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Die Ehrenschuld

Der schöne Park des Palasthotels Lido in Riva ist der Ort der überaus bescheidenen Handlung. Die plaudernden Personen sind Maud, Harriet und Edith – drei junge Amerikanerinnen, die sich zu einer gemeinschaftlichen Reise durch Italien vereinigt haben. Sie kommen soeben vom Bahnhof in Riva zurück und gehen wortlos und nachdenklich durch den großen Garten bis an den Uferrand.

Maud (rückt sich einen Rohrsessel ans Ufer und blickt melancholisch auf den See hinaus).

Harriet (setzt sich auf ein kleines Taburett neben sie und sucht ihr mit schalkhaftem Lächeln die Gedanken vom Gesichte abzulesen).

Edith (setzt sich etwas abseits von den beiden und stützt ihren Kopf in die Hände).

Maud (mit einem leichten Seufzer): Nun wären wir also wieder allein!

Harriet: Ganz allein!

Maud: Auf uns selbst angewiesen! Allein mit unseren Träumen und unseren Narreteien.

Harriet: Und nun können wir auch einmal wieder etwas Ordnung in unsere Reisepapiere bringen. Wie ist es denn mit der letzten Wochenrechnung?

Edith: Ich habe sie bezahlt.

Harriet: Die meinige auch?

Edith: Auch die deinige. Mein Gott, das ist doch so ausgemacht zwischen uns. Ich bezahle immer für uns alle drei –

Maud: Und wenn wir wieder nach New York zurückgekehrt sind, dann rechnen wir ab.

Harriet: Ich glaube, es war sehr gescheit, daß wir in dieser Weise die Rollen unter uns verteilt haben. Ich bin euer Kurier, der immer für Unterkunft und Fahrgelegenheit zu sorgen hat –

Maud: Ich habe das Ein- und Auspacken der Koffer und Körbe übernommen und tue das, wie ihr mir bezeugen werdet, mit der größten Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit. Du aber, Edith, bist unser Zahlmeister.

Edith (mit sonderbarem Ernst): Und auch meine Gewissenhaftigkeit werdet ihr nie zu tadeln haben!

Maud (nach einer längeren Pause): Und so wären wir denn wirklich wieder allein –

Harriet: Ja! – Fort ist er!

Maud: Schade!

Harriet: Jammerschade!

Maud: Und es schien mir fast, als ob der Abschied auch ihm nicht ganz leicht wurde.

Harriet: Hast du das auch bemerkt?

Maud: Als wir ihm auf dem Bahnhof unser Gruppenbild in dem silbernen Rahmen überreicht haben, den wir für ihn haben machen lassen, da war er merkwürdig bewegt.

Harriet: Beinahe sentimental.

Maud: Und es klang ganz ehrlich und ernsthaft, gar nicht wie ein gedrechseltes Abschiedskompliment, daß er die Tage in Riva in dauerndem Andenken behalten würde.

Harriet: Und wir werden es auch.

Maud: Bei Gott! Das werden wir! Nicht wahr, meine liebe Edith?

Edith (zögernd): O ja! –

Maud: Der gute Baron Fred – Was war das für ein liebenswürdiger Gesellschafter!

Harriet: Besonders seitdem das Eis endlich zwischen uns gebrochen war.

Maud: Ich hätte nie geglaubt, daß ein preußischer Leutnant, selbst wenn er sich in Zivil verkleidet und dadurch der bürgerlichen Bescheidenheit mehr genähert hat, so zurückhaltend sein könnte.

Harriet: Ja, das kommt daher, weil man sich auf dem Kontinent hier augenscheinlich von der Sprödigkeit der Amerikanerinnen ganz übertriebene Vorstellungen macht. Man kann es nicht begreifen, daß drei junge Mädel ganz ohne die Begleitung einer bezahlten Ehrendame die Fahrt über den großen Teich machen und sich mit offenen Augen ein bißchen die Welt begucken wollen.

Maud: Man glaubt, daß man uns behandeln muß, wie es in den Briefunterschriften immer heißt: Mit ausgezeichneter Hochachtung!

Harriet: Und in dieser Hochachtung ist auch der gute Baron Fred anfangs stecken geblieben.

Maud: Es ist ja auch in Europa das Märchen verbreitet, daß jeder kühnere Flirt mit einer amerikanischen Miß sofort zur Heirat verpflichtet.

Harriet (lachend): Vielleicht hat ihn das abgeschreckt.

Maud: Als aber endlich die ersten Fäden angeknüpft waren, bei der gemeinschaftlichen Barkenfahrt in Torbole – wie hat er sich für uns aufgeopfert seitdem!

Harriet: Was er uns an den Augen absehen konnte, hat er getan.

Maud: In der Ponaleschlucht war er unser Führer und hat uns ganz unten am Wasserfall Veilchen gepflückt.

