für all das dumme Zeug, das euch Männern in den Kopf kommt, wenn eine Frau über euren Weg läuft, die ... nun, die nicht gerade ist wie die andren alle –?«
Gustav Herold mußte einen neuen Anlauf nehmen. Nun kam der »dunkle Freund« – –
Er zwang sich, Susannes Augen nicht loszulassen, nicht einen Augenblick, während er dies letzte erzählte. Und Frau Susanne hielt seinen Blick aus. Kein Wunder, dachte Gustav Herold – sie hat ja Zeit genug gehabt, sich zu rüsten ... sie ist gerüstet. Das kindliche, halb melancholische Lächeln schwand nicht von ihren Lippen. Mit solchen Blicken, mit solchem Lächeln mochten die schönen Frauen der großen Welt in katholischen Ländern ihrem eleganten Beichtvater ihre kleinen süßen Sünden gestehen ... Es schien, ihr fehlte gänzlich das Gefühl für das Abgeschmackte, das Groteske ... das Unappetitliche der Situation, in der sie sich wohl gefühlt durch Monate und Monate hindurch. Aber freilich, sie wußte ja auch noch nicht alles ... sie wußte ja noch nicht, wer denn eigentlich der Bursche gewesen war, den sie mit ihrem Vertrauen beehrt hatte ...
Nun, auch das durfte Gustav Herold ihr nicht vorenthalten. Und nun erzählte er genauer von dem Anteil, den der kleine Referendarius an ihrem Schicksal genommen und so wirksam betätigt hatte. Also dieses junge fremde Herrchen, von dem Susanne nie etwas gehört oder gesehen hatte – denn wenn er den früheren Terminen beigewohnt hatte als Vertreter der Untersuchungsbehörde, dann hatte Frau Susanne in ihm nur den Störenfried ihres Beisammenseins mit ihrem Verteidiger erblickt und davon nicht einmal die leiseste Witterung gehabt, daß dort ein Mann – daß dort ein opferbereiter Verehrer stehe. Also solch ein flaumiges junges Kerlchen hatte sich freiwillig zu ihrem Knappen geschworen, hatte in Stille und Heimlichkeit rettende Taten für sie getan – und sie nichts davon wissen lassen –! nichts wissen lassen können – Gustav Herold meinte ordentlich zu sehen, wie Susanne bezaubert war von dem Gedanken ... Wie geistesabwesend lächelte sie träumerisch vor sich hin ... Es war, als suche sie in ihrem Gedächtnis nach dem verschwundenen Bilde dieses getreuen Fridolin ... als sänne sie nach einer königlichen Belohnung für ihn. Und wieder fühlte der Rechtsanwalt sich herausgezerrt aus der haltlosen Hingabe der just vergangenen Viertelstunde in das alte Unbehagen, in den alten Widerwillen ...
Aber ruhig und klar berichtete er weiter. Es war ja noch so viel zu erzählen ... da war Doktor Fritzes Begegnung mit der Denunziantin im Schwoflokal an der Behrenstraße ... da war seine Entdeckung, daß Fräulein Krölke ihre Denunziation sich nicht aus den Fingern gesogen, sondern daß für diese ein literarisches Vorbild existieren müsse. Da war endlich die Entdeckung dieses literarischen Vorbildes selber, des »Bundes mit den Höllengeistern ...«
Susanne lachte hell auf, als sie den Titel hörte. Aber als nun der Rechtsanwalt berichtete, daß er selber im Besitz eines Exemplars des Romanes sei, daß dort Susannes Schicksal fast haarklein beschrieben sei – nur ergänzt und bereichert um jene nächtliche Szene, welche die Krölke ihrer Denunziation zugrundegelegt – da horchte Frau Susanne hoch auf, ein ungläubiges Staunen ließ ihre dunklen Augen fast aus den Höhlen treten ...
Worüber staunte sie –?! Darüber, daß das Schicksal selber auf so absonderlichem Wege den Beweis ihrer Unschuld zu führen trachtete –?! Oder entsetzte sie sich über den phantastischen Parallelismus zwischen dem, was eines Kolportageschmierers Phantasie ersonnen, und ihrem eigenen geheimsten Erleben –?! Vergebens quälte Gustav Herold sich ab, den Ausdruck dieser starren Züge zu enträtseln ... durch ihn hindurch in das Innere dieser Seele vorzudringen, die immer dunkler und verschleierter vor ihm lag ... Und Gustav Herold flehte, um was vor ihm ungezählte Millionen von Menschen gefleht hatten und nach ihm ungezählte Millionen flehen würden, flehte um »einen Augenblick Allwissenheit« ...
