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Das Haus der kindlichen Starken

Das war ein schönes, stattlich gefügtes Haus, von kräftigen Bäumen umgeben, Geschäftshaus und Wohnhaus. Mitten im Hof stand eine grüne Waldtanne, die in ihrer Kindheit von Sibylle Eigenbrodt, der zierlichen Mutter des Hauses, am Christabend als Weihnachtsbaum für die Vögel aufgeputzt wurde und im großen, weiten, stillen Raum mit ihren Lichtern zum Sternenhimmel emporleuchtete, der zwischen den hohen Hausdächern zu ihr herabfunkelte.

Das war Sibylle Eigenbrodt, die so einen innigen Gedanken gehabt hatte, die Frau von Heinrich Eigenbrodt, der in dem altertümlichen, herrschaftlichen Geschäftshaus, einer Buchdruckerei und Verlagsbuchhandlung, als Herr vorstand.

Aus diesem vielfenstrigen, breittreppigen alten Geschäftshaus strömte Lebenskraft über das Wohnhaus hin, in dem eine seelenruhige Familie wohl gedieh.

Wenn Heinrich Eigenbrodt, der große, schöne Mann mit den guten Augen, dem mächtigen Haupt, über seinen breiten Hof ging, dem rebenbewachsenen Wohnhaus zu, muß sein Empfinden oft ein gehobenes gewesen sein. Alles würdig, eines alteingesessenen, hochangesehenen Geschlechtes wert, alles in Blüte und Kraft, er selbst, sein Weib, seine Kinder; die Mutter der Frau, als sanfter Hausgeist bei ihnen wohnend, ein Haus des Friedens.

Heinrich und Sibylle Eigenbrodt sahen sich selbst und die Reihe ihrer Ahnen in drei Kindern neu erwachen. Wohlgemute Menschen lebten in diesem Hause, freuten sich im Garten, der auf der alten Stadtmauer lag, des Sommers, blickten hinunter in den schönen Hof und hinüber in das altherrschaftliche Haus, in dem das Geschäft mit Würde und Kraft betrieben wurde. In keiner Weise war dieses Geschäftshaus verbraucht oder unangenehm. Es barg für das Wohnhaus ein fast geheimnisvolles, lautloses Leben, nur das Sausen der Schnellpressen war dumpf hörbar und das Pochen der großen Dampfmaschine. Der dicke Faktor ließ sich manchmal an einem Fenster sehen und schnappte etwas Luft.

Die fetten, glänzenden Walzen wurden in eine Kammer über den Hof getragen, in der es ganz sonderbar roch. In dieser Kammer zog man den Walzen ein dickes, glänzendes Gelee ab, das die Kinder gar zu gerne befühlt haben würden, wenn es nicht so lebendig gezittert hätte. Ganze Stöße weißen Papieres trugen Männer in braunen, langen Arbeitskutten über den Hof in die Feuchtkammer, die in einem Keller lag. Sie trugen die Stöße auf dem Kopf, und zu beiden Seiten hingen sie ihnen schwer über die Ohren. Immer gab es etwas im Hof zu sehen. Aber es ging dies alles seinen vornehmen, leisen Gang, nirgends Unordnung, nirgends Unschönheit, nirgends lautes Treiben.

Die Kinder sahen den Vater oft über den Hof in sein Geschäftshaus gehen, sie schauten ihm unbewußt nach. Er ging in eine Welt, die sie nicht recht kannten. Es war etwas Geheimnisvolles dabei. Der Vater sah schön und groß und mächtig aus. Sein schwarzer Anzug war tadellos, sein Haar so wohlgepflegt, sein Auge so hell. Sie hatten einen schönen Vater, – und all die vielen Menschen drüben im Haus gehörten ihm, – und die geheimnisvollen Geleewalzen und die Schnellpressen sausten und die Dampfmaschinen stampften, weil er es so wollte. Auch der dicke Faktor, vor dem die Kinder sich fürchteten, gehörte ihm und all die vielen hellen Lichter und erleuchteten Fenster abends.

Die Kinder hatten das Gefühl, einen reichen, mächtigen Vater zu haben. Auch sie gehörten ihm und auch die kleine Mutter gehörte ihm.

Gegen den Vater war sie unendlich klein und zierlich; aber sie ging mit festen, elastischen Schritten durchs Haus. Und wenn sie sich den blonden, langen Zopf flocht und ihn im Schwung zurückwarf, ehe sie ihn sich um den Kopf legte, erschien auch sie den Kindern sehr mächtig. Es ging alles so flink, und der Zopf war schwer und glatt. Niemand sonst hatte solch einen Zopf. Und wenn der geflochten war, blieb immer auf dem Frisiertisch ein ganz kleines, winziges Löckchen zurück vom letzten Zopfende, um das die Mutter ein paar ausgegangene Härchen wickelte. Die kleine Locke nahm sie dann mit sich, um sie zu verbrennen, zum Leidwesen ihrer Töchter, die diese glänzenden, gleichmäßigen Dinger gern gesammelt hätten, um eine Puppenperücke daraus zu machen. Keins aber getraute sich, diesen Wunsch laut werden zu lassen, wahrscheinlich hielten sie ihn für eine Sünde.

Sibylle Eigenbrodt war die Tochter eines hervorragenden Mannes und einer Mutter, die an Lieblichkeit des Wesens auch im Alter nicht ihresgleichen fand.

Sie selbst hatte die Klugheit des Vaters, die Gesundheit und Güte der Mutter geerbt. In ihr Wesen aber war eine keusche Herbigkeit mit eingewoben, die sie oft schweigsamer und abwehrender erscheinen ließ, als sie eigentlich war. Eine fast asketische Seelenvornehmheit lag über ihr. Ihres Gatten Schönheitssinn, der sich im ganzen Hause in jedem Gegenstande aussprach, mochte ihr wohl etwas unnötig erscheinen, doch ordnete sie sich der starken Persönlichkeit des Mannes ohne Überlegen unter. In jedem Schritt der kleinen Frau, in jeder ihrer knappen Bewegungen lag Kraft, die Kraft der Zierlichkeit, etwas Unwiderstehliches. Sie brauchte im Hause nicht viel Worte zu machen. Ihr Wesen genügte, um ihr alles, was ihr untergeben war, ganz wie selbstverständlich unterzuordnen. Aber auch lachen konnte Frau Sibylle mit der ganzen starken Leidenschaftlichkeit ihrer wohlbewachten Natur; da brach es wie eine Quelle hervor. Und ihr Lachen gewann ihr aller Herzen. Im Lachen verband sie sich mit der Welt. Im Lachen schenkte sie sich ihren Kindern.

In seinen Grundbedingungen ging es in diesem Hause zu wie in jedem Hause dieser Erde, denn sie wußten nicht, von wannen sie kamen und wohin sie gingen. Sie schwebten mitten im Weltenraum unter ungeheuer leuchtenden Welten auf ihrer kleinen Kugel die im großen gewaltigen Tanz der Sterne sich mit dreht.

Sie fühlten sich heimisch und sicher mitten in grauenvoller Weltennacht, mitten im grauenvollen Weltentag. Sie hörten das Rauschen der Erden und Sonnen nicht. Sie wußten die Unermeßlichkeit, die unausdenkbare Ungeheuerlichkeit ihres Daseins nicht.

In ihrem steinernen Haus hatten sie sich wie alle verkrochen, zählten wichtig ihre Hemden und Strümpfe, damit ihnen nichts fehlte, kämpften wichtig um Ehre und Reichtum, zeugten ihre Kinder in die grauenvolle Weltennacht und den grauenvollen Weltentag hinein, in das bewunderungswürdige nicht Sehen und Erkennen, das allein alles Leben möglich macht. Nach dem blinden Lebenslauf werden ihre Leiber in die rastlos tanzende Erde gebettet, in der sie bald als zierliche weiße Gerippchen liegen und unermeßliche Strecken im Weltenraume zurücklegen; und ihre ihnen selbst unbekannten Seelen sind Gott befohlen.

Unter diesen Verhältnissen lebten sie wie alle Sterblichen, zählten ihre Strümpfe und Hemden mitten in der Ungewißheit und Dunkelheit ihres Erdenlebens, und zwar wurde diese Angelegenheit sehr ordentlich betrieben. Reichtum und Ehre waren ihnen seit Generationen zugefallen.

Auch sie hörten, gottlob!, das Rauschen der Welten nicht, wußten nicht, wie geheimnisvoll es um sie auf ihrer tanzenden Kugel stand. Sie fühlten sich so erdensicher, liebten einander und ließen es sich wohl sein. Ihre Kinder hatten sie in aller Unschuld und Seligkeit auf diese Welt gesetzt, ohne zu sorgen und zu grübeln, was ihnen wohl auch jedermann verdacht haben würde.

Ihrer Ahnen brauchten sie sich keineswegs zu schämen. Von beiden Seiten setzten sich uralte Patriziergeschlechter in den Kindern fort. Da gab es in den Familienüberlieferungen prächtige Leute, gutartig, gutrassig, ja außerordentlich. Liebliche Frauen, die ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit bis ins Alter mit hinüberzunehmen nicht vergessen hatten, und energische, kluge Frauen. Es gab auch einen Mönch in der Familie des Vaters, einen Unruhstifter, der protestantisch geworden war. Von diesem Mönch existierten schweinslederne Bände voll Verse und Abhandlungen in einer Schrift, wie in Stahl gestochen. Von diesem Mönch gab es allerhand halbvergessene Geschichten. – O, dieser Mönch!

Die beiden jüngsten Töchter waren ein Zwillingspärchen. Die mächtigen, zwingenden Einflüsse der Eltern und Ahnen hatten aber beide verschieden geschaffen. Lieselotte, ein allerliebstes Persönchen, das alle Vornehmheit und kühle Gelassenheit der Frauen ihres Geschlechts aufgesogen zu haben schien und schon als Kind eine kleine zarte Dame von Welt war, und Biwi oder Rose, ein munteres, geschäftiges Weibchen von Kindesbeinen an, klug, hell, schlagfertig, mit viel Neigung zu Komik und Hanswurstereien, sehr energisch und etwas derb.

Beide blond, blauäugig und von glücklichster Mischung der Rassen. Isebies, die um zwei Jahre ältere Tochter, die nach der Mutter Maria Sibylle getauft war, aber Isebies genannt wurde, war dunkler in Haar und Hautfarbe, ihre Augen schimmerten unbestimmbar, und unbestimmbar war auch ihr Betragen. Von ihr konnte man nicht sagen, daß sie eine kleine Dame war, auch nicht eine kleine derbe Person.

Die Mutter meinte einst: sie ist ein ganzes Dorf voll ungezogener und braver Kinder.

Heute war sie still und andächtig, morgen streitsüchtig, bald fleißig und ehrbar, bald unzuverlässig wie ein Hexchen, ein Kind ohne Jahresunterschiede, mit sieben Jahren so kindisch wie mit drei, und mit drei Jahren so klug wie eine kleine Weise und schroff und überzärtlich. Es war kein Fertigwerden mit ihr, man war ungeduldig und bezaubert, versäumte zu strafen, denn auf nichts war man eingerichtet, glaubte man den kleinen Teufel endlich erwischt zu haben, verwandelte er sich unter den Händen in einen Engel und umgekehrt. Dazu war das Kind viel krank. Über den zarten Körper kam ein schweres Nervenfieber; bewußtlos lag sie wochenlang und wußte nichts von der angstvollen Pflege der Eltern. In einer Nacht erwachte das Kind mit klaren Sinnen und sah seinen guten Vater, wie er hungrig und müde vom Wachen nach einem Biskuit griff. »Du Meisterdiebchen,« flüsterte das Kind zärtlich mit einer Stimme, die nicht mehr vom Fieber verhüllt war, und der große Mann sank vor dem Leidensbett in die Knie.

»Nun bist du wieder da!« sagte er bebend. – Und sie war wirklich wieder da und blieb da, ein wunderlicher Hausgeist, der viel zu schaffen machte und mit seiner Güte und unerziehbaren Natur die Herzen und Nerven bewegte.

Im Hause der kindlich Starken ging es wie in einer von kräftigem und doch sanftem Leben erfüllten, wunderhübschen Geschichte zu, an der jeder seine Freude haben konnte; im oberen Stock die Frau Mutter, mit den weichen, zarten Händen, die um die Gesichter der Kinder in einem zärtlichen Augenblick wie weiße weiche Schmetterlinge flattern konnten, so wie man sich Schmetterlinge vorstellen möchte, wenn man sie mit Händen vergleicht. Niemand auf Erden begrüßte so zärtlich, wie die Frau Mutter es konnte; das liebliche, alte Gesicht, die zwei großen Locken unter der zarten Spitzenhaube mit den grauen Bindebändern, das silbergraue Kleid der kleinen, alten Frau, alles war so liebenswürdig; die Stimme, die nie ein Zorn entstellte, so gütig, außer wenn irgendeine Haustante, deren es viele gab, gar zu ungeschickt beim Whistspiel war, da schlüpfte aus dem guten Munde der lieben Frau etwas, was sich anhörte, wie: »Ei, so 'ne Gans!« – Aber das war dahingeflogen wie eine wirkliche Wildgans durch eine neblige, verschleierte Landschaft lautlos dahinzieht.

Die Frau Mutter wohnte in sonnigen Zimmern. Die Sonne aber war gemildert durch Blumen und große Blattpflanzen, die vor den Fenstern standen. In diesen Zimmern kam und ging es von Freunden und Bekannten, die es sich hier wohl sein lassen wollten in dieser Welt ohne Ecken und Kanten.

Das heitere Wesen der Frau Mutter, wie Heinrich Eigenbrodt die alte Frau nannte, gab dem ganzen Hause einen Charme, trotzdem der ernste Hausherr die Frau Mutter ein wenig leichtsinnig fand.

