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Kurz ist der Sommer der Grönlandfahrer. Sie fahren aus, ehe in der Heimat der Frühling noch recht eingezogen ist, und indem sie täglich weiter nach Norden kommen, fliehen sie vor dem Frühling her und kommen endlich noch in Eis und Schnee, wie sie solche in der Heimat auch im härtesten Winter kaum erlebten. Freilich steigt die Sonne schnell, und wenn sie klar am Himmel steht, wird es über Tage oft so heiß, daß die Männer bei der Arbeit ihre Jacke von sich werfen. Aber die Nächte sind immer kalt, denn wenn die Sonne gegen den Horizont sinkt, verlieren ihre Strahlen an Kraft.
Weil der Frühjahrsfang am ergiebigsten war, gingen die Schiffe gern so früh, wie das Eis nur zuließ, nach Norden. Aber Lorens hatte erlebt, daß an einem Fisch, den sie an einem der ersten Junitage gefangen hatten, der Speck über Nacht noch so fest gefror, daß sie ihn andern Tages nicht schneiden konnten, obgleich der Fisch selbst innerlich noch warm war. Andererseits schob sich oft schon Anfang August das Eis wieder so zusammen, daß die Schiffe eilen mußten, in freies Wasser zu kommen. Weil im August die Sonne wieder unter den Horizont ging, fror es häufig nachts so stark, daß ein Schiff in einer einzigen Nacht rings vom Eise besetzt wurde. Wer dann sein Schiff nicht bald wieder frei bekommen konnte, mußte es verloren geben, und nicht selten verlor auch bei einer solchen Gelegenheit die ganze Mannschaft ihr Leben. Alte Leute auf Sylt erzählen noch heute von ihren Großvätern, die eine solche unglückliche Fahrt mitgemacht hatten und nur unter unsäglichen Mühen und Gefahren wieder ein Schiff erreichen konnten. Bei ihrer Wanderung über das Eis hatten sie einen toten Vogel gefunden, den sie auseinander rissen und mitsamt den Eingeweiden verzehrten, weil der Hunger schrecklicher war als alles andere. Weiterhin waren sie an eine Eishütte gekommen, in der das Gerippe eines Mannes lag. Auch er war ein Walfischfänger gewesen, wie aus den Aufzeichnungen, die er in das Eis geritzt hatte, hervorging. Aber Hunger und Kälte hatten ihn getötet und die wilden Tiere sein Fleisch gefressen.
So verließen die Grönlandfahrer in der Regel schon Mitte August die nördlichen Gewässer, und um die Zeit des Erntefestes kehrten die Sylter zu ihren Angehörigen auf der Insel heim. Da herrschte dann ein ganz anderes Leben. Auf den Schiffen war die Arbeit hart, und mancherlei Gefahren drohten ringsum. Dafür konnten aber auch diejenigen unter ihnen, die als Steuerleute und Harpuniere fuhren oder es gar schon bis zum Kommandeur gebracht hatten, Tag für Tag am weißgedeckten Tisch essen, wobei sie vom Kajütswächter bedient wurden. Sie tranken doppeltes Bier oder ein Schälchen gezuckerten Branntweins, bei festlichen Gelegenheiten gar guten Wein aus schöngeschliffenen, langstieligen Gläsern. Sie aßen fein säuberlich mit Messern und Gabeln und schliefen in reinlichen Kojen. Die Matrosen und Schiffsjungen hatten es freilich nicht so gut, aber wenn sie tüchtig waren, konnten sie es auch bis zum Offizier und endlich zum Kommandeur bringen.
Die meisten Gebräuche der Grönlandfahrer stammten aus Holland, wo schon seit Jahrhunderten Wohlstand und die Neigung zu Wohlleben herrschte. Anders lagen die Verhältnisse auf den nordfriesischen Inseln Sylt, Föhr, Amrum und den Halligen. Dort waren die Lebensbedingungen seit je schwer gewesen. Wind, Wasser und Flugsand waren gefährliche Feinde des Menschen. Der Boden war nicht ergiebig, abgesehen von Föhr, wo die Landwirtschaft bessere Erträge lieferte. Die Frauen bestellten das Feld, so gut sie es neben der Sorge um Hauswirtschaft, Kinder und Vieh eben konnten. Die Männer gingen nach Helgoland zum Heringsfang, von dem sie selten mehr heimbrachten als ein paar Säcke voll getrockneter Fische, die nur eben über Winter reichten.
