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Überwunden hatte der junge Emeritus, Friedrich Thon, Hemmungen und Schwierigkeiten, schwere Wege und Entschlüsse, Niederlagen aller Art, wenig Aufmunterung, wenig Anschluß, seit er die Kirche auf der Anhöhe und das Grab Dorettchens verlassen.
Dies und jenes war versucht und wieder aufgegeben. Die Alte hatte recht, »ä Witwer mit eim Kinde tut sich hart, wenn er das Dach über seinem Haupte verläßt.« Als Lehrer an einem Landerziehungsheim war er, nach endlosem Hin und Her, endlich angestellt worden. Das Kind Dorettchen hatte wieder ein Heim, auch die alte Magd, bei der es geblieben, bis der Vater es zu sich holen konnte.
Als er das Kind mit dem geliebten Namen zum ersten Male wieder zu sich emporhob, schaute es ihn mit fremden Augen an. Er hatte viel versäumt. Eine kleine Seele war wacher geworden. Er vermißte die süße Hilflosigkeit, das Händchen, das in die Luft langte, wenn das Kind sich nicht gut forthelfen konnte, als wären überall hilfreiche Hände um es her. Es war etwas Aufrechtes in sein trautes Kind gekommen, schon hatte es allein gestanden unter 18 Fremden, hatte seine Erlebnisse gehabt, die er nicht kannte, Fremde hatten es getröstet, wenn es weinte.
Wie er forschend und wehmütig in das sich entfaltende Gesichtchen blickte und nach den Zügen suchte, die ihm hier wieder aufblühen sollten, sah er das zarte Gesicht sich wunderlich verdunkeln. Das Kind schlang die Ärmchen um seinen Hals und rief fast heftig: »Lach!«
Ja – und er lächelte es an und spürte das Wesen seiner Liebsten und das eigene. Der seltsame Ernst, der wie Dämmerung über das Kindergesicht gezogen war, hatte er nie auf dem lebendig heiteren Gesicht der Geliebten gesehen; auch nicht die Heftigkeit des Ausdrucks, mit dem es nach Heiterkeit verlangte.
Da war etwas in seinem Kinde geworden, was er noch nicht gekannt, etwas, das ihm selbst wohl zugehörte und das er mit Sorge empfand.
Und nun kam eine Zeit, wie er sie sich, nach allen Erfahrungen, kaum hätte vorstellen können, sorglos, tätig, unter froher Jugend. Der Verkehr mit den Lehrern der Anstalt kameradschaftlich frei. Über allen, über jung und alt im Hause, lag etwas wie eine Errungenschaft, deren sie sich freuten. Sie hatten das Gefühl, als wären sie einen Schritt vorwärts gekommen oder als wären sie einem bösen Zwang oder einer drückenden Feindschaft und Last entronnen. Es herrschte ein freimütiges Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern. Eine Qual, die sonst die 19 Schulräume erfüllte wie etwas Giftiges, war hier nicht zu spüren, die Qual, die auf den Gedanken bringen konnte, daß jene Kraft, die in früheren Jahrhunderten sich zum Henkerdienste drängte, jetzt sich zum Lehramt hingezogen fühlte, Macht und Unmacht brauchte, um wohlauf zu sein.
Es ließ sich hier leben. Werdendes, ohne Bosheit und Hast ist gut.
Das Kind Dorettchen lief unter Buben mit dahin, wurde von ihnen behandelt wie ein kleines Tier. Sie spielten mit ihm, bemutterten und neckten es, wie sie es mit einem jungen Hündchen getan hätten, und es lachte, freute sich und war drollig.
Friedrich Thon fühlte sich beruhigter, seine Gesundheit schien sich zu heben, und es vergingen ein paar gute Jahre friedlich und tätig in ländlicher Freiheit.
Da brach das Krankhafte deutlicher in ihm hervor. Ein Lungenleiden hatte ihn schon vor Jahren mit Bangigkeit erfüllt, das jetzt unabweisbar sich in sein Bewußtsein drängte, daß er es sich nicht mehr verschweigen konnte, das plötzlich an Deutlichkeit zunahm und ihn zwang, seine Tätigkeit seinetwegen und des Kindes wegen wieder aufzugeben, ehe man es ihm nahegelegt hatte.