»Das Leben ist keine Zuckerlecke, Frau Mutter,« sagte er hin und wieder. Als Entgegnung hatte die Frau Mutter nur ein zartes Lächeln. »Meinst du, Herr Sohn?«

Wenn im Hause, in der Familie, in der Stadt sich etwas ereignete und jeder dabei seine Meinung äußern wollte, hatte sie eine kleine vorsichtige Handbewegung: »Nur erst beschweigen, mit dem Beschwätzen hat's Zeit.«

Die süße Heiterkeit ihres Wesens wuchs unmittelbar aus diesem Beschweigen der Dinge heraus, das jetzt niemand mehr so recht versteht, – die Frauen unserer Tage treiben andere Künste.

Die zweite große Kunst der Frau Mutter war die heiterste, anmutigste Ichüberwindung. Doch mußte das bei ihr nicht wie durch eine Operation geschehen sein, deren Folgen oft Verzerrungen allerart sind, wohl aber durch liebevolles Aufgehen ihrer Person in andere und ein seliges Überfließen in ihre Umgebung. Sie selbst ahnte das große Wunder nicht, das mit ihr vorgegangen. Böse Asketen und Mystiker würgen an diesem Geheimnis, welches das liebende Herz der kleinen Frau beim Atemholen löste.

Die Eigenbrodts hatten ein Licht im Haus, das ihnen leuchtete, ohne daß jemand gewahr wurde, woher es eigentlich kam, und während Heinrich Eigenbrodt die liebe Frau Mutter wegen ihres heiteren Lebenswandels etwas aufzog, lebte er unter der Macht ihres Geistes und der Heiterkeit ihres Wesens und gedieh wie alle unter ihrem Schutz und Einfluß.

Frau Mutter war wie eine gute, reine Luft überall wohltätig zu spüren, ja bis in die Hauswirtschaft der Eigenbrodts hinein ergoß sich die Wohltat dieser süßen, starken Seele, die die Heldentaten des Lebens lächelnd getan hatte und nun ruhend über den Dingen dieser Welt schwebte.

Wenn die Frau Mutter jahraus, jahrein am Mittwoch und Samstag zum Markt ging, um für sich und den Haushalt der Tochter das herbeizuholen, was dem täglichen Leben seinen Reiz verleiht, und was ein Dienstbote zu wählen nie versteht, da brachte sie das köstlichste Obst heim, das ausgesuchteste Wildbret, das zarteste Gemüse und die frischesten Blumen. Jede von den Bauerweibern, von denen die Frau Mutter etwas kaufte, gab ihr das Beste, was sie hatte, da war keine, die sich nicht gefreut hätte, die Frau Legationsrätin zu sehen, mit ihr einiges zu schwätzen.

»Frau Rät'n!« rief es auf dem alten, ehrwürdigen Marktplatz, wenn sie durch die Reihen ging. »Da hätt' ich Erbschen für Sie!« – Da hatte eine andere Rebhühner, die sie unter einem Extratuch hervorzog.

»Frau Rät'n, da gibt's heute ein Häschen.«

»Frau Rät'n, da gibt's was für Sie!« – So versuchten die Verkäuferinnen, sie zu locken. Und lebhaft klangen die Stimmen. Die Marktweiber brachten ihre freundlichsten Laute hervor, und die Frau Mutter kam wie ein beschenktes Kind nach Haus voll Überraschungen und hatte alles billiger und besser wie andere Leute und wußte Geschichten über Geschichten. Die Kinder standen schon bereit, um sie und die große Ledertasche, die alle Herrlichkeiten barg, auf der Treppe zu empfangen. Welch ein Jubel, welch ein Erwarten! Nach dem gewaltigen Marktkorb der Köchin schaute niemand; das waren gewöhnliche Speisevorräte, von denen die lustigen Mädel herablassend eine Handvoll Kirschen oder Weinbeeren langten; aber gegen die schwarze Ledertasche der lieben, kleinen Frau war ein Märchenbuch mit allem Zauber der Vorwelt nichts.

Die Mahlzeiten wurden zu merkwürdigen Ereignissen in diesem Hause, denn oft war etwas Geheimnisvolles, noch nie Dagewesenes dabei. – Ein Nähtag, der in jedem Hause eine Sorge ist, unter dessen Last alles Weibliche stöhnt, war hier ein Fest.

Die Umwandlung der Eigenbrodtschen Weiblein in Frühjahr-, Sommer- und Wintergeschöpfe geschah mit allem Frohsinn, und wenn's irgend anging, wurde im Garten geschafft. Die Frau Mutter saß an der Nähmaschine und schmetterte, wie sie es nannte. Anprobiert wurde hinter einem alten Holunderbusch, und die Nachbarn wußten schon lange vordem, ob die Sonntagskleider der Eigenbrodtschen blau, grün, rosa oder grau waren. Sibylle, die Mutter, hätte die Kinder am liebsten in sanfte, anspruchslose Spatzenfarbe gekleidet, die Frau Mutter aber fand, daß sie im traurigen Winter leuchten sollten, und im Sommer, sagte sie, sind auch wir und ihr mit den Blumen um die Wette angezogen gewesen; und sie wußte auch jedem der Mädchen eine Extratasche, irgendein Schwänzchen oder Schleifchen, wonach gerade das Herz stand, anzubringen.

Das alles setzte sie lächelnd durch, auch ihrer eignen Tochter verstand sie den sanften Ernst zu mildern, wußte ihr für die Augen der Welt manchen Reiz zu geben, den Sibylle in ihrer stolzen Herbigkeit verachtete. Die Personen im Eigenbrodtschen Hause milderten einander, statt sich gegenseitig zu steigern, und so entstand ein schöner, stetiger Familienfriede, bei dem alle gediehen. Die Jungen konnten sanft und ungehindert aufwachsen, und die Alten entwickelten sich friedlich und genossen ihre Reife. Man konnte ohne Hast und Erregung leben.

An einem Winterabend saß Sibylle Eigenbrodt, Frau Mutter und die beiden Mädchen in dem Arbeits- und Kinderzimmer, dessen Fenster zum weiten Hof hinausblickten. Die Schnellpressen im alten Geschäftshaus, aus dem mancherlei Geräusche herüberdrangen, sausten, ohne beachtet zu werden. Und doch gehörte ihr Geräusch zum Behagen, denn Sonntags, wenn es wegfiel, vermißten alle gewissermaßen einen Rhythmus bei ihren Beschäftigungen und Spielen. Es war auch angenehm zu denken, daß soviel hellerleuchtete Fenster in den großen Hof auf die schöne junge Tanne blickten, so viel wachsame, freundliche Augen. Zu dieser Abendstunde wurde die Zeitung in den großen Maschinensälen fertiggestellt und gefalzt, und in der weiten Torfahrt stand eine ganze Rotte alter und junger Frauen, Kinder trugen mächtige Taschen, und alle warteten darauf, die Zeitung auszutragen. – Einen Tag wie den andern war es so. Immer hatte die Phantasie der drei Eigenbrodts etwas zu tun. Nie war es langweilig da drüben. Die Zeitungsmädchen, die die leeren Druckbogen den Schnellpressen in den Rachen schoben, spielten eine große Rolle, so gut wie der dicke Faktor und die Herren im Kontor mit den vielen Siegellackstangen und Federkasten, in denen die Federn wie neugeprägtes Silber in Menge lagen; und auch die Rotstifte und Blaustifte und die hohen Drehstühle hatten ihre ernste Bedeutung und die tiefe Würde der Herren und deren herablassendes Lächeln.

Auch heute war alles im schönsten Gang, kein Geräusch fehlte. Wenn die Kinder hinüberdachten, war alles in Ordnung. Sie selbst arbeiteten Weihnachtsarbeiten und sangen »Stille Nacht, heilige Nacht« mit der Mutter; aber sie wußten, daß sie vor dem Abendessen noch ein wenig bei dem Zeitungsfalzen drüben zuschauen durften oder vor dem Hause Schlitten fahren konnten. Sie hatten die Wahl. Beides war verlockend.

»Isebies,« sagte die Mutter, »du bist nicht bei der Sache, was machst du für abscheuliche Stiche. Du siehst gar nicht hin. Du nähst ja unter dem Tisch!«

»Ei der Tausend,« meinte die Frau Mutter, »das ist ja ganz meschant, was du da machst! Lange Faden, faule Maden.« Die Frau Mutter trennte Isebiesens Näherei wieder auf, die schaute ihr dabei traumverloren zu, und als sie die Näherei, die gewissermaßen vom Können und Wissen der alten Frau durchdrungen und lebendig erwärmt war, wieder in ihre dünnen, gedankenlosen Finger bekam, ging's eine Weile, bis die Lebenswärme der Frau Mutter aus dem leblosen Stückchen Leinen verflogen war.

Als die Frau Mutter sich erhob, um sich fürs Theater zurecht zu machen, denn es war heute ihr Abonnement, bekamen auch die Kinder ihre Freiheit.

Das Kinderzimmer lag bald ruhig im Scheine der Hängelampe, die Arbeiten waren unter den Augen der Mutter verpackt, die Stühle unter den Tisch gerückt. Eine geordnete Feierabendstimmung lag über dem Raum.

Sibylle Eigenbrodt ging, nachdem um sie her Frieden geworden, in das Wohnzimmer, zündete sich die beiden Lichter am Flügel an und spielte.

Welches Leben in dem eigentümlichen, klugen Gesicht der Frau. Sie spielte mit einem weichen, perlenden Anschlag der zarten, festen Finger, ihre eignen Gefühle in Töne übertragend, eine seltene Gabe bei Frauen. Und was sie spielte war klar, melodiös, voll süßer Poesie durchdrungen. Wunderlicherweise lag Wehmut und Sehnsucht in allen Weisen, die ihr durch die Seele gingen, und etwas feierlich Volkstümliches; etwas künstlerisch Vollkommenes war das einsame Spiel der pflichttreuen, zierlichen Hausfrau. Eigentümlich, daß sie so einsam spielte, daß sie dieses wunderschöne Können nicht Mann und Kindern mitgenießen ließ. Isebies war manchmal ihre Zuhörerin und hockte dann ganz versunken in einer Zimmerecke.

Sibylle war dabei einmal durch Isebies erschreckt: – als sie sich beim Spiel umwandte, kniete das Kind hinter ihrem Stuhl und küßte das Kleid der Mutter unter Tränen auf eine leidenschaftliche, ungezügelte Weise. Sibylle hätte gern ihr Kind in die Arme geschlossen und geküßt, aber das Herbe, Gefühlskeusche, Scheue in ihr ließ diese Überwallung des Herzens nicht zu. Sie sagte damals halb verlegen, halb unwillig: »Aber Isebies,« worauf Isebiessie mit einem traurigen, fremden Blick angeschaut hatte.

 

Die Frau Mutter ging an diesem Abend wohlgemut und voller Behagen dem alten, gemütlichen Theater zu, in dem sie von Kindesbeinen an alle schönen Eindrücke ihres Lebens genossen hatte. Es war für die alte Frau überhaupt kein Theater, sondern die Quelle des Lebens, eines erhöhten Lebens, etwa eine zweite Kirche, in der man aber behaglich auf seinem Balkon sitzen konnte, bequem zurückgelehnt, alten Bekannten zunickend, die auf dem tiefroten Seidendamast der Wandbekleidung sich vorteilhaft und erfreulich abhoben. Frau Mutter teilte dieses Gefühl wohl mit jedem alten gebildeten Weimaraner.

Die Schauspieler waren von ihnen allen geachtet wie die Pfarrer in der Stadt- und Hofkirche. Nur hatten die Weimaraner mehr teil an ihnen wie an den Pfarrern. Sie gehörten ihnen gewissermaßen wie nahe Verwandte an. Sie freuten sich über den vortrefflichen Ruf und die tadellose Lebensführung der hochangesehenen, tief in das Leben der Stadt eingewurzelten Künstler, die so bürgerlich wie die besten Bürger waren und ihre Sache so gut verstanden, ohne deshalb leichtsinnig und übermütig zu sein.

Es war also kein gewöhnliches kaltes, herzloses Theater, dem die Frau Mutter zustrebte, sondern eine Heimat, eine Ofenecke, eine Spinnstube, in der es Köstliches zu hören gab, ein Heimgarten. Die alten Weimaraner hätten darin sitzen und vor Wohlergehen wie die Katzen schnurren können. Es war ihnen einfach erdenwohl, wenn die Logentüren sich hinter ihnen geschlossen hatten. Alles Unbehagen, alle Sorgen blieben dann draußen.

Frau Mutter liebte auch den Weg zum Theater. Man war doch eigentlich ganz jung. Was wollten denn die Leute mit dem Alter? Wie gern man doch so am Abend seinem Ziele zuging, – immer gleich gern, von erster Jugend an. Etwas würdiger wohl, und ach!, – die guten Kameraden fehlten. Viele waren schlafen gegangen, die trautesten gerade, die herrlichsten; aber ihre lieben Bilder, ihre geistigen Naturen waren nicht abgehalten, die liebe Frau zu begleiten, so ging sie nie allein.

Am Wielandschen Garten kam sie an einer kleinen Gestalt vorüber, die, ein Schaltuch über dem Kopf, vermummt an die Mauer gedrängt stand.