So war das Leben auf Sylt einfach, ja kärglich zu nennen, selbst im Vergleich zu der südlichen Nordseeküste, wo der Einfluß der Hansastädte bis aufs flache Land hinausreichte. Die Sylter Häuser waren niedrig gebaut, so daß ein großer Mann wohl mit dem Haupthaar die Stubendecke streifte. Stube und Küche waren eng, damit sie im Winter leicht zu erwärmen waren. Holz und Kohlen gab es auf den Inseln nicht; die Leute brannten Seetorf, Heidekraut und Viehdung. Wenn dann der Wind in den Rauchfang hineinfuhr, war das Haus voll Rauch und dunkler, als es ohnehin schon gewesen war. Die Fenster waren mit kleinen Scheibchen aus grünem Glase versehen, durch die nur eine schwache Helligkeit ins Haus fiel. Ein Heim wie das des glücklichen Matthis auf Föhr war damals noch eine seltene Merkwürdigkeit, und deutlich zeigte sich in den Messinggeräten, Kacheln und Malereien der Einfluß holländischer Kultur.
Ganz allgemein üblich war es damals noch, daß die Leute in Wandbetten schliefen. Das waren hölzerne Gelasse, die mit festen Türen geschlossen oder mit Gardinen verhängt wurden. Darin lag hochgetürmt Stroh, das mit Säcken, wollenen Laken oder Fellen bedeckt war. Ein Stock hing daneben, um das Stroh aufzuplustern, ehe man ins Bett kroch. Wird das Stroh öfters erneuert und das Bettzeug sauber gehalten, so gibt es einen guten Schlaf, denn Stroh hält wärmer als Federn. Aber die Frauen, deren Arbeitslast gar zu schwer war, konnten oft nicht mehr die Kraft aufbringen, neben allem Notwendigen noch für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen.
So war auch das Essen aufs einfachste eingestellt. Kartoffeln kannte man damals noch nicht in Europa, aber auch Brot war auf Sylt noch eine Seltenheit; nur für Kranke wurde gelegentlich ein grobes Schwarzbrot gebacken. Die Leute aßen Grütze, die für alle zusammen in einer Schüssel auf den Tisch kam. Jeder langte mit dem eigenen Löffel zu. Die getrockneten Fische aber, Schinken und anderes Fleisch aß man zu jener Zeit, – und nicht nur auf Sylt – einfach mit Händen und Zähnen. Dazu wurde Milch getrunken und zu Festen eine selbstgebraute Art Bier, selten einmal Branntwein.
Was uns Heutige seltsam und ärmlich anmutet, war den Sylter Grönlandfahrern vertraut und altgewohnt. Es war ja die Heimat und somit war ihnen alles lieb. Die Sylter genossen die holländische Lebensart auf den Schiffen; sie sahen die reichen Häuser der Hamburger Herren und bewunderten die Kleiderpracht ihrer Ehefrauen, die in Samt und Seide einherstolzierten und kostbare Steine und Perlen zur Schau trugen. Aber die Sylter sahen das alles ohne Neid, und wenn sie nur glücklich wieder daheim waren, sehnten sie sich nicht nach Glanz und Wohlleben zurück.
Auch Lorens kümmerte sich wenig um das, was hinter ihm lag, wenn er wieder den Fuß auf Sylter Boden setzen konnte. Aber ohne daß er es selbst recht wußte, verglich er sein Elternhaus doch unwillkürlich mit des glücklichen Matthis behaglichem Heim und meinte bei sich, daß es so schwer doch nicht sein könnte, das Haus schmuck zu halten. Wohl – seine Mutter hatte fünf wilde Buben außer dem Mann, der auch nicht daran dachte, seine schmutzigen Draußenstiefel vor der Tür zu lassen. Aber des Matthis Peters Frau hatte zwölf Söhne in die Welt gesetzt und schaffte es doch, Ordnung und Sauberkeit zu halten. Lorens wollte nicht vergleichen, aber als er ein Mann wurde und anfing, sich nach einer Frau umzusehen, da sah er nicht nur nach einem glatten Gesicht, sondern schaute sich auch nach einem sauberen Hauswesen um.
