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Ein gutes Werk hatten die beiden Herren und Freunde getan. Der Kantioler und die Gerichtsperson, denn die Nachkommen des Herrn Kantioler wußten die Sommerfrisch' ihres Ahnen zu schätzen. In allen Zeitläuften gab es Hilfsbedürftige, die aus dem Hause des heiligen Heinrich stammten, vor dem man sich verneigt und bekreuzigt hatte, wodurch die zwölf Apostel, die aus diesem Hause alle miteinander gebürtig waren, ein etwas hochfahriges Wesen angenommen hatten und einigermaßen anders waren, wie ganz gewöhnliche Sterbliche, vor denen man sich nicht verneigt und bekreuzigt. Deshalb hatte auch der einzige, dessen Leben mit irdischen Gütern gesegnet war, sie mit seiner über alles geliebten Sommerfrisch' bedacht.
Den Bergwind, das seligmachende Sonnenlicht, hatte er schließlich nicht mit in seinen Erdunterschlupf nehmen können, auch nicht die farbenprächtigen Götter, Hirten und Göttinnen, so mochte es denn sein, daß die mit der Zeit verwässerten Tröpflein seines eigenen starken Blutes es sich da heroben wohl sein ließen, während er, der Herr Kantioler, mit gefalteten Händen in seinem Sarge lag.
44 Auch in unseren Tagen war Herrn Kantiolers Sommerfrisch' und Stiftung, das Haus der zwölf Apostel, wie er es nun einmal genannt hatte, von seinen Nachkommen ganz ordentlich besucht.
Ein prächtiger Verwalter, vorzüglicher Landwirt, stand dem Hause vor, direkter Abkomme der Kantioler, aber keiner, dem das Leben übel mitgespielt hatte, ein Mann, der sein Metier versteht und von Gerichts wegen für diesen schwierigen Posten vorgesehen worden war.
Ein Sommerabend – die Bogenfenster der Halle, die nach Süden blicken, stehen weit offen. Der Göttertanz an der gewölbten Decke ist verblaßt, angebräunt, die rosigen Busen und Beine der Göttinnen leuchten nicht mehr, auch die Gewänder nicht, die das Sturmwindchen lupft.
Die ganze Festhalle hat im Laufe langer Jahre und Zeiten ihre Feierlichkeit eingebüßt und ist ein Gebrauchsraum geworden. Man ist nicht mehr so festlich.
In vielen alten Edelsitzen, die jetzt von Bauern bewirtschaftet sind, ist diese schöne Freudenhalle, die sie fast alle haben, zum Geräteschuppen geworden. Der Mais hängt auf Stangen aufgereiht, gedörrtes Obst und auch allerlei Gerümpel wird dort aufbewahrt.
Im Hause der zwölf Apostel aber steht die uralte nußbaumne Tafel noch, verwetzt, angeschnitzelt von müßigen Händen, dunkel, fast schwarz, ein von Generationen 45 zerwürgter, felsenartiger Hausrat, der trotz allem blieb, was er einst war, als der bezopfte frohe Handelsherr hier an ihr mit seinen Freunden tafelte.
Heute sitzen seiner Geschwister Nachkommen wohl in der sechsten Generation, die das Schicksal hierher verweht hat und nehmen ihr Abendmahl ein.
Auf der Tafel ohne Tischtuch stehen zwei riesige verrußte Pfannen mit plentenem Mus auf Holzgestellen. Reichlich braune Butter ist über das Mus gegossen und vor jedem, ob Mann ob Weib, ein Viertele Wein in der Viertelestasche, ein schmales Glas, ein schlichter Teller. An den Plätzen aber, wo Kinder sitzen, statt des Weins Gläser mit Milch.
Der Verwalter und seine Frau präsidieren. Der Verwalter, ein mächtiger blonder Mann, die Frau hat etwas still klosterfrauliches, trotz der vier blühenden Kinder. Die zwei Mädel, die Gitschen, sitzen neben der Mutter, die Buben neben dem Vater, neben diesen ein freundlich blickendes Männchen aus Sachsen, spärlich in jeder Hinsicht, wenig Kopfhaar, wenig Gesicht, wenig Gestalt, dünne, zaghafte Hände. Das ist ein viel Umhergekommener und nirgends Durchgedrungener, ist ein stark mitgenommenes Tröpfel Blut, aber ein zweifellos echter Nachkomme der zwölf Apostel, denn damit verstand man keinen Spaß, echt waren sie hier alle.
Er beschäftigte sich Horoskope zu stellen, da er wenig 46 Glück im Leben gehabt, hatte er es mit dem Übersinnlichen versucht – und mit sonst noch allerhand Problemen, die im Reiche der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten lagen.
Neben ihm sitzt ein Schwesternpaar, Dada und Gaki. Dada, eine weiche ältliche Person, bescheiden in ihrer Haltung; Gaki robust, mit einer gewissen naiven Eleganz gekleidet. Dadas Kleidung aber ist durchaus nicht bemerkenswert. Niemand hat je einen Eindruck von dem gehabt, was ihre Körperlichkeit verhüllte. Die Verwalterskinder hatten das Schwesternpaar Dada und Gaki getauft.
Den Schwestern gegenüber ein Ehepärchen, auch ältlich. Sie sehen wie gealterte Kinder aus; feine Leutchen – sitzen beieinander wie zwei Vögel.
Neben diesen ein schopsiger Herr mit klugem und unregelmäßigem Gesicht.
Eine hochgewachsene, fast elegante Dame ist noch hervorzuheben, bemerkenswert, weil sie nicht, wie die übrigen, ganz und gar von der Stiftung abhängt, sondern eine kleine Pension bezieht als Beamtenwitwe, sie ist einigermaßen jugendlich. Der schopsige Herr nennt sie in seiner tiefsten Innerlichkeit: »Tomm's Luder«.
Sie ist sehr fein und von sich entzückt. Alte Weiberleut und alte Mander gibt es manche im Haus, die ganz in sich selbst verkrochen, wenig bedeuten und durch alle 47 Armuten des Lebens gegangen sind. Sie essen ihr plentenes Mus und blicken auf das Viertele mit Achtung und Wohlbehagen.
Drei noch kräftige, doch auch gealterte Männer, denen man Arbeit und Sonne, Wetter und Wind ansieht, sind unter des Verwalters Leitung eine gehörige Arbeitsstütze in Feld und Weingärten.
Außer diesen Familiengliedern, die an der Tafel sitzen, ist noch ein verwandtes, vornehmes Ehepaar im Hause, das für sich allein in seinen Zimmern speist. Baron und Baronin Wang. Sie werden im Hause die Majestäten genannt. Man hat ihnen Rechte eingeräumt wie niemanden sonst, solang das Stift auch besteht – und zwar fast ohne ihr Dazutun. Sie haben sich von den übrigen naturgemäß geschieden, wie sich Öl und Wasser scheidet und führen ein stilles, abgesondertes Leben.
Auf dem großen Gang, der zu den Zimmern der Verwandten führt, ist schon an ihren zwei Türen eine ehrfurchtgebietende Atmosphäre, ein Duft der Auserwählten, der durch die Ritzen dringt.
Ein Korbtischchen auf Rädern steht dort mit allerhand Teegeschirr und bedeckt mit einem schneeweißen Tülltuch, das eine schwarze Kante ziert. Das verhangene Tischchen gleicht einer Braut, und wenn die elegante Frau, die ihr schönes weißes Haar hoch frisiert trägt, mit gepflegten, ringgeschmückten Händen, das leichte Tischchen in 48 Bewegung setzt, um es ins Zimmer zu rollen, sie selbst in pfirsichfarbenem, seidenfaltigem Hauskleid, das ein ewiges Leben zu haben scheint, erstirbt jeder Vorübergehende, wird verlegen, fühlt sich hochgeehrt, wenn die Baronin freundlich grüßt.
Die Verwandten an der Tafel speisen, wie es in den Statuten verlangt wird, durchaus wohlanständig, nippen vorsichtig am Viertele, damit es lange vorhält; aber es ist heute abend stiller als sonst.
»Wann werden sie denn kommen?« sagt der schopsige Herr. »Zwei Verwandte auf einmal, an einem Tage – das wird in den Annalen des Hauses kaum dagewesen sein – und mit demselben Zuge.«
Der Verwalter schlägt mit dem Stiel des Muslöffels an sein Glas:
»Meinen verehrten Anverwandten, den Gestrengen« – hier wendet er sich lächelnd zu den alten Weiberleuten und Mandern – »und den Hochwohlgeborenen mache ich hiermit geziemend bekannt, was sie allerdings wohl bereits wissen werden: daß wir noch heute abend eine kleine Hoheit zu erwarten haben.«
Alle lächeln, wie schon Generationen bei solcher Gelegenheit gelächelt haben. Bei offiziellen Anreden wurde die vorgeschriebene Form auf das genaueste beibehalten, auch sonst bediente man sich ihrer oft. Die verarmten Blutstropfen fühlten sich durch die Anrede gehoben – wie die zwölf 49 Apostel vor den Verneigungen und den Bekreuzigungen, die ihrem Hause galten.
Der Verwalter schmunzelte; die Buben und Gitschen kicherten; die mütterliche Klosterfrau blickte sanft wie ein Heiligenbild auf ihre Hoheiten.
»Und damit nicht genug,« fährt der Verwalter fort, »wir erwarten auch noch einen Hochwohlgeborenen, wie ihr wißt, einen wirklichen Herrn Nepomuk Kantioler – Nepomuk auch noch – ganz benamst wie unser hochseliger Stifter und Ahne – einen Ehrenmann.«
Draußen vor der Halle hörte man jetzt allerhand. Eine Magd stürzte herein und rief: »Sie kommen!« Und an der Hand hielt sie das Kind Dorettchen.