Harriet: Bei der kleinen Reunion, der einzigen, die wir hier erlebt haben, hat er sich die Lunge aus dem Leibe getanzt –

Maud: Dir, liebe Edith, hat er die neuesten Wiener Walzer und Märsche vorgespielt –

Harriet: Er war unser Cicisbeo.

Maud: Er war unser Fremdenführer.

Harriet: Er war unser Vergnügungskommissar – und unerschöpflich war er in der Erfindung von Zerstreuungen für uns unruhigen Geister.

Maud: Was mich dabei am meisten in Erstaunen gesetzt hat, ist die Bescheidenheit, die er immer bewahrt hat. Nie hat er uns auch nur durch einen verlangenden Blick beleidigt, ganz im Gegensatz zu den andern jungen Herren, die uns auf der Reise begegnet sind. Nun ja. Wenn junge Mädchen allein reisen, so werden sie ja von ihren Wandergenossen als freie Beute betrachtet, und jeder kühne Jüngling streckt die Hand nach ihnen aus, als wenn er einen amtlich beglaubigten Kaperbrief in der Tasche hätte.

Harriet: Unser guter Fred dagegen – wie zurückhaltend war er, nicht wahr, Maud?

Maud: Als wenn er den sagenhaften Ruf der preußischen Leutnants, die ja nicht gerade durch ihre Schüchternheit berühmt sind, hätte widerlegen wollen. Nicht wahr, Edith?

Edith: Gewiß – gewiß –

Maud: Und doch ist es gerade das, was mich in meinem Gewissen einigermaßen beunruhigt.

Harriet: Ja, wieso denn, mein Schatz?

Maud: Siehst du, Harriet: Ohne Zweifel hat doch auch unser lieber Fred stille Hoffnungen gehegt, die er nur zu diskret war, uns auszusprechen. Wenn ein junger Mann gegen drei junge Damen so aufopfernd gefällig ist, dann tut er es nicht ausschließlich ihrer schönen Augen wegen. Irgend ein kühner Traum lebt in seinem Herzen und macht ihm das Blut warm.

Harriet: Und du meinst, daß auch Fred –?

Maud: Gewiß ist es ihm doch nicht entgangen, daß wir jung und hübsch sind! Wir aber hatten uns von Hause aus in aller Stille entschlossen, ihm das zu verweigern, was er, ebenfalls in aller Stille, ersehnt hat. Ein stummes Versagen haben wir dem schweigenden Verlangen entgegengesetzt. Und dennoch haben wir täglich von seiner Liebenswürdigkeit die Gaben entgegengenommen, für die wir keine Gegengabe gewähren wollten. Findest du nicht, Harriet, daß wir da ein wenig inkorrekt gehandelt haben?

Harriet: Ja, das will mir eigentlich auch so scheinen. Es war beinahe etwas unanständig von uns, daß wir so anständig geblieben sind!

Maud (lebhaft bestätigend): Natürlich! Hinter unserer Ehrbarkeit verschanzt, wie hinter einer uneinnehmbaren Mauer, haben wir uns jede Freundlichkeit gewähren lassen, ohne von unserer Seite auch nur das geringste dafür zu bieten. Nichts, aber auch gar nichts! Und ich schäme mich jetzt, daß wir uns unter diesen Umständen nicht schon früher gänzlich zurückgezogen haben – Nun ja! Wir würden uns doch sonst von niemandem auf der Erde freihalten lassen. Weder bei der Table d'hote, noch im Theater, noch auf der Eisenbahn. Vom Baron Fred aber haben wir uns freihalten lassen! Mit Liebenswürdigkeiten hat er uns regaliert. Mit Aufmerksamkeiten hat er uns überfüttert. Und wir haben niemals daran gedacht, uns zu revanchieren – Findest du nicht auch, Edith, daß wir da eigentlich, wie man hierzulande sagt, schändlich genassauert haben?

Edith (zögernd): Ich finde, daß – (sie stockt).

Maud: Nun, so sprich doch!

Harriet: Du bist doch die Klügste von uns dreien.

Edith: Ich finde also, daß ihr recht habt, vollkommen recht! Jawohl! Wir haben uns vom Baron Fred mehrere Wochen lang, wie ihr es so korrekt ausgedrückt habt, mit Liebenswürdigkeiten freihalten lassen. Aber ihr braucht euch trotzdem keine Gewissensbisse zu machen, denn ich – ich habe getan, was auf unserer ganzen Reise meines Amtes ist –

Maud (erstaunt): Ja, was denn?

Harriet: Um Gottes willen, was denn?

Edith: Ich habe für uns alle drei bezahlt!

Maud (sieht sie mit aufgerissenen Augen und offenem Munde an).

Harriet (schlägt die Hände über dem Kopf zusammen).

Edith (sieht verschämt auf den See hinaus).

Das Gespräch ist zu Ende, und der Lauscher hinter der Efeuwand schreibt es rasch in sein Notizbuch, um vom Gardasee eine menschliche Urkunde mitzunehmen.


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