Lorens brauchte nicht lange zu suchen. In Tinnum wohnte Erk Andresen, der das schmuckste Haus der ganzen Insel sein eigen nannte. Er hatte vier Söhne und eine jüngste Tochter, die schöne Inge, wie jedermann sie nannte. Das war alles Lorens so vor die Nase gebaut, daß er schier nur zuzugreifen brauchte. Als er es aber tat, griff er nur in die Nesseln. Erk Andresens Frau nämlich war jung gestorben, und Inge führte ihm und den Brüdern die Wirtschaft. Deshalb wollten ihre Mannsleute sie keineswegs missen und hatten schon mehr als einen Freier mit langer Nase heimgeschickt, und Gerson Cruppius, der mit Lorens die erste Reise auf dem »Prediger Salomon« zusammen gemacht hatte, den ließen Inges Brüder erst gar nicht heran. Er fuhr schon als Kommandeur, hatte ein gutes Stück Geld verdient und wollte Inge ein schönes Haus bauen, wenn sie nur Ja sagen würde zu seiner Werbung. Aber Inge mochte ihn nicht, so ließ sie ihre Brüder gewähren.
Als Lorens das erstemal zu Erk Andresen ins Haus kam, geleitete ihn beim Abschied der jüngste der Brüder vor die Tür.
»Fahrwohl,« sagte Lorens und wollte gehen, aber der andere hielt ihn zurück.
»Willst was von Inge? Dann kannst du lieber fortbleiben,« sagte er drohend.
Lorens machte ein gleichgültiges Gesicht.
»Unnötige Sorgen machen Fischgräten,« antwortete er, und seine Augen lagen halb unter schweren Lidern, wie schläfrig. »Ich freie nicht, ehe ich meiner Frau nicht ein Haus bauen kann, wie dieses. Dafür aber muß ich noch manches Jahr als Kommandeur fahren.«
»Kommandeur – ah wohl, ein Fischer und ein Freier müssen Geduld haben,« spottete Haulk. »Na – gute Nacht! Komm auch einmal wieder.«
Lorens nickte gleichmütig und zog ab. Er war mit sich zufrieden. Haulk würde den Brüdern seine Rede wiederholen; dann würden sie spotten wie er: Noch manches Jahr als Kommandeur –? Bah, noch fährt er als Steuermann, der Hahn, da läuft noch viel Wasser zu See, ehe er an den Hausbau denken kann, und inzwischen kann er uns andere Freier scheuchen helfen; abschütteln können wir ihn immer noch.
Lorens sah klar, daß die Andresens Inge behalten wollten. Aber nun würden sie ihm erstmal freie Fahrt gönnen, da kam es darauf an, mit Inge selbst einig zu werden. Inge – ach, Inge –! Es hatte so schön ausgesehen, wie sie in der sauberen Stube am Spinnrade saß mit dem bunten Rock über dem weißen Schafpelz und dem blonden Haar, das wie Gold flimmerte. Wie der leibhaftige Sonntag war sie ihm erschienen, und als sie in der Küche das Abendessen richtete, hatte sie ihm fast noch besser gefallen. Ach, Lorens wußte nun schon, was er wollte.
Es dauerte aber nicht lange mehr, da merkte er, daß auch Inge ihm nicht abgeneigt war. Sie war viel zu stolz und war sich des eigenen Wertes zu wohl bewußt, als daß sie lange mit ihm Verstecken gespielt hätte. Sie ließ es ihn ruhig wissen, daß er ihr gefiel. Er war ein hochgewachsener Mann geworden, Lorens der Hahn, mager und sehnig wie die meisten Grönlandfahrer, mit einem Paar heller, scharfer Augen, die tief unterm breiten Stirndach lagen, mit gerader, starker Nase und schmalen, festgeschlossenen Lippen. Der ganze Mann sah mehr nach Befehlen als Gehorchen aus, aber gerade das gefiel Inge Erk Andresen über die Maßen.