Oftmals machte der Erzähler eine Pause, immer wieder in der Hoffnung, seine Hörerin möge endlich einmal mit einem Worte, mit einer Gebärde den Eindruck verraten, den das Gehörte in ihr hervorrief ... Aber Susanne schwieg ... und wenn er verstummte, dann trieb ein hastiges »Weiter! weiter!« ihn vorwärts, seinen Bericht zu vollenden.
Noch ein Letztes war zu enthüllen ... noch wußte Susanne nicht, daß jener Mann, der fast ein Jahr lang im Vertrauen ihres Vertrauens gewohnt hatte – daß er, und wie er ihr Vertrauen gelohnt hatte ... Daß sie ihm nichts gewesen war, denn ein Modell für ein Geistesprodukt aller-allerniedrigster Kategorie ... Und mit einer geheimen Ranküne, mit einem boshaften Behagen versetzte Gustav Herold seiner Klientin schließlich auch noch dies Letzte ... und belauerte gierig dies undurchdringliche Antlitz ...
Susanne erschien bis zum Scheitel gepanzert ... Mit eisiger Gelassenheit nahm sie auch dies Letzte zur Kenntnis ...
Und endlich riß Gustav Herolds Geduld. Er hatte gegeben, was er zu geben hatte ... nun verlangte er nach einer Gegengabe ... und da man sie ihm nicht von selber entgegentrug, so gedachte er sie mit hartem Drängen zu fordern.
»So, Frau Susanne – nun wissen Sie alles. Und nun – was haben Sie auf das alles zu erklären –?!«
Susanne lächelte ihr abwesendes, demütiges Lächeln.
»Was ich zu erklären habe, lieber Freund? Nichts ... nicht das mindeste ... das alles, was Sie mir da erzählt haben ... wird ja wohl leider wahr sein ... vieles von alledem wußte ich ja schon – was ich soeben dazu erfahren habe, was soll ich dazu sagen –?! Ja, es ist wahr – es hat finstre Zeiten für mich gegeben, in denen ein Unwürdiger Macht über mein Leben gewonnen hatte – daß er ein Unwürdiger war, das wußte ich längst ... wie sehr er es war, das erfahre ich ja allerdings erst heute von Ihnen ... Indessen, das ist nur ein Gradunterschied ... Verworfen hatte ich ihn längst ... Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen werden ... aber vergessen Sie das eine nicht: ich kannte Sie damals noch nicht ... Ich will meinem guten Mann ins Grab hinein nichts übles nachsagen ... es war sein und mein Schicksal, daß ich mich als Bettlerin fühlen mußte neben ihm ... zur Schuld will ich es ihm nicht rechnen ... aber mir darf man's auch nicht. Viele sind gekommen und haben die Leere in meinem Innern gewittert ... und haben ihre eigne Nichtigkeit mir angeboten zur Ausfüllung ... ich habe sie lächelnd abfallen lassen ... Und dann kam einer, der war anders als alle die andern ... erst zu spät habe ich erkannt, daß die Besonderheit, die er zur Schau trug, nur eine kokette Maske war, nur der neue Trick eines etwas erfahreneren und gerisseneren Frauenjägers ... Spät hab' ich das erkannt ... nicht zu spät. Und dann – dann kamen Sie ... Soll ich Ihnen erst noch sagen, was Sie mir gewesen sind –? Ich hoffe, Sie schätzen sich selber hoch genug ein, um zu verstehen, daß ich mich an Sie klammern mußte ...
»Und seit ich Sie kannte, da war's mir eine Ahnung erst und bald eine unumstößliche Gewißheit, die Stunde der Freiheit würde mir schlagen ... Mit tausend Qualen hab' ich darauf gewartet ... und endlich war sie da ... und sieh, da legt aufs neue das ungeheuerliche Schicksal die Pranke auf mein Leben und treibt mich von Ihnen hinweg ...«
Tief in ihrem Stuhl zurückgelehnt hatte die Frau das alles gesprochen. Mit matter, klangloser Stimme ... die fast geschlossenen Lider bedeckten nahezu ganz die dunklen Augen, die den Hörer dennoch nicht aus ihrem Banne ließen ...