»Ein Krischtkind!« rief sie. »Mei Liaber, so was Liabs!«
Und da stand das Kind hilflos vor der langen Tafel mit den vielen Leuten und sah in seinem Trauerkleid rührend und lieblich aus. Gleich hinter der Magd und dem Kinde trat eine Schwester ein, der das Kind auf der Reise anvertraut war und die es hierher gebracht.
Hinter dieser schwenkte eine höchst bewegliche Personage in die Halle. Zuerst wußte man kaum, weshalb solch mächtiges Bewegen, dann aber bemerkte man, daß der etwas korpulente, sehr brünette Herr nur ein Bein hatte und sich auf einem primitiven Stelzfuß und mit einem Stock großartig im Schwung hielt.
Er war mit seinem einen Bein wie beflügelt und mit 50 einem Arm vollführte er eine locker sitzende Geste der Begrüßung. Der Mann strömte Leben aus. »Ah, aha, die Verwandten!« rief er. Der Verwalter kam ihm entgegen und begrüßte ihn offiziell.
»Und eine kleine Beauté bringe ich sogleich mit ins Haus – wir haben die Reise miteinander gemacht! Weehste, mein Hochverehrter, so was bringt Glück!«
Der Verwalter stellte den Neuangekommenen den Verwandten vor und des Verwalters freundliche Klosterfrau nahm sich des armen Kindes und seiner Reisebegleiterin an.
So kam alles in Fluß.
Beiden Angekommenen wurde ein Teller Suppe gebracht und frisches Plentenmus. Der beflügelte Herr erhielt seinen Platz neben dem Mann mit dem unregelmäßigen klugen Gesicht, der seines Zeichens Architekt war, aber seiner Zeit so voraus oder hintennach, daß seine Mitmenschen oder Zeitgenossen für seine Art wenig Verständnis gehabt. Er trug den frischen Namen Hans Luft.
Sein störrisches Haar, seine feste Stumpfnase, der ganze Eigensinn seines Gesichts aber hätten ihm weit eher den Namen Hans Knorz einbringen müssen.
»Euer Hochwohlgeboren,« wendete er sich an den Angekommenen, der mit seinem Stelzfuß unter dem Tisch herumkratzte, um sich einige Behaglichkeit zu schaffen, »haben es auch so weit gebracht, hier unter lieben Verwandten zu landen?«
51 »Wieso, Euer Hochwohlgeboren? Wollen Sie mich frotzeln?« Ein paar braune, sonnige Augen blickten freundlich empört.
»Bewahre! Bemühen sich Euer Hochwohlgeboren nach dem Abendmahle an die Tafel dort!« Er wies auf die große Marmortafel, die des Junggesellen und Kaufherrn Statuten trug.
»Sofort! Sofort!« rief der soeben sich einigermaßen bequem Zurechtgerückte, kratzte wieder mit Stock und Stelzbein und schwang sich zur Tafel hin. Sein Kneifer, der ihm an einem breiten schwarzen Band hing, flog ihm, hast du nicht gesehen, wirst du sehen – auf die Nase. Er las – sah und hörte scheinbar nichts mehr – war ganz versunken. Mit einem Male aber ertönte ein so gewaltiges Lachen, ein solcher Ausdruck unaufhaltsamer Heiterkeit, daß all die verwässerten Tröpfle Blut der zwölf Apostel verwundert blickten.
»O Herrschaft, Herrschaft! Und da lebt ihr so dahin, stell ich mir vor, ihr Gestrengen –ihr Hochwohlgeborenen – sitzt vor eurem Musstampf. Wißt ihr's denn, begreift ihr's denn, was für ein großartiger Kerl euch hier für Jahrhunderte sein Haus geöffnet hat, sein Herz und seinen Geist?«
»Oho!« rief der Mann mit dem unregelmäßigen Gesicht. »Nur nicht übereilen, lieber Vetter, Ihr Stuhl ist noch nicht warm geworden –. Abwarten!«
52 Er fühlte auf den Stuhl. »Tatsächlich noch nicht ein Quentchen Wärme abgegeben.«
»Ich, ich – noch keine Wärme abgegeben?? Ich glühe – ich bin hingerissen – bin tatsächlich hier zu Hause, wie ich noch nirgends auf Erden zu Hause war, von meinem Ahnherrn, von meinem eigenen Fleisch und Blut, in meiner eigenen Wesensart begrüßt, von meinem eigenen Ich! – Die Statuten sind – sind – sind –«
Der Verwalter erhob sich, klopfte dem lebhaften Herrn auf die Schulter und sagte: »Mein lieber Freund Kantioler, beruhigen Sie sich! Nehmen Sie erst etwas zu Sich! Es muß allerdings ein außerordentlicher Herr gewesen sein – ohne Ihnen nahetreten zu wollen – unser verehrter Ahne.«
»Sell woll.«
»Sie, lieber Vetter, gebrauchen das Wort › allerdings‹? wie ich höre,« sagte der Angekommene ruhig. »Das sollten Sie nicht tun! – Eins der albernsten Worte unserer Sprache: – allerdings ist gar nichts –. Oder, sagen wir, eins der allerumfassendsten: – – Allerdings! – aller Dinge. – Aber das wollten Sie doch gar nicht sagen, lieber Vetter? – Verzeihen Sie.«
»Bitte, bitte –.« Der Verwalter schaute erstaunt, etwas verblüfft. Sowas? Solch einen Lärm, wie der Mann machte.
»Nun werde ich Wärme abgeben!« Damit setzte sich Herr Kantioler wieder auf seinem Stuhl zurecht. »O 53 Herrschaft – o Herrschaft!« Er mußte weit herumgekommen sein. Ein Bayer war er nicht, aber warf mit einem bayrischen Brocken um sich, sagte auch weehste – als käme er aus Berlin.
Und siehe da, er hielt sein schmales Gläschen, das in seiner großen, lebendigen Hand verschwand, liebevoll umspannt, als hielte er so die Wärme und Lebendigkeit des Lebens.
Als aber das Viertele sein letztes Tröpfchen abgegeben hatte, schaute er fragend sich selbst über die Schulter, als erwartete er den dienstbaren Geist, der nachfüllen sollte.
Sein Nachbar: »Ist nicht, verehrter Vetter – nequid nimis«. »Herrschaft! Herrschaft!«
Beruhigend und voll Mitgefühl legte Hans Luft seine Hand auf des Mannes Schulter.
»In Gottes Namen!« sagte dieser gefaßt.
Das Kind Dorettchen wurde von den Verwalterskindern stumm mit den Augen verschlungen.
Welch ein Ereignis!
»Tut sie nit so derglotzen,« mahnte der Verwalter.
Das Haus der zwölf Apostel war gut geführt. An diesem Abend konnte sich Herr Nepomuk Kantioler in seine wohlvorbereitete Stube zur Ruhe legen, doch tat er es erst zu später Stunde, streifte bis tief in die Nacht in der neuen Heimat lebhaft umher.
Das Kind Dorettchen wurde von Dada in Empfang 54 genommen, gehörte von jetzt an in die Obhut Dadas und Gakis, die in einem Häuschen nahe der in Gedanken versunkenen Kirche wohnten.
Als Dorettchen mit den beiden Schwestern durch den weiten, mauerumfriedeten Garten ging, war der Mond aufgegangen, und das Kind wandelte schlaftrunken und müde wie in tiefem Traum in ein geheimnisvolles Leben hinein.
*
Am anderen Morgen hatte Dorettchen eine Begegnung mit ihrem Reisebegleiter, und zwar vor der altersgrauen Kirche.
Dorettchen sah die ganze Herrlichkeit des Sonnenländchens vor sich ausgebreitet. Paradieseswonne, wohin sie schaute. Alles funkelte und lachte, der frische Bergwind spielte ihr im Haar. Da wurde ihr das Herz so schwer, kaum zu tragen. Das Kind schloß die Augen, wie um alles in sich selbst zu sehen, woran es dachte – und es sah den sterbenden Vater und war wieder in der Nacht im lauen Zimmer und hörte die zerschlagene Stimme. Der Sonnenglanz, der sie umgab, machte ihr Schrecken, Furcht und Sehnsucht.
»Komm einmal her, Kind!« rief eine frische, starke Stimme.
Sie sah den lebhaften Mann mit dem Stelzfuß und dem Krückstocke herumfuchteln und winken.
55 »Wollen mal um das alte Gemäuer gehen! weehste, Dorettchen, da is der Gedenkstein, hab' ich mir sagen lassen von dem alten, prächtigen Kerl, der uns hier einlud, hundertfünfzig Jahr nach seinem Tod! Das nenn ich mir Lebenskraft und ein ewiges Leben über den Tod hinaus!
»Jenes aber mit dem Viertele Wein, mein lieber Freund Kantioler, damit sind sie dir übers Maul gefahren! Sicher ist das nicht nach deinem Geschmack, wie ich dich kenne; aber in Gottes Namen, wie gesagt – da muß Abhilfe geschaffen werden!« Da lachte der frohe Mann. »Wird dir gleich sein, kleines Milchlamm! – Wart, da haben wir ihn schon!« Sie standen vor einem barocken Grabmal. »Kannst du lesen?«
»Ja,« sagte Dorettchen leise.
»Auch so ne Schnörkelschrift?«
»Das weiß ich nicht.«
Und langsam las das Kind, bedächtig, um nicht zu stolpern.
»Nimm deinen Gott, wo du ihn zu packen kriegst, mein Lieber – im Sonnenschein – in Lieb' – im Wein – im Sturm – in Not und Tod – in dir! Das sagt euch der Kantiolermensch – der allzu gern gelebet hat droben in seiner Sommerfrisch' – allwo er auch zur Ruhe geht.
