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Nacht – und ein Stern geht auf

Magelone von Geldern kam in dieser schweren Zeit zu Eigenbrodts. Sie erschien nicht oft, trotzdem sie sich gegenseitig von jeher sympathisch waren.

Sie reichte Marie Sibylle, der Mutter, die sie allein antraf, die weiche, schöne Hand, von der die kleine Isebies als Kind den Eindruck gehabt hatte, es wäre schön, sich daran zu halten, und fragte: »Sagen Sie einmal, wie wäre es, wenn Sie mir Ihre Tochter Sibylle nach Bayreuth mitgeben würden? Sie soll den Parzival hören, sie soll sich einmal das Leben dort ansehn. Sie gefiel mir nicht, als sie mir gestern auf dem Weg zur Wallendorfer Mühle begegnete. Was tut sie so einsam? Solcher Ernst sollte auf einem jungen Gesicht nicht liegen. Die Lernzeit, sag' ich, allen andern entgegengesetzt, ist das Alter. Man wird dazu in eine möglichst reizlose Kutte gesteckt, und die Müh' geht los, – die dümmsten Herzen und Köpfe werden gedrillt und lernen Dinge begreifen, die ihnen unmöglich zu begreifen waren. Genommen wird, was nur zu nehmen ist. Das Herz bekommt Aufgaben, die alle Kräfte zu übersteigen scheinen. Ja, wir müssen alle in das große Kloster eintreten, in dem Entsagung, – Entsagung und immer wieder Entsagung gepredigt wird.

Sibylle aber blüht. Sie soll sich doch erst das erblühen, was ihr einmal genommen wird.

Ich rief ihr zu: ›Sibylle, was fällt Ihnen ein? Weshalb machen Sie ein Gesicht, als hätten die Hühner Ihnen das Brot genommen?‹

Geben Sie mir Ihr Kind mit. Hat sie einen Kummer, ist's gut, man zerstreut sie. Denken Sie darüber nach.«

 

So kam es, daß man sich entschloß, Sibylle mit Magelone von Geldern reisen zu lassen.

Der Tag vor Sibyllens Abreise war ein regnerischer kühler Sommertag, ein Tag ohne Freude. Sibylle, die Mutter, war viel bei Biwi, die ihr zweites Kindchen geboren hatte. Die liebe Frau Mutter war mitgegangen. So war Sibylle allein im Haus.

Sie hielt müde einen Brief in der Hand, den sie sich von der Post geholt hatte.

 

»Mut – Mut,« schrieb Frau Dohrn. »Von Bayreuth aus schreiben Sie mir sofort. Vielleicht komme ich, dort mit Ihnen über alles zu sprechen. Ich bin entschlossen, – das wissen Sie. Die Zeiten, die ich erlebte, drängen mich, ihm zu helfen und mir. Daß Liebe sterben kann!

Halten Sie sich bereit.

Elise.«

 

Sibyllens Herz bebte. Sie wußte, daß ihr Weg zu ihm führen würde, bald – bald. Sie wußte, daß sie ihr Wort, das sie den Ihrigen gab, brechen würde.

 

Jetzt ging sie durch das stille Haus, nahm einen Bleistift von ihrem Schreibtisch und schrieb in zarten Zügen auf die Tapete über dem Bett der lieben Frau Segensworte, Trostworte und betete, während sie schrieb. Heiße Tränen flossen ihr über die Wangen. »Jeder Schritt sei Dir gesegnet, jeder Schritt,« – kritzelte sie, »wo ich auch sein werde, ich bin bei Dir. Bleib nur leben um Gottes Willen! Gräme Dich nicht. Ich fühl's, mein Herz ist, wie es immer war; aber sag Du, geliebte liebe Frau, – was soll ich tun?

Meine Seele ist gehetzt, mein Wille ist gehetzt. Mich schwindelt vor tausend Überlegungen.

Mein Schicksal ist's, in Unfrieden von Euch zu gehen. Kein böses Menschenwort soll Dich und Euch alle treffen! – Alles komme auf mich.

Fürchtet Euch nicht vor den Menschen, Ihr habt keinen Grund, gut und rein, wie Ihr alle seid.

Ich hab Dich lieb lieb lieb – liebststststst.

Deine
Isebies – Du Geliebtes.«

So schrieb sie in ihrer Verwirrung und in ihrer Not, zu helfen und Trost zu geben, wie ein armes hilfloses Kind.