Lorens kam oft zu ihnen ins Haus, immer öfter. Er scheute den mehrstündigen Weg von Rantum nach Tinnum durchaus nicht, wenn er dafür nur friedlich bei Inge in der Küche sitzen durfte. Erk Andresen gewöhnte sich bald an ihn, und Inges Brüder ließen ihn gewähren, weil sie meinten, daß Lorens als freier noch ungefährlich wäre. Wenn aber Inge selbst ihn beim Abschied zum Hause hinausgeleitete, blieben sie noch lange im Dunkeln unter der Haustür stehen und sprachen heimlich davon, wie sie wohl zueinander kommen könnten. Eines Abends war Inge ganz verzagt:
»Sie werden nie zugeben, daß du mich freist – ach, wenn ich doch immer bei dir sein könnte!« So klagte sie und küßte ihn, wie sie noch nie getan hatte.
Lorens tröstete sie nach Kräften.
»Jetzt will ich dich noch gar nicht haben, mein Liebchen, erst muß ich ein Haus für uns bauen. Aber wenn die Brüder dich dann noch nicht hergeben wollen – was hilft's, Inge? Dann müssen wir sie eben zuerst verheiraten!«
Sie hob das liebe Gesicht, das noch von Tränen überströmt war, und doch lachte der rote Mund schon wieder; nie war sie Lorens je so lieblich erschienen.
»Bist du aber klug,« sagte sie bewundernd noch zwischen Weinen und Lachen. »Wenn wir das fertig brächten – dann – ja dann vielleicht.« – –
Zum nächsten Sommer konnte Lorens noch keine Stellung als Kommandeur finden, so mußte er noch einmal als Steuermann fahren. Aber als er danach zum Herbst wieder heimkam, brachte er Inge die Nachricht mit, daß der alte Schiffsreeder vom »Prediger« und vom »Koning Salomon« zum folgenden Jahr ein ganz neues Schiff baute. Das sollte »Salomons Gericht« getauft werden, und Lorens sollte es als Kommandeur fahren. Inge freute sich aus ganzem Herzen mit ihm, aber auch sie war während seiner Abwesenheit nicht müßig gewesen. Andrees, der älteste Bruder, hatte sich auf eigene Verantwortung eine Frau gesucht, Anna, des Gerson Cruppius Schwester; der Jüngste war auf Helgoland geblieben. So waren nur noch die beiden Mittleren zu versorgen, Moghels und Heik. Für die aber hatte Inge ein ganzes Dutzend lustiger Mädels an der Hand – die Brüder brauchten nur zuzugreifen.
Lorens lachte, als er Inges Vorbereitungen zum Bruderfang bemerkte. Es war unter den Mädchen eine, die blond und lustig war. Ose hieß sie und hatte noch ein ganzes Nest voll Schwestern. Die konnte gut daheim entbehrt werden, und wenn nur eine junge Frau zu ihnen ins Haus käme, meinte Inge, würde der Vater sie selbst wohl ziehen lassen. Die lustige Ose hatte Inge für Moghels bestimmt; der konnte auch so laut lachen, daß das ganze Haus schlitterte. Heik mochte dann unter den andern wählen.
Inges Brüder machten große Augen, als sie heimkamen und das Haus voll schnatternder Mädchen fanden. Inge richtete ein Fest nach dem andern: Wollekratzen und Spinnabende und einen großen Schlachterpunsch, und wenn die Mädchen ihren Spaß daran hatten, wie Lorens und Inge sich küßten, dann zeigten Inges Brüder, daß sie auch nicht schüchtern waren. Nur das Eine wurde Inge bald ärgerlich: daß Heik die lachende Ose küßte, und daß Moghels das in aller Ruhe mit ansah.
