Clara Blüthgen
Götzendienst
Clara Blüthgen

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Dem heißen Sommer war ein sehr früher Herbst gefolgt, der die ausgetrockneten Blätter von den 77 Bäumen fegte, der sich in Stürmen und Regengüssen nicht genugtun konnte. Schon Ende September mußte man die ganze Villa heizen und die Pelze hervorholen.

Astrid war nun der letzte Zusammenhang mit Asmussen genommen, nachdem die »Schlange« ihr so überdeutlich gesagt, wie sie ihre Fensterpromenaden aufgefaßt hatte. Noch mehr sich demütigen, noch kleiner sich selbst machen, wäre nicht möglich gewesen. Sie fuhr noch immer nach der Hauptstadt, denn die Unruhe duldete sie nicht in ihrer Gartenstadt, aber sie machte nun einen großen Bogen um Finnas Straße.

Eines Vormittags war sie gewohnheitsmäßig zur Stadt gefahren und ging im Schloßgarten spazieren, dreimal rund um den Schwanenteich, ohne daß sie es recht gewahr wurde. Endlich setzte sie sich nahe dem Wasser auf eine Bank, neben einer jungen und schönen Dame. Die trug einen köstlichen Pelz und einen ganz einfachen kleinen Hut, der dennoch etwas ganz Auffälliges hatte: den Stempel der neuesten Mode, die erst kommen sollte. Dieser Hut war das einzige, was Astrid von der Dame in sich aufnahm.

Die aber sah sie lächelnd überseits an, ein ganzes Weilchen, und als Astrid in keiner Weise davon beeinflußt wurde, sagte sie: »Ist Astrid Brandis so stolz geworden, daß sie als Frau Staatsrat Börgesen eine alte Freundin nicht wiedererkennen will?«

Astrid sah die Dame nun genau an, dann wurde sie 78 rot. Sie schämte sich vor der anderen, daß ihr so gar kein Erinnern aufdämmerte.

»Sie müssen mir schon verzeihen, aber mit dem besten Willen weiß ich nicht, wo ich Sie unterbringen soll.«

»Du darfst ruhig du sagen. Alte Freundschaften aus der Schulzeit soll man nicht verleugnen. Wir haben lange zusammen dieselbe Schulbank gedrückt.«

»Das ist doch ganz unmöglich.« Astrid lächelte ungläubig. Es war das größte Kompliment, daß sie ihrer Nachbarin machen konnte: eine Bewunderung für deren schlanke Gestalt, die ihre feinen Linien auch durch die Pelzhülle abzeichnete, für das weiche, blasse Gesicht, dessen zarte Haut kein Fältchen verunstaltete. Für den ganzen Duft der Jugendlichkeit, die so gar nicht zu ihren eigenen Jahren paßte.

»Und wenn Sie mir Daumschrauben ansetzen, und wenn ich gleich meinen Kopf auf den Richtblock legen soll, ich weiß es nicht.«

Nun war es an der Dame, zu lachen.

»Ganz die Witwe des alten Wikingers – seine Verstellungskunst ist auf dich übergegangen. Denke ein bißchen nach, Astrid Brandis.«

»Schlag mich tot, ich weiß es nicht.«

»O – dein Katzengedächtnis – kennst du wirklich Grete Jordan nicht mehr? Grete Jordan, die stets so schlecht lernte, der du die Aufsätze machtest und die trotzdem immer neben dir saß, ganz oben in der Klasse? 79 Weißt du nicht mehr, als wir –« und sie begann verschiedene läppische Höhere-Töchter-Streiche zu erzählen, auf die Astrid sich dann auch besann und die die Dame als Grete Jordan zweifelsfrei erwiesen.

»Ich kann's gar nicht glauben, so jung siehst du aus. Du könntest höchstens Lily Jordan sein, deine jüngste Schwester – sie kam damals gerade in die unterste Klasse.«

»Alle Wetter, du bist hellsehend. Ich bin ja Lily Jordan. Ja, ja, sieh mich an und präge es dir ein, ich bin Lily Jordan.«

Astrid wurde ein bißchen ärgerlich.

»Halte mich nicht zum Narren. Sag' nun endlich, was es mit dir ist.«

Da brachte die schöne Dame ihren Mund ganz nahe an Astrids Ohr und flüsterte, obgleich kein Mensch in der Nähe war: »Nur für dich, Astrid, als Beweis meiner alten Freundschaft. Geboren bin ich als Grete Jordan, für die Welt bin ich Lily Jordan. Die arme Kleine mußte so früh hinweg, gerade als sie dem Leben erst ins Gesicht sehen sollte. Da habe ich ihre Erbschaft übernommen, ihren Namen.«

»Ja, warum denn diese Komödie?« Erstaunen und Unbehagen waren gleich groß in Astrid.

»Warum? O du kluge und doch so dumme Frau! Warum? Hätte ich denn von meinem Schwesterchen etwas Köstlicheres erben können, als diesen Namen, der mich um acht Jahre jünger macht? Was gibt's 80 denn in der Welt für eine Frau Wertvolleres als ihre Jugend? Wenn wir jung sind, können wir uns das Beste vom Lebenstische nehmen, alle die köstlichen kleinen Vorgerichte, die süßesten Torten – wenn wir alt sind, speist man uns mit den trockenen Krusten ab.«

»Einmal kommt das Alter bei uns allen.«

»Nicht, wenn wir uns mit aller Energie dagegen wehren. Und sich nicht dagegen zu wehren, nenne ich, sich vernachlässigen. Sieh mich an, Astrid.«

Mit einer prachtvollen Bewegung stand sie auf, schlug den Pelz um sich und sah ihre wiedergefundene Freundin triumphierend an.

»Sag' mir nun, ob es verlohnt hat.«

»Du siehst aus wie achtundzwanzig«, meinte Astrid überzeugt.

»Pst – um Gottes willen keine Zahlen nennen – auch die du sagtest, ist schon vom Übel. Es heißt immer, eine Frau ist genau so alt, wie sie aussieht. Aber auch das ist falsch. Bei einer wirklich gut aussehenden Frau darf man gar nicht daran denken, wie alt sie ist. Jede Vorstellung eines bestimmten Jahres regt die Phantasie an, weiter zu denken – fünf Jahre, zehn, zwanzig Jahre – gräßlich. Wer wollte das über sich ergehen lassen?«

Von diesem Ideengang hatte Astrid nie eine Ahnung gehabt. Sie staunte darüber wortlos. Endlich brachte sie heraus: »Bist du verheiratet, Grete?«

81 »Bitte, Lily. Bitte, präge es dir genau ein, damit du mich nicht einmal Lügen strafst. Ja, ich bin verheiratet. Natürlich. Man kann aber auch sagen, ich bin's nicht.«

»Also geschieden?«

»Der Wirkung nach ja. Gesetzlich nicht.«

»Wo ist denn dein Mann – Lily?«

»Weiß ich's? Irgendwo. Jedenfalls ist er mir sehr wenig lästig. Das ist schließlich die Hauptsache.«

»Hat er dich wenigstens gut gestellt?« fragte Astrid, der ein gesunder materieller Untergrund stets eine sehr wichtige Sache war.

»Er nicht. Aber ich selbst. Ich sammle Anzeigen. Du weißt doch, was das ist, Annoncen-Akquisiteurin?«

Astrid wußte es. »Verzeih. Ist es möglich, daß du da so elegant kommst?«

Über das Gesicht der schönen Dame zuckte es. Gleich darauf erwiderte sie ganz sachlich: »Es ist sogar notwendig. Was wissen denn die Leute von mir? Ob ich Bildung und Geist habe, können sie mir nicht an der Nasenspitze ansehen, auch nicht, ob ich Gemüt habe – darauf pfeif' ich übrigens. Aber ob ich einen schönen Mantel anhabe, das sehen sie. Das erwirbt mir ihre Achtung, legitimiert mich vor ihnen. Der Mantel ist alles, Astrid. Du weißt doch, was Joseph auf seinen Mantel hielt. Es ist jedenfalls ein sehr kostbarer Mantel gewesen. Ich denke ihn mir Mauve-Brokat mit Blaufuchs besetzt.«

82 Frivolität war Astrids Sache nicht, und Josephs Mantel interessierte sie im Augenblick sehr wenig.

»Ich wüßte gern mehr von dir – Lily. Du warst ja wie von der Erde verschwunden. Wo hast du nur gesteckt, alle die Jahre über?«

»Das ist so 'ne Sache, eine ganz eigentümliche Sache.« Lily Jordan hob ihren Riesenmuff zum Gesicht und blies in den Pelz, daß die Haare ihre Wange und Nase kitzelten. »Eine ganz verzwickte Sache.«

»Wie heißt dein Mann eigentlich? Du trägst seinen Namen nicht?«

»Ach, laß doch, was kommt's auf einen Namen an? Jetzt bin ich Frau Lily Jordan.«

»Kommst du nicht mal, mich besuchen – Lily? Ich wohne noch draußen, du weißt.«

»Gern, oder komm du zu mir, jetzt gleich. Du hast doch Zeit?«

Astrid hatte immer Zeit. So sagte sie denn zu.