Ein Bettelmädchen in Weimar, das wäre –!, dachte Frau Mutter, das kann nicht sein! Sie wendete sich deshalb nach dem kleinen Wesen um, – und wer beschreibt ihr Erstaunen, als sie in die erschreckten und verwirrten Augen ihrer eignen Enkelin Isebies blickte. »Ja, du meine Güte, wo kommst du denn her, was willst du denn hier? Machst du, daß du nach Hause kommst! Und weshalb hast du dir denn Reginen ihr Umschlagetuch um den Kopf gesteckt wie ein Bettelmädchen?«

Soviel Frau Mutter auch fragen mochte, sie erhielt keine Antwort. Mit geschlossenen Lippen und großen Augen, mit zarten festen Zügen im weichen Gesicht stand Isebies vor ihr, schweigsam und unnahbar wie ein kleiner gefangener Siouxindianer. Frau Mutter wurde etwas ungeduldig, denn zu spät kommen und alle inkommodieren, bis sie glücklich an ihrem lieben Platz angelangt war, das wollte sie nicht, das hielt sie für eine der größten Rücksichtslosigkeiten; die Enkelin auf der Straße stehen lassen, ging aber ebensowenig. So war Frau Mutter in großen Schwulitäten und Isebies hatte den Bock. Sie stand wie ein Pfahl, und keine Miene veränderte sich.

»Sei nicht so meschant, Isebies!«

Frau Mutter wurde etwas heftig, aber mehr bittend wie heftig. »Ich komm' ja zu spät!« Keine Änderung in Isebiesens Betragen. »Ei du liebe Güte!« Frau Mutters Seele rüstete sich, ein Opfer zu bringen. Sie kannte Isebies. Isebies hatte etwas pexiert und hatte nun Reue und irgend einen Seelenkampf, der sie zwang, die Lippen fest aufeinander zu drücken. Endlich gelang es Frau Mutter, das Kind weiter zu bringen. Mit der ersten Bewegung aber rannen auch die Tränen herab, eine ganze Sintflut, und die zarte Gestalt bebte vor Schluchzen.

Ach du lieber Gott! dachte Frau Mutter. Nun ist's aus.

Und es war auch aus. Sie ging nicht ins Theater, schob Billett und Zettel in ihre Tasche und nahm das zitternde kalte Händchen der Enkelin in ihre warme, weiche und ging mit ihr über den Theaterplatz der Schillerstraße zu, denn nach Hause konnte sie Isebies jetzt nicht wohl bringen; erst mußte der Sturm sich legen.

»Was hast du denn da in der Hand?« fragte Frau Mutter.

»Ein Paketchen,« schluchzte es.

»Was willste denn damit?«

Schweigen.

»Na, sei nicht so dumm!«

»Ich hab' so Paketchen gelegt.«

Die kleine Stimme war ganz zermalmt und bebend.

»Paketchen hast du gelegt?« Frau Mutter wußte nicht recht, was sie davon halten sollte.

»I, wie so denn, meine Alte?«

Isebies gab in einer Aufwallung völliger Hingebung ihr Paketchen der Großmutter, die es bescheiden ohne jedes Zeichen der Genugtuung an sich nahm.

»Was ist denn drin?« fragte sie.

Sie standen gerade unter einer Laterne. Isebies griff nach dem Paketchen, nahm es der Frau Mutter aus der Hand, knüpfte das rosa Leinenbändchen auf, tat das weiße Papier auseinander. Und es fand sich, daß auf dem Papier ein Häufchen Asche lag und ein langer Zettel.

Isebies hielt der kleinen alten Frau die ganze Bescherung auf der flachen Hand hin, ohne ein Wort zu sagen. Diese schob ihre Brille, die sie sonst immer trug, auf die Stirne, denn sie war kurzsichtig, beschaute die ganze Angelegenheit aufmerksam und sagte, den Blick auf das Kind gerichtet, verwundert: »Asche und ein Zettelchen.« Das Zettelchen nahm sie, führte es nah an die Augen unter dem vollen Licht der Laterne und las: »Du läsesd sie dahin farn wie einen Stromm und sind wie ein Schlaff; gleich wie ein Graß, das doch bald welg werd.

Das da früe blühd und bald welg werd, und das Abents abgehaun werd und vertohrret.

Lehre uns bedengen, das wir sterm müßen, auf das wir klug werten.«

»Was soll denn dieser traurige Psalm – und diese Fehler. Isebies?«

»Ich habe so Paketchen gelegt,« wiederholte das Kind leise und beschämt.

»Wieso denn?«

»Ich habe so eins auf die Straße gelegt,« sagte das Kind leise, »und gewartet, bis es wer fand. Dann hab' ich mir gedacht, wie er's aufmachen wird! Es war auch noch eins mit einer toten Maus.«

»Pfui Tausend,« sagte Frau Mutter und schüttelte den Kopf, schüttete die Asche aus dem weißen Papierbogen und faltete diesen sorglich zusammen.

Isebies griff in ihre Tasche und gab der Frau Mutter eine ganze Handvoll Zettelchen, an denen krumme Stecknadeln steckten.

»Was soll nun das?«

Isebiesens Stimme zitterte wieder. »Solche habe ich den Leuten an die Mäntel gesteckt.«

Frau Mutter nahm eins und las. Da stand ganz einfach »Esel« darauf; wieder auf einem: »Du's Maul nich auf, denn was du sprichsd is dumm.« Und wieder auf einem: »Gott hat mich nich allein gemachd, da muß noch was Andres mit dabei gewesen sein.« Dann fand die Großmutter noch eins und las es mit der Brille auf der Stirn: »Du mußt nicht liben, was Beine hat. Alles läufd fort.«

»Nu sag' mir nur, Isebies, wie du auf all das Zeug kommst?«

Frau Mutter hielt jetzt wieder die Hand der Enkelin in der ihrigen. Sie standen gerade vor einem Konditorladen. Ohne ein Wort zu sagen, ging die liebe Frau hinein, ließ Isebies draußen warten und kaufte einiges ein. Das Kind blieb diesen Abend oben bei der Großmutter. Regine, die alte Köchin, holte die Erlaubnis dazu.

Isebies durfte die Tüte vom Konditor auspacken, durfte den Tisch decken, das Teemaschinchen anstecken, und dann, nachdem es herrlich geschmeckt hatte, spielte das große Mädchen Katze, schmiegte sich an die liebe Frau fest an, spielte dann mit den Füßen der Frau Mutter, die in schneeweißen Strümpfen steckten und kleinwinzig waren und weiße Mäuse vorzustellen hatten. Dann schnurrte und spann Isebies, daß es eine Art hatte.

»Solche Zettel solltest du den Leuten nicht mehr anstecken,« meinte die liebe Frau mitten in das Spiel hinein. »Ich finde das nicht schön. Was stellst du dir denn dabei vor?«

»Mir gefallen die Menschen nicht!« sagte Isebies. »Einem Tier würde ich nie einen Zettel anstecken.«

»Weil du weißt, daß ein Tier ihn nicht lesen kann.«

»Nein, deshalb nicht,« sagte das Kind kurz. »Weil ein Tier viel solider und lieber ist.«

»Ach was, das ist dummes Zeug. Ein Tier geht uns gar nichts an.«

»Sehr viel,« meinte Isebies.

»Du versprichst mir, daß du keine Zettel mehr ansteckst und keine Paketchen legst. Mach' gar keine Geschichten, versprich es mir ganz einfach. Ich weiß, weshalb ich es von dir verlange.«

»Ich verspreche es dir,« sagte Isebies.

»Aber auch halten.«

»Auch halten. – Weißt du, Großmutter, ich kann die würdigen, dicken Leute nicht leiden. Ich denke immer, daß sie was tot treten, wenn sie gehen.«

»Was denn?«

»Ameisen.«

»Geh, Isebies, du bist eine kleine Gans. Schlaf wohl.«

Isebies küßte die Frau Mutter, und die feinen, weichen Hände flatterten zärtlich wie Schmetterlinge um die Wangen des wunderlichen Kindes.

Am anderen Tag erzählte Frau Mutter ihre Begegnung mit der Enkelin der Tochter, nahm ihr aber das Versprechen ab, gegen Isebies nichts zu erwähnen. Sie zeigte ihr auch die Zettelchen.

Als Sibylle las: »Gott hat mich nicht allein gemacht«, fuhr sie mit beiden Händen sich an den Kopf und sagte heftig: »Das schreckliche Kind! Und diese Fehler, Herr du meine Seele.«

»›Schrecklich‹, das ist zu viel gesagt,« meinte die Frau Mutter, »aber seltsam. Ich weiß nicht, mir kommt es eigentlich nicht passend vor, den Kindern die traurigen Psalmverse lernen zu lassen. Isebies muß man sehr behüten, besonders seit ihrer Krankheit. Es macht alles so großen Eindruck auf sie. Ich habe sie mir gestern gezähmt wie ein kleines wildes Tier. Man muß sehr still und sanft mit ihr sein, um sie an sich zu gewöhnen, herzugewöhnen und zahm zu machen. Sag's auch Heinrich nicht. Der macht sich ganz unnötige Sorgen und würde es, Gott weiß, für seine Pflicht halten, Isebies anzudonnern. Wir hätten sie dann vielleicht für immer scheu gemacht.«

»Ich bin so viel einfacher wie du,« meinte Sibylle. »Ich würde ihr's ordentlich sagen, Mütterchen, du hast uns auch viel mehr über einen Kamm geschoren. Mit deinen Enkeln bist du bedenklicher.«

»Da magst du recht haben. Man wacht sehr langsam auf. Du wirst auch wohl erst aufwachen, wenn du Enkel hast.«

»Vielleicht aber ist das über einen Kamm scheren ganz gut. Mit vierunddreißig Jahren hoffe ich doch endlich aufgewacht zu sein.«

»I bewahre,« sagte Frau Mutter. »Ich hab' aber ja auch mit Heinrich unrecht gehabt. Weißt Du noch?«

»Mit Heinrich?«

»Vor Jahren. Ich sagte doch immer, daß Heinrich zu den Romantikern gehört!«

»Ich weiß auch, was ich dir antwortete: Heinrich ist einzig in seiner Art, und zu den Romantikern gehört er gewiß nicht. Wie sollte er denn, er, der alles Überschwengliche so haßt. Ich weiß genau, du sagtest mir oft, daß ich mich zu langweilig anziehe. Wenn Heinrichs Treue und Liebe an einer rosa Schleife hinge, würde ich dafür danken. Was heilig ist, ist heilig.«

Die Frau Mutter aber dachte die sonderbaren Worte: Es gibt nichts, was es nicht gibt, und sagte: »Er liebt Eau de Cologne und verbraucht mehr als Goethe und Liszt zusammengenommen; und mich hat's immer gewundert, daß er von Karoline Schlegels Briefwechsel gar so viel hält.«

»Du ziehst dich auch viel zu langweilig an. Du bist noch eine junge Frau, und man ist lange genug alt. Man ist überhaupt nie so alt, um sich langweilig anzuziehen, und solange mir Gott das Leben läßt, werd' ich's auch bei dir nicht leiden. Aber angenommen, Heinrich wäre doch ein Romantiker, der nicht ausgekrochen ist, so paßt mir nur hübsch auf Isebies auf.«

 

Die Geschichte mit dem Paketchenlegen blieb also Geheimnis zwischen der Frau Mutter und Isebies und verband Großmutter und Enkelin auf das innigste. Das kleine wilde Tier Isebies war der alten Frau auf ihre scheue Weise ganz untertänig. »Meine Alte,« sagte Frau Mutter oft zärtlich zu ihr, und das Kind streichelte dann behutsam die zarte, welke Hand und flüsterte kaum hörbar: »Meine Junge,« aber so leidenschaftlich, daß ein Überschwall von Gefühl zutage trat, der Schmerz, daß die liebe Frau alt war.

Isebies war eins der armen Kinder, die wissend aufwachsen. Sie wußte Dinge, die sie niemand gelehrt hatte. Die alte Kinderfrau hatte Isebies das weise Kind genannt. Trotz all ihrer Dummheit wußte das Kind vom Tod, vom Alter, von Trennung, daß zwischen Mann und Weib Geheimnisse bestanden. Sie stand der Natur innigst nah und war anders wie die andern, voll wissenden Mitleids. Immer fürchtete sie den Verlust derer, die sie liebte. Als kleines Kind bangte ihr vor allem vor der Sintflut; wenn die Mutter ausgegangen war, stand sie am Fenster und blickte nach den Wolken mit ängstlich pochendem Herzen. Fiel irgendwo ein hartes Wort im Haus, bebte die arme, kleine Seele. Rügte Marie Sibylle die Dienstboten, verlangte das Kind, daß die Mutter die Gescholtenen danach küssen sollte.

»Denke, daß du eine Mama bist,« sagte sie dann schluchzend, wenn es nicht geschah.

Sie konnte nicht das Wort Alter hören, nicht Tod, nicht Armut, ohne sich ängstlich anzuschmiegen. Sie war aber auch das einzige Kind, das gewagt hatte, die Hand gegen Marie Sibylle zu erheben, wenn sie Schelte bekam.

So aus Weichheit und Auflehnungstrieb zusammengesetzt, war Isebies für Marie Sibylle, die ihr Leben von jeher in strenger Selbstzucht gelebt hatte, ein harter Brocken. Rettung in diesem Zwiespalt fand sie nur in der gleichmäßigen Gerechtigkeit gegen ihre drei Kinder. Oft aber wäre Isebiesens Strafregister durch deren schrankenlose, ungezogene Güte und Unart zu lang geworden, so daß Marie Sibylle manche Nummern zu Isebiesens Gunsten in Ratlosigkeit überging, denn es schien ihr eine Ungerechtigkeit an sich, daß sie an Isebies so viel bemerken mußte, was nicht in Ordnung war.