Dann ging sie hinunter an das Bett ihrer Mutter und schrieb: »Segen – Segen – Segen – Ruhige Nächte, glaub' an meine Seele. Die Sünde, die ich tu, Euch zu kränken, soll zum Heiligtum meiner Seele werden. Gut will ich sein. – Gut – gut – gut, wohin das Leben mich auch führen wird.«

Ihrem Vater schrieb sie unter Tränen: »Du Stolzer – Du Reiner. Dich trifft Schweres durch mein Fortgehen, durch meinen Wortbruch. Glaub' dennoch an mich! Sei nicht verzweifelt. Gott gab Dir viel, viel Glück und Segen, – durch meine arme Hand gibt er Dir Schweres, Gott sei's geklagt!

Und doch, Du sollst Dich meiner nicht zu schämen brauchen. Ich trage Dein Bild im Herzen.«

 

Sie schrieb zitternd, kaum leserlich, in banger Hast, daß niemand sie überraschte, unsichtbare Segensworte auf die Tapete.

Ihr selbstverdientes Geld trug sie seit Tagen schon in einem Täschchen mit einer Schnur um den Hals.

So war sie gerüstet für den schweren Weg, den sie gehen sollte.

 

Klug hatte Magelone von Geldern geraten, das begabte Kind aus dem stillen, feierlichen Haus untertauchen zu lassen im vollen großen Leben, und wäre dies arme Geschöpf nicht so verwundet gewesen, nicht so erschöpft, nicht so verwirrt, so hätte der gewaltige Lebensstrom sie mit sich genommen.

So aber sah Sibylle mit großen Augen aus einer Welt, in die sie gebannt war, die Dinge gleichsam wesenlos, die Gestalten großer Menschen zogen wieder wie geheimnisvolle Wolkenschatten an ihr vorüber. Sie sah Liszt im Wagnerschen Hause, sie sah vornehme königliche Frauen sich leicht und souverän bewegen.

Sie war mitten unter all den Menschen, die auf des Lebens Höhe standen, mitten unter Königen und Königinnen, die sich ein königliches Leben geschaffen hatten.

Wie ein Heiligtum erschien ihr Wagners Haus. Anbetung, Vergötterung lag in den Blicken der Frauen; Begeisterung, Erregung, erhöhtes Leben, wohin sie sah.

Und Magelone von Geldern, welch eine wundervolle Person!

Vertraut ging sie unter all den königlichen Menschen, heimisch – ganz verwandt, zu ihnen gehörend, wurde ersehnt, begrüßt wie eine Schwester. Sie war bei köstlichem Humor. Vor ihrer Türe stand den ganzen Tag ein Coupé, das sie bald zu diesem, bald zu jenem führte. Liszt saß stundenlang bei ihr, und um sie her war Heimat für alle, die sie suchten. Das große Hotelzimmer, das sie bewohnte, schien wie durch ein Wunder umgewandelt, von ihrem Wesen wie durchdrungen.

Nie trat der erregte Gesellschaftsausdruck, den die Menschen unter andern tragen, in ihre Züge. – Sie stand über all dem erregten Treiben, dem hochgespannten Wollen, den tief erschütterten Nerven, den Geistern, die unter Hochdruck geschaffen und gelebt hatten, mit ruhigen Zügen, ruhigem Herzen, einer Seele, die sich nicht imponieren ließ. Ihr lebendiger Humor verließ sie nicht und nie ihre wahrhaft souveräne Gelassenheit.

Mit welcher Grazie nahm sie dem müden Liszt, der eingeschlafen war, die Zigarre aus dem Munde, rückte ihm die Kissen zurecht, mit einem Lächeln, das ihr so wohl stand. »Ich kenne dich,« sagte dies Lächeln, »hier kannst du ruhig schlafen, hier brauchst du nicht der berühmte, angestaunte Mann zu sein, so wenig wie bei deinem lieben Herrgott.«

Mit einem andern ihrer berühmten Freunde hörte Sibylle sie hingebend plaudern. Sie fragte nach seinem geistigen Wohl so warm und mitfühlend, wie auch nach dem Zustand seiner wollnen Strümpfe.

»Sag', Magelone, weshalb habt ihr euch eigentlich nicht geheiratet?« sagte eine Zuhörerin scherzend.

Da reichte Magelone mit einer warmen lebendigen Gebärde ihrem Freund die Hand und antwortete: »Wahrscheinlich, weil wir uns viel zu lieb hatten!« Nie verlegen, nie unvornehm, immer Herrin ihrer selbst und ihrer Kraft.

Mit Staunen sah Sibylle das alles.

Magelone von Geldern erschien ihr in gewisser Weise größer als die andern. Sie hatte nichts geschaffen, hatte nichts Erstaunliches getan, sie stand aber über dem Leben. Sibylle empfand, daß dies das Größte sei.

