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Drittes Kapitel.
Die ersten Jahre im Haag.

Beinahe anderthalb Jahrzehnte hatte Spinoza in ländlicher Zurückgezogenheit verlebt, als er wieder in das Getriebe einer großen Stadt zu ziehen sich entschloß. Als junger Mensch von vierundzwanzig Jahren hatte er Amsterdam verlassen, er zählte nahezu achtunddreißig bei seiner Niederlassung im Haag 1670.

Hier hatte er vielfältige und bedeutende Bekanntschaften im Kaufmannsstande und unter Männern, die hohe Ämter in der Verwaltung oder in der Armee bekleideten und großen Wert auf die lehrreiche Unterhaltung mit ihm legten. Denn bei all seiner Vorliebe für ein zurückgezogenes Leben war er doch im Verkehr mit den Menschen heiter und gesprächig und von einem überaus einnehmenden Wesen. Wie schon die Bauern auf den Dörfern, wo er gelebt, von ihm aussagten, er sei leutselig, rechtschaffen, gefällig und überaus gesittet gewesen, so auch wußte er in höheren Kreisen, völlig Herr seiner Gefühle und Eindrücke, durch ein weltgewandtes Benehmen sich eben so wie durch seine einfache aber stets sorgfältige Kleidung geltend zu machen. Colerus u. Lucas. Vrgl. Trendelenburg, Histor. Beiträge zur Philos. Bd. 3, S. 296 f. Denn nichts an ihm, versichert einer seiner Verehrer, Lucas u. Colerus, dazu Auerb. biogr. Einltg. z. Übers. Bd. 1, S. XLV f. zeigte irgend etwas von jener gesuchten oder unfreiwilligen Unsauberkeit und Nachlässigkeit, wie man sie häufig bei Pedanten oder sogenannten Philosophen und sonstigen Gelehrten zu finden und zu entschuldigen pflegt. Er zeigte sich als ein feiner Mann, selbstbewußt ohne Überhebung und anziehend für jeden, der mit ihm in Verbindung trat.

Zu den hervorragenden Persönlichkeiten, mit denen Spinoza im Haag verkehrte, gehörte auch der Staatsmann Jan de Witt, Jan de Witt, Sohn d. Bürgermstrs Jacob de Witt zu Dortrecht, am 24. September 1625 geboren, wie sein um zwei Jahre älterer Bruder Cornelis zu Leyden studierend, dieser seit 1648, jener seit 1653 mit bedeutenden öffentl. Ämtern betraut. Der jüngere Bruder eben so gewandt in Staatsgeschäften wie der ältere in der Kriegskunst. Das weitere über ihre den vorliegenden Zweck betreffenden Lebensschicksale bringt der Text dieses Kapitels. dem er wohl schon von Voorburg her nahegetreten sein dürfte. Von ihm bezog er ein bescheidenes Jahrgehalt, das auf 200 Gulden angegeben wird. Mitgeteilt von Lucas. Die Legende hat auch an dies Verhältnis ihr ausschmückendes Geranke gehängt. Nicht nur will sie wissen, Spinoza habe seinem Gönner Unterricht in der Mathematik erteilt, sie behauptet sogar, er sei bei wichtigen Staatsangelegenheiten von ihm zu Rate gezogen worden, und vergißt, daß der eine bereits die Schicksale Hollands lenkte, als der andere kaum an die Schwelle seiner philosophischen Studien gelangt war.

Schon seit 1653 war nämlich auf Jan de Witt die Würde des großen Oldenbarneveldt und mit ihr auch die Führerschaft der republikanischen Partei übergegangen, deren Einfluß wiederum überwog, seitdem die oranische Partei durch den frühzeitigen Tod Wilhelms II. führerlos geworden, als eben die Unabhängigkeit der Niederlande im westfälischen Frieden zur Anerkennung gekommen. Bruder Moritzens v. Oranien, mit einer Tochter Karls I. Stuart vermählt. Der überlegenen Umsicht und rastlosen Thätigkeit Jan de Witts und seines älteren Bruders Cornelis war es gelungen, die Nachteile des um jene Zeit ausgebrochenen Krieges mit dem republikanischen England (1651-54) durch den mächtigen Aufschwung in Handel, Gewerben und Industrie, in Finanzen und Seewesen zu tilgen. Allgemach hatte die batavische Republik eine entscheidende Stimme in den nordeuropäischen Angelegenheiten gewonnen und nach einem zweiten Kriege mit dem inzwischen wieder königlich gewordenen England, wo Cornelis wie im vorhergehenden als Seeheld sich auszeichnete, nicht nur große Vorteile erworben, sondern auch den Neid und die Habsucht des ehrgeizigen und herrschsüchtigen Ludwigs XIV. heraufbeschworen. Auf Grund angeblicher Erbschaftsrechte hatte dieser die bei Spanien verbliebenen flandrischen Gebiete militärisch besetzen lassen und es nun auch auf den niederländischen Freistaat abgesehen, der in gutem Einvernehmen mit Frankreich gestanden, so lange es ein heilsames Gegengewicht gegen die spanische Vorherrschaft in Europa geübt hatte. Nun aber diese selbst von Frankreich für sich beansprucht wurde, mußte die Politik der Niederlande auch eine andere Wendung nehmen. Mit dem eben bekriegten England und dem damals noch als europäische Großmacht geltenden Schweden ward ein Bündnis zur Abwehr des herandrängenden Sonnenkönigs geschlossen. Hierdurch hatte Jan de Witt die unmittelbare Gefahr einstweilen abgelenkt, aber das Land in eine große Aufregung versetzt. Der oranischen Partei war damit Gelegenheit geboten, ihren ehemaligen Einfluß wieder geltend zu machen, und für den nur auf das Wohl der Heimat bedachten Staatsmann wurden die Sorgen und Schwierigkeiten durch den wieder verschärften Parteihader erheblich vermehrt.

Die Erstarkung der oranischen Partei beruhte auf dem wesentlichen Umstande, daß ihr mittlerweile in dem nachgeborenen Sohne des letztverstorbenen Erbstatthalters, dem später zu wahrhafter Weltgröße gelangten Wilhelm III., Nachgeborener Sohn Wilhelms II., geb. d. 14. Nov. 1650 im Haag, seit 1672 an der Staatsleitung seines Vaterlandes beteiligt, das er zugleich vor dem Ansturm Frankreichs rettete. Seit 1689 König von Großbritannien, starb 19. März 1702 zu London. ein Führer erstanden war, der durch seine mütterlichen Verwandtschaftsbeziehungen einen Rückhalt an Englands maßgebenden Kreisen hatte. In der Erblichkeit der Statthalterwürde bei den Oraniern und den damit verknüpften Machtbefugnissen hatten die Republikaner eine besondere Gefahr für die Freiheit der Niederlande sehen wollen, und diesem entgegen zu wirken, war Jan de Witts besondere Fürsorge gewesen. So war der junge Oranier, kaum vier Jahre alt, durch die sogenannte Seclusionsakte 1654 aller Anrechte auf die Statthalterwürde und nun, bei achtzehn schon ein Mann an Reife und Besonnenheit, durch eine auf Betrieb von Jan de Witt durchgesetzte neue Staatsakte aller ferneren Aussichten auf eine einflußreichere Stellung in seiner Heimat beraubt worden. Wohl hatten Rücksichten auf das mitverbündete England ihm ein bisher entzogenes Staatsgehalt und den Widerruf der Ausschließung von der Statthalterwürde eingetragen, aber diese selbst war im republikanischen Interesse zu einer staatlich belanglosen Auszeichnung herabgedrückt, wodurch die Spannung zwischen den erbitterten Parteien unvermeidlich gesteigert werden mußte.

In solch tiefernster Krisis befanden sich die Niederlande, als Spinoza seinen Wohnsitz nach dem Haag verlegt hatte. Aus dem Briefwechsel mit Oldenburg ist der lebhafte Anteil, womit er den Zeitereignissen folgte, in den mehrfach an ihn gerichteten Fragen kenntlich. Spinozas Antworten hierauf sind leider nicht aufgefunden, doch dürften sie kaum von den Ansichten verschieden sein, die er über damalige Verhältnisse in seinen Schriften, dem eben zum Druck beförderten einen Hauptwerk, auf das wir sofort näher einzugehen haben, und einem Fragment, der mutmaßlich bald darauf concipierten Staatslehre, Tractatus politicus, unvollendet aus dem Nachlaß veröffentlicht. Übers. b. Auerb. in Bd. 1. ausgesprochen hat.