»Fahren wir? Dort steht ein Auto.«

Lily sah auf ihr Uhrarmband. Es war aus Platin, dicht mit Brillanten besetzt, ein kleines, sehr kostbares Kunstwerk. »Ein Uhr schon. Wie die Zeit vergeht. Da fällt mir ein, ich muß schnell noch zu Mathisens Schokoladenfabrik. Man hat mir dort einen größeren Auftrag für die ›Abendpost‹ zugesagt. Jetzt treffe ich den Geschäftsführer noch an. Paßt dir übermorgen? So um diese Zeit – das wäre nett. Hier meine Karte.«

83 Sie drückte Astrid die Hand und ging mit der Haltung einer graziösen Prinzessin, die weiß, daß aller Augen ihr folgen, von dannen. Blieb halbenwegs noch einmal stehen, winkte huldvoll mit der schmalen Hand im grauen venetianischen Handschuh.

Selten noch war Astrid Börgesen durch irgend etwas so aus dem Gleichgewicht geworfen, wie durch diese Begegnung. Sie, die gewohnt war, überall ganz selbstverständlich den Ton anzugeben, wurde hier in einer Sprache angesprochen, die ihr nicht geläufig war. Ohne darauf eingehen zu können, wie eine blöde Kleinbürgersfrau hatte sie zugehört, ein bißchen verblüfft, ein bißchen entrüstet, und auch ein bißchen von Neugier gekitzelt. Sie war gereist, sie glaubte die ganze Welt zu kennen und stand nun überrascht vor einer neuen, absonderlichen Welt dicht neben sich.

Ihre Erinnerung ging immer wieder diese Begegnung durch. Eines blieb ihr davon zurück, verdichtete sich immer mehr und mehr: man kann die Natur meistern, kann jung sein, wenn man nur den festen Willen dazu hat. Grete – Lily – Jordan hatte es bewiesen. Mit einem unklaren prickelnden Lustgefühl dachte sie an übermorgen.

Auf die Minute pünktlich war sie zur Stelle.

Die Straße, in der das Auto halt machte, entsprach nicht ganz ihren Erwartungen. Eine alltägliche Straße, für den Mittelstand berechnet, in der jedes zweite Haus einen Laden barg, auf deren Pflaster sich 84 die Kinder balgten. Ebenso das Haus mit der einfachen Fassade, der Flur mit den geschmacklosen Fliesen, die Treppe mit dem abgetretenen Läufer, die zu Lilys Hochparterre führte.

Ihrem Klingeln folgte einstweilen nichts. Dann nahten sich vorsichtige Schritte, ein Schieberchen vor einem Guckloch wurde zurückgeschoben, dann klirrte eine Sicherheitskette, die Tür öffnete sich. Eine sehr weiße Hand griff heraus, zog den Besuch in den Flur, schloß die Tür und hängte die Kette wieder ein.

Astrid, die an reichliche Dienerschaft gewöhnt war, wunderte sich. Immerhin, es mochte auch so ganz gemütlich sein. –

»Hübsch, daß du pünktlich bist«, sagte Lily, indem sie ihr Mantel und Hut abnahm. »Komm nun gleich hinein.«

Nach dem engen, halbdunklen Flur wirkte die Stube, in die sie traten, geradezu verblüffend. Auf dem Grundstock einer Einrichtung, wie man sie für nicht allzu viel Geld in jedem Möbelmagazin kauft, eine reizvolle Ausgestaltung durch hundert, zum Teil recht kostbare Einzelheiten. Ein Überschwang von echten Teppichen und schönen Fellen, ein sehr breites Ruhebett, mit einem indischen Seidenstoff in berückend reichem Farbenspiel bedeckt, darauf viele, viele schwellende Seidenkissen. An den Fenstern dünne, ganz weich fließende Gardinen, zugezogen, dahinter halbzugezogene gelbrote Seidenvorhänge. Dieser gelbrote 85 Ton ging durch das ganze Zimmer, er fand sich auf Kissen und Lampenschleiern, als Bezug der Schreibtischplatte und in dem mächtigen Tulpenstrauß wieder, der in einem geschliffenen Glaskübel auf einem indischen Tischchen stand.

»Sie gefallen dir? Ja, sie sind schön. Man bringt sie mir immer«, sagte Lily. »Ich liebe die Tulpen so: ein prächtiges Äußeres und kein Duft, keine Seele. Das ist auch für uns Frauen das Beste. Tulpen sind die Blumen, die von allen zeitweise am höchsten im Kurse stehen. Für die erste vollendet gezüchtete Mynjouffrow van der Straaten sollen achttausend Kronen gezahlt worden sein.«

»Das ist recht hübsch. Aber uns Frauen kauft man doch nicht.«

Astrids Ton klang trocken.

»Nur die alten und häßlichen nicht. Die sind Ladenhüter. Sonst aber kauft man uns alle. Durch das Auslegen kleiner Rechnungen, wenn uns gerade mal das Geld ausgegangen ist; indem man uns eine Stellung verschafft. Wenn man mit unseren Kindern schön tut, oder mit unserem Papagei. Manchmal kann man uns kaufen, wenn man uns ein Buch bringt, das wir selbst uns nicht anschaffen möchten, manchmal genügt ein Blumenstrauß oder ein Kästchen voll glasierter Ananas. Meinst du etwa, dein alter Herr habe dich nicht gekauft?«

»Mein Gatte hat mir eine Stellung an seiner Seite 86 gegeben, um die mich alle beneideten«, sagte Astrid, stolz abweisend.

»Wie man's nennt, ist gleich. Jedenfalls hat er für das, was er dir gab an Reichtum und äußerer Stellung, reichlich von dir genommen. Deine Jugend, deine erste Blüte, deine Arbeitskraft, alle die genialen Keime, die in dir lagen, mußten ihm dienstbar sein. Wenn du nun noch hinzurechnest, was er dir nicht gegeben hat, so mußt du doch zugeben, daß der Kaufpreis recht hoch war. Stimmt's oder nicht?«

»Ich bitte dich dringend, dich nicht an der Erinnerung an meinen großen Gatten zu vergreifen.«

Lily lachte. »Unsinn. Aber ich streite nie, das ist zu unbequem. Du klebst da so ungemütlich auf der Stuhlkante – komm, setz' dich hier zu mir auf den Diwan.«

Aus dem rosenroten Seidenfutter eines weiten Ärmels langte ein außerordentlich schlanker und weißer Arm mit einer feingliedrigen Rassehand nach Astrid. Sie fühlte sich neben die Jugendfreundin gezogen, in den schwülen Dunstkreis eines absonderlichen Parfüms. Etwas in ihr widerstrebte, aber sie gab nach.

»Sag', Lily, trägst du dich immer so im Hause?«

»Immer, wenn ich jemand gefallen will. Und dir, Astrid Brandis, möchte ich gefallen. Frauen gefallen ist ja so viel wertvoller als den Männern gefallen. Findest du es etwa nicht hübsch?«

Sie trug einen schwarzseidenen Kimono, gute 87 japanische Arbeit, mit Kirschblütenzweigen bestickt, in denen sich merkwürdige, buntschillernde Vögel wiegten. Nun schlug sie ihn auseinander, um das rosenrote Seidenfutter sehen zu lassen. Dabei zeigte sich keine andere Unterkleidung als schwarzer Trikot, der über dem sehr schlanken Bein in einem durchsichtig dünnen Florstrumpf wie in einen schwarzen Hauch auslief.

»Schlank müssen wir sein, das ist die Hauptsache«, sagte sie entschuldigend. »Röcke machen dick.«

»Müssen – ja, aber wenn man nun mal in die reiferen Jahre kommt.« – Astrid wagte kaum, hinzusehen.

»Dann heißt es eben, etwas kräftiger um sein gutes Aussehen zu kämpfen. Hast du nie von schwedischer Gymnastik gehört? Nun also, warum wendest du sie nicht an? Nie von Massage? Du setzst ein Unterkinn an, und deine Mundwinkel hängen – das sieht alt aus und mißvergnügt. Nachts mußt du in die Mundwinkel geklemmt kleine Korkstücke mit einem Gummiband tragen. Das zieht den Mund nach oben – es sieht wie ein ewiges Lächeln aus. Und dann –«

»Hör' auf, Lily, ich will niemand anlächeln«, unterbrach Astrid.

