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Es war am Morgen nach dem Konzert.
Lotte Rienacker und Vilma Sommer saßen in dem elegant eingerichteten Frühstückszimmer ihres Düsseldorfer Hotels und studierten die Morgenzeitungen mit den Konzertberichten.
»Es giebt doch noch eine Gerechtigkeit in der Welt. Endlich erfahren wir's nun schwarz auf weiß, daß du zu den ersten deiner Kunst gehörst, Vilma«, rief Lotte mit frohem Stolz, von ihrem Blatte aufsehend, »dem Manne, der das geschrieben hat, möchte ich die Hand drücken. Vilma, Mädchen, gestehe es nur dieses einzige Mal ein, daß du zufrieden und glücklich bist.«
»Soweit es bei meiner Natur möglich ist, ja. Es war wohl das erstemal, daß die widersprechende Stimme in mir nicht laut wurde, die sich sonst immer regt, wenn ich mich als Künstlerin fühlen möchte: wahrhaftig, als wenn ich Bleigewichte an den Füßen hätte, die mich niederzögen, das ist noch ein Rest, 122 der von meiner Erziehung zurück geblieben ist«, fügte sie nachdenklich hinzu.
»Das ist jetzt überwunden«, tröstete Lotte herzlich. »Schade nur, daß dieser große Erfolg in den Schluß der Saison fällt.«
»So hinterlasse ich wenigstens eine gute Erinnerung. Weißt du, Lotte, dies wäre eigentlich für mich der richtige Augenblick, um ganz von der Szene abzutreten; der erste unbestrittene Erfolg, das erstemal, wo ich mir selbst gefallen habe.«
»Du bist nicht klug«, entgegnete Lotte ärgerlich, indem sie die Zeitung zur Seite schob und sich noch ein Brödchen mit ungesalzener Butter und Honig zurecht machte. »Verdirb mir den guten Morgen und meine mütterliche Freude an dir nicht, indem du wieder mit diesen Schrullen anfängst. Was übrigens ein solcher Erfolg thut: gestern Abend bei deiner Huldigungsgesellschaft warst du wirklich reizend.«
»Wirklich, kann ich das sein? Das hätte ich mir gar nicht zugetraut.«
»Ich dir, offen gestanden, auch nicht«, bekannte Lotte freimütig. »Aber du warst es, wahrhaftig. Du hast ja deine feinen subtilen Reize – wie sage ich? ›Stimmungsreize‹, die nicht auf jeden, nur auf fein organisierte, nervöse Naturen wirken. Gestern warst du aber von einer so populären Liebenswürdigkeit, daß du mir wie ein ganz neues Wesen vorkamst.«
Die beiden Mädchen waren gestern Abend nach 123 dem Konzert in einer Düsseldorfer Patrizierfamilie eingeladen gewesen, wo man Vilma, als dem Mittelpunkt der Gesellschaft, stark gehuldigt hatte.
»Förmlich kokett warst du, und sie waren alle ganz weg von dir. – Sag, hat der freiherrliche Maler zu deiner Linken – Gott, wie heißt er doch gleich, wer soll sich unter all den Namen durchfinden – nicht die Absicht geäußert, dich zu malen – so in Weiß vor dem Flügel sitzend, mit dem losen Haar – – – aber was thust du denn da?« setzte sie erstaunt hinzu, als sie sah, daß Vilma einem Kellner das Adreßbuch abnahm. »Du wirst doch nicht noch nachträglich Kritiker besuchen wollen, nachdem es diesmal ohne das so herrlich gegangen ist?«
Vilma errötete ein wenig. »Laß mir meine kleinen Geheimnisse«, wich sie aus. »Aber was thun wir jetzt? Ich denke, du hältst daran fest, in die Kunsthalle zu gehen, das wird dir dann wieder zu barem Gelde in Gestalt eines Artikels ›Moderne Düsseldorfer Kunst‹ – ich bringe dich hin, und gehe dann ein bischen spazieren. Mir ist nicht nach Bilder besehen zu Sinne.«
»Ist dir wieder nicht gut? Du siehst heute gerade vorzüglich aus und hast doch auch die Nacht so gut geschlafen.«
Nun mußte Vilma doch lächeln. Thatsächlich hatte sie mehr als die halbe Nacht durchwacht, sich von heftigem Herzklopfen gepeinigt, stundenlang im Bette aufrecht gesetzt, ohne daß die Freundin, die 124 ihr eigenes gesegnetes Schlaftalent so gerne verleugnete, es gemerkt hätte. »Ich bin vollkommen wohl«, log sie mit heiterer Stirn.