Seiner politischen Überzeugung nach Republikaner, war Spinoza durchaus mit der Auflehnung gegen die oranischen Machtansprüche einverstanden. Eine Königswürde, erklärt er, Tract. theol. polit. cap. 18, gegen Ende. (Auerb. Übers. Bd. 1, S. 395). giebt es für die holländischen Staaten nicht; an ihrer Spitze haben jederzeit nur Grafen gestanden, denen niemals das Recht der Herrschaft übertragen worden ist. Diese an ihre Pflicht zu gemahnen und nötigenfalls auch zur Rechenschaft zu ziehen, haben die hochmögenden Staaten sich als ihre Befugnis zur Sicherung der bürgerlichen Freiheit vorbehalten. Wird also den Übergriffen eines solchen Oberhauptes gewehrt, so kann von Abfall nicht die Rede sein, da es sich nur um Wahrung der eigenen althergebrachten Herrschaft bei den Staaten selbst handelt. Dem damals zum Königtume wieder zurückgekehrten England, meint Spinoza, Tract. theol. polit. cap. 18, gegen Ende. (Auerb. Übers. Bd. 1, S. 395). käme eine viel geringere Freiheit zu, und in Cromwell sieht er nur einen Monarchen mit neuem Namen, der sich trotz aller Strenge nach innen und beständigen Fehden nach außen nicht halten konnte, sondern dem rechtmäßigen Könige hatte weichen müssen, den das Volk, die Verschlimmerung aller Zustände unter dem Protektor gewahrend, zurückgerufen hatte. Spinoza ist aber damit weit entfernt, die monarchische Verfassung irgendwie zu befürworten. Er spottet derer, die sich haben einreden lassen, daß die Majestät heilig sei und die Stelle Gottes auf Erden vertrete, nicht durch Wahl und Zustimmung der Menschen, sondern durch göttliche Fügung eingesetzt worden. Tract. theol. polit. cap. 17, gegen Anfang. (Auerb. Übers. Bd. 1, S. 367). Auch in der Monarchie gilt Spinoza die Wohlfahrt des Volks als höchstes Gesetz, und dies allein solle auch höchstes Recht des Herrschers sein; Tract. polit. cap. VII, § 5. und wenn es dem Monarchen auch zustehe, unter den ihm vorgelegten Ansichten seiner Ratgeber eine ihm gutdünkende zu wählen, dürfe er doch nichts gegen die Absicht des ganzen Rates beschließen. Die Grundlagen des Staates will Spinoza als die ewigen Beschlüsse des Königs betrachtet wissen und erklärt es für einen durchaus unanfechtbaren Gehorsam, wenn die Minister seine den Grundlagen des Staates widerstreitenden Gebote auszuführen sich weigern, denn: »ist auch alles Recht der erklärte Wille des Königs, so ist keineswegs aller Wille des Königs auch Recht.« Tract. polit. a. a. O. § 1 f.

Auf Ludwig XIV., das vielbewunderte Vorbild fürstlicher Willkür, richtet Spinoza ein besonderes Augenmerk. Dessen Erbansprüche auf die Niederlande führt er ausdrücklich als eine nicht zu gestattende Ungehörigkeit an, der eine kluge Verfassung vorzubeugen habe. Tract. polit. a. a. O. § 1 f. Ihn hat er auch offenbar im Sinn, wo er sich gegen Söldnerheere erklärt Ebendaselbst. Kap VI. § 10. Kap. VII. § 7, § 12, § 17. Tract theol polit. cap. 17. (Auerb. Bd. 1. S. 379). und die Landesverteidigung auf bürgerliche Wehrpflicht gegründet wissen will, da dies allein dem Staate und der bürgerlichen Freiheit heilsam, während die vom Könige besoldeten Krieger sich als seine Dienerschaft fühlen und lediglich ihm Gehorsam zu schulden wähnen. Ebenso dürfte der nämliche Monarch gemeint sein, wenn Spinoza dem Irrtum entgegentritt, Tract. polit. cap. VI. § 5. als könne einer allein das höchste Recht des Staates besitzen, da keine Kraft zum Tragen einer solchen Last ausreiche und die Sorge um die allgemeine Wohlfahrt auf Räte und Vertraute übergehe, die thatsächlich die höchste Gewalt inne hätten, zumal wenn der König, den Lüsten unterworfen, zumeist nach den Launen dieses oder jenes Kebsweibes oder dieses und jenes Günstlings regiere. Sogar eine diesem Herrscher zugeschriebene Äußerung » l'état c'est moi« – rex ipse civitas – findet sich bei Spinoza, Ebendaselbst. cap. VII. § 25. allerdings als typischer Ausdruck überhaupt und in der von ihm eingehaltenen Deutung, daß der Königswille mit dem bürgerlichen Recht als seiner unabweislichen Richtschnur zusammenfalle und kein König irgend welche über seinen Tod hinausreichende Bestimmung treffen dürfe, »weil mit ihm gewissermaßen auch der Staat stirbt« und der bürgerliche Zustand in den natürlichen zurückkehre, die höchste Macht mithin naturgemäß dem Volke wieder anheimfalle, das sich alsdann eine neue Verfassung geben könne.

Das Werk, dem wir einen großen Teil der eben mitgeteilten politischen Ansichten entnommen, hatte Spinoza während seines Verweilens in Voorburg verfaßt und 1670 durch seine Amsterdamer Freunde veröffentlichen lassen. Betitelt war es » Theologisch-Politische Abhandlung«, mit der nach damaligem Geschmack üblichen näheren Angabe: »einige Erörterungen enthaltend um darzuthun, daß die Freiheit zu philosophieren nicht nur unbeschadet des Glaubens und des Friedens im Staate statthaft sei, sondern nur mit dem Frieden im Staate und dem Glauben aufgehoben werden könne«. Der Verfasser war nicht genannt, ob aus Rücksicht auf die erregten Zustände beim Erscheinen des Buches, oder um die von ihm verfochtene Sache durch größere Unbefangenheit seitens der Leser zu fördern, mag dahingestellt bleiben. Statt des Autorennamens trug das Titelblatt eine Stelle aus dem ersten Briefe Johannes, Kapitel 4: 13, als Motto: »Daran erkennen wir, daß wir von Gott sind und Gott in uns ist, daß er uns von seinem Geiste gegeben hat«.

Ein Vorwort, das über Inhalt und Darstellungsverfahren des Buches zu orientieren sucht, will alle Verantwortung im staatlichen Gemeinwesen auf Thaten allein beschränkt sehen und preist es als ein besonderes Glück der Niederlande, daß einem jeden die volle Freiheit des Urteils und der Gottverehrung nach seiner Überzeugung gewährt sei und die Freiheit als das teuerste und köstlichste gelte. Hiermit entrichtet der Verfasser seinen Dank gegen die republikanische Partei, deren Herrschaft der freiheitlichen Entwicklung namentlich in Bezug auf religiöse Duldung besonders günstig gewesen, während das Überwiegen der oranischen Partei, wie wir wissen, auf die Mitwirkung einer unduldsamen und zudringlichen Hierarchie und ihrer Gefolgschaft gegründet war, die ihren Einfluß ebenso in kirchlichen wie auch in akademischen Angelegenheiten geltend zu machen verstanden hatte. Ihr wird das Schreckbild der monarchischen Regierungsform vorgehalten, bei der es auf die Täuschung der Menschen abgesehen sei und auf die Furcht in ihnen, die unter dem vielverheißenden Namen der Religion versteckt zu werden pflege. Mit Hilfe gottesdienstlicher Formen und Ceremonien, wodurch die Religion über alle Anfechtung erhoben und allerseits der größten Ehrerbietung gesichert werde, käme man schließlich so weit wie die Türken, die jede Erörterung über Religion für Sünde halten und die Einsicht eines jeden mit so viel Vorurteilen gefangen nehmen, daß der gesunden Vernunft jeder Zweifel für unstatthaft gilt. Aber auch wo die Religion nicht so tief gesunken, bereite das Feststellen gesetzlicher Bestimmungen über Gedanken und Meinungen eine große Gefahr, da solches die Macht im Staate der geistlichen Fraktion zuführe, die ihre Vorherrschaft eifersüchtig bewacht und, wo ihr das Verdammen und Verfolgen Andersdenkender nicht genügt, es auch nicht scheut, Glaubensstreitigkeiten zu Empörungen gegen die rechtmäßige Staatsgewalt zu benutzen. Wie sehr die Religion unter solchen Mißständen entarte, zeige sich hinlänglich darin, daß dort die Ehrfurcht vor der Geistlichkeit an die Stelle der Gottesverehrung trete, schmutzige Habsucht und Eitelkeit die Inhaber kirchlicher Würden auszeichne, die Tempel zu Schaubühnen werden, wo sich Redner hören lassen, nicht um das Volk zu belehren und zum Guten anzuhalten, sondern es zur Bewunderung hinzureißen, Haß und Feindseligkeiten gegen Andersmeinende auszustreuen und die Vernunft als von Natur verderbt zu verschreien.