»Am 20. Juni im Jahre des Heils 1752.«
»Herrschaft – ja zum Donnerwetter – Herrschaft, 56 da ist ja morgen sein Todestag! – Das war ein Mann – ich fühl's an mir! Kind, hübsch gelesen hast du's – merk dir's: ein armer Hund, der Gott nicht finden kann!«
Das schlug in das Herz des Kindes wie ein Schlag. Der Vater hatte gemurmelt in jener letzten Nacht – und was? Da hörte das Kind deutlich, als begänne der Vater mit seiner gebrochenen Stimme wieder zu sprechen: »Ich finde dich nicht, ich fühle dich nicht –.«
Das waren die Worte, die fast unbewußt im Herzen haften geblieben waren. Auch jetzt verstand sie sie nicht ganz, aber sie bohrten sich ein wie eine Schmach –: Ein armer Hund, ihr Vater! Das Kind schwankte; es war noch so müde von allem Weh – es hockte sich auf die Knie vor Müdigkeit, Ratlosigkeit und Schreck und lag wie ein Bündelchen vor dem Mann.
Der faßte nach ihm, klopfte es, wie er es mit einem Hündchen getan haben würde, dem er wohltun wollte.
»Na – na – na! Auch das schwarze Raupenkleidchen legt sich wieder ab – dann kommt ein Schmetterling hervor und flattert dahin. Ein dummer, alter Esel, der dich an ein Grab führte an solch einem Sonntagmorgen!
»He! He!« rief der Mann jetzt laut. »Hierher, ihr Lauser! Da – nehmt eure Kameradin!« Er hatte den Verwaltersbuben und Gitschen zugerufen, die gewiß eben auf der Suche nach dem neuen Kinde waren.
57 »Da nehmt sie zwischen euch und zeigt ihr eure Herrlichkeiten, glückselige Kreaturen!« Er blickte ihnen nach und sah das Kind Dorettchen folgsam gehen.
»Aber –,« sagte er und schaute wieder auf den Stein mit dem fröhlichen Bekenntnis, »in einem Viertele, wie sie hier sagen, hast du, Verehrtester, Gott nicht gefunden! – Das scheint mir ausgeschlossen – und das muß anders werden! Was hast du denn für Dotschen ausgebrütet, die sich das gefallen lassen! Trocken, wie die Säuglinge, haben deine Knechte und Rechtsverdreher deine Nachkommen gelegt! Und das hast du nicht gewollt, nicht wahr, Hochverehrtester?«
Da wendete der lebende Herr Kantioler der in Gedanken versunkenen Kirche mit ihrem Grabmal den Rücken und begegnete dem Verwalter.
»Hallo, mein Liaber!« rief der. »Da sind Sie ja zur rechten Zeit gekommen! Bitte, mit mir zu gehen! Es hätte ja schon gestern abend geschehen sollen – sell woll – aber ich denke – jawohl – darauf kommt's nicht an.«
Der Verwalter führte den neuen Verwandten, der hier Obdach und Nahrung suchte, in ein Wirtschaftsgebäude, auch wie aus Fels gehauen. Räume für Heu und Stroh, Geräte aller Art.
Der Verwalter öffnete ein Bogenpförtchen, eine eisenbeschlagene, feste Tür mit einem Schlüssel, der 58 Jahrhunderte gesehen, der durch unzählbare Hände gegangen – und sie standen in einem gewölbten Raum, in dem sie eine Reihe Särge sahen.
»Verzeih, Euer Hochwohlgeboren,« sagte der Verwalter und lachte trocken auf, »den alten Brauch! Ich habe Ihnen hier bei Ihrem Eintritt, wie es ja in den Statuten vorgeschrieben ist, Ihren Sarg mitsamt dem Sterbehemd zu überreichen.«
Der muntere Herr Kantioler hatte freilich gestern abend in den kurz gefaßten Statuten auf der Marmortafel etwas von Sarg gelesen – aber was hatte das zu bedeuten? Doch vor seinem eigenen Sarg und gar vor seinem Sterbehemd zu stehen, ist ganz etwas anderes, mei Liaber, würde der Verwalter sagen.
Und es war ganz was anderes. Herr Kantioler schien im ersten Augenblick durchaus unangenehm berührt. Gott im Himmel noch einmal! So, mitten aus dem Sonnenschein im Sommerländchen, in dieser Totengruft vor seinem Sarge stehen, auf dem ein weißes, sehr gestärktes langes Sterbekleid gebreitet lag, wie das Nachthemd zierlich und einladend auf dem Bette abends in guten Familien zu liegen pflegt.
Nein, das war stark! – So ein Kerl warst du, mein Freund! dachte Herr Kantioler. So ein Frotzler? – Wenn das nur nicht mit dem Viertele auch seine Richtigkeit hat!
59 »Morgen ist der Todestag unseres Stifters, da wird sich Euer Hochwohlgeboren wohl entschließen müssen, in diese hoffentlich passende Uniform sich zu kleiden und den ganzen Tag darin zu verbringen. Es ist schon angedeutet in den Statuten auf der Marmortafel, doch werde ich Euer Hochwohlgeboren weiteren Einblick in die ausführlichen Statuten nehmen lassen.«
Herr Kantioler schaute sonderbar.
Trotzdem ihn alles gestern abend so augenscheinlich begeistert hatte, erschienen ihm die Gebräuche, die sein Namensvetter über die Nachkommen verhängt hatte, etwas demütigend. Aber, mein Gott! Wer Dach und Fach auf Jahrhunderte an arme Teufel vergibt, kann sich schon etwas herausnehmen, wenn er dabei Laune, Witz und eine Vorstellung der Dinge hat – Sapperment, müßte ein Heiliger sein oder ein Schafskopf, wenn er nicht allerlei Unannehmlichkeiten an die Wohltat knüpfte. Macht unser Herrgott selbst so. Wird schon wissen, warum.
Der Verwalter betrachtete den Neuankömmling in seiner Verdutztheit mit einigem Humor. Es machte ihm Spaß, zu sehen, wie sich alle bei dieser Sache betrugen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen versenkt. Der Mann war ihm nicht unsympathisch.
»Wir kommen alle in dieser allerletzten Tracht morgen zu den Mahlzeiten, Euer Hochwohlgeboren.«
»Herrgott noch einmal, Herr Vetter! Lassen Sie doch 60 dies ›Euer Hochwohlgeboren‹ bei dieser fatalen Angelegenheit beiseite!«
»Geht nicht, Euer Hochwohlgeboren, die Überreichung des Sarges und die Einkleidung ist eine feierliche offizielle Handlung.«
»Also morgen, Euer Hochwohlgeboren, werden Sie die Honneurs machen?«
»Selbstverständlich.«
»Die Kinder aber sind doch nicht dabei? Das wäre für die kleine Beauté nichts.«
»Für die meinen auch nicht. Das wollte der Stifter auch nicht. Dachsbraten, wenn Sie kennen, sollte es zu dieser Feierlichkeit geben. Ist vorgeschrieben. Aber dies fette Wildbret ist im Laufe der Zeiten bei uns fast ausgerodet und wird es deshalb durch Reh- und Gamsfleisch meist ersetzt.«
»Das ist ein Wort, Euer Hochwohlgeboren,« sagte Herr Kantioler aufatmend. »Und wie steht es mit dem Viertele, wie man hier sagt?«
»Auch morgen zufriedenstellender – jawohl. Unser Stifter tat, was er konnte.«
Merkwürdig – der Verwalter sprach von dem seit unendlicher Zeit Vermoderten, als spräche er von einem Lebendigen.
Gedankenvoll machte sich, nach einem formvollen Abschied vom Verwalter, an dem beide mit Euer 61 Hochwohlgeboren nicht sparten, Herr Kantioler auf den Weg.
»Sie haben also,« sagte der Verwalter noch durchaus fachgemäß und offiziell, »hiermit von Ihrem Sarg Besitz ergriffen. Die Sterbepfoaten, das Sterbehemd wird Ihnen heute noch zugestellt.«
»Besten Dank, Euer Hochwohlgeboren!«
Währenddessen liefen die Kinder in alle Herrlichkeiten der Erde hinein, wie sie hier schöner, ja einziger als irgendwo sonst zu finden sind im Ländchen ohne Schattenseiten. In dem Nord und Süd sich zu einem so milden, fruchtbaren und schönheitsvollen Bund vereinigt haben. Kirschbäume voller süßer, dunkler Kirschen gab es hier zu dieser Jahreszeit, Bäume so groß und breit wie Eichen. In solch einem Baum hätte eine Heerschar genäschiger Kinder verschwinden können. Wie leicht hatten sich die fünf hinein verkrochen. Dem fremden Mädchen, der Gitsch, wie sie dort sagen, wurde kräftig nachgeholfen, und als Dorettchen da mitten in Laub und funkelnden Kirschen und funkelnden Sonnenlichtern saß, und war immer ans enge bange Stübchen seit Jahren gewöhnt, da schien ihr's, als wäre sie gestorben und mit einem Male ins Paradies gekommen, und wie sie die Handvoll Kirschen gepflückt hatte und die ersten geschluckt, sang sie leise wie ein junger Vogel: »Trari, trara – Halli – Hallo!«
62 Niemand hörte dies zarte Lebenszeichen. Sie waren alle ganz in Kirschenwut, und der älteste Bub schrie mit vollem Maul: »Fressen ischt mei Leibgericht!«
Das war so frisch, so voller Leben und Lust.
Dann gab's einen Weiher, der wie eine Heimat, still, sonnig und baumumstanden lag. Und Ställe gab's und warme duftende Tiere darin. Die Kinder durften schäumende Milch aus dem Kübel, in dem die Magd eben molk, trinken.