Vor der Kunsthalle trennten sie sich. »Also um zwei Uhr im Hotel zum Mittagessen!« rief Lotte Vilma noch nach, indem sie die Stufen hinauf schritt.
Vilma bog in den Hofgarten ab.
Man merkte es doch recht, um wieviel weiter hier alles war, als in Berlin, die schönen Anlagen machten schon einen ganz frühlingshaften Eindruck. Das Buschwerk glänzte in dem rotbraunen Hauch von tausend und abertausend Blattknospen, die nur noch auf ein bischen Sonne warteten, um aufzubrechen, die weiten Rasenflächen waren mit einem sanften Grün übersponnen. Mit dem Modergeruch von Erde und faulem Laub kämpfte siegreich der strenge, harzige Duft des Werdenden.
Die Gänge waren ziemlich leer von Spaziergängern; wenn der Düsseldorfer Zeit hat, geht er lieber in die Kunstausstellungen, die er »doch gesehen haben muß«, wenn er irgendwie zur Gesellschaft gehört, als in den Hofgarten.
Neben einer Bank machte Vilma Halt und zog ihr schmales Notizbuch aus der Tasche:
Geheimer Sanitätsrat Dr. Menshausen.
Spezialist für Herz und Nervenleiden.
Sprechst. von 11 bis 3 Uhr
überlas sie noch einmal. Ihre Uhr zeigte auf einhalb elf, es blieb ihr also reichlich Zeit.
125 Vor Monaten hatte sie von einer Dame in Berlin den Geheimrat Menshausen sehr rühmen hören, und als ihre Düsseldorfer Reise vor der Thür stand, erinnerte sie sich daran und beschloß, ihn aufzusuchen. Mit den großen Berliner Spezialisten mochte sie nichts zu thun haben – wer konnte wissen, wie der Zufall vielleicht spielte, ob nicht Fäden von dort zu Dr. Jentsch gingen – – In der dunklen Angst vor einem ungünstigen Bescheid, bei dem sie nicht gern ganz allein sein mochte, hatte sie dann die Freundin mit sich genommen.
Schon seit Jahren hatte sie mit Herzbeschwerden zu thun gehabt, aber noch immer wußte sie nicht, ob es sich dabei um ein organisches Leiden handelte, ob nur um eine jener nervösen Herzaffektionen, für die ihr aufregendes Leben, ihre zarte, etwas bleichsüchtige Konstitution hinreichenden Grund boten. Welcher Mädchenkörper überwindet ungestraft ein Kunststudium, bei dem so enorme Ansprüche an die Technik gestellt werden, welche Nerven sind widerstandsfähig genug, um ein tägliches sechs- bis siebenstündiges Ueben zu ertragen, noch dazu mit der Geißel im Nacken: Du mußt, du mußt.
Eine große Bitterkeit übermannte Vilma. Was war ihr ganzes fünfundzwanzigjähriges Leben gewesen? Es lag vor ihr, ein Bild grau in grau gemalt, wie eine Tuschzeichnung, der man hin und wieder ein lustiges Farbenfleckchen aufgesetzt hat. So weit war es nun mit ihr: nachdem sie endlich die 126 drückenden Schulden abbezahlt, nachdem ein großer Erfolg hinter ihr lag, war sie jetzt auf dem Wege zum Spezialisten, um das Urteil über ihre verwüstete Gesundheit einzuholen.
Die Ungewißheit, wie es ausfallen würde, setzte sich in Angst um. Vilma strebte auf dem kürzesten Wege aus dem Hofgarten hinaus, fand glücklich eine Droschke und erreichte in kurzer Zeit das Haus des Geheimrats.
Es war doch gut, daß sie sich nicht noch länger versäumt hatte. Das Wartezimmer sei bereits ganz besetzt, meldete ihr der Diener, mit jenem Stolz des Bedienten, auf den ein Abglanz von der Gesuchtheit des Herrn fällt.
Mit raschem Blick überflog sie die Einrichtung: das reiche und gediegene, aber charakterlose Mobiliar eines sehr begehrten Arztes, der nicht zu sparen braucht. Tiefe, bequeme Seidensessel, in denen es sich gut warten läßt, Tische mit Prachtwerken und Journalen beladen, auf dem Sims des Kaminofens in prunkvollen Stehrahmen die Photographien von Fürstlichkeiten mit eigenhändiger Namensunterschrift, auf dem Mitteltisch ein hoher Aufsatz aus Meißner Porzellan: Gewinde bunter Blumen, geschmacklos bei aller Kunst der Ausführung – vermutlich das Geschenk eines dankbaren und sehr begüterten Patienten.