Wie der erklärende Titel des Buches andeutet, sind es drei Gebiete des Kulturlebens, die Spinoza in ihrem Wesen und ihren gegenseitigen Beziehungen zu untersuchen vornimmt. Von den zwanzig Kapiteln seiner Abhandlung gehören deren fünfzehn der Theologie, hieran schließen sich drei, worin er seine Staatslehre mit besonderer Rücksicht auf das Religiöse entwickelt, um in den beiden Schlußkapiteln von der Freiheit des Philosophierens zu handeln, mit welchem Ausdruck nach damaligem Sprachgebrauch das Recht der freien Gedankenthätigkeit überhaupt, wie sie im Erkennen und Wissen sich äußert, gemeint ist.

Daß der Theologie eine so umfassende Auseinandersetzung gewidmet wird, entspricht durchaus dem Charakter einer Zeit, in der Glaubensinteressen, sei es in Form spontanen Überzeugungseifers oder als Gegenstand hierarchischer Anmaßung, durch engherzige und selbstsüchtige Machthaber begünstigt, eine überwiegende Bedeutung hatten. Hierauf sein Augenmerk gerichtet und die Ansprüche der Theologie auf alleinige Führung im geistigen Leben einer unbefangenen Prüfung unterworfen zu haben, bildet den weltgeschichtlichen Beruf Spinoza's.

Ihre Ansprüche auf diese Führerschaft gründet die Theologie auf die heilige Schrift. Tract. theol. polit. cap. 7. Anfang. Zwar ist in aller Munde, sagt Spinoza, daß die Schrift Gottes Wort sei und den Menschen die wahre Glückseligkeit oder den Weg zum Heil lehre; im allgemeinen scheint man sich aber um nichts weniger zu kümmern, als nach deren Vorschriften zu leben. Am wenigsten fragen ihnen die Theologen nach, denen es meist darum zu thun ist, eigene Erdichtungen für Gottes Wort auszugeben, ihre Klügeleien gewaltsam aus der Schrift herauszudeuten und mit göttlicher Autorität zu schützen. Sie sind nur darauf bedacht, unter dem Vorwande der Religion andere zu zwingen, daß sie denken wie sie. Bei der Auslegung der Schrift ist es auf Rechthaberei abgesehen, nicht auf ein hingebendes Eindringen in ihre Lehren, die einen ganz andern Lebenswandel heischen, als er sich bei den dünkelhaften und von verwegener Begierde geleiteten Wortführern des Glaubens und ihrem Anhange im allgemeinen zeigt. Ehrgeiz und Frevel haben es dahin gebracht, daß man die Religion nicht sowohl in der Beobachtung ihrer Lehren, als vielmehr in der Verteidigung von Menschensatzungen erblickt, daß sie nicht mehr in der Liebe, sondern im Schüren der Zwietracht unter den Menschen und in der Verbreitung des feindseligsten Hasses besteht, der fälschlich für göttlichen Eifer und innige Glaubenstreue ausgegeben wird. Es wird von unendlich tiefen Mysterien geträumt, die in der Schrift verborgen sein sollen; um ihnen aber auf die Spur zu kommen und deren Aufnahme bei den Menschen zu fördern, lehrt man diese Vernunft und Natur verachten und nur das bewundern und verehren, was der Vernunft und Natur soviel als möglich zu widerstreiten scheint. Tract. theol. polit., cap. 15 u. Vorwort. Dem Gewirre der theologischen Vorurteile sich zu entwinden, giebt es aber nur den einen Weg, die Schrift selbst so zu prüfen, wie man die Natur zum Gegenstande der Forschung macht, und so entwickelt Spinoza die seines Erachtens allein wahre Methode die Schrift zu erklären.

Allerdings steht dies mit dem herkömmlichen Verhalten gegen die Bibel entschieden in Widerspruch. Es gilt für ausgemacht, daß Gott durch eine besondere Vorsehung sie gänzlich unverfälscht erhalten habe, und den Büchern als solchen, nicht deren Inhalt, nämlich den das Heil der Menschen bezweckenden Lehren, wird göttliche Verehrung gezollt; zudem aber wird behauptet, daß die bloße Vernunft mit ihrem natürlichen Licht zur Erklärung der Schrift nicht ausreiche, vielmehr eine übernatürliche Erleuchtung dazu erforderlich sei. Wer aber darf sich einer solchen rühmen? – Die Schrifterklärungen derer, bei denen man eine höhere Erleuchtung annimmt, zeigen wahrlich nichts Übermenschliches: wo ihre dunkeln Ausdrücke nicht die Verlegenheit andeuten, in der sie selbst über den wahren Sinn der Schrift sich befinden, giebt es bestenfalls nur Mutmaßungen, und so weit gelangt man auch mit dem natürlichen Licht, das auch zu richtigen Einsichten führt, wenn die Mühe des Nachdenkens und Überprüfens seiner Denkergebnisse nicht gescheut wird. Nicht besser steht es um die Behauptung, die übernatürliche Erleuchtung zum vollen Verständnis der Schrift sei nur den Gläubigen vergönnt. Die Propheten und Apostel pflegten ihres Lehramts nicht vor Gläubigen allein, sondern auch vor Ungläubigen und Gottlosen, denen sie sich doch verständlich machen mußten, und bei diesen konnten sie wohl nichts als ihren natürlichen Verstand voraussetzen. Tract. theol. polit. cap. 7.

Wohl aber ist es wichtig, auch wo man sich des natürlichen Lichtes bedient, die Schrift nicht nach bloßen Eingebungen unserer Vernunft und nach vorgefaßten Meinungen zu deuten, sondern die ganze Erkenntnis der Bibel aus ihr allein zu schöpfen; denn wer sie ohne irgend welche Vorurteile erklären will, ist verpflichtet, an seinen eigenen Voraussetzungen zu zweifeln und sie von neuem zu prüfen. Tract. theol. polit. cap. 7., a. a. O.

Für die richtige Auslegung der Schrift aus sich allein genügt es aber nicht, das von ihr Mitgeteilte seinem Inhalte nach zu prüfen; es ist auch die Eigentümlichkeit der Sprache, in welcher die auf uns gekommenen Bücher geschrieben, und die Denk- und Ausdrucksweise der Verfasser mit zu berücksichtigen. Weil alle Schriftsteller sowohl des alten wie neuen Testaments Hebräer waren, ist auch der Charakter und der Entwicklungsgang der hebräischen Sprache selbst hierbei wesentlich von Belang, und zwar nicht nur hinsichtlich des in dieser Sprache geschriebenen alten, sondern auch hinsichtlich des neuen Testaments, dessen Schriften, wenn auch in anderen Sprachen überliefert, dennoch »hebräisieren«. Tract. theol. polit. cap. 7.

Große Schwierigkeiten findet das richtige Verständnis der Bibel namentlich in einigen für die hebräische Schrift besondern Eigenheiten: daß sie weder Vokale noch Unterscheidungszeichen beim Satzbau kennt, dagegen aber einen wechselweisen Gebrauch von Buchstaben und Worten und ebenso ein willkürliches Versetzen der Tempora und Modi bei den Zeitwörtern gestattet. Um den wahren Sinn mancher Stellen zu ergründen, sind also vielfache linguistische Untersuchungen erforderlich – in Spinozas Nachlaß fand sich eine zu diesem Behuf von ihm verfaßte, wiewohl unvollendet gebliebene hebräische Grammatik –, mit denen sich aber diejenigen ungern befassen, denen es darum zu thun ist, ihre dogmatischen Vorurteile aus der Schrift herauszuklauben. Noch weniger beachten solche Leute, daß uns die Schicksale der Bibelschriften großenteils, das Nähere über deren Verfasser fast ausnahmslos unbekannt geblieben: wir wissen nicht bei welcher Gelegenheit und zu welcher Zeit die Bücher geschrieben worden, noch welche Bewandtnis es mit den verschiedenen Lesarten hat und wie viele derselben vorhanden. Tract. theol. polit. cap. 7.

Immerhin läßt sich bei umsichtiger Prüfung gar viel Thatsächliches feststellen, das über den Wert und die Bedeutung der einzelnen Schriften wesentlich entscheidet. Schon dem unbefangenen Bibelleser drängt sich die Einsicht auf, daß die Bücher Mose, die Bücher Josua, der Richter, Samuels und der Könige nicht, wie gelehrt wird, von diesen Personen selber herrühren, sondern einfach nach ihnen benannt worden sind. Eine streng wissenschaftliche Untersuchung all dieser Bücher führt zu dem unabweislichen Ergebnis, daß sie – wie es Widersprüche, Verwirrungen und Lücken, vorzüglich in chronologischer Hinsicht darlegen – einer weit späteren Zeit als der herkömmlich für sie angenommenen entstammen, und daß ebenso die prophetischen Bücher, denen man das Gepräge unmittelbarer Aufzeichnungen zu verleihen gesucht hat, lediglich als späte, unvollständige und unordentliche Sammlungen älterer Fragmente erkannt werden müssen. Tract. theol. polit. cap. 8.