»Nicht? Nun, ich meine doch. Und man meint es auch.«

»Man – wer ist man?«

»Alle Welt, die ganze Stadt.«

»Von mir weiß niemand etwas.«

88 »Alle wissen von dir. Von den ganz Braven weiß man nämlich stets am meisten. Nur von den ganz Schlimmen und Raffinierten weiß man nichts.«

»Das ist richtig. Von dir weiß ich zum Beispiel noch immer nicht, warum du verheiratet bist und nicht verheiratet bist.«

Lily belustigte sich königlich über das kindische Bestreben der Freundin, ihr diesen Hieb zu versetzen.

»Ich würde es dir ja gern erzählen, nur gibt's so viel nettere Sachen in der Welt. Unter anderem dein Aussehen. Verzeih, Astrid, aber wie bringst du es fertig, dich mit deinem Anzug so zu verunstalten?«

»Du siehst doch, daß ich in Trauer bin.«

»Man kann auch mit Geschmack trauern. Eine prächtigere Dekoration als lange Kreppschleier kann es gar nicht geben. Aber auch dein jetziger Zustand der halben Tröstung läßt sich vorteilhaft ausnutzen. Und wenn dann erst die Halbtrauer kommt – ach Astrid, du weißt eben gar nicht, was man aus dir machen könnte.«

»Ich bin nicht so frivol, die Trauerkleidung zu mißbrauchen«, sagte Astrid streng, dabei aber lebhaft interessiert.

»Um Gottes willen, warum denn? Gut auszusehen ist doch nur menschenfreundlich. Was soll es deinem Seligen nützen, wenn du als Vogelscheuche rumläufst?«

»Man hat mich dafür gehalten oder für ein 89 Gespenst. Ein paar Kinder liefen vor meinem langen Rock und dem Schleier davon. Darum gehe ich jetzt wieder kürzer.«

Lily Jordan stützte den weißen Arm auf das schwarze Trikot des Knies. Aus dem Uhrarmband und den großen Brillanten der Ringe brach ein kaltes Funkeln, wie von Wasser, das in der Sonne auf einen Stein zerstäubt. Nachdenklich und lange sah sie der Jugendfreundin ins Gesicht.

»Man könnte etwas aus dir machen, Astrid. Wirklich. Ich würde es nicht nur so sagen. Deine Figur ist gut, nur müßte sie mehr trainiert werden. Das Gesicht aber muß gründlich vorgenommen werden. Und dann dein Haar! Die Farbe steht dir nicht – und gar die Frisur!«

»Bitte. Mein Friseur sagt, sie sei nun schon historisch.«

»Natürlich, weil der Mann zu faul ist, dich ordentlich zu ondulieren. Als Farbe nimmst du am besten Henna, das gibt so einen goldigen Ton. Wenn ich dich mal einige Tage lang in die Kur nehmen könnte, Astrid.«

Die schüttelte den Kopf und sprach strenge Worte der Abwehr. Dabei hingen ihre Augen neidisch an Lily Jordans knabenhaft schlankem Körper, dem schwarzüberhauchten Bein, dem roten, in Dauerwellen gebrannten, dicht an den Schläfen angeklebten Haar, dem perlenweißen Gesicht. Das also war möglich. So 90 konnte man der Natur ein Schnippchen schlagen. So aussehen, wenn man – unwillkürlich drückte sie sich darum herum, an die Zahl ihrer Jahre nur zu denken. Mit Erstaunen fühlte sie, wie Lilys Worte in ihr wirkten. Wieder jung und schön werden. Aussehen wie jene dort, mit der sie auf derselben Schulbank gesessen, und dann – –

Da fühlte sie eine weiße, mit irgendeiner wohlduftenden Salbe eingeriebene Hand auf der ihren, und eine sanfte Stimme setzte ihre eigenen Gedanken fort:

»Und wenn er dich dann sähe! – Sag', liebst du ihn sehr, Astrid?«

»Wen?« fragte die, verwirrt wie ein ganz junges Mädchen.

»Ihn, den alle lieben, und wohl alle erfolglos. Gib dir doch keine Mühe, zu leugnen. Man weiß es doch, daß du ihn liebst. Neulich, es ist schon ein Weilchen her, sah ich dich mit ihm im Theater.«

»Und wennschon, das sagt doch nichts.«

»Es stellt bloß, Astrid. Die Witwe des Staatsrats Börgesen wird sich doch nicht um nichts bloßstellen wollen. Oder wirst du etwa wiedergeliebt?«

Das Telephon läutete an.

»Entschuldige einen Augenblick«, bat Lily und ergriff den Hörer.

Astrid ging in eine andere Ecke des Zimmers, hörte aber natürlich jedes Wort.

91 »Morgen, g'Morgen. Aber natürlich. Warum sollte ich nicht gut geschlafen haben – – Wie? – Ach so, ja, vorgestern mittag war's schön, da warst du besonders reizend! – – Nein, nein, danke. Die Petersen wartet noch mit der Rechnung. Die ist gar nicht so schlimm, lange nicht solche Kanaille wie die Wildung. Es ist eine Überrumplung, geradezu ein Bauernfang, soviel Geld für einen so kleinen Hut. – – Ach, du wolltest wirklich? Ach Liebling, wie gut du bist. Daran erkenne ich dich. – – Wie, heute abend kommen? Unmöglich, Liebling. Du weißt: Schlag acht wird das Lokal geschlossen. Mein guter Ruf? – Pfui, der Witz war garstig. Aber ich kann dir nicht böse sein, Liebling.«

Lilys Stimme girrte. Sie sprach noch ein paar Worte, eine Verabredung für den anderen Tag. Dann legte sie den Hörer auf die Gabel.

Mit entsetztem Staunen hatte Astrid zugehört. Dieser Ton – diese Verabredung – und dann das vorgestern, wo Lily es so eilig gehabt hatte, fortzukommen in die Schokoladenfabrik zu dem lohnenden Anzeigenauftrag.

»Lily – du hast einen Freund?« fragte sie stockend.

»Einen Freund? Nein, um Gottes willen nicht. Ein Freund, das heißt doch soviel wie Liebe und damit Abhängigkeit. Weißt du, was eine kleine, kluge Französin darüber sagte: Jemand lieben heißt, ihm das Recht einräumen, uns leiden zu machen. 92 Wer wollte das? Freunde habe ich, gute Freunde, die –«

»Die dir die Hutrechnungen bezahlen, wenn die Modistin drängt.«

»Nun ja, das heißt, die mal solche kleine Summe für mich auslegen. Dafür sind sie doch Freunde, daß sie mir mal gefällig sind. Ich gebe es ihnen dann gelegentlich wieder.«

»Und bist ihnen auch mal gefällig –«

»Laß das, Astrid. Das sind Dinge, über die gerade du am wenigsten reden kannst. Ich bin niemandem auf der Welt Rechenschaft schuldig.«

Draußen schlug die Glocke an. Ein eigentümlich schriller, langgezogener Ton, wie eine Signalpfeife.

Lily horchte auf. Astrid suchte nach ihren Handschuhen.

»Ach, es wird nur Malve sein«, sagte Lily gleichgültig.

»Malve? Wer ist das?«

»Du wirst es schon sehen. Einen Moment. Ich muß selbst aufmachen. Ich habe nur eine Stundenbedienung.«

In peinlicher Befangenheit wartete Astrid. Dieser weichliche Raum – das gelbrote Licht – an den Wänden die Photographie der kapitolinischen Venus zwischen zwei bösen Goyas. Auf dem Schreibtisch ein Elfenbeinfigürchen, Salome, der Körper voll warmen atmenden Lebens, Lendenschurz und Kopfschmuck aus 93 Gold. Vor dem Diwan der Kübel voll Tulpen – Geschenke alles, recht kostbare zum Teil – dazu die eigentümliche Luft, das fremde Parfüm und kalter Zigarettenrauch von gestern, der nicht richtig ausgelüftet wurde – – Astrid war die frische Luft ihres Landsitzes und wohl auch die Pfeifen ihres alten Gatten gewohnt. – Diese Atmosphäre war ihr fremd, fiel ihr auf die Nerven.

Von außen stieß Lily die Tür auf, schob ein junges Geschöpf vor sich her ins Zimmer.