Hätten die Zwillinge die Nachbarskinder eines schönen Abends von der Straße in die Speisekammer geführt und sie gebeten, zu nehmen, was ihnen gefiele, wären beide sich er gehörig durchgewichst worden. Aber als Isebies mit einer ganzen Rotte in die Speisekammer gedrungen war und mit einer großen Gebärde gesagt hatte: »Nehmt nur, was euch gefällt, auch von den Einmachbüchsen,« und ihnen dann wie eine Heilige nachgeschaut hatte in Geberwonne, das trug ihr keine Schläge ein, die Mutter strich ihr über das Haar, als sie ihr Kind so antraf, und ließ den Zug der Seligbeladenen passieren. Isebies aber wurde dunkelrot und sagte: »War das vielleicht gestohlen?«

Marie Sibylle legte sich oft auch bei klareren Vorfällen die Frage vor: Weiß Isebies nicht, was gut und bös ist? Sie selbst hatte es immer gewußt, auch die Zwillinge, und alle, die sie kannte …

In der Schule ging's miserabel. Sie wird dumm sein, dachte Marie Sibylle. Gottlob, daß sie kein Bub ist. Aber dann wieder zweifelte sie an Isebiesens Dummheit. Mit der Helligkeit der Zwillinge war sie freilich nicht zu vergleichen, die waren wie von einem sanften Licht durchschienen, von süßer, gleichmäßiger Heiterkeit, besonders die kleine Weltdame machte nicht die leiseste Mühe und Not. Sie gedieh in voller Grazie. »Das Kind ohne Schattenseiten« nannte Heinrich Eigenbrodt seinen Liebling. Sie gewann aller Herzen.

 

Zu dem Eigenbrodtschen Hause gehörte eine große Zahl Tanten; auch Onkels, aber Tanten waren in der Mehrzahl. In Weimar sind von jeher, das heißt, solange man von Weimar etwas weiß, die Frauen ganz besonders gut gediehen. Schon Madame de Staël machte diese Bemerkung. Sie schreibt irgendwo, daß Goethe sich unerträglich in Weimar hätte langweilen müssen, wenn diese merkwürdig intelligenten und liebenswürdigen Frauen nicht gewesen wären. Und so mag es geblieben sein. Es war an weiblichen starken Persönlichkeiten kein Mangel. Tanten gab es, auf die sich das ganze Haus freute, jung und alt. Die Zeitgenossinnen der Frau Mutter sprachen wie geheimnisvolle Priesterinnen einer großen Vergangenheit, als hätten sie Gralsschüsseln, gefüllt mit Erinnerung, zu hüten.

Sie sprachen, wie keine anderen Menschen auf Erden, von Goethe mit gedämpfter Stimme, – als läge er aufgebahrt im Nebenzimmer. Zu jener Zeit war man noch entfernt davon, in Goethes Vergangenheit so zu wühlen, wie man es jetzt tut. Die lieben prächtigen, alten Frauen, die ins Eigenbrodtsche Haus kamen, breiteten zarte Schleier über alles, Gutes und Böses. So konnte man freilich keine Literaturgeschichten schreiben und Literarhistoriker ernähren. Aber diese verschwiegenen Priesterinnen woben einen Gottesdienst aus ihren Erinnerungen. Frau Mutters Schwester, eine zarte, vornehme, alte Dame, einst eine vollendete Schönheit, hatte in ihrer ersten Jugend Dichter und Fürsten jener Weimarer Zeit als alte Leute persönlich noch gekannt. Sie war keineswegs literarisch, wußte aber Vergangenheit so zu Gegenwart zu verwandeln, daß die beiden anmutigen Alten alles um sich her vergaßen. Auch Isebies, die ihnen oft gespannt lauschte, hörte das sanfte, geheimnisvolle Geplauder mit an. Sie hörte auf solche Art Geschichte. Zwei ganz entrückte Seelen sprachen von berühmten, herrlichen Menschen, flüsterten von deren Torheiten und Liebenswürdigkeiten, lächelten darüber weihevoll, erinnerten sich an Begegnungen, an Worte und Scherze, die längst vergessen waren, sprachen von Feierkleidern, die längst vermodert waren, sprachen davon, wie Christiane Goethe gar so wild und unsinnig als dicke Trutschel getanzt, und was sie angehabt hatte, waren nicht einig darüber, ob Goethe an seinem blauen Mantel drei oder vier Kragen übereinander hatte; wußten genau, was er gesprochen an diesem oder jenem seiner Hausabende, bei denen die eine oder die andere von ihnen mit zugegen gewesen, wußten von seinen Ärgern und Freuden. Sie hatten Napoleon gesehen, hatten Kreuz und Not erlebt, flüsterten leise über die Goetheschen Nachkommen mit einem geheimnisvollen, schwermütigen Ton. Frau Mutters Schwester brachte einmal ein Gedicht mit und las es bekümmert vor. Das Gedicht war von Walter Goethe, Goethes Enkel. Sie las es mit Tränen in der Stimme.

Isebies fühlte, daß es sich um ein schweres, dunkles Schicksal handelte. Sie behielt die Worte in ihrem Gedächtnis und empfand ein Schauergefühl, wenn sie jener Worte gedachte.

Die beiden sanften alten Frauen sprachen von Alma, Goethes Enkelin, die in Frau Mutters Haus wie ein eigenes Kind daheim gewesen war. Isebies hörte da zum erstenmal, was für wundervolle Geschöpfe Menschen sein können. Sie horchte auf.

»Ja,« sagte Frau Mutter, »die hatte wirklich Goethes Glutaugen, wie die Enkelin muß er in seiner Kindheit gewesen sein, ein Götterkind, natürlich und lebendig, – und unausstehlich war sie auch. Was für einen Willen hatte sie, und lachen konnte sie, daß das Haus schebberte. Die hätte als Frau werden müssen, was ihr Großvater als Mann war. Da uns Frauen das Höchste versagt ist, mußte sie wohl sterben.«

Isebies sagte zärtlich und verwundert: »Gomelchen« (so nannte Isebies die Frau Mutter), »weshalb dürfen die Frauen das Höchste nicht erleben?«

Da schaute Frau Mutter betroffen auf. Sie hatte im Eifer ihre Enkelin vergessen, die ihr mit brennenden Augen zuhörte.

Frau Mutters Schwester sagte: »Daß auch der kleine Balg immer da ist.«

Frau Mutter aber meinte: »Die ist nun einmal so eine Art Katze, die immer hockt, wo's gemütlich ist.« – »Die Frauen,« sagte sie dann zu Isebies, »haben das Höchste in der Liebe zu erleben, haben viel zu leiden und haben auch das Leid ihres Mannes, das Leid der Kinder und Kindeskinder und ihr eigenes zu tragen. Und wer Leid zu tragen hat, hat genug zu tun mit Trösten und Helfen.«

»Und die Freuden?« fragte Isebies.

»Sie müssen auch die Freuden der andern mittragen. Sie haben immer für andere zu leben. Aber Alma wäre das nicht genug gewesen, mit solchen Goetheaugen. Ja, und ich glaube, daß sie deshalb sterben mußte. Gott hat sie behütet, daß sie nicht wie ihr Bruder dichten mußte. An der wäre jede Vermummung verbrannt, wie Leinwand an einer Flamme zu Zunder wird.«

Wenn die Frau Mutter auf Alma Goethe zu sprechen kam, wurde sie ganz beredt, und Isebies lernte so Goethe an seiner Enkelin kennen und liebte den jungen, ganz jungen Goethe.

Frau Mutters Schwester aber sagte, als Isebies damals hinunter zum Tee gerufen worden war: »Schick' doch den kleinen Balg fort, wenn wir reden. Wenn meine Kinder so zuhörten wie Isebies, bekämen sie einfach eine Tachtel. Überhaupt, ich halte viel darauf, auf eine Tachtel hin und wieder. So viel ich weiß, hattest du mit deinen Mädchens doch auch eine leichte Hand in dieser Beziehung. Mit Isebies macht Ihr's nicht richtig.«

»Na, was hat sie denn getan?« fragte Frau Mutter etwas ungeduldig.

»Eben nichts hat sie getan als zugeguckt und gelauscht.«

»Na, höre mal,« meinte Frau Mutter, »den ganzen Tag kann sie nicht stricken und Aufgaben machen. Ich wenigstens bedanke mich dafür, sie immer angebunden zu halten. Und hast du denn ganz vergessen, wie wir's getrieben haben?«

Das hatte sie auch nicht vergessen, die Schwester. »Aber so zugehört haben wir nicht,« meinte sie.

»Natürlich nicht, weil's bei uns nicht viel zu hören gab. Damals, so kam mir's vor, lebten die Leute noch gar nicht recht. Kannst du dir vorstellen, daß die Mutter so geschwätzt hätte wie wir?«

»Die Arme,« sagte die Frau Schwester leise. »Ja, aber so recht von Herzen schwätzen tut sich's auch erst in unserem Alter, wenn man sieht, wie ein jeder, den man so kannte, seinen Lebensstrumpf zu Ende gestrickt hat. Aber mit Isebies macht Ihr's nicht recht. Sie soll ja in der Schule auch gar so schlecht sein. Ihr Lehrer hat gesagt, ein wahrer Skandal wär's. Weißt du, Röschen, kannst du denn gar nichts dabei tun.«

»Du lieber Gott,« meinte Frau Mutter, »wo nimmst du nur den Mut her, so was zu sagen? Bist du etwa in deinen alten Tagen noch einmal in die Schule gegangen? Ich wüßte nicht wann. Ich gewiß nicht. Ich weiß, Gott sei's geklagt, auch nur, was wir zu unserer Zeit nicht gelernt haben. Auch Isebies wird Gott gnädig sein.«

»Meinetwegen, wenn Ihr's nicht schwer nehmt,« meinte die Frau Schwester, »gebt ihr nur manchmal 'ne Tachtel, das ist für alles gut.« Mit diesen Worten hob sie das Plauderstündchen auf.

Ja, manchmal eine Tachtel wäre gar nicht schlecht, dachte Frau Mutter, wenn nur die Bäckchen nicht so zart wären und die Augen nicht so ernst, und wenn ich's nur könnte.

Marie Sibylle fackelte, gottlob!, nicht zu lange damit.

Im Eigenbrodtschen Hause war eine ganz eigene Atmosphäre, die Kinder lebten nach allen Seiten hin frei und doch behütet. Ihre Spiele abends vor der Türe unter den hohen Bäumen mit den Nachbarskindern, ihr freundschaftlicher Verkehr mit diesen und in den Häuslichkeiten der kleinbürgerlichen Nachbarsfamilien, ihr Ein und Aus im Geschäftshaus des Vaters und dazu die vornehm würdigen Verwandten und Bekannten der Eltern. Sie sahen das Leben nicht einseitig. Von früh an wußten sie auch ihre Unterschiede im Verkehr der drei Erwachsenen im Hause zu machen. Wenn bei der Frau Mutter Gäste waren, hörten sie durch die Decke allerlei Geräusche, und wie die Stühle um die Spieltische gerückt wurden, das hatte etwas sehr Feierliches und Gehaltenes; nach einem gedämpften Rauschen der Stimmen trat dann Stille ein, nur manchmal von sonderbaren Ausrufen unterbrochen. Von aller Geselligkeit waren für sie nur die Geräusche da und ein wenig nachgebliebene Süßigkeiten.

Wenn die Freundinnen der Mutter beieinander waren, klang es wie heiteres, lebhaftes Vogelgekreisch. Es klang so hell und luftig wie im Herbst, wenn die großen Vogelschwärme über die Stadt ziehen. Verschiedene sehr schöne Arten Lachen klangen auf. Dies Lachen liebten die Kinder ganz besonders; so lachten Tante Maria und Tante Anna, beide verstanden es, die Kinder zu beschenken. Der derbe Zwilling meinte zwar, »der Mutter ihre schwätzten wie eine Gänseherde.« Das wurde aber von dem feinen Zwilling und von Isebies für eine Abscheulichkeit erklärt. Ganz anders klangen die großen Gesellschaften der Eltern. Das war etwas Ungeheures, da blieben die Kinder gern so lange als möglich wach, um das unbeschreibliche Stimmengewirr zu hören. Da schien es ihnen, als wären alle Tiere der Erde und alle Winde und alles Wasser hinter der Türe beieinander und Kirchenglocken und kleine Glocken und Vogelgezwitscher, alles auf einmal. Wie mußten sie lustig da hinter den Türen sein. Die Dienstmädchen schritten majestätisch ein und aus mit Teebrettern und Schüsseln. Vaters alter Diener hatte weiße Handschuhe an und einen Frack. Manchmal klang eine sehr sanfte Männerstimme, und wenn die erklang, trat Ruhe ein. Das war die Stimme von Frau Mutters Schwager, dem Herrn Staatsminister. Den Kindern erschien diese Stimme wie die Stimme vom lieben Gott im Paradies, wenn Adam und Eva mit allen ihren Tieren spielten und lustig waren und der liebe Gott ihnen etwas zu sagen hatte. Es waren mancherlei großwürdige Herren da und auch ein oder zwei Pastoren, die Isebies nicht leiden konnte. Wenn einer von ihnen sprach, hielt sie sich die Ohren zu. Die Frauen waren immer besonders hell vergnügt. Ihr Lachen durchschnitt alle tiefen Stimmen. Auf diese Abende freuten sich die Kinder jedesmal. Der zarte Zwilling, die kleine Weltdame, meinte, nur die jungen Stimmen sind hübsch. Es war da ein Herr, der der kleinen Weltdame gefiel, wenn der sprach, sagte sie: »Jetzt seid alle miteinander still! Da würden sogar die Hunde wedeln, so eine schöne Stimme hat er, und immer als lachte er leise zwischen jedem Wort. Er sieht auch wundervoll aus.« Der derbe Zwilling liebte die komischen Stimmen, schnitt Grimassen, streckte die Zunge heraus und sagte: »Jawohl, mein liebes Madamchen, jawohl, mein dickes Männchen, grunz' nur so weiter und piep. Aber ich weiß schon, was du sagen willst. Du möchtest etwas zu essen, jawohl, jawohl. Wart' nur, gleich kommt was! Laß mir ja was übrig!«

So plauderten die Kinder vor der verschlossenen Türe halb ausgezogen im Kinderzimmer. Wenn die Gäste dann aus dem Wohnzimmer ins Speisezimmer gingen, wurde das Stimmengewirr viel dumpfer und schläferte ein wie Wasserrauschen.