Eine gewissenhafte Bibelkritik muß auch gegen einen Hauptbestandteil der heiligen Schrift, den ihr eigentümlichen Gottesbegriff und die vorwiegend mit ihm verknüpften Vorstellungen, Einspruch erheben. Sie gipfeln im Wunderglauben, der die göttliche Thätigkeit nur in einer Unterbrechung oder sogar im Aufheben der natürlichen Ordnung sehen will, obwohl von dieser zugleich gesagt wird, daß sie von Gott in gewisser Weise bestimmt oder geschaffen sei. Gott und Natur werden als zwei getrennt einander gegenüber stehende Mächte gedacht, von denen die eine müssig bleibt, während die andere handelt. Der gemeine Volkssinn staunt oft als Wunder an, wovon er eine natürliche Ursache nicht zu erkennen vermag, oder auch werden Wunder ersonnen, um damit eine angebliche Vergünstigung von seiten der Gottheit sich zuzumessen. Was maßt sich aber nicht alles die Thorheit des Volkes an, welches weder von Gott noch von der Natur einen gesunden Begriff hat, die Ratschlüsse Gottes in menschlicher Weise auffaßt und die Natur sich so eingeschränkt vorstellt, als sei sie ausschließlich des Menschen wegen vorhanden. Allerdings kommt in der Natur gar vieles vor, dessen Zusammenhang und Verursachung uns nicht sogleich einleuchtet; aber daraus folgt keineswegs, daß es wider die ihr gehörende ewige Ordnung geschehe oder daß sie, von Gott mangelhaft und dürftig eingerichtet, zeitweise einer Nachhilfe bedürfe. In der Natur geschieht nichts, was nicht aus ihren ewigen, unveränderlichen Gesetzen erfolgt, und das Wort Wunder, meint Spinoza ganz im Einklang mit den Rationalisten der späteren Aufklärung, Tract. theol. polit. cap. 8. kann nur in Bezug auf die Meinungen der Menschen und als Zeichen ihrer Unwissenheit verstanden werden.

Viele freilich wollen in den Wundern einen besonderen Gottesbeweis erblicken und berufen sich dabei auf den göttlichen Willen, als könne dieser wandelbar und von Einzelheiten abhängig sein, während er doch deutlich genug aus der Natur in ihrer unendlichen Gesetzmäßigkeit spricht, allerdings nicht jedem Verständnis sofort faßlich, am wenigsten den von Aberglauben und Eitelkeit bethörten Gemütern, die sich übrigens nicht scheuen, die Vernunft blind und die Wissenschaft eitel zu nennen, dagegen die Wahnvorstellungen ihrer Einbildung, Träume und alberne Possen für göttliche Antworten halten, ja sogar behaupten, Gott sei den Weisen abhold und habe seine Ratschlüsse nicht in den Geist, sondern in die Eingeweide der Tiere, in den Vogelflug und allerhand sonstigen Blödsinn geschrieben. Aus Wundern das Dasein und die Macht Gottes erschließen wollen, widerstreitet aber schon dem von diesen Leuten selbst durchaus zugestandenen, auch in der Bibel hinlänglich erwähnten Umstande, daß Wunder auch dem Teufel zugeschrieben und sowohl von falschen Propheten wie von Götzendienern als Thatsachen berichtet werden. Es ist einfach lästerlich Wunder gleichsam als göttliche Selbstzeugnisse zu betrachten. Tract. theol. polit. cap. 6.

Da in der Natur nichts ihrer ewigen, festen und unveränderlichen Ordnung entgegen geschieht und Wunder hinsichtlich der Gottheit jeder Beweiskraft ermangeln, verstehe sogar, wie Spinoza meint,26 die Schrift unter den Ratschlüssen und Willensakten Gottes nichts Anderes als die Ordnung der Natur selbst. Über diese Dinge als solche gewähre die Schrift allerdings keine Belehrung, weil es nicht zu ihrer Aufgabe gehört. Wo sie von Wundern berichtet, liege einfach die Denk- und Auffassungsweise früherer ungebildeter Zeiten vor, wobei auch noch die den meisten Menschen anhaftende Unfähigkeit mitwirke, jede Sache einfach so wie sie geschehen zu erzählen und den Bericht von ihren vorgefaßten Meinungen frei zu halten. Dadurch eben glauben die Leute häufig etwas ganz anderes wahrzunehmen, als sie thatsächlich sehen oder hören, und nun gar wenn die Begebenheit ihre Fassungskraft übersteigt oder ihr persönliches Interesse dabei im Spiele ist, kann der nämliche Fall im Berichte mehrerer Personen gar leicht das Ansehen eben so vieler und gänzlich verschiedener Begebenheiten bekommen. Was mithin als wirkliches Geschehnis in der Schrift erzählt wird, kann sich nur den Naturgesetzen gemäß zugetragen haben, und wenn man etwas in ihr findet, was der natürlichen Ordnung offenbar widerstreitet oder aus derselben nicht gefolgert werden kann, so ist es unbedingt als von ruchlosen Händen in die Schrift eingeschoben zu beurteilen. Tract. theol. polit. Vorwort u. cap. 6.

Gegen solche Behauptungen haben die Anwälte des Glaubens, die für jeden Buchstaben in der Schrift göttliches Ansehen fordern, die Beschuldigung der Gottlosigkeit immer zur Hand. Sie mögen bedenken, daß es außer derjenigen Gottlosigkeit, die in einem frechen Verachten eines sittlichen Lebenswandels besteht und gar häufig mit strenger Rechtgläubigkeit vereinbar sein soll, nur die einzige giebt, die gerade durch das Festhalten am Wunderglauben und allen damit verwandten Wahnvorstellungen erzeugt wird. Wunder können nur Unterbrechungen der nach Gottes unveränderlichen Ratschlüssen festgesetzten Naturordnung sein, und jene zugeben heißt die von Gott auf ewig bestimmten Naturgesetze in Abrede stellen; ein solcher Glaube aber macht uns an allem zweifeln und muß schließlich zum Atheismus führen. Tract. theol. polit. Vorwort u. cap. 6.

Denn nur auf dem Wege der Vernunft ist reine und wahrhafte Gotteserkenntnis zugänglich, und nichts kann thörichter sein, meint Spinoza, Cap. 13 u. 15. als dieses größte Geschenk und göttliche Licht toten Buchstaben, welche durch die Fahrlässigkeit der Menschen verstümmelt, durch ihre Schlechtigkeit gefälscht werden konnten, unterwerfen zu wollen, echte Frömmigkeit nur im Mißtrauen gegen die Vernunft und das eigene Urteil zu finden und den für gottlos zu erklären, der die Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit derer bezweifelt, die uns die heiligen Bücher überliefert haben. Kann man, fragt er, Religion und Glauben nicht anders verteidigen, als wenn man absichtlich alles ignoriert und der Vernunft den Rücken wendet? Freilich ist intellektuelle oder vollkommene Erkenntnis Gottes keine allen Gläubigen gemeinsame Sache, sondern ein nur wenigen verliehenes göttliches Geschenk, und eben deshalb braucht weder die Vernunft oder Philosophie die Religion zu ihrer Magd zu haben, noch die Religion oder Theologie die Vernunft zu der ihrigen.

Hier eben liegt die unverrückbare Grenzscheide zwischen Theologie und Philosophie, die nichts mit einander gemein haben und zwei gänzlich verschiedenen Gebieten menschlicher Geistesthätigkeit angehören, die eine auf Wahrheit und Erkenntnis gerichtet, zu der nur Auserlesene sich erheben, weil ja keiner befohlenermaßen weise und gelehrt sein kann, die andere aber ihre Thätigkeit auf dasjenige richtend, was jedes menschliche Wesen unbedingt einsehen und in seinem Thun befolgen kann. Cap. 15.

Denn die Religion oder der Glaube hat nur Sinn und Bedeutung als eine alle Menschen in gleicher Weise umfassende Angelegenheit, und die Form in der das geschieht, ist auf Seiten der Gottheit die Offenbarung durch die von ihr berufenen Lehrer, von Seiten der Menschen ein dieser Unterweisung entsprechendes Wissen und Thun. Glauben heißt, sagt Spinoza, von Gott dasjenige zu wissen, ohne welches der Gehorsam gegen ihn wegfällt, sowie das, welches mit Annahme dieses Gehorsams anzunehmen ist. Von allen zufälligen, beiläufigen, willkürlichen, gleichgiltigen Zuthaten befreit, erweist sich aber als durchgehender Hauptinhalt der heiligen Schrift und als ihr wahrhafter Endzweck der Gehorsam gegen Gott und die Liebe zu den Mitmenschen. Nur in Beziehung auf Gehorsam oder Widersetzlichkeit, keineswegs aber in Beziehung auf Wahrheit oder Irrtum giebt die Schrift einen Maßstab für fromme Gesinnung oder Handlungsweise ab; vielmehr weiß sie auch da gerechtes und edles Thun zu würdigen, wo es einem reinen Herzen entspringt, ohne daß gleichzeitig eine bestimmte Kenntnis der göttlichen Offenbarung vorhanden wäre. Und eben hierin liegt der besondere Wert der heiligen Schrift und ihre nimmer versiegende Heilskraft. Cap. 14.