»Da hast du sie. Malve, meine Kleine.«

»Deine Tochter? Du hast eine Tochter und hast mir gar nichts davon gesagt – –.«

»Habe ich nicht? Manchmal vergißt man freilich das Wichtigste. Nun, wie findest du sie? Ist sie mir ähnlich?«

Astrid staunte: So elfenhaft zart war der Bau dieser schmächtigen Kinderglieder, so durchsichtig weiß, wie Alabaster, dieses Gesichtchen mit dem schmerzlich geschnittenen blaßrosa Munde, dem schmalen Wangenrund über dem schlanken Hals, den großen, schwarzen, traurigen Augen. Malve hatte prachtvolles Haar von ganz dunklem Braun mit kupferroten Reflexen. Das trug sie lockig über die Ohren zurückgenommen und am Hinterkopf zu einem dicken Knoten verschlungen, so daß die reizende Kopfform sichtbar blieb. Ein Hauch ganz besonderer weltfremder Reinheit lag auf der weißen, schmalen Stirn, als sei dieses Wesen 94 vom Sirius geradeswegs auf die Erde gefallen, und stehe nun hilflos im Erdenschmutz da, ohne den rechten Weg finden zu können.

Astrid hatte die Hand des Mädchens, die es, gehorsam wie ein Kind, ihr gereicht hatte, in ihrer behalten.

»Wie glücklich mußt du sein, Lily.«

»Das sagst du so. Ja, sie ist nett, die Kleine. Aber launisch, hat ihr Köpfchen für sich. Durch eine besondere Verbindung ist es mir geglückt, sie an der königlichen Oper als Elevin unterzubringen – ein großes Glück für sie. Meinst du, daß sie zufrieden ist? Als wenn wir sie zu etwas Schrecklichem gezwungen hätten, benimmt sie sich.«

»Es ist einmal nicht das Richtige für mich. Ich kann gerade das nicht«, hauchte Malve mit einer zarten, etwas ermüdeten Stimme.

»Da hast du's! So widerspricht sie immer. Sieh dir diesen Körper an, diese schlanken Beine, diese feinen Fesseln. Die Natur hat sie einzig für diesen Beruf geschaffen. Leicht ist sie wie ein Schmetterling – und doch paßt es ihr nicht.«

»Ich mag nicht tanzen. Wenigstens nicht öffentlich. Es ist mir fürchterlich.«

»Ballettmeister Wessel hat sie für seine talentvollste Schülerin erklärt, und Direktor Mortens ist geradezu begeistert. Solche Aussichten – kannst du es verstehen, Astrid, daß man solche Aussichten in den Wind schlagen möchte?«

95 »Wenn sie meine Tochter wäre, ich zwänge sie zu nichts«, erwiderte Astrid.

Es war ihr, als ob von der leichten Gestalt etwas Wunderliches ausgehe: Lilys Reiz verblaßte. Mit einem Male erschien sie als ältere Frau, die mit zäher Beharrlichkeit und allen Mitteln um den letzten Rest ihrer Jugend kämpfte. Ihr Kimono, ihr vorgestreckter Fuß in dem hochhackigen Marquisenschuh erschienen unanständig. Die Luft des Zimmers verdichtete sich zu einem Brodem der Erotik. Alle die kostbaren Vasen, Felle, Decken und Kissen nahmen die Namen der Geber an – schließlich deren Gestalt. In langem Zuge löste einer den anderen ab, von dem Telephon gerufen, mit allen Künsten der Schlauheit einer von dem anderen getrennt.

Und die junge Tochter der alternden Genießerin, dieses halbe Kind, diese reine Törin stand noch unwissend, aber vielleicht schon ablehnend, inmitten des Chaos. Ihre leichten Füße fanden über die dicken Teppiche nicht den Weg hinaus ins Freie, in die reine Luft, die sie so sehr ersehnte. –

»Wollen Sie ein Weilchen zu mir kommen? Nur mir zu Gefallen. Ich bin oft recht einsam«, fragte Astrid, aus einem plötzlichen Wunsch heraus.

»Aber wie kann sie denn – gerade jetzt! Eben soll sie ihre erste Solopartie bekommen. Einen schönen Knaben in »König Laurins Rosengarten«.

»Oh, ich habe dort Einfluß. Ich bekomme sie frei. 96 Und zur Entschädigung kann sie dann den jungen Prinzen im »Rebellen« mimen, wenn der erst herauskommt. Möchten Sie das, Fräulein Malve?«

»Ob ich das möchte, gnädige Frau. Und wenn Sie recht gut zu mir sein wollen, so reden Sie Mama zu, daß sie mich ganz dort fortnimmt. Für irgend etwas anderes in der Welt werde ich ja wohl noch tauglich sein.«

»Du bist ein liebes kleines Schäfchen, und es ist nur gut, daß deine Mutter so viel klüger ist als du. Der fällt es nicht ein, dich aus einer Laufbahn springen zu lassen, die dir so großartige Aussichten bietet. Nein, mein Süßes, deine Mutter freut sich schon darauf, wenn sie dich als eine neue Saharet oder Cleo deine feinen Beinchen werfen sieht.«

Sie machte den Versuch, ihren Arm zärtlich um Malves Schulter zu legen. Die aber entglitt ihr. Es lag fast etwas wie Widerwillen in diesem Ausweichen.

»Das wirst du nie erleben, Mama. Mir ist diese ganze Welt mit ihrem Neid und ihrer Eitelkeit so zuwider – so zuwider – –«

»Trotzdem wirst du versuchen müssen, dich mit ihr abzufinden. Was sagst du zu diesem unbegreiflich törichten Menschenkinde, Astrid?«

»Daß dies gerade eine Torheit ist, die ich liebe. Gib sie mir mit, irgendein Vorwand wird sich schon finden, sie dort loszueisen.«

97 »Das ist nicht mal nötig. Ballettmeister Wessel hat sowieso überlegt, ob die Rolle nicht zu anstrengend für mich ist. Ich habe in letzter Zeit ein bißchen gehustet. Morgen soll mich der Theaterarzt untersuchen.«

»Gehustet hast du?« wunderte sich Lily Jordan, während Astrid Börgesen sich wunderte, daß der Mutter des zarten Geschöpfchens das entgangen war.

»Am liebsten nähme ich Sie gleich mit, kleine Malve. Packte Sie, so wie Sie da sind, in ein Auto, alles andere würde sich schon finden. Und erholen sollten Sie sich schon, dafür würde ich schon sorgen.«

Alle unterdrückten oder mit Scham zurückgeschlagenen Mutterinstinkte wurden mit einem Male in Astrid wach. Selbst die Qualen ihrer Sehnsucht traten für den Augenblick zurück.

»Gib sie mir mit«, bettelte sie. »Ich kenne sie am Theater alle, den Ballettmeister Wessel, den Direktor Mortens, den Theaterarzt, sie werden schon mit sich reden lassen. Gleich fahre ich hin.«

Und Lily Jordan, in deren klugem Kopf sehr rasch die Erwägung vor sich ging, daß es unter allen Umständen gut sei, sich mit der einflußreichen, in der guten Gesellschaft der Hauptstadt so wohl angeschriebenen Staatsrätin Börgesen recht nah zu verbinden, gab endlich ihre Einwilligung.

Während Astrid Börgesen in einer sofort gewährten Unterredung mit dem Direktor des königlichen Theaters Mortens mühelos einen Urlaub für Malve Jordan 98 erlangte und dabei allerhand Empfehlendes für das Drama ihres verstorbenen Gatten einfließen ließ, das Herr Holger Asmussen gerade einer allerletzten Ausfeilung unterziehe, kämpfte in Asmussens Wohnung ein junges Menschenkind seinen letzten Kampf aus.

Weder Finna Alminds aufopfernde Pflege noch alle Kampfereinspritzungen hatten es vermocht, den zarten Körper gegen die böse Krankheit zu stählen, und das um so weniger, als die weltfremde, scheue Seele sich schon zu einem Lande am anderen Ufer sehnte. Es war ein williges Sichergeben, ein müdes Hinüberwandern mit ausgestreckten Armen – ein Kampf nur in der allerletzten Stunde.

Herr Almind hatte seine Geschäfte vorgeschützt, um das Ende nicht mit ansehen zu müssen; in den letzten Wochen hatte er in der Angst vor einer Ansteckung das Krankenzimmer so wenig wie möglich betreten.

Finna Almind und Asmussen standen dicht nebeneinander am Kopfende des Bettes, beide mit angehaltenem Atem, um das Hinübergehen nicht zu stören. Das ewige, von Urbeginn eingeprägte Grauen des Lebendigen vor dem, was eben noch seiner eigenen Art war und nun in der Maske des Rätselhaften daliegt, ließ beiden einen kalten Schauer über den Rücken gehen. Mit jeder halben Minute rückte Thyge Ludwigsen weiter von ihnen ab. Das Fieberrot auf seinen Wangen verblich, zugleich mit der Totenstarre kroch ein gelber Hauch herauf, der ihn wie aus Marmor 99 gemeißelt erscheinen ließ. Ein Zug fremder Hoheit breitete sich über seine Stirn. Wie er so dalag in dem weißen Hemd, den Kopf ganz gerade in die Kissen gebettet, die Hände gefaltet, hätte er für seine eigene marmorne Grabfigur gelten können, das Werk eines begnadeten Künstlers, durch nichts zu übertreffen.