Zu beiden Seiten der Thür, die in das Ordinationszimmer führte, saßen die Kranken nach ihren 127 Nummern aufgereiht. Eine Dame in starrem, dunkelgrünem Seidenkleide, den Pelzkragen lose über die Schultern gelegt, große Diamanten in den Ohrläppchen und ein reizendes Kapotehütchen über dem gedunsenen, bleichgelben Antlitz; ein junger Mann mit starr hervortretenden Augen in dem intelligenten Gesicht, mit angstvoll geöffneten Lippen. Hier ein alter Herr, weißhaarig und gebeugt, dort ein liebliches junges Mädchen, das einer älteren Dame, wohl der Mutter, Mut einsprach – und noch allzu viele andere! Alle Leidensgenossen. Wer all die Tragödien kannte, die diese Krankheiten verschuldet!
Vilma setzte sich auf einen Sessel am Fenster.
Von den unbekannten Schicksalen der Wartenden schweiften ihre Gedanken zu dem eigenen.
Freudlos war schon ihre erste Jugend gewesen.
Als einziges Kind eines Oberlehrers, wuchs sie in einer kleinen Stadt unter dem ständigen Druck beschränkter Geldverhältnisse auf, die nach außen hin bemäntelt werden mußten, und als sich frühzeitig ihr großes musikalisches Talent bemerkbar machte, drängte es sie nur in eine Ausnahmestellung ihren Mitschülerinnen gegenüber.
Sie fand es ganz recht und in der Ordnung, daß ihre Kleider und Mäntel aus billigerem Stoff waren, als die der anderen Mädchen und länger aushalten mußten als jene – ihre Klavierstunden kosteten ja so viel Geld. Wenn ihre kleinen Freundinnen kamen, um sie zum Spazierengehen oder Schlittschuhlaufen 128 abzuholen, so durfte sie nur selten mit – sie mußte üben. Nachgerade wurden ihre Freundinnen der vergeblichen Aufforderungen müde und zogen sich von ihr zurück. Auch darüber durfte sie nicht murren, es war ja so selbstverständlich, was hatten sie schließlich von einer, die »immer üben« mußte!
Immer üben! Sie kannte es nicht mehr anders, aber es war gräßlich. Merkte ihre Mutter, daß sie ermüdete, so brachte sie ihr warme Milch und gequirlte Eier zur Stärkung, aber sie erlaubte nicht, daß von der vorgeschrittenen Uebungszeit auch nur eine Viertelstunde abgeknappst wurde. »Spiele, Vilmachen, es geht noch, wenn du dich recht zusammennimmst. Du kannst es, wenn du nur willst. Denke dran, daß du einmal eine berühmte Künstlerin werden mußt.« – –
Die schwere Filzportiere vor der Thür des Ordinationszimmers öffnete sich und ließ eine junge Frau hindurch treten. Sie mußte einen guten Bescheid erhalten haben, sie lächelte, während sie in ihren Mantel schlüpfte. Nun war die Dame im grünen Damast an der Reihe. Für einen Augenblick war Vilma in die Wirklichkeit gerissen, dann versank sie wieder in ihre Erinnerungen.
Nach ihrer Konfirmation sollte sie das Konservatorium in Berlin besuchen, darauf mußte schon lange vorgespart werden. Doch als sie kaum ein paar Monate dort war, starb ihr Vater nach nur fünftägiger Krankheit am Typhus, ein Vierteljahr 129 folgte ihm die Mutter nach. Ihre Todesursache wurde nie genau festgestellt, der Arzt konstatierte »Herzschlag«, ein Herzleiden hatte sie schon seit Jahren gepeinigt. Vilma schämte sich noch jetzt, daß sie bei beiden Todesfällen keine leidenschaftliche Trauer empfand, aber ihre Kunst hatte stets so sehr im Vordergrund gestanden, daß für die Pflege herzlicher Gefühle wenig Zeit blieb. Nun stand wieder die Sorge um die Zukunft obenan.
Ein Weilchen hielten die kleinen Ersparnisse der Eltern sie über Wasser, dann bekam sie eine Freistelle in der Hochschule, und entfernte Verwandte ihres Vaters sorgten für das übrige. – –
Die Dame in Grün war mit der Konsultation schnell fertig geworden, sie ging schwankenden Schrittes zur Ausgangsthür; ihre elegante Toilette und das Funkeln ihrer Boutons stand in grausamem Gegensatze zu dem aschfahlen Gesicht, dem Zittern ihrer Lippen.
Kalt lief es Vilma über den Rücken – wenn auch sie – –
Andere Patienten kamen, gingen. Zuerst betrachtete Vilma sie mit Teilnahme, dann vermochte sie nicht mehr, sie auseinander zu halten, sie flossen ihr zusammen zu einer Masse, die das Leiden überhaupt verkörperte.