Magelone von Geldern war menschlich sehr vollkommen. Sibylle beobachtete sie oft ganz versunken, da war kein Lächeln, das mit ihr selbst nicht in Harmonie stand, keine Bewegung, die nicht von der Ruhe ihrer Seele durchdrungen war.

Sie zog die andern an, wie Reichtum Arme anzieht. Es war, als wollten sie von all ihrer Größe und ihrem Ruhm an ihr genesen, – wollten sich bei ihr ausruhen.

Liszt sagte zu Sibylle: »Für ein junges Mädchen muß es doch wunderlich sein, was uns alle so zu Magelone zieht. Ich bin überzeugt, daß Sie erstaunt sind. Magelone ist Weib ohne die Ansprüche des Weibes. – Sie gibt wirklich Ruhe und Frieden und ist angenehm, weil sie sich ihrer selbst ganz bewußt ist. Sie ist als Weib nicht eitel, ein Wunder! Und ist zur Freundschaft bestimmt. Wir brauchen Ruhe, und sie gibt Ruhe und Heiterkeit, für alle uns überspannte, ekstatische Tiere eine wundervolle Sache.«

 

Sibylle erlebte die Parzivalaufführung.

Über all die vielgestalteten Menschenseelen ging der gewaltige Strom überirdischer Reinheit hin und erfüllte sie gegen ihren Willen, riß sie widerstandslos mit sich fort, eine gewaltige Erlösung der Seelen, eine gewaltige stürmische Versetzung in eine andre Welt, in die die Seelen durch eigene Kraft nicht hätten gelangen können.

O ihr Welterlöser, wer schickte euch in die Nacht der Erde, was wäre diese Erde ohne euch! Ein wilder Kampf der Fresser und Opfer. Mit Tönen, mit Worten, mit eurer Seele Riesenkräften hebt ihr auf mächtigen Schwingen die Menschen empor.

Eine zarte, ermattete, erschütterte, leidvolle Seele wurde mit allen aus dem Erdenleid und der Erdenverwirrung fortgetragen. Ein seliges Hinsterben.

Nach dieser Entrücktheit ein Fest unter sehr menschlichen Verhältnissen in einem kahlen Riesengasthaussaal mit zweifelhaften Genüssen.

Sibylle saß mit weimarischen Bekannten und schaute traumverloren auf das Treiben um sie her, da hörte sie eine angenehme Stimme, die sich an sie wendete, eine fremde Stimme. Sie hörte ihren Namen aussprechen, sah ein nie gesehenes Gesicht, einen Herrn, der sich ihr vorstellte, ohne daß sie den Namen verstand.

»Sibylle Eigenbrodt,« hörte sie sagen, »die Sibylle, die wir alle kennen, das heißt die wenigen, – die wenigen! – ›Das Wunder in Ihrem Novellenpferch‹, wie ein Dichter an einen gewissen Verleger schrieb. Ich kenne Ihren Verleger,« sagte der Herr mit der angenehmen Stimme und den wohl kultivierten Bewegungen. Er erbat sich die Erlaubnis, rückte einen Stuhl zu Sibylle, die Tischordnung hatte sich schon einigermaßen gelöst, und schaute lächelnd auf das erglühende junge Gesicht, das ihn wie ratlos anschaute.

»Ja, sind Sie denn die Sibylle, die uns so viel Freude macht?« Die um Sibylle saßen, die Bekannten, horchten auf. Sie lächelte, war aber ganz fassungslos.

»Die Schriftstellerin?«

»Schriftstellerin?« wiederholte die arme Isebies-Sibylle bestürzt.

Der Herr lächelte: »Nun, mir scheint, man muß Sie ein wenig über sich selbst aufklären. Wenn ich nicht wüßte, daß Sie aus Weimar kommen, wenn ich das nicht von Baronin Magelone von Geldern wüßte, würde ich denken, daß Sie von einer gewissen Sibylle Eigenbrodt noch nie ein Wörtchen gehört haben.«

»Ich kenne sie, – ach, ich kenne sie,« antwortete Sibylle.

»Nun sehen Sie, da ist ja alles ganz in Ordnung; aber doch glaub' ich, könnte ich Ihnen manches von ihr erzählen. Sehr unterrichtet scheinen Sie nicht zu sein.