Am Todestag des Stifters wanderten die Kinder hinab ins Städtchen zur Schule und blieben dort den ganzen Tag, bis der Abend hereinbrach und sie heimgingen, um brav ins Bett zu kriechen. Die Verwalterskinder aber waren neugierig. Beim Lehrer war es nicht allzu vergnüglich gewesen, sie hatten alle über ihren Schulheften hocken müssen, und Dorettchen wurde einer Prüfung unterzogen, die sie bestand. Auf dem Heimweg erzählten sie Dorettchen, was alles sich droben im Hause der zwölf Apostel zutrug und was sie nicht sehen durften.
»Sie meinen,« sagte der Älteste zu Dorettchen, die zwischen ihm und der zehnjährigen Urschel ging, »wir wären so dumm und täten uns fürchten, wenn sie alle um den Tisch sitzen wie die Gespenster – gar nit – zum Lachen! Wir haben aber so unsere Plätz'! Da solltest du die Majestäten sehen, wie die zwei daherkommen – auch die müssen mit! Nobel. Und wie freundlich sie mit den Gestrengen sind, die 63 sich so sehr schämen, gerade die, die es am ersten angeht. Schau nur – auch du wirst lachen! wir machen uns alle mal aus den Betten wieder auf.«
Dorettchen wollte nicht. Die Verwalterskinder aber huschten gar bald durch Gänge und Kammern und guckten durch Schlüssellöcher und Türritzen. Auch aus dem Städtchen kamen manche zum alten Edelsitz gewandert. Das Tor aber blieb an diesem Tag verschlossen. Die Insassen wollten nicht zum Gespött werden. Aber man wußte schon allerlei Wege und Schlüpfe, wie man vom Treiben der lebendig Toten etwas gewahr werden konnte.
Der Mann mit dem straffen Haarschopf und der Mann mit dem Stelzfuß waren an der Tafel der Gespenster einander nähergekommen. Die Beamtenwitwe mit der kleinen Pension hatte sich in ihrem Sterbehemd besonders unwiderstehlich gefühlt und nicht gewußt, welche von ihren Nachbarn sie am meisten beglücken sollte.
Tomm's Luder! dachte der Mann mit dem Schopf. Sie hatte über allerhand gesprochen und über die ewige Seligkeit und hatte den Stifter gelobt, daß er so an das Seelenheil der Nachkommen gedacht hatte.
»Nicht im geringsten!« hatte ihr Nepomuk Kantioler geantwortet. »I wo, Rache! Konnte er nimmer dabei sein, mögt Ihr wenigstens es Euch leibhaftig vorstellen – und das vortreffliche Wildbret, der fette Dachs, der Erdenbraten, 64 der in der Erde wohnt, ist die rechte Speisung für uns. Ein sappermentscher Kerl, unser Ahne! Mir wie aus den Augen geschnitten, Euer Hochwohlgeboren.« Übrigens, es gab wirklich Dachs, und die beiden neubefreundeten Kumpane wußten sich vor Vergnügen nicht zu lassen und verzehrten ein Beträchtliches und tranken dazu und hatten eine Fünfliterflasche auf eine unbegreifliche, höchst geschickte Weise unter den Tisch eskamotiert, wetteiferten miteinander die schmalen Gläschen, die sie unentwegt in der Hand hielten, unter der Tischplatte neu zu füllen, dabei schnitten sie greuliche Gesichter und stießen gespensterhafte Laute aus, um besonders die hochgewachsene Witwe zu erschrecken, ihnen allen den Appetit zu verderben und sie möglichst zu beschäftigen.
Aber nicht nur die eroberungslustige Witwe – alle schauten auf die beiden Greulichen, die das Fest so nach allen Regeln der Kunst feierten. Der kleine Mann mit dem wenigen Haar, dem wenigen Gesicht und der windigen Gestalt hob sein schmales Gläschen. Wie es bei den beiden immer unaufhaltsamer in das Reich der Gespenster ging, fühlte auch er sich veranlaßt, denn er war Astrolog und allen Geheimnissen und Übersinnlichem zugewandt. »Sehen Sie,« sagte er, »da könnte ich Ihnen viel erzählen von Wiederverkörperung und so Dings. Gleich, als Sie gestern eintraten, Euer Hochwohlgeboren, da mußte ich bei mir selbst denken: Ei du! Der gleicht aber unserem Hochseligen 65 doch aufs Haar. Daß er nur ein Bein hat – freilich – aber sonst – sehen Sie sich das alte Bild in der Kirche von ihm an.«
»Ich hab' nicht immer nur ein Bein gehabt,« unterbrach Herr Kantioler.
»Hab' mich viel drum angenommen, alles 'rauszukriegen, was den Kaufherrn angeht – und Sie dürfen mir's nicht verübeln, wenn ich einen schönen Schreck gekriegt habe, wie Sie so daherkamen.«
»Oho!« rief Herr Kantioler, wurde aber von Baron Wang unterbrochen.
»Ich bitte Euer Hochwohlgeboren, den Scherz nicht zu weit zu treiben, es sind hier alte Leute, auf die man Rücksicht zu nehmen hat. Sie selbst werden gestehen müssen, daß die Anordnungen unseres Stifters etwas Groteskes haben und man lieber möglichst gemessen diese sonderbare Sache über sich ergehen lassen sollte.«
»O – bitte – bitte, natürlich! Aber finden Sie uns nicht durchaus gemessen? Sehen Sie sich selbst an und alle hier Sitzenden! Sie würden fast ohne Ausnahme wirklichen Toten alle Ehre machen. Der Kern der Dinge aber sollte Humor sein! Das heißt ein Darüberstehen, mit den Dingen dieser Welt spielen, wie unser Ahne es tat. Nun – und ich erlaube mir, etwas zu spielen, um mich nicht zu langweilen. Haben Sie was dagegen?«
»Durchaus nicht. Ich wollte nur meine Meinung und 66 Anschauung gesagt haben.« Damit ging der Baron gravitätisch zurück.
»Verdammter Spießer!« sagte Herr Kantioler. »Je vornehmer diese Spezies ist, je unleidiger ist sie. Haben Sie je einen Spießer mit Humor gesehen?« frägt er Hans Luft. »Nicht daß ich wüßte! Aber hat er einen, ist er keiner!« Auch Hans Luft hatte noch keinen gesehen. Das alles führte die beiden inniger zusammen. Sie machten wieder ihre greulichen Gesichter und schenkten sich unter der Tischplatte brav in die Gläschen. Des Verwalters lieblicher Klosterfrau wäre es auch angenehmer gewesen, die beiden hätten sich, wie alle anderen, geduldig in den Brauch gefügt und wären brav, still und ordentlich gewesen.
Der Verwalter aber hatte seinen Spaß daran. Auch an der wohlerhaltenen, hochgewachsenen Beamtenwitwe. Die alten Mander und Weiberleut aber taten ihm leid; die hatten alle bange, bedenkliche Gesichter. Und der dünne Mann hätte gern sein okkultes Wissen angebracht, fand aber wenig Anklang.
»Für die vortrefflichen Alten aber,« sagte Herr Kantioler, »ist die Sache gut. Ich, als Schauspieler weiß, was es mit Übungen und Proben auf sich hat.«
»Ja, ja,« meinte Hans Luft, der Architekt, der seiner Mitwelt nachhinkte oder vorauseilte, »Schauspieler – Schauspieler! – glaub's gern! – Verteufeltes 67 Temperament! – Und dann nicht seine vier Flossen beieinander haben, höchst fatal!«
Ein Schatten zog über Herrn Kantiolers Gesicht.
»Fatal? – verflucht!«
Aber noch war die Fünfliterflasche einigermaßen schwer, sie hielten sie abwechselnd. Ihre Zueinandergehörigkeit wuchs von Gläschen zu Gläschen. Sie wurden Freunde, Brüder, Gesinnungsgenossen. Sie kannten sich seit Jahrtausenden, Raum und Zeit schwand ihnen. Es war ihnen sehr wohl.
An den Schlüssellöchern und Türen glotzten die Verwalterskinder und konnten nicht genug bekommen. Jetzt löffelten die Glücklichen in der Halle Hollermännchensoße, über Schmarren gegossen. Der Kaufherr hatte es wahrlich verstanden, seinen lebendigen Toten den Tod zu versüßen. Und alle vergaßen mehr und mehr die Sterbehemden und fühlten sich äußerst behaglich, als wären sie große Asketen und tiefe Wisser des Lebens, Geweihte vieler Grade.
Der windige Mann mit dem wenigen Gesicht, brachte auch endlich sein okkultes Wissen bei der Beamtenwitwe an, und auch diese beiden fanden sich an diesem Abend.
»Hochinteressant!« rief die Witwe und schaute verschämt, denn sie fühlte in diesen mysteriösen, übersinnlichen Mitteilungen des Spärlichen irgend etwas, das sich mit ihrer Person, versteckt liebend, beschäftigte und sie lispelte 68 unhörbar, da es in ihr zu überwallend wurde, um sich nur in Gefühl zu äußern: »Auch der!«
Die Majestäten aber blieben kühl. Hin und wieder richteten sie ein Wort an die Gestrengen, herablassend, freundlich, wie an ihr Gesinde und diese erstarben in Ehrfurcht. Dies Spiel wiederholte sich des öfteren. Sie sahen gern Ersterben.
Und als sie gar beide ihre Gläschen hoben und mit den alten Mandern und Weiberleuten anstießen und die wackligen Kerlchen beiderlei Geschlechts sich in der Ehre sonnten und mit kleinen, verhutzelten Scherzen sich hervorwagten, zaghaft, holpernd und etwas meckernd – da kamen die beiden Gunstausteilenden sich wieder als Herren ihres Herrschaftssitzes, der ihnen verloren war, vor und fühlten sich wieder unter ihrer Dienerschaft und ihren Gutszugehörigen – und auch ihnen war es wohl in ihren Sterbehemden, wie es ja auch in der Ordnung ist.