»Das geht nicht – das geht nicht gut,« sagte sie beklemmt zu Lorens. »Erst läßt Moghels sich das gefallen, denn gutmütig ist er nun einmal. Aber bald wird es ihm doch zu viel werden, und dann – dann – Heik ist so böse, so gewalttätig; ich habe Angst, Lorens.«
Von nun an ließ Lorens der Gedanke nicht wieder los, daß um Oses willen eine Feindschaft zwischen den Brüdern entstehen könnte. Das wollte er Inge ersparen. So fing er an, Heik aufzulauern und seinen Wegen nachzuspüren, denn er meinte bei sich, daß erst einmal Moghels freie Fahrt geschaffen werden müßte, ehe man von ihm verlangen konnte, daß er den Kurs nehme, den Inge für ihn gesetzt hatte. Bald hatte Lorens denn auch ausgekundschaftet, daß Heik an all den Abenden zu Ose ging, an denen sie nicht gerade zu Inge kam. Da suchte er ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er ließ Heik heimlich Botschaften zukommen, als wäre Ose bei Nacht in Burg Tinnum zu treffen oder draußen in der Heide. Wenn Heik dann aber an den bezeichneten Platz kam, überfiel Lorens ihn und verprügelte ihn weidlich. Dazu verkleidete er sich stets und schwärzte sorgfältig sein Gesicht, denn ihm lag gar nichts daran, mit Inges Bruder Streit zu bekommen. Er war ihm ja auch nicht böse, er prügelte ihn nur, um ihn abzukühlen, aber Heik, der ihn für einen eifersüchtigen Nebenbuhler hielt, wurde dadurch nur immer hitziger. Zu Ose wollte er und zu Ose ging er, und als er nicht mehr allein zu ihr dringen konnte, brachte er seine Freunde zur Hilfeleistung auf, und unter ihnen befand sich auch Gerson Cruppius.
Als Lorens das merkte, wurde er doppelt vorsichtig, denn er wußte, daß Gerson sich immer noch Hoffnung auf Inge machte und einen großen Haß auf ihn hatte. So vertraute er sich seinen Brüdern an, Manne und Aaners, Niggels und Jan. Die waren zu jedem tollen Streich bereit. Lorens takelte sie als alte Weiber auf, daß die Bengels schier vor Lachen bersten wollten. Sie sprangen wie die Besessenen in den kurzen Schafpelzen; darüber trugen sie weite Mäntel und die Köpfe vermummten sie mit dicken Tüchern. Der eine nahm ein Ding, das sie wie ein Spinnrad zusammengestückt hatten. Die andern trugen ihre Waffen verborgen unter den Mänteln – sonderbar vielgestaltige Waffen, die scheinbar nicht leicht zu tragen waren. So schlichen sie sich in die Nähe von Oses Haus; das lag an dem nördlichen Wege von Tinnum. Heik pflegte einen Bogen bis halbwegs Keitum zu schlagen, seitdem sein vermeintlicher Nebenbuhler ihm mehrfach die Südostecke abgekniffen hatte.
Sie lagen noch nicht lange im Graben unterm Weg hinter einem vertrockneten Rosenstrauch, da hörten sie einen Trupp Leute kommen. Unbekümmert schallte Heiks Stimme aus dem allgemeinen Gerede hervor, denn es waren so viele bei ihm, daß er sich völlig sicher fühlte. Dann aber vernahmen die Lauscher im Graben ein schweres Geräusch, wie wenn ein Mann stolpernd zu Boden fällt, gleich darauf einen wütenden Fluch und ein jämmerliches Mauzen.
»Alle guten Geister!« rief eine heisere Stimme; »sind vonnacht vonnacht = heute nacht. die Hexen unterwegs?«
Das Mauzen nahm zu, das Stolpern und Fluchen.