Schauen Sie mal dorthin, – die elegante schöne Frau, – und dort der Herr mit dem vornehmen Charakterkopf, was meinen Sie wohl, wer die sind? Der Name tut vorderhand nicht viel zur Sache, – ausgezeichnete Freunde von einer gewissen Schriftstellerin Sibylle, – von einer Dichterin Sibylle, – wie diese Freunde sagen. Solche Freunde sitzen hier noch eine ganze Anzahl.«

Der Herr mit der angenehmen Stimme schien sich an dem fast rührend fassungslosen Ausdruck zu erfreuen. Er hatte da so eine junge, ganz erstaunte Seele vor sich, ein andres Wesen, als er wohl erwartet hatte.

Sibylle begann langsam zu erwachen, sich ihrer selbst und des Wunderbaren, das sich hier begab, bewußt zu werden.

»Ist das auch wahr?« fragte sie leise.

»Sie sind köstlich! Haben Sie's denn nicht groß und breit gelesen, daß Sie Interesse wachrufen?«

Ach, sie hatte so viel erlebt, so viel getragen, daß ihr das weltenfern gerückt war.

»Ja –,« sagte sie; – da stockte sie, Tränen traten ihr in die Augen, eine tiefe Blässe überzog ihr Gesicht. Der ihr so Fremde blickte teilnehmend auf sie. Er sah den Kummer, der ihr Wesen verschattete. Sie hörte die angenehme Stimme sagen: »Ich kann Ihnen noch etwas mitteilen, was Sie sehr erfreuen wird.«

Sibylle hatte sich gefaßt und sagte ruhig: »Glauben Sie mir, ich habe nie daran gedacht, daß das was ich … wie soll ich sagen,« – sie zögerte – »– denke, – tue,« – sie fand keinen Ausdruck – »schreibe –, von andern wirklich gelesen wird. Ich hab' mir das noch gar nicht vorgestellt.«

Sie lächelte träumerisch. »Das ist also wahr?«

»Ja – ja – ja,« bekam sie zur Antwort. »Und wollen Sie's wissen, was ich Ihnen noch zu sagen habe, und was in unserm Kreis in Berlin Aufsehn erregt hat? Fürst Bismarck hat sich Ihre letzte Arbeit vorlesen lassen. Es waren Gäste zugegen, und er hat Ihre Partei ergriffen, als andre gegen Sie sprachen. Ja, er hat einem Herrn aus seiner nächsten Umgebung Auftrag gegeben, näheres über Sie zu erfahren. Da dürfen Sie sich schon etwas darauf einbilden. Sie werden auch noch davon hören.«

Sibylle sah den Sprecher ungläubig an.

»Wie kommt denn das alles?« Sie war verwirrt. »Schön ist's, – schön ist's!« sagte sie aufatmend, und ihre Augen begannen zu strahlen. Über Sibyllens Gesicht war Freude gegossen.

Welch eigentümliches Geschöpf, – so unmittelbar, dachte der Herr mit den kultivierten Bewegungen.

An diesem Abend erlebte Sibylle Wunder über Wunder. Sie lernte unbekannte Freunde kennen, die ihr unbegreiflich nah standen. Sie ging mit einer großen Gesellschaft in ein Hotel, trotzdem es spät in der Nacht war, und wurde gefeiert, sie, die Isebies, wie eine junge Königin.

Ihr schwindelte. Welch ein Leben! Welch eine unerhörte Sache! So sah das Leben aus! Wie schön, wie voller Reiz war die Welt. O, so lebte es sich mit Erfolg, – so? – So getragen, – so behütet, – so beseligt, – so schön erregt! Wie klangen die Stimmen lebendig, so mitten ins Herz trafen sie! Welches Wunder! Welches Wunder! So lebten die Könige der Erde! Solche Stunden erleben sie! Und sie, – und sie, – was hatte sie damit zu tun? War es denn ihr Leben? Sie sollte nach Berlin kommen! Sie wurde eingeladen von allen Seiten. Man sagte ihr wundervolle Dinge, ihr, der Isebies, – die den Schlüssel zu einem Gartenpförtchen besaß, das in eine Welt führte, die nur ihr gehörte, in die sie sich flüchten durfte.

Das alles hatte diese stille, schützende Welt ihr geschenkt!

Sie trank Leben, durstig, staunend. Sie versprach zu kommen. Sie sah ein überschwellendes, lebendiges Dasein vor sich, ein Leben, an das sie nie gedacht, das außerhalb ihrer Vorstellung gelegen hatte.

Das staunende, von Leben übersprudelnde Geschöpf tat es den neuen Freunden an. Wie sie erwacht war, die Isebies, zu Freude und Sonne. In eine Heimat war sie gekommen, in der es sich so leicht atmen ließ. Lasten fielen von der Seele. Sie lachte, wie ein Vogel nach langem Winterschweigen singt, ihre Jugendkraft sang und frohlockte.