Finna Almind zerknüllte das Taschentuch in der Hand und biß die Zähne aufeinander. Sie wollte nicht weinen. Ihr kleines Gesicht war in einem Krampf zusammengezogen, noch kleiner als sonst und fast so blaß wie das des toten Jünglings.

Holger Asmussen klopfte ihr auf die Schulter: »So beruhige dich doch, Finna. Wir waren ja lange darauf vorbereitet.«

Sie schüttelte nur den Kopf, ihre Schultern zitterten.

»Beruhige dich, Finna, wir tragen es doch zusammen. Jeder von uns verliert dasselbe.«

»Ich habe nun fast nichts mehr. Und wenn auch du, Holger –.« Die Todesangst eines gehetzten Tieres lag in ihren großen Augen.

»Sei nicht bange. Ich bleibe bei dir, Finna. Und jetzt noch viel sicherer als früher.«

Sie tastete nach seiner Hand, legte hilflos den Kopf an seine Schulter.

»Soll ich es dir schwören, Finna? Bei ihm da und seinem Andenken? Ich meine, das sei zwischen uns beiden nicht nötig.« Ein weiches, beruhigendes Lächeln spielte um seinen Mund.

100 »Nein – du nicht. Aber ich schwöre dir: geschieht es dennoch einmal: das will ich nicht überleben.«

Nun brach sie in ein wildes Schluchzen aus, wühlte sich an seinem Halse fest, krampfte die Hände in seine Schultern, zog seinen Kopf zu sich herunter. Asmussen fühlte sein Gesicht und seine Hände von ihren Tränen naß. Der Ausbruch dieses leidenschaftlichen Temperamentes erschreckte ihn, wie schon so oft. Er strich ihr beruhigend über das Haar, dann küßte er ihren Scheitel, ihren Mund. –

Finna Almind war's, die nach Frauenart zuerst an das Notwendigste dachte.

»Laß«, sagte sie, »es ist noch so vieles zu besorgen.« Als sie sich aufrichtete, lag auf ihrem verblühten Gesicht neben aller Trauer ein Zug verschämter Seligkeit.

»Die Anmeldung besorgen und den Sarg bestellen mußt du – Almind ist ja für nichts zu gebrauchen. Karten brauchen wir nicht drucken zu lassen, den wenigen, die es angeht, schreiben wir's. Das ist auch deine Sache.«

Asmussen war es zufrieden. Unter dem Dutzend Karten, die er nach einer Stunde fortschickte, war auch eine an die Frau Staatsrätin Börgesen. –

Astrid überlas sie zum dritten Male. Dann atmete sie tief auf: »Endlich. Dieser Tod hatte kommen müssen – nun war es so weit.«

Aus den höflichen, knappen Worten der Meldung war nichts herauszulesen, aber die Handschrift tat es 101 ihr an, es war ihr, als ob davon das Fluidum von Asmussens Persönlichkeit auf sie übergehe.

Er hatte eine ganz seltsame Handschrift, wie sie sonst wohl niemandem eigen war, merkwürdig gerundete, abgezirkelte Buchstaben, die Anfangslaute kunstvoll verschnörkelt wie bei einer alten Mönchshandschrift. Eine Handschrift, die Stolz, ästhetischen Sinn und Eitelkeit zu gleichen Teilen verriet.

Sie prägte sich sehr tief ein, sie machte die Hand lebendig, die diese Buchstaben hingemalt hatte. Eine langgestreckte, magere Hand, das Fleisch zwischen den Fingergelenken fast verzehrt, so daß diese in all ihrer Feinheit deutlich hervortraten.

Mit einem Male fühlte Astrid eine tolle Sehnsucht, diese kränkliche Hand zu streicheln.

Sie hielt diese Karte in der Hand, in einem unklaren Drange, sie anstatt seiner Hand zu liebkosen. Dann öffnete sie zwei Knöpfe ihrer Bluse, schob das Blatt hinein, scheu und schamvoll wie eine Sechzehnjährige, die den ersten Liebesbrief verbirgt. –

Zwei Tage später hing ein schwerer Nebeltag über dem Lande. Es war, als wenn Erde und Himmel sich verschworen hätten, alle ihre trüben mißgünstigen Dünste auszusenden, um die Beerdigung Thyge Ludwigsens mit trostlosester Traurigkeit zu umgeben. An den Zweigen der Zypressen hingen die Tropfen, ein fröstelndes Grauen stieg aus dem aufgewühlten Boden, als der kleine Zug sich von der Grabkapelle den 102 langen schnurgraden Weg hinunterschleppte, zu dem neuangelegten Teil des Friedhofs, wo Grab an Grab sich in kahler Nüchternheit aneinanderreihte.

Astrid hatte wenigstens den Takt gezeigt, sich nicht unter das kleine Gefolge in der Kapelle zu mischen. Sie hatte draußen gewartet, versteckt hinter einem hohen Lebensbaum, durchkältet von dem rieselnden Nebel. Sie hörte abgerissene Worte des Predigers, den getragenen hingesprochenen Segen, ein Murmeln der Versammelten – Beileidsbezeugungen, nachdem die Feier vorüber. Dann das herzzerreißende Schurren des Sarges auf den Steinfliesen, als die Träger ihn aufhoben.

Gleich darauf schob sich der Zug an ihr vorüber.

Mit Genugtuung nahm sie wahr, daß der prunkvolle Kranz, den sie geschickt, am Kopfende des Sarges angebracht war. Die weißen Hyazinthen durchschlugen den Nebel, die schwarze Florschleife ringelte sich hernieder – – sie hatte schon gefürchtet, daß die »Schlange« auch diesen Kranz unterschlagen würde, wie ihre Briefe.

Die ging, kleiner und kümmerlicher als je, dicht hinter dem Sarge, an der Seite eines vertrockneten, spießig aussehenden Mannes mit einem unendlich hohen, lächerlichen Zylinder und riesengroßen Gummischuhen.

Asmussen folgte dahinter, ganz allein, den Kopf gesenkt, wie abwesend.

103 Es waren Monate darüber hingegangen, daß Astrid nichts von ihm gesehen hatte, als die Silhouette seines Profils auf dem weißen Vorhang. Es kam ihr wie etwas Unglaubliches vor, daß sie ihn nun körperlich nahe vor sich hatte. Alles, was sie ihm hätte vorwerfen können, was sie vor sich selbst klein und jämmerlich gemacht hatte, war vergessen.

Sie hatte Selbstbeherrschung genug, dem Zuge nicht bis zur Gruft zu folgen, aber sie wollte den Friedhof nicht verlassen, ohne Asmussen noch einmal gesehen zu haben. So wanderte sie frierend den Gang auf und nieder, bis die ersten zurückkehrenden Leidtragenden, die es offenbar recht eilig hatten, ihr verrieten, daß die Handlung vorüber war.

Wie es sich gehörte, waren die Nächsten die Letzten. Herr Almind hatte nun Finna den Arm gereicht. Sie hatte den Schleier über das Gesicht geschlagen und ging, die Augen auf dem Boden gerichtet, starr wie ein Automat neben ihm. Diesmal schien sie Astrid nicht zu »fühlen«, wenigstens wendete sie den Kopf nicht um eines Haares Breite.

Asmussen aber, der als letzter wieder allein ging, sah sie halbversteckt hinter einer Traueresche am Wegrand stehen.

»Es ist lieb von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Ich sah sie schon vorhin – die ganze Zeit haben Sie gewartet! In dem Nebel!«

104 »Oh, das tut nichts, ich habe ja meinen Pelz«, erwiderte sie und hatte das Gefühl, daß es ihr nichts ausmachen würde, noch einmal drei Stunden hier im Nebel auszuharren. »Ich habe einigen Anteil an Ihrem Leid.«

»Es war schwer. Aber nun bin ich frei und stehe wieder zu Ihrer Verfügung. Sie dürfen ganz über mich bestimmen.«

Am liebsten nähme ich dich gleich in das Auto, das draußen wartet, sprach Astrids ungeduldiges Blut, ihr Mund aber sagte artig: »Es eilt ja nicht so. Erst dann, wenn Sie sich mit Ihrem Verlust abgefunden haben. Es soll doch kein Zwang sein.«

Er drückte ihr warm die Hand und lief dann mit großen Schritten, um das Paar vor sich einzuholen.

Astrid kam noch gerade recht zur Friedhofspforte, um zu sehen, wie die Alminds mit ihrem Zimmerherrn in die elektrische Bahn stiegen, die den Friedhof von der Stadt aus zugänglich machte.