Wir finden ihn als Kranken, in enger Behausung, in einer thüringischen mittelgroßen Stadt, in der er 20 Büroarbeit bei einem Anwalt gefunden hat und nebenbei Heimarbeit an der Schreibmaschine, allerhand Möglichkeiten.
Die Stadt noch kein Wimmelhaufen Zusammengepferchter. Freie Luft dringt noch in die Gassen und Straßen. Das Menschenunwürdige großer Städte empfindet man hier nicht, den Zellenstaat, den Untergang des einzelnen, die schauerliche Masse, das Meer Gequälter Betäubter, Hinrollender, Gehetzter.
Ein stiller großer Park, von überall leicht erreichbar – keine wüsten Vorstädte, die wie ein fressender Ausschlag in die freie Natur eindringen, sie zu versteinen, vom Lebensdrang auszuschließen.
Und in diesem stillen Park, an einem Sommerdämmerabend, geht Friedrich Thon mit Dorettchen, dem Kinde.
Wer ihnen begegnet, schaut den beiden nach. Ein Kranker – das hölzerne Gestell, zu dem der Körper Schwerlungenkranker wird, der hölzerne Gang, das hölzerne Bewegen. Daneben ein schlankes, blühendes Kind – ein Kind wie ein Rosenbusch in Rosenpracht leuchtend. Dorettchen ist etwa zehn Jahre alt.
Ein junges Paar geht an ihnen vorüber. »Leben und Tod,« sagt die Frau leise und hängt sich fest an ihren Begleiter ein.
Es ist aber, als ginge das Leben gern und fröhlich mit dem Tod, denn das Kind lacht und schwätzt.
»Erzähl mir von Mutti,« sagt Dorettchen.
21 »Von Mutti? – Ja – ja –.« Eine heisere matte Stimme. »Was soll ich dir erzählen? Daß sie sich aus meinem alten Talar ein Regenmäntelchen machen ließ, das habe ich dir schon so oft erzählt, und die schwarze Priesterkappe hatte sie sich auch zurechtgestutzt – und wie sie auf ihrem Rad dahinfährt, denk ich: das geht aber nicht!«
»Sie hatte ein Rad –!« sagte das Kind. Das sagte es immer an dieser Stelle.
»Und wie sie fuhr! Aber im Pastorenregenmäntelchen, in der Pastorenkappe, das ging doch nicht! Und ich rief. Sie lachte: ›aber Peterle!‹ Du weißt doch, daß sie mich so nannte.«
»Ja, ja!« flüsterte das Kind wie liebkosend und schmiegte seinen Kopf an den Arm des Vaters. »Zu süß – Peterle! Ach, ich möchte dich auch Peterle nennen – Peterle!«
»Ja, weißt du noch – und da drehte sie mit ihrem Rad um, etwa so wie eine Libelle fliegt, steigt ab, fällt mir um den Hals und ruft: ›Du meinst wohl, die Bauern mögen's nicht! O je! Die mögen's wohl – und wie! Da kommt 's Pasterchen, so was, ne, gucke, e Regenmäntelchen hat se sich aus'n Paster gemacht – ne, ne! rufen sie, und wo ich fahr, grüßt alles und lacht alles, die Burschen, die Weiber, die Kinder, da brauchst du keine Angst zu haben. Die Bauern verstehn mich gut, die wissen wie sie mit mir dran sind.‹«
22 Da mußte er husten.
Das Kind hielt ihn schirmend und teilnehmend und nur für ihn bedacht. Und sie ließen sich auf einer Bank nieder.
»Da bleiben wir, bis du dich wieder erholt hast. Rasch wird dir's ja immer wieder gut.«
»Ja freilich,« sagte er.