In dieser Nacht machten sich die beiden neuen Freunde, Herr Kantioler und der Architekt, noch in vollem Ornat im Mondenschein unternehmend auf. Sie waren so des Lebens angefüllt, daß an eine gesittete Bettruhe nicht zu denken war und so stiegen sie höher und höher bergauf, in die monddurchschienene klare Nacht hinein. Wie er stieg mit seinem Stelzebein!
»Alle Achtung!« sagte Hans Luft.
»Große Geschichte. Ich durchdringe mit mir selbst das 69 bißchen Holz, soviel habe ich denn doch Kräfte des Lebens, – wär net übel!«
Das runde Jahr bewegt sich. Tag und Tag verstreicht; die Jahreszeiten machen das Leben im Hause reich. Die Alten gehen ihres Wegs, die Kinder wachsen heran, und die mit Kindern zu tun haben, der Verwalter und seine Frau, Gaki und Dada, bekommen von den Hoheiten einen Teil Frische, Übermut, Lebensunsinn und Überschwang, so im Vorüberrauschen angespritzt. Dorettchen und die Verwalterskinder sind miteinander zu einer Macht herangewachsen und noch einer gehört dazu, der Brudersohn des Lehrers im Städtchen, ein hagerer, langer Junge mit einer schwachen Stimme. Wie ein Enterich, sagen die Verwalterskinder. Der war aus Rom hierhergekommen. Vater und Mutter waren ihm gestorben, und der Bruder des Vaters hatte sich seiner angenommen.
Er ist älter als der älteste Sohn des Verwalters, zaghaft und still. Die Verwalterskinder handfest, tüchtig, greifen bei jeder Arbeit zu und bei jedem Vergnügen. Sie bringen etwas vor sich in Schule und Haus. Die Mädchen sind von der Mutter angestellt, die Buben vom Vater.
Der alte Hof ist ihr alles. Sie sind ein Teil von ihm – aber ebenso ein Teil der großen, weiten Natur, in die sie sich stürzen. Es ist eine festliche Natur, beglückend, 70 hinreißend, zu jeder Jahreszeit, die Natur, in der Walther von der Vogelweide seine tiefste Magie des Wortes fand. Im Worte unvergängliche Sonne, Vogelsang, Blütenduft, Gras und Blumen, junges Weib – Liebe, als hätte Gott gesprochen: Es werde Licht, und es ward Licht.
Was Wunder, daß das junge Volk im alten Edelsitz glücklich und sonnendurchdrungen in die Höhe wuchs. Dorettchen wurde ihrer Mutter und Namensschwester gleich, deren Erdenschönheit und Lebendigkeit noch durch das Grab drang, als ihr Geliebter unter den Sternen wie ihr am Herzen lag und nach ihrer Wesenheit verschmachtet war. Das Kind des armen, suchenden Emeritus und der frohen Frau war voller Übermut. Sah man sie unter anderem jungen Volk, mußte man spüren: Wie ist sie überschüttet von kindlicher Jugendpracht! In ihr liegt Leuchtkraft, die alle anderen alltäglich macht. Keins lacht wie sie, keins tobt wie sie, keins stößt solch glühende Schreie aus, keins aber kann so dunkel schauen – so als wäre alles verloren.
Dada wußte davon. Die weiche, zärtliche alte Jungfer hatte sich ganz in Liebe zu dem Kinde hingegeben, das ihr in die Arme gekommen war. Dada blühte auf, wurde Mutter, Weib, Liebende. Alles kam über sie, was in ihr unerwacht geschlafen hatte. Gaki war dem Kinde fremd geblieben. Die hatte sich schon eingerichtet, ohne die Ekstasen und Seligkeiten des Weibes ihr Leben ruhig zu beschließen. Sie hatte einen vorzüglichen Appetit, war immer 71 auf Ausschau, irgendeine Leckerei zu erlisten. In der Küche war sie mit tätig, erbeutete gern, liebte ein eingehendes Gespräch mit jedermann, besonders mit der Beamtenwitwe, wußte alles im Hause; und was etwa im Städtchen geschah, spürte sie auf – nichts blieb ihr verborgen, erstarb vor dem gräflichen Paar, zog sich mit einiger naiven Pracht an, war im Städtchen und in der Umgegend gern gesehen, hatte Neuigkeiten zu verteilen und ging wie auf Gleisen. Alles war bei ihr geordnet und immer bezog es sich auf ihre eigene Person.
Dada aber kannte die schweren Blicke ihres Kindes. –
So saßen Dada und Dorettchen an einem schönen Tag miteinander im hölzernen Vorbau ihres Häuschens, einer Art vorsintflutlicher Veranda. Es war sonnig – die goldene Stunde, bevor der Abend kam – und Dada freute sich, das Kind einmal ruhig bei sich zu haben. Da, vor ihren Augen, sprang eine lauernde Katze hervor, packte eine schwarze junge Amsel, die im Grase umhergehuscht war, – und fort damit. Die alten Vögel schrien auf, fremd und schauerlich, in höchster Not und flatterten wild, und das Kind schrie mit ihnen, verbarg sein Gesicht leidenschaftlich in Dadas Kleid, wühlte das Gesicht fester und fester ein, schluchzte und bebte an allen Gliedern.
»Kind! Kind!«
»Laß mich! – laß mich!«
Dada redete auf sie ein, aber bös rief das entsetzte 72 Geschöpf: »Sei still – oder ich schreie mich tot.« – »Du böses Kind,« sagte Dada hilflos, »was stellst du dich an? Das ist das Recht von Minemau. Das hat ihr Gott selbst ins Herz gelegt, wie uns auch. Es ist die Nahrung von Minemau.«
»Und den soll man lieben?« schluchzte Dorettchen außer sich.
»Hast du denn noch nie gedacht, daß auch wir alle froh sind, wenn wir Fleisch zu essen bekommen und Gott dafür danken?«
»Nein!« schrie das Kind wild. »Sei still! – Ich will nicht denken – niemals!«
Dann machte es sich los von Dada und lief fort. Wohin? dachte Dada. Ach, was in so einem Kinde alles steckt! So war ich nie, auch Gaki nicht, auch die Verwalterskinder sind anders.
Und in ihrer Ratlosigkeit erzählte Dada der Gaki, als die vom Städtchen heimkam mit einem Sack voll Neuigkeiten, was sie mit Dorettchen erlebt hatte.
»So'n Balg!« sagte Gaki, »hast du ihr ne tüchtige versetzt? So ein alberner Balg. Wer weiß, von was für dummen Leuten sie stammt – und wir müssen es ausbaden. Könnten's hier so gut haben, wenn der Ratz nicht wär!«
Da schwieg Dada.
Am Abend, als Dorettchen im Bett lag, trat sie 73 zaghaft zu ihr hin, sie fürchtete sich etwas vor ihrem Schatz, denn sie wußte nicht, was sie sagen sollte und mit was sie überhaupt anfangen sollte.
»Gitschele,« sagte sie leise. Das Kind hatte die Augen geschlossen, als sie Dada kommen hörte. »Wo bist du denn gewesen?«
»Irgendwo.«
Aber mit einem Male breitete sie die Arme weit aus und zog Dada nahe zu sich heran. »Dada, ich würde mir nicht nur zwölf Apostel nehmen. – Wenn er doch alles, alles, alles konnte, sagtest du doch – und auch in der Kinderlehre sagen sie's. Ich würde alles umzaubern. – Ich würde mich totzaubern. Wirklich, daß sie sich liebten! Nicht nur so sagen, was nicht ist und auch nicht sein kann – Und die Luft – die würde ich zur Nahrung machen – nicht nur zum Atmen. Der tut nichts weh, und die Fresserei hörte dann auf. – Wenn er sie einmal zum Atmen gemacht hat, weshalb nicht auch zum Essen?
»Ich kann doch niemand lieben, den ich fresse. Früchte ließ ich vielleicht – aber vielleicht auch nicht – Und, sag mir, ist's vielleicht doch ein bissel mit Gott so, wie mit dem Osterhasen und mit dem Christkind? Man sagt so, damit die Kinder sich nicht gar so sehr fürchten.«
Dada war außer sich. Aber ihre Liebe war größer wie ihr Schrecken.
»Ach, weißt du, das sind dumme Gedanken – und, ich 74 glaube, auch sehr sündhaft. Wenn du doch katholisch wärst, würdest du sie beichten müssen.«
Wieder begann das Kind zu schluchzen: »All die armen Hasen und Amseln und die armen Schweine tun mir so leid, auch die Menschen. Dir nicht, Dada?«
»Mir auch. Aber nicht so wie dir, weil ich glaube, daß wir dummen Menschen niemals begreifen werden, was Gott mit all dem will.«
»Aber wärst du nicht froh, wenn ich zaubern könnte?«
»Nein. So wie es ist, ist's gut. Wer weiß denn, was du zaubern würdest.«
»Ach, ich! ich – Ich würde alles lieben, lieben! Und nichts würde mehr gefressen – ich würde mich totlieben und totzaubern! – Totzaubern! Und Fleisch esse ich nie wieder,« sagte das Kind fest und kurz.
Dada hatte es oft schwer mit Dorettchen. Die kam mit allerlei Unsinnigkeiten, die Dada ganz fern lagen; aber weil Dada lieben gelernt hatte, lernte sie auch allerlei begreifen. Aber kein Fleisch essen aus Unsinn, wo jeder so froh war, wenn er ein Bröckchen zwischen die Zähne bekam – das verstand Dada nicht und sie ärgerte sich über ihr Kind, das von nun an bei den Mahlzeiten ihr Bröckchen gewöhnlich Dada auf den Teller legte.
Wer sich darüber freute, das war des Verwalters feine Klosterfrau, die Mutter der vier Kinder. Sie war aber im innersten Herzen eine Klosterfrau.