Anton, den sie mitgenommen, stand neben dem Mietauto und hielt den Schlag offen. Sie nannte ihm Lily Jordans Wohnung, dann setzte sie sich bequem in den roten Lederkissen zurecht. In all den vergangenen Tagen hatte sie nicht das Bedürfnis gefühlt, sich an jemanden anzulehnen, jetzt, da der Druck von ihr genommen war, verlangte sie nach jemandem, auf den sie ihre Freudigkeit ausstrahlen könnte. Malve.

105 Lily Jordan war ganz erstaunt über sie, als sie ihr die Tür öffnete.

»Ah, du hast ja schon mit der Gesichtsmassage angefangen. Das ist recht. Nun siehst du wohl selbst, daß es Wunder wirkt. Hier herein bitte, wir sind gerade beim Essen. Soll ich dir einen Teller holen?«

Astrid dankte. Dieses verspätete Mittagsmahl sah wenig einladend aus. Auf einem Tischtuch mit einer Wochenschau aller möglichen Speisenflecke zwei Teller mit den Knöchelchen von Koteletts, ein Drittes auf einer Schüssel, dazu ein paar Kartoffeln.

»Du siehst, es ist noch eins da. Es wartet geradezu auf dich. Soll ich?«

Mit einem Blicke des Widerwillens auf das gerinnende Fett in der Schüssel dankte Astrid energischer.

»Deine Malve mitnehmen wollte ich. Wo steckt sie denn?«

»Ach, sie ist geflüchtet, als sie dich kommen hörte. Macht sich nur ein bißchen zurecht, sie hat heute Köchin gespielt. Wundere dich nicht, daß es hier so einfach ist. Für den Abend sind wir nämlich eingeladen. Allzuviel Essen verdirbt nur den Teint.«

»Wir? – Nimmst du Malve dazu mit?«

»Wie es gerade paßt. Es gibt auch einige, die sich prachtvoll dafür eignen, daß man sie ›Onkel‹ nennt. – Und dann muß ich doch an Malves Zukunft denken.«

»In der Art, wie dein jetziges Leben, Lily?«

»Nur nicht so moralisch tun, bitte. Vielleicht 106 kommt es zu einer Heirat, vielleicht nicht. Und wenn schon! Es gibt so verschiedene Wege, die zum Glück führen.«

»Bist du glücklich, Lily?«

»O Gott, nun wirst du gar banal. – Aber da ist Malve.«

»Nun nehme ich sie erst recht mit. Geh du nur allein, das ist sowieso lustiger für dich.«

Malve kam, ihr Lockenhaar allzu glatt gebürstet, die Hände rot und nach Seife duftend. Über ihr abgenutztes, fleckiges Hauskleid hatte sie eine frische weiße Schürze gebunden, die für ihre ganze Erscheinung so unpassend wie nur irgend möglich war.

»Darf ich nun wirklich heute mit zu Ihnen?« fragte sie mit einem Ton glücklicher Erwartung. »Gepackt habe ich schon für alle Fälle.«

»Wenn Sie nicht kämen, entführte ich Sie mit Gewalt. Das Auto wartet draußen. Sie sehen, es ist alles für eine regelrechte Entführung vorbereitet«, scherzte Astrid, die sich an Malve nicht satt sehen konnte.

»Oh, das ist schön!« rief Malve, beugte sich über die sitzende Astrid, küßte sie auf die Schulter, faßte in ihrem Glück die Mutter leicht um die Hüften, schwebte hinaus, kam wieder, einen recht abgeschabten Handkoffer in der Hand.

»Das Gänsemädel aus dem Märchen. – Hier drinnen mein ganzes Hab und Gut.«

107 »Oder das Fräulein vom Monde. Solche außerweltlichen Wesen brauchen recht wenig, um schön zu sein.«

Astrid riß das Fenster auf, rief Anton zu, der Chauffeur möge ankurbeln. Dabei schob sie heimlich einen ziemlich großen Geldschein unter die tanzende Salome.

Eine Minute darauf saß sie mit Malve im Wagen, hielt ihre Hand fest, als müsse sie sich ihres Besitzes vergewissern.

Über die grüne Gartenstadt war der erste leise Frost gegangen. Die Heliotrope auf den Rabatten starrten braun und zusammengekrümmt, breit, beim nächsten Windstoß zu Pulver zu zerstäuben. Der schwellende Rasenteppich war ausgeblichen und fadenscheinig geworden, überall guckte zwischen den grünen Büscheln der erdige Grund hindurch. Die Rosenstämme standen in Matten eingeschlagen, vor dem Gewächshause waren die leeren Blumentöpfe zu einer roten Mauer aufgetürmt. In der Luft hing es wie die Vorbereitung auf ein tüchtiges Schneegestöber.

Holger Asmussen saß in Astrid Börgesens wohldurchwärmtem Gemach mit den bestickten Sesseln und fühlte sich behaglich. Sie hatte den Takt gezeigt, ihn hier zu empfangen und kein Wort von ihrer Arbeit zu sprechen, obgleich sie nach seinem Urteil fieberte. Nur von Thyge Ludwigsen war die Rede.

»Wie kläglich ist das«, meinte Astrid, »wie zwecklos erscheint alles bei einem so frühen Ende. Es ist, als ob 108 man eine Münze umprägen wollte, die kaum in Gebrauch genommen ist. Und wenn man noch wüßte, was in der großen Ewigkeitsschmelze daraus werden soll. Man stößt sich den Kopf daran ein, wenn man den Gedanken verfolgt.«

»So verfolgen Sie ihn doch nicht. Halten Sie sich an das Diesseits. Aus dieser Erde quillen meine Freuden, und diese Sonne scheint meinen Leiden.«

»Wenn man das könnte! Aber fühlen Sie es nicht auch, wie von den Toten Ströme zu uns gehen? Als wenn aus ihren Adern ein Restchen unverbrauchter Lebenskraft in uns überginge, damit wir genießen könnten, wozu ihnen keine Zeit blieb.«

»Dann hätte mein armer Thyge viel zu vererben gehabt, denn er hat nichts vom Leben gehabt. Aber nein, ich glaube nicht daran. Ich meine vielmehr, daß jedes Geschöpf von Geburt an nur auf sich selbst gestellt ist und die Spanne Zeit, die ihm zu durchleben bestimmt war. Ich meine, je einsamer der Mensch ist, desto freier und stärker ist er auch. Ich würde mich für den Ahnenkult der Japaner bedanken, für das Eingreifen vergangener Existenzen in mein Leben, das mich nur unfrei machen würde. So lieb ich Thyge gehabt habe: es würde mich nur bedrücken, ihn ständig unkörperlich neben mir zu fühlen!«

Astrid stützte den Kopf und sann nach. »Wer so empfindet, muß sehr stark und – sehr selbstbewußt sein. Es ist wohl so Männerart.«

109 »Nicht aller Männer, aber meine. Ich verstehe die katholische Kirche sehr wohl, die ihren Priestern das Zölibat auferlegte. Alle großen Kräfte werden erst dann frei, wenn die Abhängigkeit von der Familie überwunden ist. Darum möchte ich das Zölibat noch viel weiter ausdehnen: auf alle großen Staatsmänner, Feldherrn, Professoren, Dichter und Künstler.«

»Oh, Sie sind sehr hart.«

»Keineswegs, denn ich will sie natürlich nicht von der Liebe ausschließen, nur von dem Zwange durch die Ehe spreche ich.«

Astrid hatte in der Gesellschaft der Hauptstadt viel von Verhältnissen jenseits der Ehe gehört; neu war es ihr, daß jemand in ihrem eigenen Hause diese Verhältnisse als das Ideale pries. So skrupellos Börgesen auch zur Zeit seiner Jugend das Leben ausgeschöpft hatte, während seiner Ehe mit Astrid war er nur für das Wohlanständige, Einwandfreie gewesen – ein Umschwung, wie alternde Lebenskünstler ihn häufig durchmachen.

Sie kämpfte mit einer kleinen Verlegenheit. Asmussen bemerkte es und kam ihr lächelnd entgegen.

»Das darf Sie nun nicht erschrecken, meine gnädige Frau. Ich will keineswegs in Ihrem Hause der Zügellosigkeit das Wort reden. Gerade in jenen Verhältnissen, die durch keinen gesetzlichen Akt geschützt sind, kann die feinste Rücksicht, das zärtlichste Verstehen herrschen. Durch ihre Freiheit verpflichten sie 110 mehr zur Treue als jene anderen, wo eben der gesetzliche Zwang ein Abirren des Gefühls rechtfertigt.«

»Das verstehe ich nicht. Dann würden doch jene – jene Verhältnisse, von denen Sie sprechen, einen ebenso großen Zwang bedeuten wie die Ehe«, gab Astrid mit echter Frauenlogik zurück.