Ihr Haus kam ihnen dann außerordentlich wichtig vor. Es war zu merkwürdig, daß all die würdigen, vornehmen Herren und Damen so einen Spektakel machten, jedenfalls doch um Vater und Mutter zu erfreuen.

 

Ich glaube, Heinrich, es hat Ihnen gefallen, Sie haben sich unterhalten,« meinte die Mutter dann morgens beim Kaffee, »und ich dächte, es wäre auch alles recht anständig gewesen.«

»Aber den Crême,« sagte dann eins von den Kindern enttäuscht, »hatten sie ganz aufgegessen.«

An solchen Morgen wurden dann die Mädchen immer gelobt, und alle fühlten sich gehobener Stimmung, als wäre eine Schlacht gewonnen worden. Und wer weiß, ob ein Vorpostengefecht nicht leichter zu dirigieren ist, als es für die Hausfrau so eine Gesellschaft ist, in der alle würdigen Bekannten und Verwandten der Familie bewirtet und unterhalten werden und des Herrn Staatsministers Stimme klingt, als spräche der liebe Gott im Paradiese zu Adam und Eva mit ihren Tieren.

Die Kinder wußten nicht, in was für eine gute Assiette, wie die liebe Frau Mutter sich altmodisch ausgedrückt haben würde, der liebe Gott sie gesetzt hatte. Sie saßen wirklich in einer guten Assiette.

Wohlhabenheit im Hause, tadellose Eltern, Verwandte in großer Stellung, in der Verwandtschaft angenehme, liebenswürdige Frauen.

Wie Kristall war das Leben aller, hell und durchsichtig, keine Menschen, die Verstecken zu spielen brauchten, keine unglücklichen Ehen, keine mißratenen Kinder, und war irgendwo irgend so etwas, so wurde darüber geschwiegen wie über Goethes interne Angelegenheiten. Noch etwas, was in der damaligen Gegenwart der Familie wohl niemanden bewußt wurde, war das Ineinandergreifen der verschiedenen Zeitperioden – Frau Mutter war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts geboren und wurde weit über achtzig Jahre alt. Sie trug den Zauber, die Leichtlebigkeit, das Gartenleben, die Naivität und Lebensruhe der gesegneten Empiremenschen ins Haus, und alle alten Verwandten lebten und sprachen noch Empire.

Marie Sibylle und Heinrich Eigenbrodt waren die Tüchtigen und Braven, deren erste Kindheit am Ausgang der Zeit lag, die man später Biedermeierzeit nannte, die Biederen, Freien und Vornehmen, die in die moderne Zeit hineingewachsen waren, die große Entwickelungen und Umwandlungen in erster Jugend gesehen hatten, und deren Kinder moderne Menschen wurden, die alles, was das Erstaunen ihrer Großeltern und Eltern hervorgerufen hatte, als Selbstverständliches vorfanden. Frau Mutter wußte sich der Zeit zu erinnern, wo die erste regelrechte Landstraße in Weimar Aufsehen erregt hatte. Die Briefe ihrer Jugend waren auf die abenteuerlichste Weise in ihre Hand gekommen. Durch den Fuhrmann wurden die Postsachen befördert oder nicht befördert. Es war immer eine große Sache gewesen, wenn so ein fester rauher Brief wirklich da ankam, wo er ankommen sollte, und die Leute damals hatten sich gewundert, wie herrlich weit sie es gebracht, daß dies wirklich möglich geworden war und so unendlich oft ordentlich geschah, denn die Menschen der großen inhaltsreichen Briefwechsel haben nicht in der Zeit des großartig organisierten Postverkehrs gelebt, ihre Briefe kamen unter blauen Fuhrmannskitteln verborgen aus nah und fern, übernachteten mit ihrem braven Träger auf Stroh in elenden Unterkünften, ruhten auf seinem von Liebe, Schnaps und Bier berauschten Herzen und erlebten mit ihm Abenteuer über Abenteuer, Stürme und Regen, Hitze und allerlei Streiche von Natur, Mensch und Vieh.

Wie stark Frau Mutters Empireeinfluß im Hause auf die Kinder gewirkt hatte, zeigte sich 1870. Keins der Kinder, und besonders Isebies nicht, wollten diesen Krieg als einen ordentlichen, echten Krieg gelten lassen. Er hatte auch kein Opfer in der nächsten Familie gefordert, hatte in den Familienfrieden nicht eingegriffen. Sie kannten die Freiheitskriege aus Großmutters Erzählungen, sie hatten die wundervollen Lieder mit Frau Mutter gesungen:

»Wo kommst du her in dem roten Kleid?
Und färbst das Gras auf dem grünen Plan?«
»Ich komm' aus blutigem Männerstreit,
Ich komme rot von der Ehrenbahn.
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
Drob müssen die Mütter und Bräute klagen.
Da ward ich so rot.«

»Sag' an Gesell, und verkünde mir,
Wie heißt das Land, wo Ihr schlugt die Schlacht?«
»Bei Leipzig trauert das Mordrevier,
Das manches Auge voll Tränen macht.
Da flogen die Kugeln wie Winterflocken,
Und Tausenden mußte der Atem stocken
Bei Leipzig der Stadt.«

Oder:

Es zog aus Berlin ein tapferer Held,
Er führte sechshundert Reiter ins Feld;
Sechshundert Reiter mit redlichem Mut,
Sie dürsten alle Franzosenblut.

Auch zogen mit Reitern und Waffen in Schritt
Wohl tausend der tapfersten Schützen mit.
Ihr Schützen gesegn' euch Gott jeglichen Schuß,
Durch welchen ein Franzmann erblassen muß.

So grüßt der tapfere, der mutige Schill,
Der mit den Franzosen schlagen sich will,
Ihn sendet kein Kaiser, kein König aus,
Ihn sendet die Freiheit, das Vaterland aus.

Das war Feuer und Glut gewesen, Napoleon, der Ungeheure, war vor Isebies' Augen wie ein gewaltiger, umwölkter, blitzender Berg aufgestiegen. Die Kämpfe der Deutschen waren heilige Kämpfe gewesen, die Lieder dunkle, geheimnisvolle Schlacht- und Todesrufe, wie Donner und Hochgewitter. Ihr eigner Großvater hatte unter Lützow als zwanzigjähriger Jüngling gekämpft.

Frau Mutter hatte durch ihr Erzählen gar keinen Platz gelassen für Neues. Die Wacht am Rhein fand Isebies sehr ledern und schwer auswendig zu lernen, ein häßliches Lied und gar nicht schaurig. Der Napoleon, um den es sich jetzt handelte, sah den Kindern aus wie ein Hampelmann, den die Zwillinge einmal zu Weihnachten bekommen hatten, und der Glöckchen an dem gewichsten Schnurrbart trug.

Der 18. Oktober, der Gedenktag der Leipziger Schlacht mit seinem großen Gedenkfeuer und dem tiefen, herrlichen Geläut der Schloßkirchglocken, die nur zu den höchsten Festtagen geläutet wurden, war den Kindern von ihrer ersten Bewußtheit an immer als etwas überaus Heiliges ausgedeutet worden. Und als dieser Tag von der »langweiligen Sedanfeier«, wie die Kinder sagten, verdrängt wurde, war große Trauer bei ihnen.

In der Schwesterstadt Eisenach lebten Frau Mutters und des Staatsministers nächste Verwandte, seine Geschwister und er selbst wohnte dort in den Sommermonaten. Drei altertümliche Häuser standen in einem wundervollen Garten, der jetzt vom Erdboden verschwunden ist, eine ganze Welt von einem Garten, unendlich groß und doch Garten, nicht Park, aber Blumen und Wiesen, Beeren- und Früchtegarten, so heiter und köstlich, wie jetzt kein Mensch ein solches Paradies auch nur zu träumen imstande ist.

Jedes der drei Geschwister lebte in einem der alten Häuser. Das Haus der Schwester rosenfarben mit hellgrünen Läden, das Rosa der Zentifolie und die grünen Blätter der Zentifolie. Vor dem Hause eine herrliche Kastanie, die die Zweige auf der Erde schleppte und eine hohe smaragdgrüne Laube bildete, in deren grünem Licht der Kaffeetisch stand, der Tisch, auf dem an schönen Tagen die zarten Tassen, das alte herrliche Silber und der duftende Obstkuchen prangte, der nur bei den Geschwistern so vollkommen köstlich gebacken wurde: auf knusprigen Teig in einem Vanillerahmcrême das zarte Obst gebettet. Daß dieser Obstkuchen vor den Persönlichkeiten, vor den Schicksalen und Eigenheiten der drei Geschwister erwähnt wird, hat seinen guten Grund, denn dieser Obstkuchen war durchaus kein gewöhnlicher Kuchen. Er war das Wahrzeichen der Familie. Seit Generationen hatten sie diesen Kuchen zu backen verstanden. Er war gleichsam das Adelsdiplom dieser Patrizier. Keine Bohemêfrau würde so etwas zu backen verstehen – unmöglich! Um das zu können, gehört ererbter Friede, ererbte Pflichttreue, ererbtes Behagen, ererbte Liebenswürdigkeit und zarte Würde der Person dazu. Dieser Kuchen war gewissermaßen aus lauter köstlichen Traditionen gebacken, das Glaubensbekenntnis einer alten Familie. Das schlecht getragene Schicksal einer Frau, die zu dieser Familie gehörte, würde ihr die Fähigkeit nehmen, einen solchen Kuchen zu backen oder backen zu lassen. Wer diesen Kuchen zu backen verstand, war rein, stark, unschuldig, von eiserner Pflichttreue, klug, schweigsam und geduldig. Das alles war des Staatsministers Schwester Lenore, eine kleine, zierliche Dame, klein wie ein Kind mit einem bedeutenden Gesicht, traurigen guten Augen, eine der Tanten, die den Kindern des Eigenbrodtschen Hauses der Inbegriff aller Herrlichkeiten der Erde war. Von ihr kamen die schönsten Geschenke, ihr Reich war Sommerfreude an sich, ihr zentifolienfarbenes Haus, ihr freundliches Hausgesinde, sie selbst war mit Märchenzauber umgeben, und die traurigen, stillen Augen in dem alten Gesicht sah die liebe Jugend nicht. Sie war fast keine Person, es strömte aber von ihr Gutes und Wohltätiges aus, ihre Umgebung sprach für sie, ihr rosa Haus schmeichelte den Gästen, die herrlichen Blumen und Früchte lachten für sie, ihr wohlbesetzter Gästetisch erzählte von Lebensfreude, ihre Weine, von denen sie keinen Tropfen trank, erhöhten die Stimmung. Die Herrlichkeit um sie her war sie selbst, trotz der traurigen Augen, die Kirschen und Erdbeeren und die Reineclauden im Garten und der reiche Blumenflor.

In einem andern Haus mit hohem Dach und kleinen Räumen und einem alten Familiensaal wohnte Bruder Karl, der im Jahre achtundvierzig seinen Ministerposten niedergelegt und sich in den Paradiesgarten, in den die Wartburg sieghaft hinabschaute, zurückgezogen hatte. Auch er hielt, wie Schwester Lenore, reichliche Dienerschaft, eine alte Haushälterin führte die Wirtschaft, und ein Gärtner kultivierte den Anteil des Gartens, der Onkel Karl zugefallen war. Tante Lenores Gärtner, der von Bruder Karl und der von Bruder Beatus schufen und arbeiteten an diesem köstlichen Stückchen Erde, hielten Frieden untereinander, wie es die drei Geschwister auch taten. Es war ein Wettbewerb an Blumen und Obstbäumen, Melonen, Gemüsen und Früchten allerart, der dem Garten zugute kam.

Wenn die Geschwister sich gegenseitig am Morgen etwas feierlich ihren Besuch machten, hatte jedes dem andern gar manchmal irgend ein köstliches Erzeugnis auf den Tisch zu legen. Tante Lenores Edwin baute unübertrefflichen Spargel, Onkel Beatus' Franz zog allerhand ausländische Dinge, die der Herr Staatsrat von seinen weiten Reisen mitgebracht und zu kultivieren versuchte, amerikanischen großblättrigen Spinat und Tomaten, die damals noch sehr bewundert waren, Speisekürbisse und dunkelblaue Früchte des Nachtschattens, die für alle ein fürchterliches Aussehen statten, und die nur Onkel Beatus mit Vorliebe in Öl gebraten furchtlos verzehrte. Onkel Beatus' Gärtner hatte sich auch besonders auf Champignons verlegt, die er in großer Pracht zu ziehen verstand. Sie hatten das leuchtende rosige Fleisch gepflegter Kinderkörper.

Im Exzellenzgarten wohnten Menschen, die ihresgleichen suchten an Gaben, Charakteren und Erfolgen, und alle hatten es verstanden, sich beizeiten vornehm von der Welt zurückzuziehen in ihren Gartenfrieden. Diese Weisheit hatten sie von ihrer Mutter ererbt, die als vornehme Frau abends spät ihre Laterne anzünden ließ, wenn ihr der Familien- und Geselligkeitstrubel zu lärmend wurde, und bloßfüßig, gefolgt von ihrem alten Diener, in ein stilles, ganz entlegenes Waldhaus, das sie sich gekauft hatte, ging, um dort zu schlafen und in der Frühe die Stille zu genießen.

Alle Kinder dieser Mutter hatten es im Leben weit gebracht, nur Schwester Lenore nicht. Die Eigenbrodtschen Kinder hörten unzusammenhängende Dinge von dieser Tante im rosenroten Haus. Tante Lenores Mann soll sich zwei Tage nach der Hochzeit ertränkt haben, und als man ihn gefunden und die Nachricht brachte, habe die Familie beim Kaffeetrinken in der smaragdgrünen Laube unter dein blühenden Kastanienbaum gesessen, der seine Zweige auf der Erde schleppen ließ. Whist hatten sie gerade gespielt, und die Gäste hatten aus den zarten Tassen getrunken, die glänzenden Kannen hatten geschimmert und der herrliche Obstkuchen geduftet.