Gegen Morgen erst trennte man sich.

Der Herr mit der angenehmen Stimme begleitete Sibylle in ihr Hotel, das seelenberauschte Geschöpf, das so stark mit heißen Lebenskräften ihre Qualen und Sorgen und bitteren Zwiespalte der Freude zum Opfer gebracht hatte, sie ganz überwunden hatte, um volles, schönes Leben zu trinken.

Er empfand, daß neben ihm eine starke, urlebendige Natur ging, voll schaffender Frühlingslust und Kraft.

Er hatte das leidensvolle Gesicht sich unmittelbar zu einem freude- und lebenstrahlenden wandeln sehen und sagte ihr: »Leben Sie wohl, kommen Sie zu uns! Bringen Sie uns Ihr Lachen.« – –

In blasser Morgendämmerung, ehe die Sonne sich hob, las das nach Freude und Leben bebende Mädchen einen Brief Frau Dohrns, der abends nach ihrem Fortgehen gekommen war:

 

»Sibylle, – sind Sie bereit, – es handelt sich um Leben und Tod, – kommen Sie. Alles geschieht, um Ruhe zu bringen.

Elise.«

 

»Ja, Sibylle,« hatte Alexander Dohrn darunter geschrieben.

So stand sie, das Blut wogte in ihr, das Herz schlug zum Zerspringen.

Sie legte ihre Kleider ab, kühlte und wusch sich mit frischem Wasser, ordnete sich das Haar, kleidete sich wieder an, tat alles mit Entschlossenheit, schrieb an Frau Dohrn, schloß den Brief, setzte eine Depesche an Ottomar Rauchfuß auf und legte sich dann mit gefalteten Händen still auf ihr Bett nieder, mit offenen Augen.

»In Gottes Namen,« sagte sie, nachdem sie stundenlang scheinbar ruhig gelegen.

Sie nahm dann Brief und Depesche, trug diese selbst zur Post.

 

Den ganzen Tag blieb sie ruhig auf ihrem Zimmer, schrieb bebend nach Hause, schrieb an Dohrns. Es meldeten sich verschiedene Besuche bei ihr, Menschen, die sie in ein reiches, lebendiges Dasein führen wollten. Sie nahm niemanden an, niemanden aus jener Welt, in der es sich so leicht atmen ließ. – Abgeschlossen, – abgeschlossen dies lockende, lebendige Leben.

Sie schrieb auch an Magelone von Geldern einen ernsten, ruhigen, entschlossenen Brief, der ihr übergeben werden sollte nach Sibyllens Abreise.

Es war ihr ein so quälender Gedanke, daß diese Frau, die ihr so wundervoll erschien, ihretwegen Unruhe ertragen mußte. Ihr Weg aber war ihr vorgeschrieben, der steinige Weg, der an Abgründen vorüberführte. Ihre Seele hatte keine Wahl mehr. –

Sibylle wurde ganz einfach.

Stille war eingetreten. –

Am andern Tag abends erwartete sie Ottomar Rauchfuß.

Sie empfing ihn in ihrem Zimmer.

Sie reichten einander die Hände und waren die alten Kameraden. Ottomars Züge erschienen ernst und ruhig. Sibylle trat ihm gelassen entgegen. Sie nahmen miteinander ein Nachtessen auf Sibyllens Zimmer ein, die Abendsonne schimmerte golden. Sie sprachen wenig. Ottomar erzählte von Lilly, die auf dem Land in einem stillen Dorfe an der böhmischen Grenze mit ihren Kindern lebte.

»Du riefst mich,« sagte Ottomar. – »Ich danke dir.«

»Ich muß dir Rechenschaft ablegen,« antwortete Sibylle. »Geh mit mir hinaus in die Felder, wenn du nicht von der Fahrt müde bist!«

»Ich bin nicht müde.«

Sie gingen durch wenige stille Straßen, und vor ihnen breitete sich eine abendliche Landschaft aus, noch sonnenüberstrahlt.

Auf einem Hügel sah man das Theater liegen, in dem das große Mysterium zu dieser Stunde wieder gefeiert wurde.

Warme sonnendurchschienene Abendstille. Die blühenden Ähren leuchteten silbern. Die Bäume standen massig und mächtig in erster voller Sommerpracht.

Ein fremder, nicht heimischer Sommer für beide, und doch der alte Sommer, der so tief zu Herzen geht.

Sie gingen schweigend nebeneinander her.