Und von diesen Augen ging es wie ein magischer Strom zu Gustav Herold hinüber und rann durch jede Fiber seines Wesens. Ihm war, als würde er aufgesogen von diesem Strom ... angesogen, eingesogen in die Strudel des Begehrens und Verlangens, die ihn von hinnen schwemmten, in jähem Wirbel dahin zurück, von wannen die Strömung ausgegangen war – an ihre Brust, in ihre Arme ... Er raffte seine ganze Willenskraft zusammen und zwang sich zu kühler Abwehr:
»Gnädige Frau, Sie vergessen zwei Dinge – wir sind beide nicht frei – – ich gehöre einer andern Frau – und Sie werden sich von der Anklage zu reinigen haben, daß das, was Sie soeben das Schicksal nannten ... das Schicksal, das Ihren Gatten aus dem Wege geräumt hat – daß das nicht etwa ... eine Schöpfung Ihres eigenen Willens gewesen sei ...«
Wiederum lächelte die schöne Frau ... ein wenig spöttisch, ein wenig mitleidig ... und dennoch so, daß Gustav Herold schwindelte ...
»Es ist hübsch von Ihnen, lieber Freund, daß Sie sich vor mir hinter das Gelöbnis der ehelichen Treue flüchten wollen ... Aber ich bin Ihnen nicht böse darum. Darauf war ich gefaßt ... ich kenne Sie doch –! Und daß es einen ... einen Kampf absetzen würde ... einen Kampf zwischen mir und ... einer andern ... einen Kampf um Sie ... das habe ich natürlich doch auch gewußt. Ich bin bereit ... es wird sich ja zeigen, wer die besseren Waffen führt von uns beiden ... Und wenn ich heute noch nicht freie Bahn habe – dazu sind Sie ja da, lieber Freund, um sie mir zu schaffen ... Sie haben ja selbst gesagt: die Lage meines Falles sei so hoffnungsvoll wie nur denkbar ... also werden Sie sich nicht einmal besonders anstrengen müssen, um diesem unwürdigen Zustande ein Ende zu machen, in dem ich nun schon seit Wochen stecke ... Und dann ... und dann – Frau Helene, nehmen Sie sich in Acht!«
Nein – dachte der Rechtsanwalt. Nein, das geht nicht. Nach solchen Erklärungen ist es unmöglich, daß ich noch weiter für sie eintrete – sie weiß wohl nicht, was sie da sagt ... sie ist ein Weib ... Was wir Männer so unter Ehre verstehen, davon hat sie wohl nicht einmal eine Ahnung ... man darf ihr nicht verübeln, wenn sie mir solch ungeheuerliche Dinge ansinnt. Denn wie ungeheuerlich sie sind, das weiß sie ja nicht ... Ich werde versuchen müssen, ihr das klar zu machen ... und dann – dann gilt es einen männlichen Entschluß ...
»Frau Susanne,« sagte er langsam und fest, »dies Letzte, es wäre besser gewesen. Sie hätten mir das nicht gesagt. Es war nicht wohlgetan von Ihnen, mir einen Preis zu zeigen, einen Preis für das Gelingen Ihrer Verteidigung ... einen Preis, den ich nicht einmal als eine Möglichkeit ... hätte ahnen dürfen ... Wir Rechtsanwälte, gnädige Frau – wir üben unsere Pflicht zwar um klingenden Lohn, denn wir müssen leben ... aber unser Honorar, unser Ehrensold, der ist auch der einzige Lohn, den wir für Ausübung unserer Berufstätigkeit fordern und annehmen dürfen. Wer uns irgend einen andern Pakt bietet – und sei es selbst eine Gunst, so heiß ersehnt, so traumhaft beglückend, wie die Huld einer schönen Frau – wer uns das bietet, für den haben wir die Antwort des Verzichts ... des Verzichts nicht nur auf den Lohn – auch den Verzicht auf jede Tätigkeit ... das haben Sie natürlich nicht gewußt, nicht wissen können ... aber – geschehen ist geschehen. Ich muß Ihre Verteidigung niederlegen – es bleibt mir nichts andres übrig.«
Jäh fuhr die schöne Frau empor – weit aufgerissen starrten die dunklen Augen in das erregungzitternde Gesicht des Mannes, der vor ihr saß, schwer atmend, mit flackernden Händen, die Augen stier und rotunterlaufen. Aber wieder spielte dies spöttische, mitleidsvolle Lächeln um ihren Mund:
»Sie sind wahnsinnig ...« sagte sie achselzuckend.