75 Die Verwalterskinder, die einfach schlicht hergestellte, gutartige Geschöpfe waren, ohne großen Aufwand gemacht, vielleicht weil ihre Mutter gern eine Klosterfrau geworden wäre – alles an ihnen war aber ordentlich, brav und fest – hatten eine selbstlose, ruhige Liebe für das strahlende Kind. Sie stritten sich, wer Dorettchen mit zu Bette bringen durfte. Der älteste Bub war davon ausgeschlossen, aber die beiden Gitschen und der kleine Maxel.
Wenn Dorettchen im Bett lag, bekam Maxel die Hemdhose zu tragen, Mariele das windige Kleidel und Urschel die Schuhe, gewöhnlich war an solchen Persönchen nur Hemdhose und das Fähnchen aufzubewahren. Genau so machten sie es am Morgen wieder. War Dorettchen gewaschen, erschien Maxel mit der Hemdhose, Mariele mit dem Kleid und nun konnte der Tag losgehen. Das Frühstück mit Dada und Gaki. Gaki hatte immer Marmelade und niemand bekam davon zu lecken. Sie aß diese Köstlichkeit ihrer Verdauung zulieb. Dada und Dorettchen hätten auch gern ihrer Verdauung etwas zuliebe getan, sie hatten aber nur eine ganz gewöhnliche. Gaki war durchaus für Dorettchen eine Respektsperson. Sie wußte auch, daß sie von Gaki »der Ratz« genannt wurde.
Der Weg zur Schule – immer eine Herrlichkeit. Morgenfrische, Morgenkälte, Morgennebel, was da gerade war, erschien unerhört schön und mächtig und man konnte umherrasen wie im ureigensten Element. Die 76 Verwalterskinder, alle vier, wären gewiß ruhiger, wenn auch fröhlich ihres Weges gegangen, aber mit Dorettchen gab's viele Erlebnisse, viel Geschrei und ausgiebigste Lustigkeit.
Am allerliebsten aber streifte sie mit Peter Faltingoyer, dem Lehrersneffen, umher. Nicht zu vergleichen war der mit dem großen Verwalterssohn, für den es Gefahr und Unmöglichkeiten nicht gab.
Faltingoyer Peter mit seiner klanglosen Stimme, seinem farblosen Gesicht, farblosen Haar, seinem Knochenbau, war wie in sich selbst verkrochen, als wenn er sein Leben ganz in sich behalten wollte und niemanden etwas davon zu geben gedächte. Mit Dorettchen, wenn er mit ihr allein war, wurde er gesprächig. Er war um einige Jahre älter wie sie und wußte allerlei zu sagen von Rom, seiner Heimat. Der Vater war Maler gewesen. Er wußte viel, und Dorettchen hörte ihm gern zu.
An einem Frühlingstage. Die Obstbäume begannen zu blühen, ein lebenstrunken machender, wundersam bitterer Duft, den alle Knospen ausströmten und besonders die gewaltigen Kirschenbäume, die schon in voller Blütenpracht standen wie weiße Wolken, die vom blauen Himmel herabgefallen waren auf die überselige Erde, die alle ihre Kräfte ausströmen ließ, ein stürmendes Meer voll jungen, ewigen Lebens.
Auf Gaki und Dadas vorweltlicher Veranda stand 77 Dorettchen und schaute in die große Herrlichkeit wie in etwas Selbstverständliches. Sie war in ihrer allerersten kindlichen Jugendkraft und Schönheit so ganz eins mit der ausbrechenden Frühlingsgewalt. Man fühlt sich nur ganz bewußt im Gegensatz, sonst ist man immer gern bereit, sich aufzulösen, einzufließen in das All, einzuschlafen. Die tiefsten Stunden des Lebens sind die der stillen Einswerdung, von denen unser Bewußtsein kaum weiß.
Diese schöne Stille wurde von einer vertrockneten, alten Stimme zerrissen. Vor den Stufen, die zur Veranda heraufführten, stand ein Bettler, der Urbegriff eines Bettlers – trug die Lumpen aller Armut, die je über die Erde gegangen war – hatte auch das ganz verwitterte Gesicht der alten Bettler und Umhergetriebenen, der Unversorgten und Ausgestoßenen.
Dorettchen fürchtete sich, als sie den Menschen in der hellen Sonne stehen sah. Der streckte die Hand bittend aus: »Vergelt's Gott in Himmel aum, in Himmel aum – in Himmel aum.«
Da lief das junge Geschöpf ins Haus in Schreck und Mitleid, um etwas zu finden, was sie geben konnte und kam mit einem kleinen Brot und einem Stückchen Zucker wieder, reichte es dem Bettler.
»Gell ja! Gitsch, du liabe – a Zuckerl!« Ein Lächeln kam über das alte Gesicht, ein armseliges Lächeln, als bedeute das Stückchen Zucker ihm etwas.
78 »Gell ja!«
Es war, als wagte er nicht nach dem Stück Zucker zu greifen.
»Dös is eppa mei Sach nöt – wia – gar soviel unfein ischt's, das weiße Stückel, in der schmutzgn Knorre.
»So alloanig is's hart – koa Hoamatel, gell ja. Dös war eppa dein Sach a nöt, Gitschele?
»Un alt wia a Strunk – un alloanig sterben, mei Liabe – in a Stall – in a Loch – wo's ischt!«
Der Alte schaute wie in sich selbst hinein und sah sein ganzes Elend. Und die Herrlichkeit um sich her – Und blickte auf das schöne leuchtende Geschöpf vor sich, an dem kein Untätchen war – und er vom Leben verwest.
Da sah er sich in seiner ganzen Häßlichkeit, Verkommenheit und Ausgestoßenheit. Auf seinem armseligen Gesicht lag tiefe Scham des Elends – und in ihm stieg eine Sehnsucht nach dem Zucker des Lebens auf, nach Teilhaftigkeit an der Schönheit des jungen Geschöpfes vor ihm, als wollte er rufen wie der Mann in der Bibel: »Ich lasse dich nicht – Du segnest mich denn!«
Und er erhob die zusammengelegten Hände bittend, wie die Kinder und alten Bettlersleute tun.
»Vergun ma in Himmelsgarten, Gitschele – und graus die nöt – un gib dem Alten a Busserl, daß er vorm Himmelsvater oamal hintreten kann mit eppas Guatem zum Herzeigen!«
79 Wohl grauste es ihr, aber wie der Alte, so ganz entlaubt von aller Menschenpracht und Erdenschönheit, bettelarm, gebückt und elend vor ihr stand, da legte sie den Arm ihm voll Mitleid um den Hals und gab ihm den Kuß, um den er gebeten hatte. Und wie sie den Arm wieder von ihm löste, sah sie in ein seliges Gesicht – ganz überflutet wie vom Glück.
»Vergelt's Gott in Himmel aum, in Himmel aum – in Himmel aum! Nun stirb i in a jedem Loch und Stall, wie's Gott von mir will. Gar soviel unfein ischt's nimmer. Vergelt's Gott in Himmel aum, Gitschele, mei Gitschele!« Und er streckte die Hand nach dem Stückchen Zucker aus, das das Mädchen noch immer hielt.
»Dös gib mir mit! Jo, dös gefreit mi jetzt, dös behalt' i mi af, wenn der Himmelsvater kimmt und mi ruaft, nache nimm i's ins Maul!«
Dorettchen sah den Alten wie mit neuen Kräften sich aufmachen und hörte ihn brummelnd gehen. Er rückte sich den Bettelsack zurecht – brummelte, brummelte – brummelte: »Vergelt's Gott, Gitschele – dös glab' i –. Jetzt ziag' i durch die Rosenlauben.« So stand Dorettchen mit einem Male vor Geheimnissen ihres Wesens. Wie kam das? Wie war das? Und in ihr selbst solch eine Glückseligkeit!
Da ging er hin, der Alte, Grauslige – und ging wie neu, und sie hatte noch das Gebrumme gehört, der zog jetzt 80 durch seine Rosenlauben! – Sie aber auch. Von ihr kam das, daß er so glückselig wurde.
Da machte sie sich auf die Beine und lief und lief, flog vor innerlichster Freude, rannte an zwei Schatten, die sie nicht sah, vorüber, die nahe an den Stufen standen, über die sie sprang – und fort und fort. Das Herz schlug ihr wie in starker Seligkeit.
Das war ein herrlicher Lauf!
Und jetzt stand sie vor dem baumumstandenen Weiher, dem Weiher, der wie eine Heimat so still und sonnig lag – blieb stehen und schaute – und schaute – zuerst wie ermattet, außer Atem. Sie blickte ins Wasser, da war es aber nicht mehr stilles Wasser – Himmelsabgrund! Da blickte sie in einen Abgrund, von dem sie nichts wußte, in einen blauen ewigen Abgrund, über den schneeweiße Wolken zogen und Bäume hineinragten – Erdenbilder. Aber ungeheuer tat sich der Abgrund vor ihr auf, endlos, unfaßbar, fremd, als blickte sie in die Ewigkeit und in die ewigen Geheimnisse, mitten im trauten Leben, Schauer überflogen sie. Sie fühlte, daß sie müde war und nicht mehr schauen konnte, legte sich hin am Ufer des Weihers unter die knospenden Bäume und schlief ein wie ein müdes, junges Tier.
Die zwei Schatten, an denen Dorettchen vorbeigerannt war, hatten auch ihre Wunder erlebt.