»Ottomar,« sagte Sibylle, »darf ich zu dir sprechen wie zu mir selbst? Niemand wird mich verstehen, alle werden mich verurteilen, denen, die mich lieben, werde ich Leid bringen. Höre mich.«

Und Ottomar hörte. Er hörte mit zerrissenem Herzen, er hörte sein Schicksal sprechen, das mit leichten, vertrauten Schritten neben ihm ging, das mit der liebsten Stimme, die er auf Erden kannte, ihm seines Herzens stille Hoffnung nahm.

Isebies-Sibylle aber ging neben ihm, als wäre er ein Fels, an den sie sich, müde von Wellen und Wogen, hielt.

Ihr ganzes Vertrauen, ihr alter Kinderglaube, ihre Zugehörigkeit zu ihm hatte es ihr natürlich erscheinen lassen, zu ihm ihre Zuflucht zu nehmen. Er war ihr Gewissen. Er sollte sie erlösen. Nur er konnte es. Er sollte alles erfahren. Er sollte ihr sagen: »Tue, was du tun mußt, Sibylle.«

Und er sagte es. Er enttäuschte sie nicht. Er beunruhigte die arme Seele nicht. Er faßte ihre Hand wie einst und ging mit ihr zwischen den starkduftenden blühenden Feldern. Er war so gut, so stark, so einfach, so sich ihr hingebend, daß das leidvolle Geschöpf groß aufatmete.

Die Reinheit dieses Herzens breitete sich über all ihre Verwirrung, die einfachen Worte dieses guten, großen Menschen gaben ihrem Tun Heimat, eine Stätte auf dieser Welt. Sie hatten die Kraft zu erlösen.

Auch er gehörte zu jenen Erlösern, ohne die die Nacht dieser Erde ein wilder Kampf der Fresser und Opfer wäre.

Isebies-Sibylle ging geheiligt neben ihm her. Tränen rannen ihr über die Wangen, ihr Herz schlug. Sie war erfüllt von einer großen Seligkeit. Wie sie ihn kannte! Wie sie ihn wert hielt von dumpfer Kindheit an.

Er hatte für sie die Kraft, zu binden und zu lösen.

»Ottomar, Ottomar,« sagte sie, »was gibst du mir? Was tust du mir?«

Es dämmerte stark, der Mond gewann an Kraft, die Luft wurde, je mehr die Erscheinungen verblaßten, schwer von Düften. Die ganze Erde duftete und jede Ähre und jedes junge balsamische Laub.

»Wenn du heut nacht reisen mußt, Isebies, werde ich dich begleiten. Du bedarfst jetzt meiner. Ich gehe mit dir.«

»Du?« sagte Isebies. »Du?«

Ein Schauer durchbebte sie. Wenn auch das Wesen seines tiefsten Herzens für sie Geheimnis war, – es gibt doch über alle Geheimnisse hinaus ein unbewußtes Wissen der wissenden Seele.

 

Isebies stand Dohrns gegenüber. –

Sie war zu ihnen soeben zurückgekehrt, über blutende Herzen war sie gegangen.

Das Unerhörte hatte geschehen müssen: sie war den Ihrigen entflohen. Sie hatte alles in Qual und Bestürzung und Schmerz zurückgelassen, hatte hart und erbarmungslos gehandelt.

Hier stand sie nun.

Vertraute Gegenstände im fremden Raum begrüßten sie.

Zwei bleiche Gesichter sahen auf sie. Frau Dohrn mit einem harten, stählernen Ausdruck der Augen. Alexander Dohrn wortlos, fast ohne Glauben. Sibylle las in seinen Zügen langes Leiden, Verzweifeln.

Sie fühlte ein Aufatmen seines Wesens, ein mächtiges Aufatmen, als er ihren Blick traf. Ja, sie blickte wie die, die überwunden haben. Er trank ihren Blick in sich ein.

»Wir haben uns etwas im Ausdruck verändert, Isebies,« sagte Frau Dohrn kühl. »Willkommen! Ich will die Kinder bringen. Sie sollen um mich sein.«

Frau Dohrn ging hinaus.

»Sibylle, bringst du Ruhe, bringst du Frieden? Bist du ganz sichere Heimat?«

»Ja, ich bin deine sichere Heimat,« sagte sie. »Es ist alles geschehen.« Sie gab ihm die Hand.

Er hielt ihre Hand fest und ließ sie erst fahren, als leise Schritte sich der Tür näherten, Frau Dohrn und die Kinder.

»Engelchen,« rief Imogen Dohrn und stürzte auf Sibylle zu, umschlang sie leidenschaftlich und weinte. Die andere Kleine stand neben der Mutter und schaute auf die weinende Schwester.

Die Qual dieses Wiedersehns war unsagbar; alles übermenschliche Empfinden eingedämmt, alles Ungesprochene übermächtig.