Da war sie wieder in dem billigen Pensionsstübchen in der Lützowstraße, das durch ihr Bett und das gemietete Klavier so gefüllt war, daß sie sich kaum darin umdrehen konnte. Die Ernährung 130 war schlecht, von der Straße dröhnte das Geräusch der Pferdebahnen bis in ihr viertes Stockwerk, sie aber saß am Klavier und übte, bis Brust und Rücken schmerzten.
Ihr Lebensunterhalt kostete wenig, doch das Geld war von Verwandten entliehen, die schmerzlich auf die Zeit warteten, wo es zurückgezahlt werden würde. Ihrem subtilen Ehrgefühl erschien das wie eine Schmach, und sie strengte sich über ihre Kräfte an, um davon erlöst zu werden. Aber bitter war es, dieses Sparen und Rechnen um Kleinigkeiten, um ein Paar Schuhe, die besohlt werden mußten, um den Groschen für die Pferdebahn – dieses ewige Verzichten, wo der Genuß lockte.
Nachdem sie die Hochschule durchgemacht hatte, wurde sie Schülerin von Busoni, später ging sie sogar nach Paris, um ihre Studien unter Risler zu vollenden; vorher hatte sie fleißig Klavierstunden gegeben, so daß sie über etwas eigenes Geld verfügte.
In Paris lebte sie genau so wie in Berlin. In dieser Stadt des raffiniertesten Genusses schien sie allein davon ausgeschlossen zu sein – aber eines brachte ihr Paris dennoch, fast gegen ihren Willen: es machte sie sehend. Neben Arbeit und Existenzkampf rings um sie her die Freude am Dasein, die Sünde in schöner Form, das selbstverständliche Recht des Genießens. Das Gesehene bohrte sich in sie hinein, es arbeitete unbewußt in ihr, und als sie wieder 131 nach Berlin zurückkehrte, war sie innerlich aufgelockert, vorbereitet – – –
Vilma war in klösterlich strengen Anschauungen aufgewachsen. Alles um sie her war Korrektheit, Bravheit nach der Schablone. Auch das Leben der Eltern war in den korrektesten Bahnen verlaufen, ihre Phantasie machte keine Seitensprünge, ihr Temperament stellte keine Forderungen. Die Liebe war den beiden nur eine notwendige Begleiterscheinung der Ehe – im übrigen mochten sie nicht viel davon wissen.
»Ein junges Mädchen kann gar nicht zurückhaltend genug sein!« Das war die Lehre, die Frau Sommer ihrem Töchterchen immer wieder aufdrängte, obgleich sie bei deren ganzer Art so überflüssig wie möglich war.
Schließlich kam es dahin, daß Vilma sich wie entehrt vorkam, wenn ein Jüngling auf dem Eise mit ihr »übers Kreuz« laufen oder ihr auf dem Nachhausewege die Schlittschuhe tragen wollte, und natürlich ließ sie ihn derb ablaufen.
Diese angelernt abweisende Manier übertrug sie später auf ihre Kollegen auf der Hochschule, auf die wenigen anderen jungen Männer, mit denen sie sonst zusammentraf. Sie verletzte anerkannte Künstler, die sie aufgefordert hatten, mit ihnen zu konzertieren, so daß diese sich für eine Wiederholung bedankten, sie verdarb es mit den Kritikern, die sämtlich an ein unbedingtes Entgegenkommen gewöhnt waren.
132 In Berlin verkehrte sie nun in freieren Kreisen: Bildhauerinnen, Malerinnen, Sängerinnen, Schriftstellerinnen, Mädchen, die ihren Achtstundentag durcharbeiteten wie die Männer, die stolz auf ihre Selbstständigkeit waren – und die doch in tiefster Seele nicht darüber hinwegkommen konnten, wieviel das Leben ihnen schuldig geblieben war. Man las in diesen Kreisen die gewagtesten Sachen und sprach darüber mit einer Sachlichkeit, als wenn man das alles selbst an der Quelle studiert hätte, während doch kaum eine von allen in der Lage war, darüber urteilen zu können. Man gab vor, den Mann zu übersehen und ihn entbehren zu können, und doch war es gerade der Mann, diese unbekannte Macht, die die Nerven in Aufregung brachte, die im Hintergrunde jedes Gespräches lauerte und es schließlich ganz beherrschte. Ueber die Ehe dünkten sie sich alle erhaben, weil sie genau wußten, wie gering die Aussichten dafür waren, trotzdem träumten sie von den Wonnen des Genießens, einer schrankenlosen Hingebung. Am Schluß ihrer Träume stand dann auch wohl die unklare Vorstellung einer idealen Mutterschaft ohne Ehe. Wenn man diese Mädchen untereinander sprechen hörte, mußte man glauben, daß sie in alle Tiefen der Sünde und der Leidenschaften untergetaucht seien, während in Wirklichkeit ihr angestrengtes Berufsleben ihnen nicht die Zeit für Abschweifungen ließ. Bei den meisten waren durch die Ueberanstrengung des Körpers von Jugend auf die Sinne gar nicht recht 133 zu Worte gekommen, nur die Phantasie spielte, sie rächte sich für die Kasteiung des Körpers, indem sie mit doppelt leuchtenden Farben malte.