Weil im Vergleich mit der gesamten Menschheit nur sehr wenige durch bloße Leitung der Vernunft in der Tugend sich befestigen, ein ihren Forderungen angemessener Lebenswandel aber für die menschliche Wohlfahrt erforderlich und bis zu einem gewissen Grade von jedem Menschen befolgt werden kann, ist die göttliche Offenbarung eine Notwendigkeit. Daß es zum Heil oder zur Glückseligkeit genüge, bemerkt Spinoza, Cap. 12. die göttlichen Ratschlüsse als Rechtsbestimmungen oder Gebote anzunehmen, ohne sie zugleich als ewige Wahrheiten begriffen zu haben, kann nicht die Vernunft, sondern nur die Offenbarung allein lehren; sie weist auf eine besondere Gnade Gottes hin, die wir mit der Vernunft nicht fassen können, daß nämlich der einfache Gehorsam der Weg zur Seligkeit sei und die heilige Schrift gerade daraufhin den Sterblichen einen so großen Trost gewähren kann.

Gleichwohl ist Gottes Wort keineswegs in einer Anzahl von Büchern enthalten, die man zum Gegenstande göttlicher Anbetung machen müßte. Sie sind nur Mittel und Werkzeuge zur Förderung des Heils; denn die wahre Religion ist von Gott in die Herzen der Menschen, in den menschlichen Geist selbst eingeschrieben, die von ihm berufenen Lehrer, Propheten oder Apostel genannt, haben diese Einsicht nur zu wecken und auf ihre Bedeutung für den Seelenfrieden hinzuweisen. Cap. 12.

Urkundlich hat sich Gott den Hebräern am deutlichsten offenbart und hat, wie die Schrift besagt, der Leitung ihrer Schicksale eine besondere Fürsorge gewidmet. Demnach enthalten die biblischen Bücher gar viele Bestimmungen und Vorschriften, die lediglich das Gedeihen des jüdischen Staates betrafen und mit dessen Aufhören alle Giltigkeit verloren haben. Freilich wollen das die Juden selbst nicht zugeben, betrachten sich für alle Ewigkeit als die Auserwählten Gottes und meinen, nur unter ihnen seien Propheten als gottbegnadete Lehrer erstanden. Ganz davon abgesehen, daß die Bibel selbst von wahrhaften Propheten erzählt, die bei andern Völkern auftraten, und daß gottwohlgefälliger Lebenswandel, das heißt Frömmigkeit und Herzensreinheit, auch bei andern Völkern vorkommen, während die Hebräer selbst gar oft von ihrem Gotte abgefallen; so ist doch das Verhältnis seit dem Erscheinen Christi ein ganz anderes geworden. Denn er ist nicht zur Belehrung der Juden allein, sondern zu der des ganzen Menschengeschlechts in die Welt gekommen. Cap. 3 u. 12.

Über das neue Testament eben so ausführlich wie über das alte sich auszulassen, erklärt Spinoza durch seine unzureichende Kenntnis des Griechischen behindert zu sein. Cap. 10 u. 12. Gleichwohl weist er darauf hin, daß auch darin gar manches enthalten sei, was hinsichtlich der wahren Religion entbehrt werden könne, die allemal nur in der jedem Gemüt faßlichen Anleitung zu einem frommen und gerechten Lebenswandel bestehe. Ausdrücklich erwähnt er das Vorhandensein der vier Evangelien und fragt, wer wohl glauben könne, Gott habe die Geschichte Christi viermal erzählen und den Menschen schriftlich mitteilen wollen. Obwohl Einzelnes in dem einen Evangelium enthalten sei, was in den übrigen nicht vorkomme, dürfe doch hieraus nicht geschlossen werden, daß alles was in diesen vieren erzählt werde, zu wissen nötig gewesen sei oder die Verfasser von Gott besonders ausersehen worden, damit die Geschichte Christi besser verstanden würde. Offenbar habe jeder sein Evangelium an einem andern Orte gepredigt und es auch niedergeschrieben, und zwar lediglich um für Christus zu zeugen, aber nicht um die übrigen Evangelisten zu erläutern. Ergiebt sich nun allerdings manche Übereinstimmung und Ergänzung, so genügt doch jede Erzählung für sich, und auch durch ein einziges Evangelium würde das von Christus verkündete Heil zugänglich bleiben.

An diesem selbst liegt alles, an der von ihm stammenden Lehre, nicht an den über ihn später aufgestellten kirchlichen Dogmen. Diese werden von Spinoza mit Schweigen übergangen, da sie, wie er mehrfach andeutet, Cap. 4, 7, 18, 14. für den gewöhnlichen unverbildeten Verstand zu spitzfindig seien und sogar unter den Gelehrten, auch bei redlichster Gesinnung, abweichende und widerstreitende Deutungen erfahren. Die Göttlichkeit der Schrift ist ausschließlich darin begründet, daß sie den Weg zur Tugend angiebt, und die Lehren der wahren Frömmigkeit lassen sich, weil sie ja allgemeinfaßlich und leicht zu verstehen sein müssen, in die einfachsten und gewöhnlichsten Worte kleiden, wie sie uns namentlich in ergreifendster Weise in der Bergpredigt überliefert worden, die für Spinoza den Kern der Lehre Christi enthält. Cap. 11. In ihm selbst verehrt Spinoza kein übernatürliches Wesen – seinen Tod, sagt er in einem Briefe, Brief Nr. 23 u. 25 (Auerb. Übers. Bd. 2. S. 298 f. 302): dazu Tract. theol. polit. cap. 18. fasse er buchstäblich, seine Auferstehung aber allegorisch –, sondern einen opfermutigen Märtyrer der Heilswahrheiten; diese wurden ihm, der zu einem sonst nie erreichten Grade der Vollkommenheit gelangt war, unmittelbar, ohne Worte und Gesichte wie es bei den Propheten geschah, geoffenbart und eben deshalb könne er, als der Träger der ewigen Weisheit Gottes, auch sein eingeborener Sohn genannt werden.

Als solcher sei er, wie Spinoza unter Berufung auf wichtige Aussprüche des Paulus erklärt, Tract. theol. polit. cap. 3. zu allen Völkern gekommen, weil Gott aller Völker Gott, nämlich allen gleich gnädig ist. Alle ohne Unterschied habe er von der Knechtschaft des Gesetzes befreit, damit sie fortan nicht durch das Gebot äußerer Bestimmungen, sondern durch den festen Ratschluß des Innern sittlich handeln möchten. Zudem erinnert Spinoza daran, Tract. theol. polit. cap. 7. daß einzelnes in der Fassung der Lehre Christi den Zeitumständen angepaßt sei, weil er sich vorzugsweise an unterdrückte Menschen wandte, denen er Duldung der Unbilden und Nachgiebigkeit gegen böswillige Gewalthaber empfahl, wie solche in verderbten Zuständen das Übergewicht haben. In gesunden staatlichen Verhältnissen, meint Spinoza, könne von derlei nicht die Rede sein, da die Gerechtigkeit dort niemals zu Gunsten der Schlechten und Verruchten preisgegeben werden dürfe.

Richtig verstanden, sagt Spinoza, Tract. theol. polit., cap. 14. Dazu Brief v. 28. Januar aus Voorburg. (Auerb. Übers. Bd. 2, Nr. 34). gestatte die Schrift durchaus nicht irgend welche Kränkung der Gerechtigkeit. Sie lehrt nichts als den bloßen Gehorsam, nämlich an Gott glauben und ihn verehren, was ebenso durch Gehorsam bewiesen werde. Dieser aber besteht lediglich in der Nächstenliebe. Wer da liebt, sagt Spinoza in wörtlicher Anführung einer Stelle aus dem ersten Johannesbriefe, nämlich seinen Nächsten, ist aus Gott geboren und kennt Gott; wer nicht liebt, der kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe. Ob also jemand gläubig oder ungläubig sei, läßt sich nur aus den Werken allein beurteilen. Mit dem thatfreudigen Gehorsam ist auch der rechte Glaube gesetzt, dagegen Glaube ohne Werke ist tot. Wenn einer, indem er Wahres glaubt, ungehorsam wird, so hat er in der That einen gottlosen Glauben, und wenn er hingegen Falsches glaubend gehorsam ist, so hat er den frommen Glauben. Dadurch erkennen wir, sagt Spinoza wiederum an den Johannesbrief anknüpfend und damit auch die Bedeutung des seinem Buche vorgesetzten Mottos näher erklärend, daß wir in Gott leben und er in uns, daß er uns von seinem Geiste gegeben hat, – nämlich die Liebe. Das Gemüt in der Liebe zu den Mitmenschen zu bestärken, das ist ewiger und einziger Endzweck der Schrift, nur dadurch ist jeder in Gott und Gott in ihm, und wessen Herz in der Liebe und in solchem Gehorsam gegen Gott entflammt ist, der hat Christus in der That nach dem Geiste erfaßt und Christus ist in ihm. Cap. 14, cap. 6 gegen Ende.

