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15. Ein neuer Anfang

Das schreckliche Ereignis dieses dunklen Weihnachtsabends hatte die schlafenden Gewissen der Sylter geweckt. Der Brudermord quälte jeden einzelnen, als hätte er selbst ihn begangen. Ein paar vorwitzige Junggäste, die gegen Abend durchs Deichtal gegangen waren, kamen mit schlotternden Knien zu Ingeborg Claußen und verlangten einen Schnaps. Hinterher erzählten sie, daß sie Manne Tetten dort gesehen hätten, wie er den handlosen Armstumpf gen Himmel reckte. Sie gingen umher und sammelten Geld und Lebensmittel, um sie der Witwe zu bringen. Und hatte vorher jeder laut über die eigene Not geklagt, so suchte nun jeder schweigend des andern Not zu lindern.

Das Grauen ging über die Insel. Nicht nur im Deichtal selbst, auch an andern Orten wurde das blutige Gespenst des Manne Tetten gesehen. Es zeigte sich am Strande, daß die Strandläufer sich entsetzten, und in einer bittern Nacht klopfte es auch bei Lorens Hahn an.

»Ich weiß –« stöhnte er gequält; »ich spielte mit meinem Kinde, so kam ich zu spät, dich zu retten;« und er erwachte in Schweiß gebadet.

Nicht nur die Brüder, auch andere Seeleute, die den Winter über daheim waren, kamen nun wieder zu Lorens, um zu lernen, was er sie lehren konnte. Jacobus Cruppius tat es ihm nach und gründete zu Keitum eine Schule, und in Tinnum fing Heik Erken an zu unterrichten. Es regte sich ein Eifer wie nie zuvor, und als der Landvogt von Föhr zum Petrithing Petrithing = Gerichtssitzung am 22. Februar (Petri Stuhlfeier). herüberkam und von des Ok Tükkis neuem »Besteckbuch« sprach, bat Lorens ihn, ihm eins zu verschaffen, um seinen Unterricht weiter auszubauen. Ein »Besteck« ist der Entwurf zu einem Schiff. Dies »Besteckbuch« aber enthielt den Entwurf einer systematischen Schiffahrtskunde mit Berechnungen, die vom Stand der Gestirne abgeleitet und auf klare mathematische Formeln aufgebaut waren. Es gab zu jener Zeit kaum ein anderes Buch, das so anschaulich theoretische Erkenntnisse an praktischen Erfahrungen erläutert hätte. Die Stadt Amsterdam setzte dem Verfasser ein Jahresgehalt auf Lebenszeit aus in Anerkennung der Verdienste, die er sich durch dies Buch um die Hebung der Schiffahrt erworben hatte. Ok Tükkis war ein alter Grönlandkommandeur von Föhr, und was er lehrte, brachte den Syltern nicht weniger Vorteil als seinen eigenen Landsleuten.

Früher als in andern Jahren segelten in diesem die Sylter Schmackschiffe nach Hamburg und Amsterdam. Die Männer mußten Geld verdienen, und die Frauen waren froh, die Esser los zu werden. Sie selbst hungerten sich immer noch genug ab, um die kleinen Kinder nur satt zu bekommen. Aber die Vorräte reichten nicht mehr für alle, und die Männer wollten eben nicht hungern. So mußten sie sehen, daß sie sich anderswo ihr tägliches Brot verdienten.

Im Laufe des letzten Jahres hatten fast alle am spanischen Erbfolgekriege beteiligten Nationen zu Utrecht Frieden geschlossen. Freie Flagge, freies Gut und freier Handel, das war die Losung, unter der von nun an alle europäischen Schiffe fahren durften, und der Erfolg zeigte sich schnell. In erster Linie kam er wohl England zugute, aber auch Dänemark und die deutschen Hansastädte blühten auf. In Hamburg war der Markt für theoretisch vorgebildete Seeleute in diesem Frühling vortrefflich. Nun konnten die Inselfriesen weisen, was sie von Ok Tükkis gelernt hatten. Noch waren die Föhrer den Syltern überlegen, aber Lorens der Hahn schwor sich zu, daß er seine Landsleute auf dieselbe Stufe bringen wollte, und als er mit Jacobus Cruppius darüber sprach, blies der ins gleiche Horn.

Auch in Schleswig-Holstein war nun der Frieden wieder eingezogen, aber der König von Dänemark war Herr über Land und Inseln geblieben. Die Sylter kümmerten sich nicht viel um ihre Obrigkeit, wenn die Obrigkeit sie nur ungeschoren ließ. Was schert uns König oder Herzog? sprachen sie untereinander; wir sind Sylter, und unser Reich ist die See, das lebendige Meer – ah mei, arm ist der Mensch, der immer auf festen Boden treten muß. Allmählich aber rang sich mehr und mehr die Erkenntnis bei ihnen durch, daß es nicht genügt, für die See geboren zu sein, sondern daß der Mensch auf ihr auch laufen lernen muß, so gut wie auf festem Boden.

In den nächsten Jahren wurde der Arbeitsmarkt für gute Seeleute in steigendem Maße besser; was war da natürlicher, als daß die Eltern auf gute Schulung der Söhne schon vor der ersten Ausreise immer mehr Wert legten? Kamen die Jungen aber zum Winter heim, so ging das Lernen erst recht von neuem wieder an, denn nun hatten sie unterwegs selbst gesehen, wieviel ihnen noch fehlte. Je mehr sie aber lernten, desto bessere Stellungen bekamen sie, und endlich wurden die Inselfriesen von allen seefahrenden Nationen der Erde als tüchtige und kenntnisreiche Männer besonders geschätzt. Als sie soweit waren, gab es keine Not mehr auf Sylt; die Sylter hatten sie aus eigener Kraft bezwungen.


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