»Und wenn dir's wieder gut ist, erzählst du mir was Neues, was ich noch nie hörte – alles von Mutti versteh ich – alles und auch von dir natürlich –, aber weißt du, Mutti ist mehr für Kinder, da fühlt sich ein Kind, als wenn es in sein Bettchen geht, so hübsch müde und zu Haus.« Er schaute auf das blühende Geschöpf. Ins Herz traf es ihn, wie es sagte: als wenn es in sein Bettchen geht. Armes Kind – wo sollst du hin mit deiner Zugehörigkeit, du einsames.
»Nun,« sagte das Kind, »ist dir's nun wieder wohl?«
»O ja.«
»Dann?«
»Ja, dann? – Etwas, was ich noch nie dir erzählt habe, sagst du? Ja, was denn?« Er schwieg. »Du wirst's schon verstehen,« sagte er nach einer Weile.
»Als Mutti und ich vom Pfarrer in der Kirche getraut waren, da fuhren wir in einem Wagen mit zwei Schimmeln. Mit zwei Schimmeln fahren die Brautleute von der Trauung, und wir fuhren zur Mutter von Mutti, die 23 wenn noch lebte! Da erwartete uns eine Hochzeitsgesellschaft und eine schöne Hochzeitstafel.«
»Was ist das?«
»Na – ein schön gedeckter Tisch mit Blumen und Wein und zwei Torten standen darauf. An dem sollte dann feierlich gegessen werden, Braten und Eingemachtes, Fisch und lauter gute Dinge.«
»Schön,« sagte das Kind und rückte zärtlich ganz nahe. »Das gefällt mir sehr.«
»Wie wir beide nun in dem Wagen mit den zwei Schimmeln durch die Straßen fuhren und mir es gar feierlich zumute war, denn von nun an gehörten die junge, junge Mutti und ich für immer zusammen, was man so für immer nennt, da war es mir, als müßte Mutti irgend etwas Liebes, Ernstes sagen, etwas von Freude – oder wie lieb sie mich hätte – so etwas; aber sie sagte nur immer: ›Guck, jetzt nickt die alte Soundso zu uns herein und lacht – und jetzt: – guck – das is unsere Bäckerin – und wart – gleich um die Ecke – guck – da wird der Krämer sein Kompliment machen. Die lauern alle schon.‹
»Immer wenn sie ›Guck‹ sagte, da stieß sie mich an. Und endlich frug ich, willst du mir nichts sagen, mein Liebling, was denkst du dir wohl?
»Da schaute sie mich an, und alles, was jung und froh und lustig ist unter dem Himmel, Vögel, frohe unschuldige junge Tiere und junge, junge Menschen –, das schaute 24 ihr aus den Augen, so daß ich erschrocken war, und sie rief: ›Trari, trara! – Halli, hallo!‹ Das war's, was sie mir zu sagen hatte.
»Und ich dummer Mann wollte etwas von ihr hören, wie ich es mir etwa zurechtgelegt, so etwas Spießiges – Althergebrachtes, jawohl! Ich schämte mich vor ihr.« Er war wie in Erinnerung versunken.
Da klang es an seiner Seite aufjauchzend: »Trari, trara! – Halli, hallo!« Aber ein Köpfchen legte sich an seine Brust, und er fühlte ein Schluchzen – ein heimwehvolles Schluchzen seines Kindes.
Aber das Kind schüttelte und rüttelte sich; da waren die Tränen verflogen, und »Trari, trara!« klang es wieder. »Schön,« sagte Dorettchen. »Aber kühl wird's, wir müssen heim, jetzt red nimmer.«
So gingen sie schweigend miteinander, jedes von ihnen seinen Gedanken nachhängend; in ihm Sorge sondergleichen.
Im Kinde klang es: »Trari, trara, halli, hallo!« Und die Lippen flüsterten es unhörbar, und es ging im Rhythmus von trari, trara, halli, hallo!
Daheim machte Dorettchen, ohne daß es ihr gewiesen wurde, ein kleines Sommerfeuer im Ofen. Der Kranke war müde geworden. Er saß auf seinem gewöhnlichen Platz vor der Schreibmaschine auf einem Lehnstuhl, der ihm ein ruhendes Zurücklegen erlaubte, wenn er von der Arbeit ermüdet war.