Die Nachricht war dem Vater des Hauses zugeflüstert worden. Er hatte das Gespräch der Gäste nicht unterbrechen lassen, keine Miene hatte sich bei ihm verzogen. Zerstörung durfte hier nicht sein. Brutal durfte das Unglück hier nicht einziehen. Fassungslosigkeit war verpönt. Die Gäste konnten nicht formlos entlassen werden. Schweigen wurde über diesen Todesfall gebreitet. Und dies furchtbare Schweigenmüssen und -können war noch zur Zeit, als die Kinder Lenore als altes Weiblein kennen lernten, in den traurigen Augen, die niemand bemerkte, zu lesen.

Die Brüder aber kannten und ehrten Lenores stille Augen. Sie dienten ihr, sie vergaßen ihr nicht ihr tapfer getragenes Leid, ihre tapfer getragene Glücklosigkeit, ihre tapfere Ergebung.

Ein ganz wunderliches stilles Verhältnis war zwischen den Brüdern und der Schwester. Nach fünfzig Jahren war alles Vorgefallene wie unvergessen. Sie verstanden schwerstes Unglück, ohne eine Miene zu verziehen, schweigend auf sich zu nehmen, aber sie vergaßen nicht, und ihr Mitleid und Mitwissen war fast unsterblich.

Das war der Exzellenzengarten, der zum Hause der Eigenbrodts mit gehörte. Er war das Paradies ihrer Kindheit.

 

Die Alten, die in das Leben der Neuen ragten, mochten tiefer eingewurzelt sein in die Zeit ihrer Kraft, in der sie gewachsen und gediehen waren. Sie erschienen charakteristischer, es hatte den Anschein, als wären sie tiefer, in sich selbst ruhender gewesen wie die Neuen und heiterer, ursprünglicher, weniger zerstreut, es schien so.

Die Mädchen im Eigenbrodtschen Hause lebten eine reiche Kindheit, weil sie in der Vergangenheit der Frau Mutter mitlebten, besonders Isebies. Jedes sich Versenken in den andern bringt doppeltes Leben. Es können es auch nur die, denen die Gabe des Hellsehens verliehen ist, denn wir leben auf dieser Erde alle als einsame Welten. Keiner sieht den andern, fühlt nur sich, und fühlt einer den andern, das heißt fühlt mit ihm, schaut in ihn hinein, so ist ein großes Wunder geschehen. Ja, auf dieser traurigen, strengen Erde geschehen Wunder. Isebies lebte hellsehend die Kindheit der Frau Mutter mit ihrer eigenen zugleich. Sie liebte deren längst verstorbene jungen Kameraden, erlebte längst vergangene Kindertage, sah Goethe im Geist im alten Weimar in seinem Heim, in dem zu jener Eigenbrodtschen Zeit eine Nichte der Frau Mutter mit ihrem Gatten wohnte. Ein englischer Goetheverehrer, dem es eine Lebenserhöhung erschien, in den geheiligten Räumen sein Dasein zu führen.

Frau Mutter mußte Isebies erzählen, an welchen Stellen in Weimar sie Goethe gesprochen, an welchen Stellen sie ihm begegnet. Das Wesen seiner Persönlichkeit hatte das Kind ganz gefangen genommen.

Der Onkel im Goethehaus, der eine wunderbare Würde und geheimnisvolle Geistigkeit besaß, nahm oft in des Kindes Seele die Rolle Goethes an, wenn er im uralten Garten am Frauenplan auf und nieder wandelte und Isebies und die Frau Mutter mit der Frau des Onkels ihren Tee unter der schönen Blutbuche des Goethegartens tranken. Der englische Onkel war ein ganz außergewöhnlicher Mensch, er gehörte zu den schweigsamen Gütigen, die ihr Wesen von sich ausströmen lassen, ohne viel Worte zu machen. Auf Menschen, die ihn nicht näher kannten, machte er einen geheimnisvollen Eindruck. Auf Isebies ganz besonders, wohl weil er sich in ihren Phantasien zu einem andern wandeln konnte. Sie errötete immer tief, wenn er sie ansprach. Trotzdem er zu den Nächsten des Eigenbrodtschen Hauses gehörte, erschien er ihr wie aus einer andern Welt, und sie fand es sehr schön, daß des Onkels Frau ihn wie ein höheres Wesen behandelte.

Sein Händedruck war so außerordentlich kräftig, daß Isebies sich erst ein Herz fassen mußte, ihm die Hand zu geben; aber auch diese kraftvolle Art zu begrüßen war geheimnisvoll und merkwürdig und stammte nicht aus Isebies Eigenbrodts Welt.

In Weimar war für das Kind Vergangenes und Gegenwärtiges sagenhaft lebendig. Wie mächtige Wolkenschatten zogen die vergangenen großen Persönlichkeiten über ihre Seele hin, wie große wundervolle Heiligenbilder und rätselhafte Königsbilder. Auch in der Gegenwart sah sie Menschen an sich vorübergehen, die mit den längst vergangenen Ähnlichkeit hatten, die zu den rätselhaften Königsbildern und Heiligenbildern und Wolkenschatten gehörten, die über den Himmel ihrer Kindheit zogen. Niemand in Weimar ist dem alten Liszt begegnet, ohne ihn fürs Leben im Gedächtnis festgehalten zu haben.

Er ging durch die Straßen wie eine Erscheinung. Jeder sah ihm gegenüber alltäglich aus. Mutter Natur hatte die Weimaraner nach gutem bewährtem Rezept gebraut, und man durfte sich durchaus nicht besonders darüber beklagen. Liszt aber war wie ein Kunstwerk, das ein großer Künstler geschaffen, um mächtige Ideen darzustellen. Seine Linien waren einfacher und größer als bei anderen Sterblichen. Sie wirkten ungeheuer einfach und waren ganz durchdrungen von außerordentlichen Kräften des Geistes und der Seele. Er trug in seiner äußeren Erscheinung das Wesen der Musik ausgeprägt in jedem seiner Züge; sah auch nicht aus wie ein guter Mensch, sondern trug die Güte, das Wesen der Güte in seinen Bewegungen, seinem Lächeln. Rätselhaft und erstaunlich war sein Anblick. Die ihn liebten, sahen ihn vielleicht nicht in seiner ganzen Fremdartigkeit. Die ihn nicht verstanden, wollten es nicht sehen. Die ihn verstanden, maßen ihn nach ihren eigenen Kräften; aber das träumerische Kind aus dem Hause Eigenbrodt sah ihn an sich vorüberziehen wie eine übermenschliche Erscheinung und ahnte Dinge, die es nicht nennen konnte, aber den Wert dieser Dinge wußte es in seinem wissenden Herzen. Das Kind sah ihn, wie er, in seinem Brevier lesend, im schwarzen geistlichen Kleid der katholischen Kirche zuging. Es hätte einmal ein protestantischer Weimaraner so vertieft in sein Gesangbuch auf der Straße gehen sollen wie Liszt, so weltversunken. Die Straßenbuben wären diesem unsinnigen Weimaraner nachgelaufen, hätten ihn mit Steinen geworfen, man hätte ihn zur Polizei geschleppt, ins Irrenhaus, ins Krankenhaus, Gott weiß wohin – nur fort! Liszt aber ging, als wäre er allein auf Erden.

Sie sah auch, wie Liszt in einem Kirchenkonzert von seinen Schülern, Verehrern und Schülerinnen begrüßt wurde, wie sie ihn verehrten wie ein höheres Wesen, wie sie ihm die Hände küßten in einer Ekstase der Anbetung, und wie vornehm er diese Anbetungen entgegennahm. Sie sah ihn mit ungewöhnlich eleganten Frauen im Park auf- und niederwandeln, mit Frauen, die wie Königinnen aussahen, fremdartig und außerordentlich. Sie sah, wie seine Schüler ihm nachahmten in Gang und Haartracht, und wie es keinem gelang, ihm auch nur annähernd nahe zu kommen. In Weimar gingen Märchen und Wunder auf allen Wegen, vergangene und gegenwärtige Märchen, und zogen wie Wolkenschatten über das Kind hin.

An einem Maiabend hörte sie Liszt Klavier spielen. Sie kam aus dem Hause des alten Landschaftsmalers Friedrich Preller und ging mit ihrem Laternchen heim, da hörte sie aus einem Hause in der Belvedere-Allee wundervolle Musik. Sie wußte nicht, wo Liszt wohnte, und wußte nicht, daß Liszt es war, der spielte, aber sie blies ihr Laternchen aus und hörte aus dem Dunkel der Maienbüsche des dichten, duftenden Laubes zum ersten Male große Kunst, war davon ganz erschüttert und vergaß das Heimgehen.

Sie erzählte daheim von wundervoller Musik und erfuhr, daß es Liszt war, den sie gehört hatte.

Und sie vergaß auch nie, wie sie ihr Laternchen ausgeblasen hatte, ihm zuzuhören, und vergaß nie die Worte ihres Vaters: »Geh an solchen Dingen vorüber, wenn wir Freunde bleiben wollen, mein Kind! Das ist nichts für dich. Elende Existenzen laufen genug hier in Weimar umher. Ich will, daß meine Kinder glücklich werden.« Heinrich Eigenbrodt drückte dem Kinde bewegt die Hand.

Als Isebies im Bett lag und die Mutter zu ihren drei kleinen Mädchen kam, fragte Isebies leise: »Was meinte denn Väterchen?«

»Der meinte wohl,« sagte Marie Sibylle, »daß diese Dinge für dich nichts sind. Er hat Liszt gut gekannt, aber er wollte früher auch nicht, daß ich Liszt hören sollte. In jener Zeit hat er wohl viel unglückliche Menschen, denk' ich mir, gesehen.« Das Kind konnte sich auch bei den Worten der Mutter nichts vorstellen. Isebies meinte nur: »Komisch, Väterchen liebt alles Schöne, weshalb liebt er Liszt nicht?«

Im Eigenbrodtschen Hause verkehrten wenig Künstler. Heinrich Eigenbrodt wünschte es nicht, trotzdem er ein Liebhaber der Kunst war. An den Wänden der Wohnräume hingen wertvolle Gemälde. Jeder Gebrauchsgegenstand im Hause zeugte von der Schönheitsliebe des Hausherrn.

Er stand auch dem Adel sehr kühl und abwehrend gegenüber wie dem Judentum. »Mein Haus steht einem feinen Juden, wie Freund Herz einer ist, jederzeit offen, einem vertrauenswürdigen Künstler, wie Preller und Wislicenus, einem wahrhaft gebildeten Adeligen, wie Freund Hellmut von Gerstung.« Das vornehme Bürgertum war ihm aber der Inbegriff des Normalzustandes der Menschheit, nicht zu leicht und nicht zu schwer war es dieser Kaste gemacht, in guter Kultur zu leben, Großes zu leisten und Gutes.

Heinrich Eigenbrodt hatte allen Grund, an dieser Erkenntnis festzuhalten, wenn er der Entwicklung seiner Familie und der Familie seiner Frau gedachte.

Magelone von Geldern aber war eine der wenigen adeligen Frauen in Weimar, bei der Heinrich Eigenbrodt eine Ausnahme in seiner Auffassung der Dinge machte. Er hatte Freude an ihr, wie er an einem Kunstwerk Freude hatte. Traf er Magelone von Geldern im Theater oder auf einem Spaziergang im Park, versäumte er nicht, von dieser Begegnung daheim lebhaft zu erzählen.

»Wenn ich nun wie Magelone würde?« sagte Marie Sibylle einst lächelnd bei Tisch, als ihr Gatte wieder einmal mit Lebhaftigkeit von dieser Frau nach einer Begegnung mit ihr sprach.

»Wie Magelone von Geldern wird man nicht, sie ist von jeher das gewesen, was sie ist.«

»Ich meine es auch nicht so feierlich,« sagte Sibylle.

Isebies wurde eines Tages zu Magelone von Geldern geschickt, um ihr eine Einladung zu überbringen. Sie war nicht gern gegangen, denn Magelone war so groß und trug sich anders wie andere Frauen, ging nicht nach der Mode gekleidet und hatte etwas von einer stolzen Äbtissin an sich. Es war, als wollte sie sagen: ich bin, wie ich bin. Die Kleidung faltig, verhüllend im großen Stil, nichts Kleinliches war an der ganzen Person zu bemerken, ihr Gesicht ein wenig flach, sehr weiß, und Augen und Mund von lebhafter Eigenart, etwas kalt und doch urlebendig. Für ein kleines träumerisches Mädchen, das halb wildes, kleines Tier, halb gutes Kind war, mochte Magelone von Geldern das haben, was zu großer Verlegenheit auffordert.

Als Isebies an der Glastüre des kleinen Hauses am Park klingelte, welches Magelone bewohnte, wurde sie von der Kammerjungfer gemeldet und in das Zimmer geführt, dessen Fenster hinaus auf hohe Bäume und Wiesen gingen. Dies Zimmer aber war eine ganze Welt. Wer da eintrat, trat in das ganze Leben einer sehr merkwürdigen Frau ein.

Isebies fühlte sich außerordentlich befangen, als ihr Magelone von Geldern entgegenkam in einem dunkel goldfarbenen Hausgewand aus feiner Wolle, das in weichen Falten sie einhüllte. Auf dem blonden Kopf mit dem schlichten Haar trug sie einen leichten schwarzen Schleier. Ihre Person sah mächtig und eigentümlich anziehend aus. Die auffallend schönen und gepflegten Hände taten das ihre zu diesem Eindruck. Es waren ruhige, starke und doch zarte Hände. Isebies dachte an die Schmetterlingshände der Frau Mutter; das waren wieder ganz andere Hände, aber die von Magelone von Geldern schienen ihr unergründlich weich zu sein und doch fest – fest. Das Kind fühlte sich unbeschreiblich zu dieser Frau hingezogen und war doch voll Scheu. Sie richtete ihren Auftrag aus, und Magelone sprach mit ihr. Isebies aber sah währenddem alles, was sich im Zimmer befand.