Wenn die anderen redeten, hörte Vilma nachdenklich zu. Aus eigener Erfahrung wußte sie nichts dazu zu sagen. Ihr Herz und ihr Blut hatten sich bis zu ihrem vierundzwanzigsten Jahre nicht gemeldet. Allmählich wirkte jedoch das, was sie täglich hörte, mit dem, was sie in Paris gesehen, zusammen. Etwas neues regte sich in ihr, die Sehnsucht nach etwas Großem, dem Großen, für das es verlohne, sich hinzugeben, kein Rausch, aber ein Aufgehen in Schönheit, in einem Gefühl, stark wie der Tod.
Da trat Doktor Jentsch in ihr Leben, für sie der »Große«, weil sie sein Können nicht an dem eigenen messen konnte, und er nahm, was sie an seelischen Schätzen in sich aufgespeichert hatte, nahm es als sein gutes Herrenrecht – –
Er war ein verheirateter Mann; der Gedanke überrieselte sie oft mit einem heißen Schauder. Sie betrog mit ihm seine Frau, die sie früher freundlich in ihrem Hause aufgenommen hatte. Was sie Felix schenkte, stahl sie jener – – Dagegen empörten sich ihre überlieferten Moralbegriffe, es gab Stunden, in denen sie sich als eine Verworfene fühlte. Wenn dann aber der Zauber seiner Nähe zu ihr sprach, zerflatterte dieses Gefühl, eine solche Liebe ohne Zukunft, so uneigennützig – trug die nicht die Rechtfertigung in sich selbst? – –
134 Vilma hatte vergessen, wo sie sich befand. »Felix« flüsterte sie vor sich hin und das Blut stieg ihr in die Wangen.
Ein Gefühl leidenschaftlicher Sehnsucht wallte in ihr auf, so stark, daß sie die Zähne aufeinander beißen mußte, um nicht in Thränen auszubrechen. Gestern hätte er bei ihr sein müssen, bei ihrem großen Erfolg sehen, wer sie war: eine ihm Ebenbürtige. Mit einemmale kam sie sich grenzenlos verlassen vor.
Seit über vierzehn Tagen hatte sie Dr. Jentsch nicht gesehen und sie merkte nun, daß die Entbehrung über ihre Kräfte ging.
Nach jenem Februarabend, wo Lotte Rienacker sie mit dem Arzt allein gelassen, wo sie ihm selbst freiwillig die Lippen dargeboten hatte, war sie noch einigemale mit ihm zusammen gewesen. Ein paar Liebesworte, ein rasch genommener Kuß, in der beständigen Angst vor einer Ueberraschung und hinterher das Schuldgefühl, wenn sie ihr Thun nach den ihr eingeimpften Anschauungen betrachtete. Ein karges Glück – aber dennoch Glück!
Wie thöricht, daß sie es sich noch selbst verkürzt, daß sie es zuletzt verweigert, ihn zu sehen, seine leidenschaftlichen Briefe nur mit ein paar farblosen Zeilen beantwortet hatte. Es war ihr zu Sinne, als müßte sie ihm abbitten . . . »Felix« flüsterte sie noch einmal und ihr Herz begann zu klopfen. –
Ihre Nummer – »Der Herr Geheimrat läßt bitten.«
135 Auf dem dicken Teppich war der Diener so leise herangeschritten, daß Vilma sein Kommen überhört hatte.
Nun stand sie in dem Ordinationszimmer und die Portiere schlug hinter ihr zusammen. Ein Gefühl plötzlicher Bangigkeit beschlich sie, als ob dieses Stück buntbedruckter Filz sie von der Welt und dem Leben abschlösse.
»Ich bitte, Platz zu nehmen. Womit kann ich Ihnen dienen?« Dieselbe geläufige Phrase, die heute schon vor ihr Dutzende von Personen gehört hatten, nach ihr Dutzende hören würden – und so alle Tage weiter.