25 Das Kind hantierte im Zimmer still und traulich, ging leise ein und aus. Hin und wieder traf ein Blick den schweigenden, ermatteten Vater, ein Blick über die Jahre des Kindes hinaus, kameradschaftlich und voll Mitleid.
»Dorettchen,« sagte der Kranke, »komm einmal her – und setz dich, schau, ich habe da einen Brief.« Er kramte auf dem Tisch zwischen seinen Papieren. »Und der Brief geht dich an; weißt du, wir sind so zwei! – Da hab' ich mich umgetan bei Verwandten von Mutti. Ich wollte etwas erfahren, was vielleicht gut für dich ist: da hat es einmal einen alten Onkel in Muttis Familie gegeben, einen Kaufherrn in Bozen, der hatte elf Geschwister, Jungens und Mädchens, und die alle miteinander hat man die zwölf Apostel geheißen. Die haben in einem Haus gelebt, in dem ein katholischer Heiliger, der heilige Heinrich, vor langer, langer Zeit gestorben war, und die zwölf Apostel und ihre Eltern mögen sonderbare Leute gewesen sein. Sie waren gewohnt, daß alle, die an ihrem Hause vorübergehen, sich bekreuzigten und verbeugten, weil es ein heiliges Haus war, und das hat sie stolz gemacht und eigen. Die Menschen sind einmal so, auf alles mögliche, was sie ganz und gar nichts angeht, werden sie am allerersten stolz. Nun paß aber auf. Es wäre gar nicht so nötig gewesen, daß gerade diese Leute zwölf Apostel haben mußten, denn es ging ihnen außer, daß man sich vor ihrem Hause verbeugte und bekreuzigte, recht 26 kärglich. Die zwölf Apostel mußten sich in der Welt durchschlagen, was es Beschwerliches gab, das mußten sie ergreifen, denn zu etwas Einträglichem langte es nicht. Keiner konnte studieren, Herren konnten sie nicht werden, so anstellig und voll Witz und Humor sie auch waren, denn alle hatten etwas Besonderes an sich. Das kam, sagte man, weil man sich vor ihnen verbeugt und bekreuzigt hat. Aber einer von den Brüdern machte doch sein Glück, und zwar ein ausbündiges, wurde ein großer Handelsherr in Bozen, steinreich und blieb Junggeselle und konnte in Ruhe zusehen, wie seine Brüder und seine Schwestern, die Apostel, eine ganze Sintflut von Kindern bekamen, sagte Mutti, mit denen sie sich herumzerrten, von denen sie gewissermaßen bei lebendigem Leibe aufgefressen wurden.
Dem reichen Junggesellen, der sich in seinem Stand sehr wohlfühlte, kam das sonderbar vor, daß kluge, prächtige Menschen sich so eine Masse Volks auferlegten, mit dem sie nicht fertig werden konnten, bei dem besten Willen nicht, und das erbarmte den reichen Bruder, der seine Elfe liebte. Er sagte sich, ich schaue weit und breit, sehe sehr viel langweilige Leute, aber solche wie die meinen traf ich sonst nicht an.
Und so machte der reiche Handelsherr eine Stiftung für seine Verwandten, von denen damals schon manche zur Ruhe gegangen sein mochten, und die Nachkommen hatten sich in aller Welt zerstreut; aber ihrer waren immer noch 27 genug im Ländchen. Der alte Handelsherr besaß einen weitläufigen Edelsitz in der Nähe eines Südtiroler Städtchens und nannte ihn das Haus der zwölf Apostel, belehnte den Edelsitz reichlich und bis auf den heutigen Tag, trotzdem die Stiftung schon an die hundertundfünfzig Jahre besteht, ist sie noch eine gute und segensvolle Sache, und es finden sich noch immer Nachkommen der Zwölf, auch Mutti war eine Nachkommin, und von ihr hab ich die hübsche Geschichte. ›Armut ist dort kein Hindernis, im Gegenteil,‹ sagte sie immer.
»Aber das sind allerhand sonderbare Dinge. Der alte Handelsherr hat Formen vorgeschrieben, wie sie sich untereinander zu begrüßen haben, sie müssen bestimmte Feste miteinander feiern. Solcherlei Dinge.