Fast unerträglich war das Sichgegenüberstehen dieser Menschen, unerträglich das Bewußtsein der Opfer, die hier gebracht waren.

Sibylle sagte: »Ich bin hier und bin jederzeit für Sie alle da; aber ich gab ein Versprechen.«

»Aha!« Frau Dohrn lächelte.

»Nein,« antwortete Sibylle düster und blickte auf Frau Dohrn. »Sie dürfen nicht an mir zweifeln. Ich tat über meine Kraft.« Ihre Augen blieben groß und klar, ihr Wesen ruhig. »Ottomar Rauchfuß ist hier, um uns zu raten.«

»Mit ihm sind Sie gereist?« fragte Frau Dohrn kalt. »Ich brauche keinen Rat, bei Gott nicht!«

»Ich gab mein Versprechen,« wiederholte Sibylle. »Er will mit Ihnen reden, mit Ihnen und Herrn Dohrn.«

»Weshalb? Weshalb nicht?« sagte Frau Dohrn kühl lächelnd, erwägend.

»Ja, Sibylle. Er soll kommen,« antwortete Alexander Dohrn ruhig.

»Ich werde jetzt gehen, so lautet mein Versprechen. Volles Vertrauen.«

»Volles Vertrauen?« sagte Frau Dohrn erregt. »Wie ist das zu verstehen? Was heißt das: ›volles Vertrauen‹? Weshalb Ihnen? Vergessen Sie nicht! Volles Vertrauen, – mir gehört es zu! Volles Vertrauen mir und niemandem sonst! – Also gehen wir schon wieder,« sagte Frau Dohrn jetzt kühl.

»Es muß sein.«

Frau Dohrn brachte Sibylle zur Türe. Alexander Dohrn suchte noch Sibyllens Blick, – und der traf ihn ruhig.

»Wie wäre es nun,« sagte Frau Dohrn, als Sibylle die Treppe hinabgehen wollte, »wenn ich zum Beispiel, sagen wir, jahrelang Komödie gespielt hätte? Wie würde man das nennen? Wie wäre es Ihnen da zumute? Verraten und verkauft, Isebieschen?«

Frau Dohrn hatte wieder etwas Spielerisches, Dunkles im ganzen Wesen.

»Und Macht ist berauschend, Isebies. – Ich habe die Macht!« Frau Dohrn blickte in sich versunken.

Mit einem Schauer sah Sibylle in dies weiße, lange Gesicht und in große, kristallklare, harte Augen. Ein Abgrund tat sich vor ihr auf, ein dunkler, schwindelerregender Abgrund.

»Ich bin auch Dichterin auf meine Weise,« sagte Frau Dohrn leichthin. »Ich, Isebieschen. – Nun, gehen Sie nur zu Ihrem lieben Reisegefährten und schicken Sie ihn mir. Wie hübsch Sie's haben: Immer behütet – immer verwöhnt.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Wer verwöhnt mich? Wer behütet mich? Macht mich nicht zur Hexe! Macht mich nicht zum Dämon! – Also auf Wiedersehn!«

 

Wiedersehn? – Doch gab es kein Wiedersehn auf lange lange Jahre hinaus! …

 

Als Ottomar Sibylle in ihrem Hotel aufsuchte, traf er sie bebend, ganz von Schauern geschüttelt. Sie lag matt wie im Fieber auf dem steifen, unheimischen Sofa des Hotelzimmers.

Befremdet blickte er auf sie. Sie nahm sich zusammen, sah aber bleich und bang aus.

»Du wirst erwartet,« sagte sie.

Er drang nicht auf sie ein.

Es lag etwas Fassungsloses in ihrem Blick, etwas namenlos Erschrecktes.

 

Während der Stunden, die Ottomar bei Dohrns verbrachte, lag Sibylle regungslos im öden Zimmer, hörte das unbekannte Rauschen der Großstadt vor ihrem Fenster. Bilder zogen durch ihre Seele, als sollte sie sterben, und das Leben wandelte an ihr vorüber, – die lieben Stimmen der Ihrigen, die Geräusche aus dem Geschäftshaus, die warme, sonnenheitere Kindheit, Lilly und Ottomar, – die Bekannten und Freunde des Hauses, die weimarischen Wege, die sie nicht mehr gehen würde, die liebe Frau in ihrem hohen Alter, das vornehm zarte, rücksichtsvolle Leben daheim, ihre Unruhe, ihr Verschweigen, ihr fremdes, dunkles Leben, von dem niemand wußte, und dann tauchte ein geheimnisvolles, schönes Leben auf. Hier in Berlin wohnten die Menschen, die ihr fremden Freunde, die ihr ein so wundervolles Dasein versprochen hatten, die sie mit offenen Armen empfangen wollten –. Sie träumte – träumte –

Welch reiches, frohes, sonniges Leben, so leicht – so berückend!