»Euer Hochwohlgeboren,« sagte der eine, als sie mit 81 einander das wunderliche Liebesspiel zufällig belauschten, den Bettler brummelnd durch seine Rosenlauben hatten ziehen sehen und das mitleidige, selige Kind an ihnen vorübergesprungen war. »Euer Hochwohlgeboren, wenn das nicht die entzückendste Gralsschüssel ist, will ich ein verrosteter alter Nagel sein!«
»Wieso Gralsschüssel?«
»Einfach Gralsschüssel – ganz selbstverständlich: Frau, Frauenzimmer, Mägdlein, Gitsch, Dirn, Dirne, Weib, Urschel, Schlampe usw. usw. in die Unendlichkeit. Der Einfachheit halber für das ganze unsinnige Durcheinander ein Wort, eben Gralsschüssel! Eine ganze Gruppe von meinesgleichen ist schließlich auf diese Zusammenfassung gekommen, der Einfachheit halber.«
»Gralsschüssel?« wiederholte der Mann mit dem Stelzfuß krittlig, und fuchtelte mit dem Stock in der Luft.
»Süßeste Beauté – sag ich! – (Herrschaft, der verfluchte Bettler, so ein Tausendsapperlotter, dieses Scheusal!) Wir haben gewissermaßen die Geburt der Beauté gesehen, ihre Weibgeburt! – Oho, da heißt's auf dem Damm sein! Dieses Wesen braucht Väter!«
Damit gingen sie miteinander ihres Weges gehobenster Stimmung.
Nepomuk Kantiolers Natur aber schlug Wellen.
»Schöpferische, urgewaltige, ewige Gegensätze – ihr Welterhalter!« er kam in sein schönstes Pathos und 82 schwamm darin wie ein großer Fisch. »Jugend und Alter – arm und reich – Tod und Leben, groß und klein – versucht es nur, sie aufzulösen, flachzutrampeln – das ewige Nichts bleibt euch! –
»Hier war Jugend und Alter! bettelarm und überreich, kratzt von Jugend ab, werft's doch aufs Alter! Macht hoch flacher und niedrig höher! – Versucht's doch! O Herrschaft – leeres Nichts, Zerfall und Trümmer!
»Ein Hoch der Jugend! Hoch dem Alter! Hoch dem Reichtum aller Art! Hoch der Armut! Hoch dem Leben, hoch dem Tode!
»Aus den Gegensätzen quillt das gewaltige Leben mit allen tiefen, göttlichen Geheimnissen. Schnitzelt daran herum, Dilettanten des Lebens, die ihr ohne Ehrfurcht seid!«
Hans Luft ließ seinen Kumpan nach Gefallen toben. Er dachte: Sein zweites Bein spukt in ihm! Die Kräfte, die dieses Bein sonst selbst verbrauchte. Er ist gewissermaßen der Erbe seines Beines und schwelgt in dieser Erbschaft. Man muß ihn gewähren lassen!
Sie stiegen miteinander hinauf zum Johannser Bauern. Da konnten sie eines Frühschoppens gewiß sein. Derselbe Johannser Bauernhof, zu dem schon der Stifter des Hauses zu den zwölf Aposteln selig gestiegen war, in die klare Luft hinein und zu dem, den Statuten nach, seine Nachkommen »zum Nuian« pilgern sollten und sitzen in der engen Felsenbergbauernstube aneinandergedrängt, 83 wie die Erbsen in der Schote, den Haufen Käschten zu knuspern und die Käschtenschalen unter dem Tisch zu zertrampeln.
Heut aber war es Frühling. Die Weinreben waren noch fast kahl, trieben die ersten Augen.
Doch der heutige Johannser Bauer, der in die uralte, ganz zu Fels gewordene Bauernausternschale gekrochen war und für den »Nuian« lebte und starb, wie seine Vorfahren, hatte für die zwei aus dem Hause der zwölf Apostel immer einige Schoppen bereit.
Die beiden waren zwei Mander, die ihm behagten, Hans Luft, der Architekt, wurde da oben oft Maurermeister und Maurer, band eine Schürze vor und besserte am alten Steinnest, da war ihm keine Arbeit zu gering. Und der Schauspieler half mit, und abends baute der den weltfernen Bauersleuten eine Welt auf.
Er deklamierte ihnen ganze Stellen aus Shakespeare und fand frohe Zuhörer. Die große, gewaltige Menschnatur drang bei den Leuten vom hohen Berg ein wie ein Gewitter, wie ein Sturm, für den sie auch ihre Furcht und Ehrfurcht hatten. Und der tolle, tiefe Humor war ihnen auch recht.
So verdienten sich die beiden so manches Liter guten Tirolers, auch auf anderen Berghöfen, denn wie der Ahne, konnten sie unmöglich ihren Gott im Viertele finden.
84 Junges Volk zieht hinauf in die Berge; sie wollen auf halber Höhe Feuer brennen und sich austoben. Es ist Herbst. Die Kastanienbäume tragen die goldbraunen Königskleider, die jetzt schon im Dämmerschein verblassen.
Das junge Volk steigt und lacht, sie steigen ohne Schwere, wie Rehe. Jeder dudelt vor sich hin. Der Mond geht auf, schauervoll groß und glanzreich. Geisterhaft berührt, schweigen und schauen sie, stehen im Bann der fremden Welt, die sich aus den Bergen so gewaltig erhoben hat und sie anstarrt.
Auf unermeßliche Ewigkeitszahlen aufblühender Jugenden hat die Mondwelt schon gestarrt, hat sie erschauern lassen und mit geisterhaftem Halbschein erschreckt, berückt, mit Traum und Sehnsucht übergossen.
Doch ist Jugend stärker, feuriger, froher, als die kalte Mondwelt. Die kann ihnen nichts anhaben in ihrer runden Klotzigkeit, in der sie aufgehend antritt, im Halbschein, fast rot, bis sie mehr und mehr sich hebend zu Licht wird.
Wie das junge Volk beim Johannser Bauern vorübergeht, an dem uralten niederen Haus mit seiner wie in Fels gehauenen Bergbauernstube, hören sie es darin summen wie in einem Bienenstock.
Urschel sagt: »Do sans luschti, mei Liaber, un i moan i hör' n Kantioler. Da sitzt a ganzer Larm Mandersleut drin.«
85 Die Verwalterskinder schauen durch die winzigen Fenster, deren Läden nicht größer sind wie große Pfefferkuchenscheiben.
Seit des alten Ahnherrn Kantiolers Zeit mag sich hier nicht viel verändert haben, das zu Fels gewordene Haus, die Weinberge, der Blick auf das alte Städtchen, die ewigen Berge, die im Sonnenglanz leuchten und schimmern, steil und schroff aufsteigen, abwehrend wie stolze, einsame Menschen, doch mitten in ihrer Steilheit grüne Matten bergen mit farbenfrohen Blumen übersät, duftige Täler, Abhänge rot übergossen von Alpenrosen, wie stolze, einsame Menschen ihre blühenden Seligkeiten mitten in ihrer Unnahbarkeit hüten.
Und nachts sind die Berge bös und geheimnisvoll wie dunkle Menschen; da will man heim.
Heute aber, als die Mondwelt zu Licht geworden, wogen die Berge im durchsichtigen Schein, wie eine überselige Seele, die Erde und Himmel umfaßt, aufgelöst ist in Schönheit und Licht.
Und in solcher unirdischen Herrlichkeit zieht das junge Volk dahin, dudelnd, singend und leicht wie Rehe.
Peter Faltingoyer und Friedel, der älteste Verwalterssohn, laufen voraus zum Waldrand. Da haben sie schon gestern Holz geschichtet, um ein Freudenfeuer zu brennen – und nun lodert's auf, eine rote Flammenzunge züngelt fast düster in die blaue Lichtwelt hinein.
86 Ein Jauchzen der Mädchen, Dorettchen schreit hellauf – und nun stehen sie alle beieinander und schauen.
Dorettchens und des jungen Peter Faltingoyers Hände fassen sich unbewußt. In Flammen schauen hat Entrückendes, Traumhaftes – es ist schön, sich aneinander zu halten.
Hoch über dem Feuer spitzt im mächtigen Drange eine neue, fliegende Flamme hervor, die sich losreißt und verschwindet auf eigene Hand, wie ohne Verbindung mit der Feuerglut.
Das ist des Freudenfeuers höchster Augenblick – da rast es gen Himmel, schickt Flammenboten und Funken über sich selbst hinaus. Die jungen Herzen jubeln bei solchem Anblick, werden Feuerverwandte, Sehnsüchtige, die über sich selbst hinausgehen. So ist ihr Weg, ihr Ziel, ihr innerster Wille, den sie in sich tragen, ohne es zu wissen.
Den kräftevollen Friedel, des Verwalters Sohn, packt es. Er reißt Dorettchen an sich. Die dünnknochige Hand Faltingoyers faßt nicht stark, behutsam zart. Dorettchens Hand lag in der seinen wie ein kleiner Vogel. Friedel hat nicht gemerkt, daß sich die beiden hielten. Ein Ruck und der Vogel ist fort.
Friedel, der frische Bursche, faßt Dorettchen im Kraftgefühl, zieht sie mit sich.
»Springen wir, mei Gitschele!« Und sie springen durch die Feuersglut, Funken stieben. Der starke Bursche hält 87 das junge Geschöpf stark und sicher und sie fliegt durch Feuersglut. – Der Atem steht. – Ungeheuer ist's, was ihr geschieht! Im Feuer, durch das furchtbarste Element – und hindurch – und wieder auf festem Boden in kühler, klarer Luft! Da stürzt sie, noch wie ohne Halt, schwindelnd vom Flug, ganz aufgelöst zu ihrem guten Freund, schreit selig und erregt ihren wilden Schrei, und ihre Hand liegt wieder wie ein Vogel in Faltingoyers dünnknochiger Hand und fühlt sich behutsam umschlossen.