»Das ist zu weitläufig jetzt, wenn ich dir das alles erzählen wollte – ein andermal. Aber in dem Briefe hier steht, daß wir beide in dem Hause der zwölf Apostel aufgenommen würden, wenn wir wollen. Denk dir, mitten zwischen herrlichen Bergen, Weinbergen, Obstanlagen, Feldern und Wiesen, unter blauem Himmel ohne lange Kälte. Arbeiten müssen alle, was sie können und imstande sind, um das Haus der zwölf Apostel mit zu erhalten.
»Ich zum Beispiel,« sagte der Kranke, »würde Schreibarbeit übernehmen.« Er war außer Atem, hatte sich zu sehr angestrengt, ein heftiger Hustenanfall erschütterte ihn.
28 Verschwiegen hatte er, daß von ihm und seiner Schreibarbeit nicht die Rede war. Nach seinem Tode aber konnte sein Kind Aufnahme in der Stiftung finden.
Das Kind aber saß still mit großen Augen, als wüßte es, was der Vater ihm schmerzvoll verschwieg.
Er nahm den Brief und sagte: »Siehst du, damit du weißt, wo er liegt; hier in dieses Schubfach lege ich ihn hinein, vor deinen Augen, vergiß das nicht.« Er reichte dem Kinde die Hand, um der Angelegenheit Weihe zu geben. Das Kind aber frug nicht und blieb still.
In dieser Nacht hörte es in seinem Stübchen, als spräche der Vater nebenan. Die Türe war geschlossen. – Ja, er sprach.
Das Kind schlief bei offenem Fenster. Die milde Sommernacht drang herein, leise stand es auf und schlich auf bloßen Füßchen, unhörbar wie ein Schatten, zur Tür, öffnete sie vorsichtig. Dunkel war es in beiden Stuben; aber das Kind kam wie aus großer Frische in eine gedrückte Dumpfheit. Hier war kein Fenster offen, und die leicht ermattende Lauheit des Sommerfeuerchens lag noch im Raum.
Dem Kind war es, als sähe es im Dunkeln den Vater im Bette sitzen oder knien.
Es hörte ihn halblaut, angstvoll, abgebrochen vor sich hinsprechen. Er rang nach Worten, hing sich wie in 29 Sturmesnot an ein erhaschtes Wort wie an ein Brett, das er in Nacht und Wogendrang verzweifelt griff, um sich daran zu klammern.
Die Stimme krank, blechern, wie zerbrochener Glockenklang.
»So wälze ich und wälze und wälze das Graueuhafte, das Leere. – Ich finde dich nicht!– Ich fühle dich nicht. – Auf der furchtbaren Welt nicht – auf der alles Nahrung ist. Mein Kind! – Mein Kind! – Mein Kind!« –
Der Schrei gedrückt, behutsam, um nicht zu wecken.
War das des guten Vaters Stimme, ihres Vaters Stimme? Schauervolles umgab das Kind.
Die fremde trostlose Stimme packte es wie mit Fäusten. Es kroch vor Grauen ganz in sich zusammen. Seine Beinchen trugen es nicht. Wie ein Hase kauerte es, und über es hin ging ein trauriges Meer, das sich aus einer anderen Seele ergoß, aus der Seele dessen, der dem Kinde alles auf Erden war.
Die Seelen in ihrer Not, in ihren Seligkeiten, sind größer und unermeßlicher als alle Meere und Himmel. Die Seele des Sterbenden war unmeßbar gottverlassen.
Der Vater sprach weiter: »Du hast mich im Finstern gelassen mein Lebtag – auch jetzt bleib' ich allein. – Schwer ist's, dich zu finden, Herr Gott!«
Da sank der Schatten matt in die Kissen zurück.
Und nahe ihm lag das weiße Bündel am Boden, ganz 30 aufgelöst in Liebe und Grauen, eine kleine Hasenseele, die zu dem Gottverlassenen wollte – und nicht konnte. Es konnte nicht aufstehen, es lag ohne Kräfte.