Bilder, Bilder, Familienporträts aus der Goetheschen Zeit. Dann Kupferstiche und Photographien, und diese Photographien stellten Männer und Frauen dar, hauptsächlich Männer, mit denen Magelone befreundet war, oder die zu ihrer nächsten Familie gehörten. Magelone zeigte dem Kinde das Bild ihrer Mutter und sagte: »Das war eine herrliche Frau.«

»Und alle die?« fragte Isebies leise und zeigte auf die Photographien, die ungerahmt auf langen Wandbrettern standen, von Blumen und allerlei interessantem Durcheinander unterbrochen. »Das sind lauter Menschen, die mir lieb sind, du wirst viele dem Namen nach schon kennen.«

Es waren Männer und Frauen mit berühmten Namen. Ja, Isebies kannte manche Namen – und Liszt – da war auch Liszt. Isebies schien das Zimmer unaussprechlich behaglich. Die Lehnstühle und Sofas standen so, als hätten hier schon viele Menschen gemütlich geplaudert – und was für Menschen! Kein neues Möbel war im Zimmer, alle sahen unscheinbar vornehm aus und ganz durchlebt von der Eigenart ihrer Besitzer. Soviel weiche Kissen hatte Isebies noch nie beieinander gesehen. Überall konnte man sich einmuscheln, – und das Licht war durch die vielen großen Blattpflanzen so mild. Unendlich gern hätte sie sich alles recht genau betrachtet, und wenn sie den Mut gehabt hätte, würde sie auch sehr viel gefragt haben. Aber das war hier ausgeschlossen.

Sie dachte: Ich verstehe ganz gut, daß sie viele Freunde hat, auch so berühmte Freunde. Jeder kann sich hier mit soviel Sofakissen, wie er mag, ein Nest bauen. Sie wird das sicher erlauben. Für Magelones Hände hatte das Kind ein geradezu zärtliches Empfinden. Weint ein Mensch, oder ist er krank, oder hat man ihm etwas getan, ist es gewiß sehr gut, sich daran festzuhalten, dachte sie. Sie hätte sich gefreut, wenn Magelone von Geldern sie gestreichelt hätte.

Draußen schellte es. Die Türe ging nach einer Weile leise auf, eine Hand, eine ganz merkwürdige Hand reichte durch die Türspalte Rosen herein.

Magelone sah lächelnd auf dieses Phänomen. »Das kann nur, – das kann nur einer sein, der heute wieder angekommen ist!« rief Magelone liebenswürdig und froh lachend.

Liszt trat ein.

Isebies bekam solch einen Schreck, als wäre der steinerne Gast ins Zimmer geritten.

»Ja, heut früh wiedergekommen,« sagte Liszt.

Isebies klang die Stimme sehr fremdartig. Gerade in ihrer Einfachheit so außergewöhnlich. Magelone von Geldern fragte den fabelhaften Mann herzlich und teilnehmend und fragte auch, ob er seine Sachen alle wieder hübsch mitgebracht hätte.

Da lächelte er: »O, wir werden sehen.«

»Das fürcht' ich auch, daß wir das sehen werden,« sagte Magelone scherzhaft und etwas derb und machte ihrem Freund wirklich ein Nest mit den weichsten Sofakissen zurecht. Drei bis vier schob sie ihm bequem hin, und er küßte die guten, sorgsamen, schönen Hände.

Magelone gab Isebies die Rosen, damit die Jungfer sie ins Wasser stecken sollte. Als sie wieder eintrat, sagte Magelone: »Das ist die Tochter von Heinrich Eigenbrodt.«

Liszt blickte das Kind gütig an und sagte: »Ich habe deinen Vater oft gesehen, wir waren gute Freunde, bring' ihm meine Grüße.« Zu Magelone gewendet, sprach er französisch: »Ein kleines Sphinxgesicht. Man sagt, das deutet auf eine lange Jugend.«

»Na,« meinte Magelone von Geldern kühl und ruhig, aber immer mit einem Unterton von Humor, »das möchte ich nicht ohne weiteres als Glück unterschreiben. Gewöhnlich häufen sich dann die Dummheiten erst recht, denn der Mensch ist nicht auf lange Jugend eingerichtet. Es ist nicht einmal bon genre.«

»O,« sagte Liszt. » Un aphorisme de Magelone de Geldern

Isebies ging auf dem Heimweg mit beflügelten Schritten. Ganz verstanden hatte sie nicht, was Liszt gesagt hatte. Schade, daß sie im Französischen so niederträchtig schlecht war. Jetzt sollten sie aber eine Erzieherin bekommen. Gott sei Dank noch nicht gleich. Aber dann mußte alles besser werden.

Inzwischen aber lebten sie ihr heiteres, wohl behütetes und doch freies Leben seelenruhig weiter.

 

Das Haus der kindlich Starken mit allem Darin und Darum war ein Haus voll Gutheit, Behagen, stolzer Abgeschlossenheit, Wohlhabenheit und Unschuld. Sie lebten gute Tage in Liebe zueinander und in gesunder, schöner Naivität. Die Mädchen wuchsen auf, ohne daß sich jemand Sorge darüber machte. So weit, daß Wissen und Erinnern sich in die Generationen verlor, war nie ein Kind entartet, nie eins auf falschen Wegen gegangen.

Drüben im Geschäftshaus trieben hauptsächlich Biwi und Liselotte ihr Wesen. Isebies aber fand das Falzen der Zeitungen oft langweilig. Sie konnte auch die Herren im Kontor nicht recht leiden. So angebundene Mannsbilder, die nicht fort konnten, mochte sie nicht. Die Zeitungsmädchen waren ihr zu dreckig. Die Zeitungskinder hatten immer etwas zu tun. So spielte sie mehr noch wie die andern draußen vor der Türe unter den hohen Bäumen mit den Nachbarsjungen und -mädchen.

Drei brave, wohlerzogene jüdische Kinder standen bei ihr in großer Gunst, trotzdem diese Kinder ihr im Grunde überlegen waren in allem, was Vernunft betraf. Isebies hatte sich oft vor ihnen schämen müssen, aber sie hatten etwas, was Isebies anzog. Die Eltern führten einen kleinen Laden mit Leinenzeug in der Nachbarschaft und betrieben außerdem allerhand Geschäfte, borgten auf Pfänder und vermittelten Käufe und Verkäufe. Was Isebies anzog, mochte sein, daß sie eben Juden waren. Isebies kannte nur Protestanten. Sie hatte auch keinen Katholiken gesehen außer Liszt und Frau Mutters alter Köchin Regine.

Und die alte Regine war auch für Isebies mit Geheimnissen umflossen. Bei ihr in der Dachkammer hatte sie zum erstenmal ein Kruzifix geschaut, – und das war nicht der Herr Jesus Christus gewesen, von dem sie in der Religionsstunde hörte, der sanfte Mann, der gesagt hatte: Lasset die Kindlein zu mir kommen, und den sich Isebies mit glattgescheiteltem blonden Haar in einem schönen Gewand mit Falten vorstellte, die es nur auf sehr geduldigen Bildern geben konnte.

Das war ein ganz andrer, geheimnisvoller Christus, der katholische am Kreuz.

Mit tiefem Schauern hatte Isebies einmal seine durchbohrten Füße ganz sanft berührt, und da waren Tränen in ihre Augen gekommen, als hätte sie eine wirkliche Wunde berührt.

Und die alte Regine hatte ihr gesagt: »Das hat schon bei neun Sterbenden gelegen.«

Bei neun Sterbenden, war es Isebies durch die Seele gerauscht, – und sie hatte in ihren Beinen ein Gefühl des Zusammenbrechens gespürt. Dunkle ferne Geheimnisse waren über sie hingegangen wie Wogen. Uralte Worte, uralte Schmerzen hatte sie unbewußt empfunden.

Die katholische Regine war ihr von da an wie ein Fremdling im Haus erschienen, die ein Geheimnis behütet, von dem niemand weiß.

Ähnlich war es Isebies bei ihrem ersten Zusammentreffen mit den drei Judenkindern ergangen.

»Das sind Judenkinder,« hatten die anderen ihr zugewispert, »Judenkinder.«

Isebies aber dachte, als sie mit ihnen Fangemann spielte: Das sind Verwandte von Adam und Eva, von Noah, von Abraham und Isaak, Christus und Judas Ischariot. Was in ihrem leichtsinnigen Hirn hängen geblieben war, begann zu leben. Urweltliche Gestalten stiegen auf. Im Abenddunkel, beim Huschen und Laufen unter den alten Bäumen belebten sich geheimnisvolle Bilder in ihrer Seele, und sie sprach mit den Kindern in befangener Scheu. Wie Königskinder aus einem alten Märchen erschienen sie ihr, ganz unwirklich und von großem Zauber umgeben. Vielleicht, dachte Isebies, haben sie die Augen von Eva und schauen einen so an wie die schaute, oder die Augen von Rebekka oder Abraham, wer weiß, wer schon so geguckt hat.

An einem stürmischen Herbstvorabend zwischen Licht und Dämmern sah sie die Kinder in der Nähe des Hauses stehen, lief zu ihnen hinab und rief ihnen zu: »Ihr steht ja so, als hätten die Hühner euch das Brot genommen? Was ist denn los? Ihr seht ja so fein aus.«

Ja, und sie sahen fein aus. Der Bub stand in einem feierlichen, schwarzen Rock und die Mädchen in hellblauen Wollkleidern und hatten dreieckige Tücher, mit Rosenkanten eingewebt, um die Schultern.

»Was habt ihr? Wohin geht ihr denn?«

Das älteste Mädchen sagte: »Uns ist der Goj ausgeblieben. Wir wollen die alte Müllern holen, daß sie uns die Lichter anzündet.«

»Na, könnt ihr denn keine Lichter anzünden?«

»Am Freitagabend dürfen wir das nicht.«

»Kann ich sie euch anzünden?« fragte Isebies schüchtern.

»Ja, wenn du willst.«

»Aber,« sagte der Bub, »du darfst nicht lachen.«

»Nein,« sagte Isebies.

So nahmen sie das Kind mit sich.

»Wieso dürft ihr keine Lichter am Freitagabend anzünden?«

»Da soll niemand etwas tun.«

»Das ist bei euch so? Was ist denn ein Goj?«

Die Kinder liefen im Trab durch die schmalen Gassen. Der Wind wehte kräftig. Es roch nach Herbst, nach fallendem Laub, nach fernem Rauch; draußen auf den Feldern brannten Kartoffelfeuer.

Isebies rief im Laufen: »Riecht einmal, – und was ist ein Goj?«

»Der Goj muß das Licht anzünden.«

»Bin ich ein Goj? Weshalb lauft ihr denn so?«

»Weil's bald dunkel wird.«

Isebies war schon einmal bei Lewins gewesen, im Laden hatte es modrig gerochen, nach allen möglichen Dingen und auch nach starker, guter Leinwand. Die Mutter Lewin war damals dabei gewesen, die Stiege zu putzen. Der Vater Lewin war mit einem Karren heim gekommen, auf dem er einen altmodischen Schreibsekretär abgeholt hatte. Er handelte auch mit Altertümern. Der Rock des Mannes hatte geglänzt und gespiegelt vor Abnutzung. Oben im Wohnzimmer war damals alles sehr einfach gewesen, der Tisch schon zu Mittag gedeckt, Tassen hatten darauf gestanden. Es gab zu Mittag Kaffee und Kartoffeln in der Schale. Isebies war so lange geblieben, daß sie das Herrichten zum Essen noch gesehen hatte. Man aß meistens so zu Mittag in den kleinen weimarischen Gassen. Isebies kannte das Menü all ihrer guten Freunde ganz genau. Bei Lewins war es zugegangen wie überall. Isebies hatte gemeint, noch ärmlicher. Die dunklen, feuchten, großen Augen der Kinder paßten ihr nicht zu der weimarischen Spießbürgerei. Vielleicht, dachte Isebies, stammen sie gar vom König David ab, oder von Jesus, von Joseph von Ägypten, wer kann das wissen? Heute aber schon beim Eintreten in das Haus kam ihr eine ganz andere Luft entgegen: Königsrauch, vermischt mit Bratenduft und allerlei geröstetem Köstlichem. Isebies sog den Duft neugierig und sachverständig ein. Die Treppe glänzte vor Sauberkeit und war mit Wacholderzweiglein und frischem Sand bestreut und auch die Hausflur.

Leise gingen die Kinder die Treppe hinauf, und Isebies sah, daß an dem Pfosten der Wohnungstür ein winziges Röllchen aus gelblichem, starkem Pergament befestigt war. Das hatte sie noch nicht bemerkt. Jedes der Kinder berührte das Röllchen mit den Lippen dreimal. Isebies sah zu und fragte den Buben leise: »Weshalb tut Ihr das?«

»Das muß so sein,« sagte der.

»Steht da was drin in dem Röllchen?«

»Höre, Israel,« sagte der Bub, »der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig.«

»Na, das ist ja wahr,« sagte Isebies.

»Weshalb soll's nicht wahr sein?«

Isebies war dunkelrot geworden.