Die Religion auf die wenigen ganz einfachen Lehrsätze zurückzuführen, die Christus seine Jünger lehrte, wäre wohl äußerst erwünscht, weil es nicht nur allen religiösen Aberglauben entfernen, sondern auch den Frieden unter ihren Bekennern fördern würde. Denn schon von den Zeiten der Apostel an gab es in der Kirche Streitigkeiten und Trennungen über die verschiedenen Grundlagen der Religion, und das namentlich infolge spekulativer Probleme, die ihr beigemischt wurden. Hierdurch eben entsteht eine Mannigfaltigkeit im Auffassen der Glaubenssätze und in deren Auslegung, wie sie jeder mit ganzer Beistimmung seines Gemüts anzunehmen sucht, um so, einig mit sich selbst, Gott verehren und gehorchen zu können. Das freilich muß jedem zustehen, aber die nämliche Freiheit darf er keinem anderen verwehren und diejenigen, die von seiner Meinung abweichen, wenn sie auch durchaus rechtschaffen und tugendhaft sind, nicht als Feinde Gottes verfolgen, und nur seine Meinungsgenossen als Auserwählte Gottes lieben. Immer sind es, wie es Spinoza nachdrücklich wiederholt, nicht Lehren und Ansichten, die über Wert oder Unwert eines Glaubens entscheiden, sondern die Herzensneigung und die ihr entsprechenden Thaten, und wo dies allein als Maßstab der Religion gilt, da werden die Menschen überall friedlich und einträchtig leben. Cap. 11.

Für das Gedeihen des Staates, der die Eintracht unter seinen Angehörigen zu seinem Hauptzweck hat, ist es auch besonders förderlich, die Ausübung seiner Macht auf Thaten allein, nicht auch auf Gedanken zu erstrecken; denn nur jene können befohlen und unter Umständen mit Gewalt erzwungen werden, diese aber nicht, und nur der Staat erfüllt seine Bestimmung, dessen Macht mit den von ihm aufrecht zu erhaltenden Rechten und Gesetzen durchaus zusammenfällt. Glaubenssachen zum Gegenstande gesetzlicher Bestimmungen machen, heißt aber nichts anderes als eine bestimmte Glaubensform auf Kosten anderer begünstigen, und weil solches zunächst einer Priesterschaft zum besonderen Vorteil gereicht, so ist es diese selbst, die das staatliche Leben beeinflußt und zeitweise auch die staatliche Ordnung durch Empörungen aufs Spiel setzen kann. Bei dem Streite der Remonstranten und Contraremonstranten hat sich das hinlänglich bewährt. Als Staatsmänner und Provinzialstände über Fragen der Religion entscheiden wollten, wurde eine Religionsspaltung daraus; denn durch Religionsgesetze, welche den Streit schlichten wollen, werden die Menschen nur erbittert statt gebessert, weil die Spaltungen nicht aus dem Streben nach Wahrheit, als der Quelle der Milde und Sanftmut, sondern lediglich aus der Herrschsucht entspringen. Cap. 20.

Der Staat und dessen Machthaber besitzen ihre Gewalt nur auf Grund der Einschränkung, die jeder einzelne an seinem ursprünglich durchaus unbegrenzten Naturrecht macht, kraft dessen er Alles zu thun berechtigt ist, wozu sein Wollen und Können ausreicht. Weil ein solcher an sich in der Natur allerdings begründeter Zustand aber nur zu Streit und Kämpfen führt und große Nachteile hat, die durch einträchtiges und einer gewissen Ordnung unterworfenes Zusammenwirken zu meiden sind, hat jeder Einzelne so viel von seinem Naturrecht an den Staat und die ihn vertretende Verwaltung übertragen, wie zum Aufrechthalten der gemeinsamen Ordnung erforderlich ist. Diese hat es zunächst auf Friedensstörer und böswillige Leute abgesehen; denn wenn alle Menschen durchweg nur friedfertigen Gemütes und von einer durchaus rechtschaffenen Gesinnung wären, bedürfte es durchaus keiner auf Gewalt, also auf Furcht und Strafe gegen die Widerspenstigen gegründeten Staatsordnung. Alles jedoch, zu dessen Ausübung und Befolgung man weder durch Belohnung noch durch Drohung gebracht werden kann, liegt außerhalb der obrigkeitlichen Befugnisse. Seiner Urteilskraft kann sich niemand begeben, denn wie könnte irgend welcher äußere Zwang es dahin bringen, daß man glaube, das Ganze sei nicht größer als sein Teil, der Körper unbegrenzt und unendlich, oder daß man alle dem Geiste unmittelbar einleuchtenden Wahrheiten bezweifle? Cap. 5 u. Tract. polit. cap. III. § 8.

Das höchste Recht frei zu denken, auch über Religion, kommt jedem als ein unbedingt unveräußerliches Recht zu. Wohl aber hat der Staat, so weit es sich um Kulte und andere damit zusammenhängende äußere Bestimmungen handelt, ein Wort mitzusprechen und Religionsformen als solche rechtskräftig zu machen, die mithin allemal dem Staate unterworfen sein müssen. Tract. theol. polit. cap. 19; Tract. polit. cap. III. § 10, cap. VI, § 40.

Wie in religiösen Dingen gilt Freiheit des Urteils noch viel mehr in den wissenschaftlichen, und nichts kann thörichter und gefährlicher sein als in derlei Angelegenheiten gesetzliche Einschränkungen zu machen. Man würde damit nur Heuchelei und Verstellung züchten, im übrigen aber alle die Rechtschaffenen erbittern, die das mühsame Ergründen der Wahrheit zu ihrem Lebensberuf gemacht haben. Für sie bleiben die von den Gesetzen verdammten Meinungen immerhin richtig; die dagegen erlassenen Gesetzesbestimmungen werden aber von denen, die sie ausgewirkt, als Privilegien betrachtet, welche abzuschaffen auch einer einsichtsvollen und gerechten Obrigkeit Gefahr bringen kann. Theoretische Fragen durch Gesetze entscheiden zu wollen ist ein unseliges Verfahren, vor dem sich jede kluge Regierung zu hüten hat; denn derlei Gesetze, in denen befohlen wird was jeder glauben solle und verboten, etwas gegen diese oder jene Meinung zu sagen oder zu schreiben, beruhen im Grunde nur auf einer Nachgiebigkeit gegen den Zorn und die Machtansprüche derer, die Leuten mit freier Gesinnung abhold sind und die religiöse Hingebung der Gläubigen gänzlich in ihrer Gewalt haben wollen. Gesetze aber, die nur von denen übertreten werden können, welche aus eigenem Antrieb die Tugend und die Wissenschaften üben, versetzen den Staat in die bedenkliche Lage, Männer von überlegenem Geist in seiner Mitte nicht dulden zu können. Welch größeres Unheil kann es denn für einen Staat geben, als rechtschaffene Bürger wie Frevler des Landes zu verweisen, weil sie anders denken als die Menge und nicht heucheln mögen? Was verderblicher sein, denn Männer wegen ihres freien Sinnes als Feinde behandeln und zum Tode führen zu lassen, so daß die Richtstätte, der Schrecken der Bösewichter, zur herrlichsten Schaubühne wird, wo das erhabenste Beispiel der Duldung und Tugend zur öffentlichen Schmach des staatlichen Ansehens erglänzt? Die sich ihrer Ehrlichkeit bewußt sind, fürchten den Tod nicht wie Übelthäter und flehen nicht um Gnade, denn ihr Herz ist nicht von Reue über eine schimpfliche That gepeinigt und sie sehen es keineswegs als Strafe, vielmehr als eine Ehre an, ruhmvoll für die gute Sache und für die Freiheit zu sterben. Tract. theol. polit. cap. 20, Schluß.