»Sicher, soweit es sich um einen rein innerlichen Zwang handelt. Und eben deshalb halte ich diesen für die höhere Moral. Was aber fortfällt, ist die Einengung im kleinen, sind alle die gräßlichen Kleinigkeiten wie Haushalt, gemeinschaftliche Kasse, gleicher Bekanntenkreis, in den sich der eine einfügen muß wie der andere, ganz gleich, ob es ihm paßt oder nicht. Vor allem aber der Zwang des ewigen nahen Beieinanders.«

»Ich meine, wenn man sich liebt, muß gerade das etwas Köstliches sein. Ein Einswerden in allem, selbst in den kleinsten Nichtigkeiten des Alltags.«

Asmussen lächelte wieder. Astrids Auffassung der Ehe stand seit ein paar Monaten auf der Höhe eines kleinen Provinzmädels, das in der Ehe die Erfüllung aller Erfüllungen sieht.

»Frauenansicht und Männeransicht mögen hier, wie in vielen Dingen, sich schroff gegenüberstehen«, sagte er nachsichtig.

»Meine Ehe mit Börgesen war nicht immer ganz leicht, und ganz besonders nicht in den letzten Jahren. Es gab so vieles, auf das ich für mich verzichten mußte, 111 und das er ganz selbstverständlich nahm. Er sog mein Leben geradezu in sich hinein – und ich fand es nur so in Ordnung.«

Es war das erstemal, daß Astrid in dieser Weise von ihrer Ehe den Schleier zog. Bisher hatte sie von dem verstorbenen Gatten nur in den höchsten Tönen der Bewunderung und Dankbarkeit gesprochen.

»Ich hätte Sie für stolzer gehalten. Es ist auch wohl nur, daß Sie in Ihrer ganzen Ehe keine Zeit hatten, sich auf sich selbst zu besinnen. Nun, es liegt noch ein hübsches Stück Leben vor ihnen, das Sie nutzen können.«

»Ja, für meine Arbeit. Ich bin ehrgeizig wie mein toter Gatte. Ich denke es mir wundervoll, etwas Großes zu schaffen.«

»Verzeihen Sie, daß ich mich nach diesem Großen noch nicht erkundigt habe.«

»Ich wollte Sie gar nicht daran erinnern. Ihr Spott ist auch wenig am Platze. Etwas muß ich doch haben, woran ich mich freue.«

Er hielt es dennoch für eine Mahnung und stand auf. »Haben wir noch unseren alten Arbeitsplatz?«

Sie nickte. Dann gingen sie zusammen hinüber.

Asmussen wog bewundernd den mächtigen Stoß von Blättern in der Hand, der während seiner Abwesenheit fertig geworden war.

Er las eine Weile anhaltend, ohne etwas auszustreichen, dann ging er wieder zum Anfang zurück, zog 112 einen Kneifer aus der Brusttasche, putzte an den Gläsern.

»Meine Augen sind in der letzten Zeit nicht gut, es mag wohl an den Nachtwachen liegen. Lieb wäre es mir, wenn Sie mir Ihr Werk vorlesen wollten.«

»Ich Ihnen?« fragte Astrid ganz erschreckt, und in dem Ton lag deutlich: Ich Ihnen, dem großen Vortragskünstler – wie könnte ich das. – Trotzdem griff sie gehorsam nach den Blättern.

Zuerst zitterte ihre Stimme ein bißchen, sie fühlte ihren Hals rauh und eng, aber die Erwägung, daß sie um die Wirkung ihres Stückes kämpfte, ließ sie ihre Befangenheit besiegen. Immer kräftiger und volltönender las sie, immer deutlicher hoben sich die Personen voneinander ab. Sie gehörten ihr, es wurde ihr leicht, sich ganz in ihre Art zu versetzen, und ihre kräftige dunkle Altstimme kam ihr dabei zu Hilfe.

»Sie lesen ganz ausgezeichnet«, sagte Asmussen erstaunt, als sie eine Pause machte. »Die geborene Vortragskünstlerin. Ich sehe nun das Stück wie auf der Bühne vor mir. Wenn Sie einmal guten Unterricht nähmen, so wäre in kurzer Zeit etwas aus Ihnen zu machen.«

Astrid wurde rot vor Freude. Es klang fast wie Lily Jordans Wort über ihr Äußeres: Wirklich – man könnte etwas aus dir machen.

»Im Ernst? Und würden Sie mich unterrichten?« fragte sie, fast atemlos, und eine wundervolle Aussicht 113 auf gemeinsame Stunden eröffnete sich ihr. »Ich kenne nichts Glücklicheres als lernen. Es macht so jung!«

Holger Asmussen tat, wie alle, die berufsmäßig Musik- oder Verlagsunterricht geben, sehr »besetzt«, zog ein Notizbuch mit der Aufzeichnung aller seiner Verpflichtungen hervor, studierte es sehr eingehend und erklärte endlich nach sehr schwerem Zaudern, daß sich wohl eine Stunde wöchentlich noch ermöglichen lassen werde. Frau Börgesen nahm es auf, als wenn er ihr großmütig ein Geschenk machte.

»Und das Honorar?« fragte sie, zaghaft, einen so heiklen Punkt zu berühren, aber in dem eingewöhnten Bestreben, in allen geschäftlichen Dingen von Anfang an Ordnung zu halten.

Asmussen machte ein Gesicht, als ob man ihn peinige, und eine Geste, als ob er etwas weit von sich wegschöbe, obgleich nach dem Bezahlen des Begräbnisses und der Doktorrechnungen für Thyge Ludwigsen seine Kasse ziemlich erschöpft war.

»Lassen wir das jetzt – verrechnen wir es später bei den Tantiemen. Denn wie das Stück jetzt aussieht, dürfen Sie mit Sicherheit darauf rechnen.«

Sie lasen nun noch, die Köpfe über die Seiten gebückt, den Schluß, und auch der änderte nichts an Holgers günstigem Urteil. Astrid mußte ihm die Handschrift gleich einpacken, damit er sie mitnähme, in voller Ruhe zu Hause noch ein paar kleine 114 Ausfeilungen vornähme und sie dann Direktor Mortens einreichte.

Heute konnte man, nach getanem Werk, und da der Kranke nicht mehr nach Asmussen verlangte, in voller Ruhe Tee trinken.

Dabei gab es für den Gast, der sonst stets mit seiner Wirtin allein gewesen war, eine Überraschung.

Neben dem Teetisch stand ein junges schmächtiges Geschöpfchen in einem fahlroten Kleide von seltsamem Schnitt und nahm gerade Anton den Wasserkessel ab, um ihn über die Spiritusflamme zu hängen.

Nach einem Augenblick des Erstaunens schnitt Holger Asmussen jede Vorstellung ab, indem er dem jungen Mädchen die Hand reichte.

»Ich glaube, wir kennen uns, Fräulein Malve Jordan?«

»Oh, Sie erinnern sich wirklich an mich, nach dem einen einzigen Mal, das Sie mich auf der Probe gesehen haben?« rief Malve beglückt. »Es war eine Aufregung zwischen uns Elevinnen, als wir Herrn Asmussen einmal so ganz aus der Nähe sehen konnten.«

»Wie kamen Sie denn auf die Probe?« fragte Astrid, ein bißchen mißtrauisch.

»Aber gnädige Frau – der Lektor des königlichen Theaters hat selbstverständlich überall Zutritt. Das gehört zum Handwerk. Und wenn Sie selbst erst Ihr Stück herausgebracht haben, wird's auch für Sie dort keine verschlossenen Türen mehr geben.«

115 »Sie stehen mir schon jetzt offen. Der Name meines großen Gatten öffnet sie mir. Darum ist es mir auch geglückt, die Kleine gleich frei zu bekommen.«

Schon wieder der große Gatte, dachte Asmussen. Sie wird ihn als Eisenkugel am Bein bis an ihr Lebensende mitschleppen. Dann wandte er sich an Malve.

»Ich glaubte, Sie tanzten die Knabenrolle in ›König Laurins Rosengarten‹?«

»Ja, aber ich hustete ein bißchen, und einen tanzenden Knaben, der hustet, mochten sie dort nicht – wenigstens hat es ihnen die Frau Staatsrätin so eingeredet.« Sie lachte ein reizendes, kleines, lustiges Mädchenlachen. »Sie müssen wissen, die Frau Staatsrätin bringt alles fertig. Der widersteht niemand.«

»In der Tat?«

»In der Tat. Machen Sie nur die Probe darauf. Tante Astrid, strafe ihn an sich selbst, wenn er es nicht glauben mag.«

Astrid fand, daß Lily Jordans Art schon etwas auf die Tochter abgefärbt habe, und war betrübt darüber – die ganzen Tage, die sie sie allein für sich gehabt, hatte sie ihr viel besser gefallen. Sollte die Gegenwart eines Mannes genügen, um Malve zu einer anderen zu machen?