Er hat während ihres Fluges Wundersames erlebt, ihre Schönheit gesehen, wie eine Vision – diese Schönheit, die ihn schon beim Kinde bewegte und entzückte. Er hat sie gesehen wie in der Vision eines großen Schmerzes – fern, ihm entrückt, als wär sie ihm gestorben, und spürte, daß er sie in sich trug wie einen ewigen Besitz, ohne es zu wissen. – Doch wußte er es. Und wie sie zurückkam, war's ihm als hätte sie sich verflogen. Sehnsucht spürte er, nicht Nähe. Ihm bot sich ein enges Lebensschicksal, er fühlte sich kärglich, genügsam, sein Leben wie verschwiegen und das junge Geschöpf beflügelt an Leib und Seele und von sieghafter Schönheit.
Stimmen erhoben sich. Den Flug durch die Glut hatten die Nuiantrinker mit angesehen, waren vom Feuerschein, der durch die winzigen Fenster kam, aus der dumpfen, weintrunkenen Stubenluft, hinauf in die Kristallhelle gelockt: Nepomuk Kantioler, Hans Luft, zwei Maler, die unten 88 im Wirtshaus wohnten, alteingesessene Gäste, die jedes Jahr kamen und von dem winkligen alten Städtchen lebten. Kein wunderliches Haus, kein alter Herrensitz, kein Bildstöckel, was sie nicht zwanzigmal abkonterfeit hatten und das sich ihnen nicht in eine ungeheure Anzahl von Viertelen verwandelt hätte. Und in allerlei Nahrung drunten im Gasthaus zum Lamm. Nepomuk Kantioler schwenkte den Krückstock, kam auf Dorettchen zu, faßte ihre beiden Hände in der seinen, die frei war. Daß die ihre in Peters Hand lag, fiel ihm auch nicht auf; die hockten ja immer beieinander. Der kleine, warme Vogel aber war wieder davon. Man schien Peters Besitz wenig zu achten. Er lächelte ein sonderbares Lächeln.
Die Verwaltersgitsch Urschel rief lachend: »Onkel Kantioler will auch durchs Feuer springen!«
»So – so –«
Da schmiegte Dorettchen sich fest an ihn. »Die allergröbsten Geschütze, Sakerment noch einmal,« brummte er, »sind unter dem blöden jungen Volk! Wir Alten waren doch einmal jung – aber die Jungen nicht alt – das ist's – das ist's –!«
Und nun kam es, daß sie alle sich an den Händen faßten und um das in sich versinkende Feuer tanzten – rechts herum, links herum, mitten in geisterhafter, lichtaufgelöster Bergwelt.
Der Mann mit dem Stelzfuß und der Gleichgesinnte, 89 die beide ihren Gott der Begeisterung nicht in Viertele finden konnten, sondern wie der Ahne, im Überschwang, standen im Mondlicht und blickten wehmütig auf die tanzende Jugend. Die Mander aus dem Städtchen aber tanzten mit um die Feuersglut. Sie hatten auch die Vision gehabt, daß durch Rauch und Glut wie ein Strahl die Schönheit des Lebens sprang, funkenstiebend, betörend – und der Schrei, der scharfe Schrei, den sie gehört, der mit der Vision aus Rauch und Funken sprang, hatte ihnen das Blut bewegt, wie der Engel herabfahrend den Teich Bethesda bewegte und die matten Kranken in die Bewegung steigen ließ, um gesund zu werden. Sie waren aus der engen, vom Weindunst erfüllten Stube gekommen, in freien Bergesodem und Mondschein. Sie waren draußen gewaltig angeblasen worden in ihre Weindumpfheit hinein, glaubten auf Lebenshöhen zu stehen und gebärdeten sich danach.
Es währte aber nicht lange, da spürten die vier Mander einen gewaltigen Zug wieder hinein in die belebende Glut der Enge. Die ungeheure Weite draußen begann sie aufzufangen, es fröstelte sie leise – besonders die beiden, die vom Leben und Jugend nur streng gemessen ihr Gläschen bekamen, geradeso wie im Haus der zwölf Apostel, wollten zurück zum Überschwang, der ihnen noch zu Gebote stand, soweit ihr Kredit und Beutel es zuließ. – Und sie trieben die Jugend mit hinein in die Enge.
90 »Wia isch en huiar der Nuia, wia deucht er di denn?« fragten sie einander verschmitzt.
»Huiar hoat ear a recht a guates Guschta. Giah ma!«
Die wußten, was es heißt, beim Törkelen sein, und daß ihr Bauer und Freund den »Pöschten« huiar ausschenkte.
Jung und alt traten in einen Raum ein, der im zu Fels gewordenen Haus auch wie mitten im Fels lag. Auf einem Herd aus Feldsteinen flackerte unter einem Dreifuß ein lustiges, offenes Feuer, dessen Rauch durch einen schwarzen Abgrund von einem Schornstein, der den ganzen Herd überragte, zog.
Heimchen zirpen im Dämmerraum, der vom Herdfeuer hin und wieder flackernd aufleuchtete. Eine Kuh brummte dumpf. Gegenstände hoben sich aus der Dunkelheit, Haufen von Rübenblättern, ein Fuhrwerk. Der Fußboden ausgeschleift, Gruben und Löcher. Man hätte straucheln können. Der Johannser Bauer aber kannte die Beschaffenheit seines Terrains und dessen Gefahr und seine Törkler und selig Berauschten, liebte Gott und stand ihnen bei.
»Aufpassen! Aufpassen!« rief der Mann mit dem Stelzfuß.
»Mander, seid erschs?« rief der Mann mit dem Schopf.
»Jo! Jo!« Und da drängten sie ein in ein Stübchen. 91 Ein mächtiger Ofen, ein großer Tisch, Bänke um den Tisch, und das Räumchen war voll und heiß und weinbedudelt.
Der Bauer rief vom Ofen aus, auf dem er lag, um die Gäste von dort aus zu bedienen, nach seinem Weib und griff nach dem Schüsselbrett an der Ofenseite nach Gläsern. Bald standen mächtige Flaschen von »Nuian« auf dem Tisch und zwei Riesenschüsseln Käschten. Die Malermander, der Mann mit dem Stelzbein und der Mann mit dem Schopf gaben der Jugend ein Fest. Der Bauer auf dem Ofen schmunzelte, die Luft wackelte vor Wärme und ward eine ganz merkwürdige Luft, trank vom Wein mit aus den Flaschen und Gläsern und betrank sich, war keine gewöhnliche Luft mehr. So saßen sie nun alle eng aneinandergedrängt, wie die Erbsen in der Schote, und alle griffen zu und hoben die Gläser und warfen die Käschtenschalen unter den Tisch und trampelten darauf, daß es krätschte; ein abscheuliches Geräusch, das Räuspern und Ausspucken glich und Gekrächz, aber zu Herzen ging, althergebracht war, schon dem Ahnherrn ein Prachtsgeräusch zu sein schien, das seinem sonnendurchwärmten Blut Heimatwonne gewesen.
Und alle verfielen in der trunkenen Luft einer Entrücktheit. Auch die Maler; der eine, ein rundliches, frisches Männlein mit geschickten Rokokohänden, die beweglich in den Gelenken gingen und mit runden vergnügten Augen. 92 Der andere schlank, trainiert, ein noch junger Mann aus gutem Hause, dem es hier im Sommerländchen wohl war, der hier Sommer und Herbst seine Norddeutschheit auftaute.
In allen aber spukte Dorettchens Feuersprung.
Die beiden anderen Mädel, so frisch und jung sie waren, tranken mit, lachten mit, trampelten mit auf den Käschtenschalen, waren aber gewissermaßen nicht da. – Nur so ein Gewoge, Bewegen in der trunkenen Luft.
Von Dorettchen, des armen Emeritus Kind und der selig lustigen Frau, ging es wie Sonne aus, Jugendleuchten, daß alles Mannsvolk am Tisch nicht wußte, war es vom »Nuian« hingerissen, von der tollen Luft im Stübchen oder von Dorettchens Lachen und Schönheit, ihrer kindertollen Freude am Trampeln. Und wie die zwei Maler wieder riefen: »Mander, seid erschs?«
»Jo! Jo!« Und der flinke Mann mit dem adretten Gesicht die alte Törklerweise anhub: »Und nu rumple ma! – rumple ma!« tat alles mit wie ein Mann. Da hoben sie miteinander den Tisch auf wie in einer Eingebung, die alle durchfuhr, und sangen, den Tisch über den Köpfen gehoben: »Und nu rumple ma! – rumple ma! – rumple ma!« – Und aller Herzen brannten, je nach ihrer Feuerkraft. Es sind nicht Worte, die hinreißen; es sind die Ströme von einem zum anderen, von einem zu allen, die trunkne Luft, die aus Gläsern und Flaschen mittrank, aus 93 übermütigen Herzen, und der glühende Wein, der in einem heißen Sonnensommer gereift war.
Schön war's und reich in der engen Stube, in der sie aneinandergedrängt saßen. Ja, die Worte sind's nicht – die kehren vor letzter Erkenntnis, vor jedem Überschwang und Abgrund des Lebens um.
Auf dem Heimweg, im tollen Schein der Mondwelt, blühte Magie in aller Herzen.
Sie gingen, stolperten, sprangen in einer unglaublichen Erdenwelt, die sich ihnen aufgetan hatte im Mondlichtzauber. Luft, Fels, Berge, Baum, durchsichtig ineinanderfließend, selbst leuchtend und das Wunder ganz rein entfalteter Jugend, das von Dorettchen ausstrahlte und auch sie wie in einem Lichtschein gehen ließ, dem sie alle zustrebten. Wie eine junge Königin zog sie mit ihrem Gefolge. Jeder wollte ihr nahe sein. Sie aber, wie erschreckt von der wunderlichen Wirkung ihres schlichten, fast unbewußten Daseins, flüchtete sich zu ihrem Kameraden, bei dem sie sich wohl und sicher fühlte, und wieder hielt er in seiner zaghaften Hand, wie einen Vogel, das lebensvolle Händchen des schönen Geschöpfes, aber hielt es so leicht – so tief erregt und bebend. 94