Jetzt aber stand das Kind doch auf und ging selbst als Opfer seiner Überwindung zum Vater.
»Vater,« sagte es leise und bebte – »Peterle – du bist nicht alleine – ich habe dich lieb! Halt dich nur fest an mir.«
Da hatte Gott dem Manne seinen stärksten Engel geschickt, den er hatte. Der Vater umschlang das Kind, ja – und hielt sich fest am Kind, als wüßte er, welch ein Wunder ihm geschah und wurde ruhig und zärtlich. In seinem müden Kopfe, in dem es sich gewälzt und gewälzt hatte, tauchten die heiligsten Worte auf, die je ein Mensch auf Erden für die tiefen göttlichen Geheimnisse gefunden.
Der nie Entsprossene,
Unausgesprochene,
Durch alle Himmel Gegossene.
Und es wurde stille im sterbenden Menschen. Er fand auch noch Schlaf in dieser Nacht.
Aber das Kind verläßt ihn nicht, es holt sich sein Deckchen und hockt sich auf des Vaters Lehnstuhl zurecht. Mut macht müde und auch die Kraft der Liebe, und so schliefen sie beide.
31 Am Morgen fand eine Frau, die mit im Hause wohnte und die kleine Hauswirtschaft besorgte, die beiden Schläfer, der eine war nicht zu erwecken – und der andere – wer hatte den Mut, das Kind zu wecken?
Die Frau nahm es ganz sachte auf ihren Arm und trug es in sein Stübchen auf sein Bett, blieb bei ihm bis es ganz wach wurde und die Schlaftrunkenheit langsam von ihm wich. Da sagte sie:
»Kind, dein Vater ist zu Gott gegangen.« Das Kind schaute, es verstand nicht, was die Frau meinte.
»Gegangen?« sagte es leise.
»Kind! Kind!« Da kam die Verlassenheit, das Unbegreifliche dahergestürmt. Es verbarg sein Gesicht im Kopfkissen, preßte es fest hinein, klammerte sich mit beiden Händchen an das, was sie gerade griffen und lag wie erstarrt.
So blieb es, ohne sich zu rühren. Und wieder ging ein dunkles Meer über das Kind hin. Früh bekam es vom Leben zu kosten.
Die einfachen Leute im Haus nahmen sich des Toten und des stillen, guten Kindes an. Es ging mit ihnen zum Begräbnis, tat alles, was sie wollten, saß bei ihnen im Wohnzimmer, weinte kaum, aber war wunderlich still.
Nach einigen Tagen schickten die Leute es wieder in die Schule.
Es fühlte sich in Einsamkeit gestoßen. Noch am selben 32 Tag geht es sehnsüchtig in dem stillen Park auf den Wegen, die es vor dem Tode des Vaters mit ihm gegangen war. – Ach, wenn es ihm begegnete!
Es setzt sich auf die Bank, auf der er so müde und krank gesessen hatte, und fast sieht es ihn körperlich. Seine Augen sind noch erfüllt von ihm. Erfüllt ist sein Herz von unerhörter Sehnsucht. Es denkt mit Furcht an jene allerletzte Nacht – und hört wieder die fremde, schauerliche Stimme; da will ihr das Bild des Vaters entschwinden. – Dann aber fühlt es sein zärtliches Streicheln und leises, zärtliches Sprechen – und gedankt hat er ihm so fremd – so fremd – so – so –
Da denkt es an die letzte Geschichte von Mutti, trali – trala.
Ja, und jetzt singt das Kind ängstlich und bebend: tra-li – tra-la, halli, hallo – kaum hörbar. Im Halse schnürt sich dabei etwas zusammen und in die Augen schießen die Tränen und bleiben darin stehen.
Und dann denkt es zum erstenmal wieder an den Brief, den der Vater in die Schublade gelegt hat.
So kam es, daß die freundlichen Leute im Haus den Brief bald in Händen hatten und daß diese den Brief weitergelangen ließen, bis an Ort und Stelle, wohin er gehörte – und dann – wie es so geht, kam notwendigerweise eins aus dem andern. 33