»Vielleicht machst du selbst diese Unwiderstehlichkeitsprobe?« erwiderte sie spitz.

116 »Aber ich – die sechzehn Jahre sind jetzt uninteressant. Glauben Sie, Herr Asmussen, daß neben meiner Mutter auch nur ein Mensch mich ansieht? – Aber wir wollen uns verbinden, Tante Astrid und ich, und Herr Asmussen hilft wohl dabei, um es bei Mama durchzusetzen, daß sie mich aus dieser gräßlichen Ballettschule fortnimmt. Nicht wahr, Sie helfen mit?«

»Damit würde ich mich einer Todsünde schuldig machen. Wer so wie Fräulein Malve tanzt, muß eben tanzen. Das ist er den anderen schuldig.«

»Ach, bin ich etwa dazu da, den anderen einen Gefallen zu tun?«

»Dazu ist jedes junge und schöne Geschöpf da. Es ist seine heiligste Mission. Sie werden auch selbst Ihre Freude daran haben, wenn Sie erst Ihre Scheu überwinden.«

»Lieber möchte ich in ein Kloster gehen, singen und beten und dazwischen den Staub von den Kirchenstühlen wischen – oder ich möchte einen Kindergarten haben, mit den Kleinen Ringelrosenkranz spielen, oder: So macht das Häschen und so macht das Pilegänschen, und sie in durchflochtenem Papier sticken lehren – und alle müßten sie mich dann so recht, recht lieb haben.«

Der Tee war fertig, sie goß ihn in die Tassen.

»Und ich wüßte noch ein Drittes für Sie«, meinte Asmussen. »Als ich noch viel reiste und noch nicht solch alter grauer Knabe war, wie jetzt, durchquerte ich 117 einmal Japan. Es war in der Nähe von Tokio, in einer Gegend, so verlassen, wie man es nicht eine halbe Tagereise von der Hauptstadt erwarten sollte. Auf meinem kleinen, schwarzen, zottigen Pferd, das aber von seltener Ausdauer war, ritt ich durch die paradiesische Gegend. Gerade das Fehlen von Menschen, die vollkommene Einsamkeit, machte sie mir wert. Alles war so seltsam und fremd – ich war ganz darauf vorbereitet, daß mir nun ein Wunder entgegentreten sollte. Plötzlich stand das Wunder dicht vor mir. Von einer Wand dunkler Bäume hob sich ein kleines Tempelchen ab; wie fast alle japanischen Bauten, nur eine leicht aufgeführte Holzarchitektur. Durch die offene Tür sah man das Bildnis der Himmelsgöttin, in dem Kelch der Lotosblume stehend, geschickt bemalt und vergoldet. Daneben ein blutjunges Geschöpf, die Priesterin des Heiligtums, im Begriff, große Vasen neben dem Bilde der Gottheit mit Kirschblütenzweigen zu füllen. Es war ihr einziges Amt, in dieser Einsamkeit immer wieder neue Blumen herbeizuschleppen, die ja ringsum in großer Üppigkeit wucherten. So könnte ich mir auch Fräulein Malve denken.«

In dem Vorzimmer des Gemaches waren allerlei ausländische Sachen zusammengetragen. Durch die offenen Tür ging der Blick gerade auf einen gestickten japanischen Wandschirm; davor stand ein niederes reichgeschmücktes Tischchen aus Stanholz.

118 Asmussen ergriff eine japanische Vase mit Goldbandlinien aus der Mitte des Teetisches, die offenbar von dort für die Dauer der Teestunde genommen war, trug sie an ihren alten Platz zurück.

»Machen wir den Versuch, Fräulein Malve – bitte hierher, genau, wie ich es angebe.«

Lächelnd, mit niedergeschlagenen Augen, gehorchte das Mädchen. Langsam trat sie heran.

Sie, der das Studium der schönen Pose Beruf war, bedurfte keiner besonderen Anleitung, um die richtige herauszufinden.

Den Kopf vorgestreckt, die langen Wimpern auf die weiche Wange gesenkt, mit der einen Hand die Stiele umspannend, mit der anderen eine der rotgestreiften Lilien in die rechte Stellung bringend, stand sie da. Auf dem mattbunten Schirme wirkten ihr starkes Haar und das schlichte rote Kleid als ruhige Flächen, reizend zeichneten sich die Linien des lieblichen Profils und des überschlanken Halses ab.

»Stehen bleiben – ganz ruhig, nicht rühren«, gebot Asmussen. »Ist sie nicht reizend? Die echteste kleine Tempelpriesterin, die entzückendste Geisha, die sich denken läßt. – Was braucht es für sie einen Beruf? Schön und lieblich zu sein ist der einzige Frauenberuf.«

»So lassen wir sie morgen photographieren«, rief Astrid, fortgerissen von dem Bilde. »Natürlich werden Sie auch mit einem Abzug bedacht.«

119 Damit war Asmussen wohl zufrieden; er ließ es sich noch unter besonderer Beteuerung bekräftigen. Dann sah er nach der Uhr und empfahl sich eilig und ganz erschreckt.

»Ich dachte, Sie wären nun frei und man könnte Sie endlich einmal zum Abendessen dabehalten«, meinte Astrid sehr enttäuscht.

»Wer ist frei? Überall gibt's Rücksichten zu nehmen.«

»Auch für Sie, der Sie nicht verheiratet sind?«

Holger lächelte. Sein Gesicht wurde dabei weich wie das einer Frau. »Es tut nichts zur Sache, wo sie liegen.«

Astrid schien's, als sei sie heute, trotz seiner Liebenswürdigkeit, nicht ganz auf ihre Rechnung gekommen. Sie klingelte nach ihrer Pelzpelerine und den Handschuhen, um den Gast noch bis zur Parktür zu bringen.

»Ihre Menschenfreundlichkeit gegen die Kleine ist ja aller Achtung wert. Wie sind Sie aber zu ihr gekommen? Kennen Sie die Mutter nicht?« fragte Holger, als sie draußen waren, und zog seine geraden Brauen schmerzlich hoch.

»Gewiß kenne ich sie. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Alte Schulfreundschaften in Ehren, man setzt sie aber nicht fort, wenn es sich um eine – eine Lily Jordan handelt. Das ist bedenklich. Sie dürfen sich auf keinen Fall mit ihr öffentlich sehen lassen.« Und 120 dann mit Nachdruck, indem er ihre Hand fest in seiner hielt: »Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein?«

Astrid versprach's und sah ihm lange nach. Es war doch wunderlich: einer warnte sie vor dem andern. Lily Jordan hatte sie ermahnt, sich nicht mit Holger Asmussen bloßzustellen, und nun verlangte Holger Asmussen dasselbe in bezug auf Lily von ihr. –

Mit einem Male sprang ein jähes Glücksgefühl in ihr auf: Asmussen war besorgt um ihren guten Ruf. Sie mußte ihm versprechen, vorsichtig zu sein. Sie war ihm also wert. Um eine Frau, die einem gleichgültig ist, sorgt man sich nicht.

Drinnen traf sie Malve dabei, das Teegeschirr zusammenzusetzen. Sie war dem Weinen nahe, als sie sagte:

»Du bist mir sicher böse, Tante Astrid? Ich habe mich nicht gut benommen. Ich fühle es ganz genau, daß du mir böse bist.«

»Du warst ein bißchen laut und aufgeregt – anders als sonst. – Aber böse kann man dir nicht sein, du Liebes.«

»Und du meinst, weil ein Mann dabei war. Liebe, königliche Tante Astrid, das ist ja das Schreckliche. Wir vom Ballettkorps können gar nicht anders. Wir sind alle auf den Mann dressiert. Es gehört mit zu unserer Ausbildung, daß wir ihn umwerben. Er könnte ja etwas zu sagen haben, Kritiker oder Spielleiter sein, eine Rolle für uns zu vergeben haben. 121 Das wirkt dann in uns fort – und das ist's eben, was ich nicht will. – Herr Asmussen ist auch einer von den Wichtigen.«

»Aber selbst wenn er das nicht wäre, würdest du für ihn schwärmen?«

»Das läßt sich nicht so auseinanderhalten. Auch unsere Schwärmereien sind mit Berechnung gemischt. Aber nun freue ich mich, daß er fort ist, und daß wir beide nun so wundervoll allein zusammen Abendbrot essen können. Oh, ich rieche einen köstlichen Mandelpudding, darin ist Karin groß.« –

Astrids kleine Gereiztheit war schon im Abflauen. Sie verspeiste den guten Mandelpudding mit Genuß und freute sich, daß Malve ganz unbefangen war und daß sie das liebliche Geschöpf bei sich hatte.

* * *


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