Wundervolles hatte sie erlebt – – Ottomars Güte! – Unheil und Leid aber hatte sie gebracht, wohin sie sah.

Nur einen Weg gab es jetzt für sie, – einen Weg: den Menschen, den sie liebte, der ihr nahe war, wie niemand sonst auf Erden, der sie als Heimat verlangte, glücklich und ruhig zu sehen.

Sie hatte sich gelöst von allen, – an ihn wollte sie sich halten, Klarheit war nur bei ihm noch für sie zu finden.

Alle Opfer waren gebracht. Alles Harte war geschehen.

Wie ein Stern leuchtete diese Klarheit in ihrer Seele, überstrahlte alles Unglück, alle Verwirrung und Not.

 

An diesem Abend schrieb Ottomar Rauchfuß Sibyllens Eltern: »Den Wunsch Ihrer Tochter Sibylle zu erfüllen, schreibe ich. Seien Sie alle geduldig. Legen Sie nicht zu großen Wert auf das Gebräuchliche. Ihr aller Trost soll sein: Glauben Sie an Sibyllens reines Herz, werden Sie nicht an ihr irre. Geht ein reiner Mensch Wege, die uns unklar erscheinen, an denen wir verzweifeln, wir aber haben seine Reinheit erkannt, so soll diese Erkenntnis uns trösten und aufrecht erhalten.

Steinige Wege haben Sibylle dahin geführt, Alexander Dohrn zu lieben. Alexander Dohrns Frau hat die Liebe ihres Mannes zu Ihrer Tochter gutgeheißen. Vielleicht trägt die Frau hier Schuld, wenn wir von Schuld sprechen wollen; sehr wunderlich und befremdlich ist die Seele dieser Frau vom Schöpfer gebildet worden.

Soviel ich verstehe, ist eine deutsche Scheidung für Alexander Dohrn, der vaterlandslos ist, auch in Deutschland nicht heiraten konnte, nicht erreichbar. Sie selbst haben Ihrer Tochter dasselbe gesagt –

Ich habe den Eindruck, daß Sie Alexander Dohrn ganz vertrauen können. Er wird Wege finden, seine jetzige Ehe zu lösen, um eine neue Ehe einzugehen.

Bis dies geschieht, wird Sibylle bei meiner Schwester Lilly leben.

Zu Ihrer Ruhe möchte ich Ihnen aussprechen, daß ich Alexander Dohrn für einen eigentümlichen, großangelegten, durchaus edeln Menschen halte, der keiner niedrigen Art zu denken fähig ist, ein seltener Mensch.

Ich glaube, daß Sie die Unruhe und Sorge, die in Ihr Haus eindrang, abweisen dürfen. Sie können vertrauen.

Ottomar Rauchfuß.«

 

In Sibylles Hotelzimmer hatte Ottomar diesen Brief geschrieben, und Sibylle hatte mit gefalteten Händen ihm gegenüber gesessen und hatte auf ihren Kameraden geblickt.

»Leicht ist das Leben nicht, Sibylle,« sagte er einfach. »Ein Stück Heldenkraft gehört oft auch zu den selbstverständlichsten Dingen – und zu den nicht selbstverständlichen …«

Sibylle hatte, als er aufschaute, in ihres Kameraden Augen gesehen, die ihr so weit und tief, wie sie sich das Meer dachte, erschienen waren.

Und diese Augen hatten heut einen schweren Blick.

 

Ottomar brachte am andern Morgen ganz früh Sibylle an den Zug, der sie zu Lilly führen sollte.

»Vertraue mir, es ist das Beste so, du siehst Dohrns jetzt nicht wieder. Ich verlange das von dir. Ich weiß, was ich tue. Nur so kommt Frieden für alle.

Alexander Dohrn soll jetzt handeln. Mag er versuchen, wie es ihm gelingt. Auch Frau Dohrn muß geschont sein, – und was in ihrer Natur schläft, darf für sie und alle nicht geweckt werden.«

Ottomars einfache Worte und seine Art zu handeln waren in ihrer Selbstverständlichkeit ruhegebend.

Ja, er war derselbe noch, der als Junge Winter für Winter den dunkeln Weg vom Ettersberg nach Weimar in aller Herrgottsfrühe, ohne zu überlegen, ohne Klage zurücklegte, so schwer und hart dieser Weg oft gewesen sein mochte.


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