»Du hast mir ein Bein gestellt –«
»Wenn du nicht das Krähen nachläßt –!«
»Verfluchtes Biest –!«
Die fünf Brüder im Graben lachten. Vorsichtig lugten sie durch den Dornbusch über den Rand des Weges. In der Dunkelheit war aber nichts zu erkennen als ein Gewusel von schwarzen Gestalten, die sich in wirrem Knäuel auf der Erde wälzten. Die Leute hatten sich in den Leinen verfangen, die von den Brüdern kreuz und quer über den Weg gespannt waren. An den Kreuzungsstellen aber hatten sie Katzen festgebunden und jeder Katze einen hübschen Vorrat an getrockneten Fischen vor die Nase gelegt. Darüber waren sie hergefallen wie der glückliche Matthis über die Walfische und hatten kaum gespürt, daß sie gefesselt waren. Nun empörten sie sich desto grimmiger gegen die Störenfriede, die ihnen in die Mahlzeit fielen, über sie stolperten, sie traten und quetschten. Die Katzen jaulten und kreischten; die Burschen schrien und fluchten. Es war ein Höllenlärm, daß die Brüder keine Vorsicht mehr nötig hatten. Sie lagen mit halbem Leib auf dem Wege, wälzten sich und brüllten vor Lachen, daß sich den andern, die in den Leinen zappelten, vor Grausen die Haare sträubten. Plötzlich aber sprang Lorens völlig aus dem Graben, packte einen der Burschen am Bein, stopfte dem Schreienden die eigene Mütze ins Maul, fesselte ihn und zog ihn in aller Schnelligkeit in den Graben hinunter.
»Ich habe ihn,« flüsterte er den Brüdern zu, und sie tasteten des Gefangenen Gesicht ab und fühlten die tiefe Narbe quer über der Nase, die ihn als Heik Erken kennzeichnete. Dann kroch Manne auf dem Bauch über den Weg, schnitt die Leinen durch, befreite die Katzen und diese – in der Siedehitze grimmigster Wut – stürzten sich auf Heiks Freunde. Diese aber, die gleichzeitig sich von den Katzen erneut angegriffen und von den Fußangeln plötzlich befreit fühlten, entflohen schreiend nach allen Seiten. Aaners half gründlich nach mit dem Spinnrad, das in tausend Trümmer barst und endlich nur noch als schwerer Knüppel den Feinden auf den Rücken fiel. Im Handumdrehen war der Weg wieder frei.
Als alles still geworden war, zog Lorens dem Gefangenen die Mütze aus dem Maul. Die Fesseln nahm er ihm vorderhand jedoch nicht ab, denn er war keineswegs sicher, wie Heik diesen kleinen Scherz auffassen würde; er war aber fest entschlossen, heute mit ihm klar zu kommen.
»So, Heik,« sagte er deshalb ganz gemütlich; »wir wollen dir gar nichts antun; wir wollen dich nur auf den rechten Kurs setzen.«
»Wer – wer bist du?« stotterte Heik verbiestert.
»Kennst du mich nicht mehr? Ich bin Lorens Jens Grethen, und bei mir sind Manne und Aaners, Niggels und Jan.«
»Kannst du ›Wahrhaftig!‹ sagen? Wahrhaftig, so wahr mir Gott helfe?«
»Wahrhaftig, so wahr mir Gott helfe!« wiederholte Lorens feierlich, und der Gefangene ließ sich erschöpft ins Gras sinken.
»Das ist ein Mirakel, ein wahrhaftiges Himmelsmirakel,« seufzte er beklommen. »Vorhin warst du der Teufel, leibhaftig, ich habe doch deinen Schwanz gesehen.«
»Das war das Tauende, mit dem ich dir die Hände auf den Rücken binden mußte, mein Junge,« erklärte Lorens lachend. »Willst du im Guten hören, was ich dir zu sagen habe, dann will ich es wohl wieder lösen.«
Ja, das war Lorens der Hahn, seine Stimme, sein Lachen. Heik konnte nicht mehr zweifeln, aber nun wachte sein Ärger auf.
»Das ist durchgesteckter Kram!« schrie er wütend; »Gerson – Boy – Swen – hierher – zu Hilfe!«
»Schrei du nur, die sind alle längst zu Hause und stecken ihre zerkratzten Gesichter ins Wasser; die hören nicht mehr. Aber wenn dir dein Maul juckt – drüben ist der Graben halb voll, und ich kann dich gut mal ein Weilchen drin Kopf stehen lassen.«
Es war Manne, der in aller Sanftmut dies freundliche Anerbieten machte. Daraufhin hielt Heik es doch für angebracht, etwas einzulenken.
»Und was wollt ihr von mir?«
»Daß du Ose in Ruh läßt.«
Heik preßte die Lippen zusammen, ohne zu antworten, und Aaners puffte ihn in die Seite.