Solches ist, seinen Hauptzügen nach, der Inhalt des merkwürdigen Buches, das einen wichtigen Markstein in der Geschichte der menschlichen Geistesentwicklung bildet. Den heutigen Leser mutet es anfänglich befremdend an. Aber trotz seiner schwerfälligen Darstellung und seiner ungelenken Gliederung des Stoffes, trotz mancher Widersprüche und vielfältiger Wiederholungen, trotz der offenbaren Anbequemung an vulgäre Vorstellungen, die »der ungebildeten Menge« wegen als Wahrheiten behandelt werden, trotz mancher Neben- und Fehlgriffe, die eine spätere Forschung als solche erkannt und berichtigt hat, muß es doch auf ein unbefangenes Gemüt einen mächtigen Eindruck üben. Anton Bettelheim: Ludwig Anzengruber (Führende Geister, Bd. 3) S. 130. Es läßt den Pulsschlag einer gewaltigen Bildungsarbeit fühlen, die redlich und unverdrossen um den Erwerb von Geistesgütern gerungen, deren Vollbesitz auch noch für unser Zeitalter vielfach einen Gegenstand des Strebens und Mühens ausmacht, und unter diesem unwiderstehlichen Eindruck giebt man sich willig der Führung eines jener Geister hin, die in selbstloser Liebe zur Wahrheit allein ihr Glück darin gefunden, zu leben als Bürger der Zeiten, die da kommen werden.

Vollständig kann der Traktat nur im historischen Zusammenhange der religionsphilosophischen Bewegung neuerer Zeit verstanden werden. Wie in seinen Voraussetzungen, so ist er auch in seinem litterarischen Werte zeitgeschichtlich bedingt.

Zunächst erscheint er als ein erster Schritt über die durch die Reformation gewonnene Geistesstufe hinaus zur vollen Befreiung des europäischen Denkens von der Vormundschaft der christlichen Theologie. Wie die Reformation der angemaßten Autorität der Kirche das Recht der freien Überzeugung entgegenstellte, diese aber durch die heilige Schrift begrenzt wissen wollte, die ihr als unantastbares Gotteswort galt, so hat Spinoza die Autorität der Schrift selbst in Frage gestellt und gezeigt, daß auch sie nur Menschenwerk sei, das seinen Wahrheitswert vor einer freien und umsichtigen Prüfung zu bewähren habe. Das unbehinderte Forschen in der Schrift mußte notwendig zur Bibelkritik führen, und diese begründet zu haben, Strauß, Glaubenslehre u. Sam. Herm. Reimarus. Eigentlich schon Paulus in seinem Vorwort zur Ausgabe d. Werke 1802. bleibt Spinozas unantastbarer Ruhm in der Geschichte der Menschheit. Wie viel auch seine Leistung späteren Händen überlassen: das Wichtigste ward durch ihn gethan.

Unmittelbar wandte er seine Kritik nur dem alten Testamente zu, während er dem neuen eine gewisse Schonung entgegenbrachte. Man hat darin eine Erbitterung gegen seine frühere Glaubensgenossenschaft und eine weitgehende Rücksicht gegen seine Freunde unter Angehörigen christlicher Gemeinden finden wollen. Mit Unrecht. Weltgeschichtlich konnte nichts korrekter sein als mit dem alten Testamente gründlich aufzuräumen, das geständigerweise durch das neue für aufgehoben gilt. In den Händen der calvinistischen Geistlichkeit war aber namentlich das alte Testament eine gefährliche Rüstkammer zu hierarchischen Übergriffen im Staatsleben geworden, und diese ungebührliche Ausbeutung der Schrift wollte Spinoza im Interesse eines freien Gemeinwesens beseitigt, dessen Leitung einer lediglich die Wohlfahrt der Bevölkerung beachtenden kräftigen Regierung anvertraut wissen. Seine vermeintliche Rücksichtnahme auf christliche Glaubensvorstellungen hielt dabei wahrlich das bescheidenste Maß: denn nicht genug, daß er sämtliche Dogmen für durchaus belanglos neben dem reinethischen Gehalt der religiösen Vorschriften erklärte, zudem die Rückschlüsse aus seiner alttestamentlichen Kritik sich von selbst für gleichartige Elemente des neuen Testamentes ergeben: mit dem Betonen der moralischen Aufgabe der Religion hat er zugleich das unbedingte Recht derjenigen Konfessionen seiner Zeit verfochten, die zu den kirchlich verhaßten gehörten, weil sie freie Religionsauffassung verlangten und gestatteten.

Gerade durch dies Verfahren ist das Buch historisch bedeutsam. Mit seiner entschiedenen Abkehr von allem Wunderbaren, von allem Phantastischen und Symbolischen in der Religion, und ebenso mit seiner Auffassung der Religion selbst, hat es der fortschrittlichen Theologie der Aufklärung ihre wesentlichen Tendenzen vorgezeichnet. Genau wie Spinoza hat der spätere Rationalismus den religiösen Glauben der Menschheit von allen mystischen, unreifen, phantastischen Zuthaten zu reinigen, die Religion des Glaubens durch eine Religion der Moral zu ersetzen und das Ethische als dasjenige zu begreifen gesucht, was allem Glauben den eigentlichen Wert verleiht. An diese kritische Läuterung der Religion knüpft sich aber bei den Rationalisten die schon für Spinoza charakteristische Annahme, daß die auf solchem Wege gefundene Auffassung der Religion zugleich das Wesen der Religion und als solches die Urreligion selbst, die Glaubensweise des Naturmenschen ausdrücke, die nur durch böswillig hineingetragene Zuthaten entstellt worden sei. Was sich ihrer Kritik als das Selbstverständliche ergab, nahmen sie für das dem ursprünglichen Menschen durchaus Natürliche; sie vermochten nicht einzusehen, daß die Gleichstellung des durch freien Vernunftgebrauch mannigfach gebildeten Menschen der Neuzeit und des dieses Vorteils durchaus entbehrenden Naturmenschen zweifellos unstatthaft sei. Es beruhte dies aber auf einer nur durch abstrakte Begriffswillkür ermöglichten Täuschung, bei der jede Erkenntnis der Religion als solcher unerreichbar bleibt.

Erst das später erworbene Verständnis für das Historische, welches dem XVII. Jahrhundert noch gänzlich fehlte und auch dem folgenden langehin versagt bleiben sollte, hat schließlich zu einer richtigen Auffassung der Religion geführt. Bedingt war sie aber durch die schon für Spinoza geläufige Einsicht, daß die Bibel, eben so wie alle sonstigen Religionsurkunden, nur Menschenwerk sei und demnach aufgefaßt und beurteilt werden müsse, und daß zugleich in diesen Urkunden der frühesten Gedankenthätigkeit unseres Geschlechts keineswegs Ergebnisse einer unbefangenen und durch Vernunftgebrauch geleiteten Erkenntnisthätigkeit enthalten seien.

Dies Verhalten der Religion und speziell der Bibel gegenüber, für die nunmehrige Wissenschaft ein selbstverständliches, wird aber von gewisser Seite her heute noch als ein völlig ungerechtfertigtes betrachtet und behandelt. Die Verteidiger der göttlichen Autorität der Bibel oder Offenbarung der Inspiration, der Wunder, der philosophischen Wahrheit der in ihr enthaltenen Lehren, wandeln mitten unter uns. Erbittert gegen die ihnen unbequeme Forschung, verlangen sie vom Staat, er solle der Wissenschaft, wenn sie sich nicht aus freien Stücken zur Umkehr entschließe, mit seinen Machtmitteln die Grenzen anweisen, innerhalb deren sie sich zu bewegen und jenseits deren sie ein Unantastbares anzuerkennen habe. Und so groß ist die Zahl dieser Vorkämpfer des Mittelalters, so groß die allgemeine Unsicherheit über dasjenige, was Spinoza als das alleinige Ziel und die alleinige Aufgabe der Staatsgewalt bezeichnet hat, daß der Staat sich diesen Forderungen allzuoft gefügig erweist und den Versuchen seinen Arm leiht, die Annahme gewisser dogmatischer Sätze als unentbehrliche Voraussetzung sittlicher und bürgerlicher Tüchtigkeit zu behandeln.

Mit demselben Nachdruck, wie Spinoza that, gilt es auch heute immerfort zu verkünden, daß dasjenige, was den Wert des Menschen bestimmt, nicht die Glaubenssätze seien, zu welchen er sich bekennt, sondern die Grundsätze, nach denen er handelt; daß der Zweck der Religion einzig und allein in ihren sittlichen Wirkungen liegen dürfe, und daß niemand ein Recht habe, vom Menschen mehr zu verlangen als Unterwerfung unter die Autorität der sittlichen Normen. Ein großer Teil unserer Zeitgenossen steht heute noch auf dem Punkte, auf welchem sich die Zeitgenossen Spinozas befanden, und für diese alle ist sein Traktat in keiner Weise veraltet oder überflüssig; für sie alle enthält er eine Reihe von höchst beherzigenswerten Wahrheiten – Dinge, welche in der naiven, voraussetzungslosen, vielfach pedantischen Darstellung Spinozas vielleicht überzeugender wirken, als die Erörterungen moderner Wissenschaft.