»Ich war nie klarer bei Verstande als in diesem Augenblick,« sagte Gustav Herold.
»Nun, da versagt allerdings mein Verständnis ... darin haben Sie recht. Ich suche nach einer Erklärung und finde nur die eine: Sie haben Ihre Ansicht über die Lage meines Falles plötzlich geändert – Sie bilden sich auf einmal ein, Gott mag wissen, warum – ich sei schuldig ... Sie rechnen mit der Möglichkeit eines ungünstigen Ausganges ... Nun, und dann verläßt eben die Ratte das sinkende Schiff –! Pfui, Gustav Herold – das ist erbärmlich!«
»Wenn Sie mein Tun erbärmlich finden, so beweist das nur noch deutlicher, daß Sie mich nicht verstehen, vielleicht nicht verstehen können.«
»Ich verstehe Sie so genau – daß ich Sie verachte.«
»Schön,« sagte Herold eisig. »Demnach hätten wir uns also wohl ... nichts mehr zu sagen. Sie gestatten, daß ich dem Gefängniswärter klingle.«
Er stand schwerfällig auf, zwang sich gewaltsam zur Festigkeit und schritt raschen Schrittes zur Wand, wo der Druckknopf der elektrischen Klingelleitung angebracht war.
Frau Susanne war aufgesprungen. »Sie bleiben, Gustav Herold!« rief sie, harten Befehl in der Stimme. Gustav Herold stutzte ... mit abgewandtem Gesicht stand er regunglos.
»Ich verlange von Ihnen eine Erklärung, mein Freund! Was Sie da vorhin gesagt haben, das ist lächerlich ... das ist ja eine schäbige, fadenscheinige Ausrede! Sie wollen mich los sein ... und da verstecken Sie sich hinter irgendein Wort von mir, das vielleicht nicht sehr diplomatisch war, ein bißchen voreilig vielleicht in diesem Augenblick ... das aber zwischen Ihnen und mir doch wahrhaftig nichts ändern kann ... denn daß ich mich nach Ihnen sehne – daß ich bereit bin, mich wegzuwerfen an Sie, um jeden Preis, unter jeder Bedingung – das wissen Sie doch nicht erst seit fünf Minuten –! Also spielen Sie mir gefälligst keine Komödie vor! Sagen Sie es ehrlich heraus: Sie glauben nicht an meine Unschuld, Sie wollen sich nicht blamieren mit meiner Verteidigung. Sie haben mich aufgegeben! Ist's so –?! Ich verlange ein Ja oder ein Nein!«
Gustav Herold drehte sich kurz auf dem Absatz herum. »Ich bedaure, gnädige Frau – ich kann Ihnen nichts weiter sagen, als was ich Ihnen gesagt habe. Ich bin Ihr Verteidiger gewesen ... es gibt so viele tüchtige Rechtsanwälte in Berlin, und vollends gar Strafverteidiger, die sich viel besser auf dieses Handwerk verstehen, als ich. Wählen Sie unter diesen, welchen Sie wollen – ich kann nicht länger für Sie tätig sein ... ich kann es nicht ... warum – das ist meine Sache ... ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig und werde Ihnen keine geben.«
Und wieder tat er zwei Schritte zur Klingel hinüber ... aber es waren matte, unentschlossene Schritte ... und obwohl er all die letzten Worte gesenkten Augenblicks gesprochen hatte und in einem Ton, der keine Antwort zu erwarten schien – nun war es doch, als lausche er, was die Frau zu erwidern habe ...