Der Geheimrat saß am Schreibtische, und trug, während er seine Frage an Vilma stellte, noch die Notizen über den letzten Fall in seinem Journal nach. Er war ein kleiner, sehr magerer Herr mit einem vertrockneten Gesicht, in dem die nach unten verdickte, und stark gesenkte Nase fast über den dünnen verkniffenen Mund hing. Die Stirn war in regelmäßige Falten gepreßt, dafür war aber der kahle Schädel glänzend glatt, wie poliertes Elfenbein, so daß sich darauf der Reflex des einen großen Fensters als scharf umrissenes Viereck abhob.
»Womit kann ich Ihnen dienen?« wiederholte er, während er das Journal etwas zur Seite schob und die Feder sehr vorsichtig in einen Federwischer aus roten und schwarzen Borsten steckte.
Vilma begann ihre Leidensgeschichte. So oft 136 hatte sie sich schon zuvor in Gedanken diese Situation zurecht gelegt, sich klar gemacht, was sie sagen wolle, daß es ihr nun erschien, als bete sie etwas Auswendiggelerntes herunter. Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus der Entfernung, während sie klar schilderte, hafteten die Gedanken an Aeußerlichkeiten: warum der Doktor nur gerade die Radierung nach dem Anatomen von Rembrandt hier aufgehängt hat? – Das ist für die Kranken doch wenig tröstlich. – Wie setzte er es nur durch, so blank polierte Nägel zu haben, da er sich doch alle paar Minuten die Hände waschen muß? Schließlich blieben ihre Augen an dem hellen Viereck auf seinem Schädel haften. Das fascinierte sie so, daß sie nicht davon loskommen konnte.
»Ich werde Sie untersuchen. Machen Sie sich etwas locker – dort.« Mit einer Kopfwendung wies der Geheimrat nach einer mit schwarzem Wachstuch bekleideten Chaiselongue, dann wendete er sich ab, blieb an einem Tische stehen, auf dessen Platte er unhörbar mit den dünnen Fingern trommelte.
Vilma verstand: dieses Trommeln war eine Art von Sekundenzeiger, womit er seine Zeit maß, und mit zitternden Händen löste sie hastig ihre Kleider.
Eine Untersuchung von fünf Minuten, und doch die zusammengedrängte Qual von Jahren! Wie viele wohl auf diesem Bett gelegen haben, bis der Bezug diese Sprünge aufwies – dort, neben ihrer Wange ist er ganz abgescheuert, daß der 137 Leinenuntergrund sichtbar wird – – Diese unbekannten und doch so widerwärtigen Instrumente um sie herum, und dieser alte dürre Herr, der sich über sie beugt und mit dem Gummihammer an ihr herumklopft, als wäre sie ein Stück Holz – – – »Ich danke, ich bin fertig.« – Schon sitzt er wieder vor seinem Journal und macht Notizen, sie darf sich wieder zurecht machen.
»Mein Fräulein«, sagt er nach einer Weile ganz geschäftsmäßig, während er auf seine ineinander verschränkten gelblichen Finger niedersieht, »es steht leider nicht in meiner Macht, gegen Ihre Krankheit viel auszurichten. Hier heißt es nur, Linderung schaffen. Ich habe Ihnen etwas aufgeschrieben, wovon Sie bei einem Anfall einnehmen können, wieviel und wie oft, steht auf dem Rezept, für die erneute Anfertigung ist ein Vermerk Ihres Berliner Arztes notwendig. Daraus ersehen Sie schon, daß Sie sich genau an die Vorschrift halten und keinen Mißbrauch mit dem Mittel treiben dürfen. Sie verstehen mich? Im übrigen liegt Ihr Gesundwerden zum größten Teil bei Ihnen selbst: keine Anstrengung, keine Aufregung, dazu ein großes Maß von Selbstzucht, der feste Wille, sich zur innerlichen Ruhe zu zwingen, kein Spielen mit der Phantasie, zum Verkehr nur solche Leute, die Sie in keiner Weise aufregen, denn das muß ich Ihnen wiederholen, liebes Fräulein: Aufregung ist für Sie geradezu Gift.«
»Das ist allerdings schlimm für mich«, sagt Vilma mit trübem Lächeln, indem sie ihr Rezept 138 zu sich steckt. »Ich bin Pianistin, und habe gestern in einem Konzert in der Tonhalle gespielt.«
»Ah, die sind Sie? So, so. Ich habe davon gelesen. Unsereiner hat ja leider nie die Zeit ein Konzert zu besuchen. Das ist freilich böse, recht böse für Sie – Sie würden sich nicht entschließen können Ihren Beruf aufzugeben? Ich verstehe ja, wie schwer das sein muß, wenn man Erfolge aufzuweisen hat. Und doch möchte ich Ihnen raten, wenn es sich irgend einrichten läßt, ein paar Jahre zu pausieren.« Nun ist er doch über das rein Aerztliche hinaus für seine Patientin interessiert.