Als die Kinder in das Zimmer traten, wußte Isebies nicht, wohin die Augen wenden. Das war das öde Wohnzimmer nicht mehr. Große Sträuße von Georginen und Astern standen überall, und ein langer Tisch in der Mitte des Zimmers war gedeckt, und reich gedeckt, eine Pracht. Die Teller hatten bunte Ränder, und ein alter silberner Brotkorb stand auf dem Tisch, und ein siebenarmiger Leuchter und noch zwei Leuchter und ein großer Becher aus Kristall, der golden vom Wein leuchtete, der ihn erfüllte. Frau Lewin saß an der Tafel mit einem müden, feierlichen Ausdruck. Schwer hatte sie geschafft, um diese Herrlichkeiten zustande zu bringen, dies Paradies auf Erden.

Sie hielt eine geschnitzte Büchse in der Hand, die sie eben aus dem Schrank genommen. Das war die alte jüdische Gewürzbüchse, die auf keinem Tisch bei frommen Juden am Sabbatvorabend fehlen durfte, die Büchse, aus der der Duft des Paradieses strömte, das Jehova den Seinen schon hier auf Erden verheißen hatte. Der Duft der glückseligen Erde, nach der die Sehnsucht aller Kreaturen steht, die gebückt und müde unter der Last des Lebens dahinziehen. –

Glückselige, fromme Juden, die ihr in einer Büchse den Duft der Erdenwonnen eingefangen habt und an euerem festlichen Vorsabbattische ihn reihum euch andächtig zuführen dürft!

Mit blendend weißen Tüchern bedeckt standen weiße Brote vor dem Platz des Hausherrn.

Aus dem Nebenzimmer klang schon, als die Kinder eingetreten waren, eine schöne, singende, weiche Männerstimme fremdartig in Wort und Melodie. Herr Lewin sang hebräisch, und Frau Lewin hörte andächtig zu, etwa wie eine Amsel auf dem Neste, wenn das Männchen singt. Sie hatte auch den Kindern mit einer kleinen Geste Schweigen geboten, als sie eingetreten waren, ohne aufzustehen: so war Isebies gar nicht bemerkt worden.

Herr Lewin sang König Salomos »Lob der Frau«. Er sang es hebräisch, fremd dem Ohr seiner Hausfrau, denn welcher Ehemann würde es seiner Amsel verständlich am Sabbatvorabend vorsingen wollen? Er sang aber:

»Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler wie die köstlichen Perlen.

Ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen, und Nahrung wird ihm nicht mangeln. Sie tut ihm Liebes und kein Leides ihr Leben lang.

Sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von ferne bringt.

Sie denkt an einen Acker und kauft ihn und pflanzet einen Weinberg von den Früchten ihrer Hände.

Sie gürtet ihre Lenden fest und stärket ihre Arme.

Sie tuet ihren Mund auf mit Weisheit und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre. Ihre Söhne kommen auf und preisen sie selig; ihr Mann lobt sie.«

Herr Lewin sang das ganze Lob zu Ende. Die rundliche Frau aber wußte wohl, was er sang, und saß da wie zu ihrer Ehrenstunde.

Ja, Herr Lewin mußte das tun, wenn er ein frommer Jude war.

Die Kinder wußten es auch, daß er jetzt gerade daran war, das Loblied zu singen, und sie lächelten der Mutter zu und tuschelten mit Isebies: »Jetzt lobt er die Mutter,« und sie lächelten verschämt und glücklich.

Ach, schön war es bei ihnen, und Isebies schaute nur so. Welches Volk auf Erden hat solch ein Loblied auf das Weib und läßt es den Ehemann singen?

»Das haste nicht gemeint,« sagte der Junge leise und stolz. »Und so ist's alle acht Tag.«

»Schau,« sagte jetzt Frau Lewin zu Isebies, »da haste gesehen einen jüdischen Tisch gedeckt, und da haste gehört einen jüdischen Mann singen. Hat der's gefallen?«

Isebies nickte.

Die Kinder sagten, daß sie Isebies mitgebracht hätten zum Anbrennen der Leuchter.

»Biste gekommen zum Anbrennen der Lichter, so sollste es auch tun. Gebt ihr die Schwefelhölzer! Wird se noch nie getan haben, was se jetzt tut.«

Die Frau lächelte, und Isebies zündete den siebenarmigen Leuchter an, und in seiner wunderlichen Gestalt erschien er ihr wie ein großes Geheimnis. Die Lichter begannen zu strahlen, und die sieben Flammen bewegten sich wie zarte leuchtende Zungen.

Frau Lewin erschien ihr wie eine Königin, trotzdem sie einen schwarzen falschen Scheitel trug, und die großen Augen der Kinder leuchteten wie aus einer anderen sonnigeren Welt.

Herr Lewin begann im Nebenzimmer einen neuen freudigen Psalmen fremdartig und schauererregend zu singen.

»Das ist der Becher für den Propheten Elias,« sagte der Junge leise und wies auf den Kristallbecher mit dem leuchtenden goldenen Wein, »und die Türe dort bleibt angelehnt, damit der Messias eintreten kann.«

Isebiesens Herz klopfte – – O welche Fremdheit! – Welch ein Erlebnis! Die Tafel erschien ihr wie für Könige aus einer anderen Zeit gedeckt, und der siebenarmige alte Judenleuchter war alles Zaubers voll, und die ehrwürdigen heiligen Seelen und Könige standen im Dämmer draußen um das Haus in der Gasse und warteten, um einzutreten.

Und wenn Isebies gewußt hätte, welch rührender Gottesdienst diese festliche Tafel war, wie sie in Wahrheit die Paradiesesfreuden dieser Erde darstellen sollte, den Trost im harten Leben, die heilige Messiassehnsucht; das versprochene Reich Gottes auf Erden, das nie hier erscheinen wird.

»Ja,« sagte Frau Lewin, und ihre lebendigen Augen leuchteten, »als ihr noch auf allen vieren krocht und habt Eicheln gegessen im Walde, da sind wir schon Könige gewesen und haben gesessen in aller Herrlichkeit auf Erden!«

Isebies gab schüchtern die Hand, um zu gehen. Frau Lewin dankte ihr, und Isebies sah noch, als sie die Treppe hinabging, wie Frau Lewin aus der kleinen Küche einen duftenden Gänsebraten brachte, und zugleich strömte frischer Königsrauchgeruch aus der Türe. Die weiche, fremdartig singende Stimme Herrn Lewins verstummte, und Isebies sah ihre jüdischen Freunde im Geiste um den golden leuchtenden Becher des Propheten Elias sitzen, alle beschienen vom siebenarmigen Leuchter mit den sieben zarten Feuerzungen und die wundervollen weißen Brote, die Frau Lewin selbst gebacken und halb verhüllt hatte mit schneeweißen Tüchern; und der heilige Gänsebraten und die geheimnisvolle Gewürzbüchse und was ihr feines Näschen sonst noch alles Gute gerochen hatte, erschien ihr so märchenhaft, daß sie auf der dunkeln, engen Gasse, an das Haus gelehnt, eine ganze Weile stehen mußte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Sie empfand ganz genau: das war nicht nur so eine einfache Geschichte. Alles so außerordentlich geheimnisvoll, wahrhaft überquellend von Bedeutungen und uralten Herrlichkeiten.

Und daß Herr Lewin so fremd und weich singen konnte, so gütig hatte die Stimme geklungen.

Er hatte gewiß seinen spiegelblanken Rock dabei nicht angehabt.

Und sie selbst, – was war sie? – Ein Goj! Was würde Gomelchen sagen? Es war ihr, als wenn ihre Kleider dufteten, als wäre sie in einem fremden, uralten Lande gewesen und hätte den Duft dieses Landes in ihren Kleidern mitgebracht. Und wie kam es nur, daß ihr Herz noch immer klopfte?

Ihr Herz mußte so tief sein wie ein Brunnen. Ehe da etwas bis auf den Grund kam. Ob alle Menschen solche Herzen haben? Wie groß und wie tief ist eigentlich ein Herz? Wie groß ist eine Seele?

Ach du mein Gott! Und wie mag sie aussehen? So dummes Zeug dachte Isebies, als sie heimlief.

»Gomelchen,« sagte sie, »wenn du wüßtest! Denk' dir – – Ach, das kann man gar nicht erzählen! – Denk' dir, – ich bin ein Goj!«

»Was bist du?«

»Ich darf den Juden das Licht anzünden.«

»Dummes Zeug.«

Und nun kam alles. Isebies sagte dann: »Heilig ist auch alles, was die Juden glauben. Heilig ist auch, was Regine glaubt. Gomelchen, ich glaube: Recht hat niemand.«

»Das ist auch ganz gleich,« sagte Gomelchen, »wenn sie nur gut und gütig sind.«

»Aber wunderschön ist der Sabbatvorabend bei den Juden, feierlich und geheimnisvoll; aber was die Frau Lewin alle Woche für eine Arbeit hat, alles so herzurichten und so zu kochen, daß es so duftet.«

»Weißt du,« sagte Gomelchen, »die Juden glauben, daß Gott ihnen versprochen hat, auf Erden das Paradies zu schaffen. Du hast das Paradies gesehen, an das sie glauben. Gott, glauben sie, liebt den am meisten, dem er die meiste Freude schenkt, und die Christen glauben, Gott liebt den am meisten, dem er das meiste Leid schenkt.«

»Beides ist schön,« sagte Isebies. »Aber schöner noch ist der Trost, daß das Leid die größte Liebe ist.«

»Ja, mein Kind,« sagte Gomelchen. »Das hat Tausende von armen Herzen getröstet.«

»Ach, es ist beides schön,« sagte Isebies innig. »Es wird so sein: Gott liebt die, denen er Freude gibt, und liebt die, denen er Leid gibt. Ich möchte immer von Gott geliebt sein!«

Isebies war von da an, wenn es irgend anging, der Lichtanzünder beim Sabbatvorabend und erlebte wundervolle Dinge bei ihren jüdischen Freunden.

Vor einem großen jüdischen Feste ging sie mit ihnen hinunter an die Ilm und schüttelte Kleider und Taschen in den guten kleinen Fluß, das heißt: alle Sünden des vergangenen Jahres aus allen Falten und Schlupfwinkeln, jedes Brosämchen, jedes Fäserchen. Sie sah zu, wie die Kinder von der Mutter Lewin gebenscht, gesegnet wurden, und wie sie einen Hahn über ihren Köpfen schwenkte, der alles Leid und alle Not von den Kindern nehmen sollte. Eine ganze fremde Welt tat sich ihr auf, und sie sah so viel Schönheit, so viel Innigkeit und Wärme, so viel Zueinandergehörigkeit eines unsagbar leidensstarken Volkes und dessen ganze Freuden- und Messias-Glückseligkeitssehnsucht.

Von keinem Weimaraner dachte Isebies, daß er Königsaugen habe; aber die drei jüdischen ärmlichen Kinder sahen sie immer wieder mit den geheimnisvollen Augen König Salomos an. Sie wußte es jetzt, so hatte König Salomo geschaut in aller seiner Herrlichkeit und niemand sonst.

 

Die Eigenbrodtschen Kinder hatten eine lebendige Kindheit, eine Kindheit, aus der sie Kraft fürs Leben holen konnten. Marie Sibylle und Heinrich Eigenbrodt waren Menschen von strengster Selbstzucht. Sie gaben beide den Kindern ein so unumstößliches Beispiel guten, tadellosen Betragens, daß es ein Kunststück gewesen wäre, aus dem Stil des Hauses zu fallen. Das ausgeglichene Wesen der Frau Mutter tat das Seine dazu; so waren die Mädchen bei aller Freiheit, die sie genossen, in die guten reinen Formen ihrer Umgebung gebannt. Alle erregten und nervös sensibeln Erziehungsversuche und Künste sind kraftlos und müde gegen das ehrliche, am eigenen Leibe vorgelebte wortlose Beispiel. Für Isebies und die Zwillinge war das Leben der Eltern einer heiligen Handlung vergleichbar; sie standen ihren Eltern fern, wie man heiligen Personen fernsteht. Sie dachten nie über sie nach. Solch ein Nachdenken wäre ihnen schon als ein großes Unrecht erschienen, ja sie sprachen auch nicht untereinander von den Eltern: sogar das wäre ihnen als ein Unrecht erschienen. Sie hatten auch kein wirkliches Bild von ihnen, aber ein Gefühl des unerschütterlich Guten. Niemand glich ihnen, und sie selbst gehörten zu ihnen. Sie waren alle miteinander »die Eigenbrodts«, und alle anderen erschienen ihnen nicht so recht geheuer. Das war alles unbewußt; aber stark und voll Liebe und Stolz und fesselte sie an ihr Vaterhaus.

Isebies dachte einmal dunkel, ob sie und die Schwestern wohl hübsch wären oder irgend so etwas, – konnte sein, konnte aber auch nicht sein. Dann sah sie im Geiste eine kleine Wendeltreppe, die von den Wirtschaftsräumen hinauf in die Wohnräume führte. Wenn man diese Treppe hinaufging, bemerkte man, daß über jeder Stufe in das Holz Sterne eingeschnitten waren. Isebies meinte »wunderschöne Sterne«, und wenn im Raum, der sich unter der Treppe befand, Licht brannte, leuchteten diese Sterne. Man stieg über helle Sterne in die Höhe. Niemand sonst hatte so eine Treppe. Sie dachte darauf über ihre Frage nicht weiter nach und war beruhigt. Und sie erlebten auch so schöne Dinge. Davon war sie überzeugt, daß keine Kinder in ganz Weimar so viel Merkwürdiges kannten wie sie, die Eigenbrodts. Wer hatte solch ein Druckerei, in der es so unendlich viel zu sehen gab, wer durfte abends nach Herzenslust unter den Bäumen vor der Türe spielen und bei den Nachbarsleuten ein- und ausgehen? Wer hatte ein Gomelchen? Wer hatte einen Exzellenzengarten? Wer war ein Goj und durfte den Juden am Sabbat das Licht anzünden? Und wer war bei Rauchfußens daheim? Bei Rauchfußens oben auf dem Ettersberg?


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