»Schwören mußt du – bei den Raben! Sonst sollst du deine eigenen Zähne schlucken, so wahr –«
»Hand vom Ruder, hier bin ich Kommandeur!« fuhr Lorens ihn an, und Aaners fügte sich brummend. »Sieh, Heik, ich würde dir Ose von mir aus ja gern gönnen, aber Moghels soll sie doch freien.«
»Moghels –? Der geht doch zu Moy Ajen.«
»Zu – Moy –? Was will er da?«
»Jee – ja!«
Die Brüder sahen Heik an und sahen sich gegenseitig an, aber die Dunkelheit war zu schwer, als daß sie ihre Gesichtszüge lesen konnten.
»Moghels zu Moy – da soll doch –! Inge will, er soll Ose freien.«
Heik wälzte sich herum, und Lorens griff zu, seine Knoten zu lösen; diese Frage ging über Handgreiflichkeiten hinaus.
»Inge – was die schon weiß –!« sagte Heik verächtlich. »Moghels mag Ose gar nicht. Was soll ich mit Ose? sagt er; die lacht immer. Lachen kann ich selbst, aber Moy ist lieb, Moy ist sinnig. Nein, er mag Ose nicht, aber ich mag es gern, wenn Ose lacht. Was geht das Inge an? und was dich? Laßt uns doch freien, wen wir wollen.«
Lorens saß ganz benommen am Grabenrand und wußte nicht, was er sagen sollte. Niggels aber fing plötzlich an zu lachen, lachte wie toll und strampelte mit den Beinen, daß er Jan traf, der zusammengeknäult unten im Graben lag. Er hatte die Zeit benutzt, ein paar Augen voll Schlaf zu nehmen. Nun wußte er nicht mehr, wie der Kampf stand, packte zu, und im nächsten Augenblick rollten die beiden Brüder übereinander her auf dem Wege – Jans Faust an Niggels Kehle. Aber Niggels hatte Kräfte wie ein dreijähriger Bär; Jan war ihm keineswegs gewachsen. Er packte ihn am Rumpf, rüttelte und schüttelte ihn, daß ihm die Zähne im Maul wackelten. Dann stieß er ihn in den Graben zurück, mitten zwischen die andern hinein und – immer noch lachend – ging er seiner Wege.
»Das war doch Niggels?« sagte Jan und rieb sich die Augen. »Was ist denn? Ist hier nichts mehr los? Dann gehe ich auch nach Hause.«
Er tat es, und die Brüder taten wie er. Auch Heik verdrückte sich. Nur Lorens blieb am Grabenrande sitzen und wußte nicht, ob er nun lachen sollte wie Niggels oder sich ärgern. Endlich stand er auch auf und ging mit langen Schritten nach Süden. Erk Andresens Haus war dunkel, kein Fünkchen mehr auf der Feuerstelle. Lorens taperte ums Haus herum und klopfte an Inges Fenster. Aber die schlief im Wandbett hinter zugeschobenen Türen und schlief hart nach des Tages Arbeit. Ob er die Fenster auch fast einschlug – sie hörte nicht. Da ging er an die hintere Tür, steckte das Messer durch, hob den Riegel hoch und kroch zu dem Vieh in den Stall. Er schlief ein paar Stunden im Heu, und als Inge des Morgens früh kam, erschreckte er sie, da er mit dürren Grashalmen verputzt, unvermutet vor ihr auftauchte.
»Du mein –! Was ist denn geschehen, Lorens? Du bist aber auch – man kann ja den Tod davon haben!«
Sie drückte die Hand aufs Herz, und er berichtete schwermütig von den Ereignissen der Nacht.
»Es tut mir so leid, Inge, aber die Bengels werden nicht davon abzubringen sein und wenn wir sie totschlügen.«
Da lachte Inge hell auf.
»So laß sie doch! Wenn sie nur überhaupt freien!«
Lorens staunte.
»Jee – ja, ist auch wahr. Das hatte ich wahrhaftig nicht gedacht –« und damit ging er nun endlich auch nach Hause. –