»Ich betreibe meine Kunst als Broterwerb, Herr Geheimrat. An meinem Leben läßt sich deshalb nicht viel ändern.«
»Schade, schade. Aber schränken Sie ein, so viel Sie können, Ihre Krankheit verlangt es.«
»Herr Geheimrat, ich stehe allein in der Welt und hänge deshalb vielleicht weniger am Leben als andere – –«
»Das sagen alle«, erwidert der Arzt barsch, dem das Kokettieren nervöser Patientinnen mit ihrer Gleichgültigkeit gegen das Leben geläufig ist. »So lange, bis sie vor der Entscheidung stehen.«
»Und doch möchte ich Sie um vollste Offenheit bitten: handelt es sich bei mir um ein organisches Herzleiden, woran ich vielleicht bald sterben kann?«
Der Geheimrat trommelt wieder leise auf der Tischplatte, Vilma fühlt, wie sie dadurch nervös wird. 139 Merkwürdig; jetzt wo sie ihr Urteil empfangen soll, sieht sie wieder die Fensterspiegelung auf dem Schädel des Mannes.
»Mein liebes Fräulein, welcher Arzt kann das so kurzweg sagen. Wir können doch nicht wissen, ob nicht die Wissenschaft noch im letzten Augenblick ein neues Mittel entdecken wird, das den aufgegebensten Fall umkehrt. – Da müssen Sie sich an unsere Herren Kollegen von der Chirurgie wenden, denen es nicht darauf ankommt, den Kranken angst zu machen, wenn sie dadurch nur zum Operieren kommen«, setzte er giftig hinzu mit der Konkurrenzeifersucht des Specialisten, der der andern Partei ihre Erfolge mißgönnt. »Und wenn wir nun sagen: Ihr Fall ist gefahrlos – züchten wir damit nicht möglicherweise in dem Kranken eine Sorglosigkeit, die erst die Gefahr schafft? Jedes Krankheitsbild wird doch durch tausend kleine Momente beeinflußt: was heute noch gefahrlos erscheint, kann morgen schon ein ernstes Gesicht zeigen – wir Aerzte müssen uns daher rückenfrei halten. Ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen vorhin schon sagte. Und nun adieu, liebes Fräulein.«
Er reichte ihr flüchtig die Hand und drückte auf einen Knopf an der Wand. Sie war entlassen, eine andere »Nummer« nahm ihre Stelle ein.
Lotte Rienacker empfing Vilma ziemlich ungnädig. Sie war pünktlich gewesen, Vilma dagegen hatte sich arg verspätet und nun that sie auch dem Diner, auf dessen Zusammensetzung jene stolz war, 140 nicht genug Ehre an. Zudem rückte sie nicht mit der Sprache heraus, wie sie den Vormittag verbracht hatte – und sie, Lotte, war doch so offen. Sehr viel Hübsches hatte sie in der Kunsthalle gesehen, freilich auch manches Verzwickte, und jedenfalls war es furchtbar interessant, diese Düsseldorfer Kunstproduktion mal mit der Berliner zu vergleichen; der Artikel darüber stand schon fix und fertig in ihrem Kopfe, und wenn sie erst heute abend ruhig im Zuge säßen, wollte sie gleich versuchen, ihn niederzuschreiben.
»Du bist wahrhaftig vom Journalistenwahnsinn besessen, Lotte«, warf schließlich Vilma achselzuckend ein.
»Bin ich auch, Liebes. Wen sein Beruf nicht fanatisch interessiert, sollte sich lieber einen anderen suchen. Ich begreife den Mann vollkommen, der in seinem Roman einen Morphinisten schildern wollte und zuerst Morphinist wurde, nachher sich aber in einer Entziehungsanstalt behandeln ließ.«
»Ich habe meine Kunst eigentlich immer mehr gehaßt als geliebt. Wenn ich könnte, hinge ich sie ganz an den Nagel.«
»Warte wenigstens damit, bis ich als Frau Oberlehrer Menzel in Quedlinburg sitze. Dann kommst du zu mir. O Gott, Vilma, was kann das für ein entzückendes Stillleben werden – –«
»Weißt du, Lotte, was ich mir wünschte? Nur ein einziges Mal leben, genießen – wer weiß wie bald so wie so alles vorüber ist. Irgendwo sein, 141 wo man Schönheit rings um sich her hätte, unter südlichem Himmel, und dann keine Klavierstunden, keine Konzerte geben müssen, die Kunst wirklich einmal nur als Weihe von glücklichen Stunden ausüben können – siehst du, das möchte ich haben.«
»Allein, Vilma – –?«
Das Mädchen senkte die Wimpern auf die jetzt rosigen Wangen und lächelte. In diesem Augenblick war ihr unregelmäßiges Gesicht so voll von süßem, gefährlichem Reiz, daß Lotte sie erstaunt ansah.