Doch sie schwieg – schweratmend, ringend mit dem Sturm ihrer Gedanken. Und da schritt Gustav Herold weiter und legte schon die Hand auf den kleinen Elfenbeinknopf – da kam es wie ein erstickter Schrei von Susannes Lippen:
»Gustav –! verlaß mich nicht, Gustav!«
Und schon war sie hinter ihm drein, hielt ihn mit beiden Armen, drehte ihn herum, warf die Hände um seinen Nacken, preßte ihren Leib wider den seinen, wühlte ihr Gesicht in seine Schulter und stammelte zwischen ihrem Schluchzen:
»Verlaß mich nicht – du darfst mich nicht verlassen –!«
»Ich darf nicht –?! Das wollen wir doch sehen ... ob ... ich darf ...«
Mit beiden Händen versuchte Gustav Herold die runden, weichen Gelenke von seinem Halse zu lösen ... doch der harte Druck seiner Fäuste erschlaffte, die angespannte Starrheit seiner Glieder löste sich – noch einmal wand er sich wie ein Verzweifelter gegen den Ansturm ihres Flehens, dann verließ ihn die Kraft.
»Warum ... warum darf ich Sie nicht verlassen –?« fragte er matt und leise.
»Ich hab's ja getan –! Es ist ja wahr, ich hab's getan!« schluchzte Susanne. »Für dich hab' ich's getan, für dich!«
Und nun riß Gustav Herold sich dennoch los. Von Grauen geschüttelt wankte er zum Tisch zurück, fiel in einen Stuhl, Arme, Kopf und Oberleib sanken auf die unsaubere, graugestrichene Platte. Es war heraus, das grauenhafte Bekenntnis ... und so völlig es ihn zermalmte – ihm war im Augenblick, als habe er es immer gewußt, vom ersten Augenblick an – als habe er nie daran gezweifelt, daß sie eine Mörderin sei, eine Mörderin geworden, um ihm angehören zu können ... ihm, den sie zu gut kannte, als daß sie hoffen konnte, ihn zu besitzen, solange sie seines Freundes, seines Lebensretters Weib war.
Das war der erste Gedanke – der zweite war: Flucht – Flucht – schleunige Flucht ... Hinaus aus diesem entsetzlichen Zimmer, das die furchtbarste Stunde seines Lebens umschlossen hatte ... Flucht und Einsamkeit, und dann denken ... denken, des Sturmes Herr werden, der sein Wesen in tausend armselige Fetzen zerrissen, die von dannen wirbelten, wie dürre Herbstblätter, als seien sie niemals eines starken Baumes lebenskräftige Sprossen gewesen ...
Er richtete sich auf: »Susanne –,« sagte er tonlos und müde, »Susanne – was Sie mir da eben gesagt haben – das will ich einstweilen nicht gehört haben. Aber nun müssen Sie mich gehen lassen. Ich kann nicht mehr. Ich muß ins Freie ... muß das alles ... das alles still für mich überdenken ... also lassen Sie mich gehen.«
Hochaufgerichtet stand Susanne und sah mit den dunklen, glühenden Augen starr und unverwandt in die erloschenen, gebrochenen des Mannes.
»Geben Sie mir Ihre Hand darauf, Gustav Herold, daß Sie wiederkommen werden!«
»Ich ... komme wieder ... verlassen Sie sich darauf ...«
Willenlos streckte er ihr die Rechte hin, die sie mit beiden Händen ergriff und mit schmerzhaftem Druck umschloß. Ihre Nägel gruben sich dabei in seine Haut ... da riß er sich los, wandte sich hastig um und drückte zwei, dreimal hart auf den Klingelknopf. Draußen schrillte die Glocke, ihr greller Ton hallte schauerlich wider an den nackten Steinwänden der endlosen Korridore.
Ein paar Sekunden verrannen, ehe draußen der schlurfende Schritt des Wächters vernehmbar wurde. Die beiden Menschen im Zimmer drinnen standen regungslos ... keiner von ihnen sprach mehr ein Wort.
Und nun knackte der Schlüssel im Schloß, nun kreischte der Riegel. Die klapprige Gestalt des graubärtigen Wärters im abgeschabten Beamtenrock stand in der Tür.
»Adieu, gnädige Frau ...«
»Adieu, Herr Rechtsanwalt – also bis morgen früh, nicht wahr?!«