Je weniger man sich täuscht über den schroffen Gegensatz, in welchem die Grundanschauung des Buches, seine Negation des Übernatürlichen, seine Ablehnung alles Dogmatischen, seine Gleichsetzung des religiös Wertvollen mit dem Heilig-Menschlichen, zu weitverbreiteten, ja teilweise herrschenden Stimmungen unserer Zeit steht, um so mehr wächst es, gleichsam vor unsern Augen, in seiner historischen Bedeutsamkeit, um so kühner erscheint der Schritt, welchen Spinoza über seine Zeit hinausgethan, und um so mehr begreift man die äußere Vorsicht, hinter welcher der Autor seine innere Kühnheit zu verbergen bemüht war.

Daß das Buch auf starken Widerspruch stoßen würde, dessen war er sich wohl bewußt und hatte wohl deshalb am Schlusse desselben erklärt, er wolle nichts gesagt haben, was den Landesgesetzen irgend zuwiderliefe. Auf Rechnung seiner Amsterdamer Freunde, die den Druck besorgten, kommt aber wohl die Vorsichtsmaßregel, es mit fingiertem Druckort und Verlegernamen zu versehen: auf dem Titelblatt ist Hamburg für das eine und Heinrich Künrath für das andere angegeben.

Zunächst hielt sich die Entrüstung über das Buch im Gebiete des mündlichen Meinungsaustausches. Die Orthodoxie, die durch das abermalige Emporkommen der oranischen Partei frischen Wind in ihren Segeln verspüren mochte, versäumte nicht die Philosophie Descartes' für den Glaubensfrevel verantwortlich zu machen, während gleichzeitig Anhänger dieser Lehre, die durchaus ein gutes Einvernehmen zwischen Philosophie und Theologie angestrebt hatte, in die Verdammnis gegen den »ruchlosen« Verfasser einstimmten. Bouillier, Hist. philos. Cartés.; Vol. 1, S. 402 f. Aber auch an wahrhafter Zustimmung muß es ihm nicht gefehlt haben, denn schon zu Anfang des Jahres 1671, wenige Monate nach Veröffentlichung seines Traktats, erfährt Spinoza, daß eine holländische Übersetzung desselben hergestellt sei und demnächst in Druck gelangen werde. Daraufhin ersuchte er seinen Freund Jarrig Jellis in Amsterdam den Thatbestand zu ermitteln und den Druck womöglich zu hintertreiben. Es ist dies nicht bloß meine Bitte, heißt es in dem Briefe, Brief v. 17. Febr. 1671 (Auerb. Übers. Bd. 2, S. 384). sondern auch die vieler meiner Freunde und Bekannten, denen es leid thäte, das Buch verboten zu sehen, wie unzweifelhaft geschehen wird, falls es in holländischer Sprache erscheint.

Das befürchtete Verbot war inzwischen gegen das lateinische Original selbst, mutmaßlich auf Betrieb der Geistlichkeit, ausgefertigt worden. Anfänglich aus dem Handel zurückgezogen, kam es etwas später in drei verschiedenen Verkleidungen wieder, indem es unverfänglichen Schriften beigeheftet wurde, darunter zwei medizinischen und einer über philologische und historische Fragen. Die verschiedenen Titel bei Saisset, Bibliographie (zu Bd. 2 seiner Übers. d. Werke Sp.).

Spinozas Verlaß auf den Freisinn der Landesverwaltung, an der sein Freund Jan de Witt mitthätig war, würde dieser Enttäuschung schwerlich erlegen sein, wenn nicht inzwischen die politischen Beziehungen der Republik eine bedenkliche Verschiebung erfahren hätten. Die eben hierdurch aufs höchste gesteigerte Aufregung der Bevölkerung mochte dazu geführt haben, die erbitterte Geistlichkeit durch jene Maßregel zu beschwichtigen und der ohnehin schwer bedrängten Regierung geneigter zu machen. Mittlerweile war es nämlich der französischen Diplomatie gelungen, die von Jan de Witt gestiftete Tripelallianz zu sprengen. Englands leichtfertiger König hatte sich seinem allerchristlichsten Schwager gegen angemessene Entschädigung zum Bundesgenossen angetragen, und die in Schweden herrschende Aristokratenpartei hatte ebenfalls klingenden Gründen nachgegeben und die Abhängigkeit vom Sonnenkönig für ehrenvoller als das die Wahrung des Protestantismus bezweckende Bündnis mit den Niederlanden erachtet. So sah sich der batavische Freistaat völlig isoliert und von der Übermacht Frankreichs bedroht, das die katholische Politik des inzwischen in Verfall gekommenen Spaniens zu der seinigen gemacht und es auf das Erreichen dessen abgesehen hatte, was den spanischen Habsburgern nicht geglückt war: die Unterwerfung der vereinigten Niederlande. Angesichts dieser Gefahr mußte jede Spaltung innerhalb des Protestantismus gemieden werden, und so mochte die niederländische Regierung das Verbot des anstößigen Buches als eine von den Umständen geforderte Notwendigkeit eingesehen und zugelassen haben.

Mit Auflösung der Tripelallianz, die ja geschlossen ward, als die französischen Heere bereits die spanischen Niederlande besetzt hatten, war ein wesentliches Hindernis zum weiteren Vordringen des Feindes beseitigt. Um die oranische Partei niederzuhalten, hatte die republikanische Verwaltung absichtlich die Landesverteidigung auf die Seemacht gegründet und die genügende Ausrüstung der Landestruppen vernachlässigt, weil sie in deren Hebung einen Machtzuwachs der Oranier befürchtete, von denen die Feldherrnwürde als eine in ihrer Familie erbliche beansprucht wurde. Anfang 1672 ließ der Feind seine Truppen in die Provinzen einrücken, die nur einen kurzen und erfolglosen Widerstand leisten konnten. Im Hochsommer hatten die Franzosen mehr als ein Drittel der Republik besetzt, ihr Hauptquartier in Utrecht aufgeschlagen; nun waren sie im Begriff gegen die Hauptstadt anzurücken. Der ratlose de Witt war geneigt einen demütigenden Frieden einzugehen; da erhob sich die oranische Partei und zwang ihn sein Amt niederzulegen. Zum Statthalter und Oberbefehlshaber sämtlicher Truppen wurde der junge Oranier, damals noch nicht zweiundzwanzig Jahre alt; unter jubelnder Zustimmung des Volkes ernannt, um fortan, stets ausgezeichnet durch rastlose Thatkraft und klugen Sinn, nicht nur der Retter seines Vaterlandes zu werden, sondern damit auch den Protestantismus und die ganze freiheitliche Entwicklung Europas vor dem Unheil der französischen Machtgelüste zu bewahren.

Während er dieses schweren Amtes waltend zunächst um die Hebung der bürgerlichen Wehrkraft sich bemühte, loderte der Hader zwischen den beiden Parteien des Landes heftig weiter, und nicht zufrieden mit dem Rücktritt der Häupter der Republikaner, nahm die oranische Partei auch Hetzerei und Verleumdung zu Hilfe. So ward Cornelis de Witt fälschlich eines Mordplanes auf den jungen Statthalter, sein Bruder Jan eines heimlichen Einvernehmens mit den Franzosen beschuldigt. Nachdem jener, nach mehrwöchentlicher schwerer Untersuchungshaft gleichwohl freigesprochen ward und zusammen mit seinem Bruder, der ihn aus dem Gefängnis abzuholen gekommen, in die Verbannung sich begeben sollte, wurden beide Brüder, bei einem inzwischen entstandenen Volkstumulte, von dem zur höchsten Raserei getriebenen Pöbel ergriffen und unter grausamer Verstümmelung ermordet. Und so groß war die Erbitterung unter den Parteien, daß eine alsbald von den Generalstaaten verlangte Untersuchung und Bestrafung der Mörder seitens der oranischen Partei hintertrieben wurde.

Jene entsetzliche Begebenheit hatte sich am 20. August 1672 im Haag, nahezu vor den Augen Spinozas zugetragen. Zeitgenossen berichten, daß er, von dem Vorfall tief ergriffen, in Thränen ausgebrochen sei, allgemach sich aber beruhigt habe. Darum befragt, wie er das Gleichgewicht seines Gemüts so bald habe wiedergewinnen können, soll er erwidert haben: Mitgeteilt von Lucas. Wozu nützte alle Weisheit, wenn wir, gleich dem großen Haufen den Gemütsbewegungen verfallend, nicht die Kraft hätten, uns von selbst wieder zu erheben? – Vielleicht nie im Leben hat er mehr als bei dieser Gelegenheit bewiesen, wie ernst es ihm um sein Bemühen war, die menschlichen Handlungen und Begierden eben so zu betrachten, als wenn von Linien, Flächen und Körpern die Rede wäre.


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