»Vielleicht nehme ich dich mit, Lotte«, sagte Vilma nach einer Pause. – – – – –
Die beiden Mädchen hatten Glück, sie blieben allein in dem Abteil des Berliner Nachtzuges.
Sofort schlug Lotte an ihrer Seite den Schirm der Lampe hinauf, und begann, eine kleine Schreibmappe auf den Knieen, ruhig mit der Füllfeder an ihrem Bericht zu schreiben. Sie war vollkommen bei der Sache, der »Journalistenwahnsinn« hatte sie wieder einmal »gepackt«.
Vilma dagegen zog die Füße auf die Polster und machte es sich in ihrer dunklen Ecke bequem. Ueber ihrem Kopfe, aus dem Gepäcknetze duftete es süß und schwer: die Freundin hatte darauf bestanden, sämtliche Sträuße von gestern dort aufzustapeln, um sie als Trophäen nach Berlin zu schleppen. Einen besonders schönen Rosenstrauß langte sie sich noch herunter und legte die Wange darauf, wie auf ein Kissen. »So viel Süße, und doch schon mit etwas 142 Verwesungshauch gemischt«, dachte sie – und dann flatterten ihre Gedanken rückwärts –
Dieser alte mürrische Mann heute morgen, dem es so sehr darauf ankam, sich rückenfrei zu halten, was hatte er ihr eigentlich gesagt? War das wirklich ein Todesurteil gewesen? Wenn es sich bei ihr nur um irgend eine nervöse Sache gehandelt hätte, die sich durch Schonung und Ruhe überwinden ließe, so würde er ihr das doch zum Troste gesagt haben. Ein Todesurteil! So etwas läßt sich einfach nicht ausdenken – – Wie kann dieser Organismus aufhören zu funktionieren, sie selbst, Vilma Sommer, zu sein? Sie sah aufmerksam auf ihre Hände – die sollten zerfallen, wenn nur ihr Herz mal auf ein paar Minuten sich weigerte zu schlagen? – – Auf eine halbe Minute hielt sie den Atem an, um sich zu vergegenwärtigen, wie das sein müsse, aber bei dem ersten kräftigen Atemzug, den sie that, versagte die Vorstellung.
Und je mehr der starke Lebensdrang in ihr das Gefühl der Todesmöglichkeit verscheuchte, um so süßer erschien sie ihr. Vilma war nicht gläubig, für sie bedeutete der Tod das Nichts, das sie sich aber mit einer leisen, wohligen Empfindung des Ausruhens durchsetzt dachte. Wie gut das thun mußte, nach diesem gehetzten Leben! – – Und dann war da noch etwas anderes im Hintergrunde ihrer Gedanken: Diese Sicherheit eines nahen Todes, war sie nicht ein Freibrief für den kurzen Lebensrest – dürfte 143 man sich nicht ein einziges Mal voll ausleben, wenn man es hinterher mit dem Ende sühnte? An Glück schenken, was man zu vergeben hatte – Der Weltuntergang – –
Lotte Rienackers Bericht war nicht zu Ende gekommen; die Schreibmappe noch auf den Knieen war die Schriftstellerin in vollster Lampenbeleuchtung fest eingeschlafen.
Der Zug jagte durch die Dunkelheit. Hin und wieder leuchteten die Lichter kleiner Stationen auf, die er ohne Aufenthalt passierte, ein Pfiff gellte, und dann wieder das gleichmäßige Stampfen, das man nach kurzer Zeit überhaupt nicht mehr als Geräusch empfindet.
In Vilma regte sich etwas Eigenes. Kein Entschluß, nur ein sanftes Nachgeben gegenüber einer fremden Macht. Eine wohlige Mattigkeit nach langem, langem fruchtlosen Widerstande. Und damit zugleich eine heiße, ungeduldige, jugendliche Sehnsucht. Sie dehnte ihren schmächtigen Körper und löste die über der Brust verschlungenen Arme. Mit Entzücken fühlte sie die Bewegung des Zuges: jede Drehung der Achsen verringerte die Entfernung um ein Stückchen, die sie vom Glück trennte.