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Vollkommene Freude der Minder-Brüder.

Obschon die Minder-Brüder auf der ganzen Erde ein gutes Beispiel großer Heiligkeit und Erbauung geben, so besteht darin doch noch nicht die vollkommene Freude. Und wenn ein Minder-Bruder die Blinden sehend und die Krummen gerade machte; wenn er Teufel austriebe, Tauben das Gehör, Lahmen den Gang, Stummen die Rede wieder gäbe, und was mehr ist, wenn er einen viertägigen Todten zum Leben erweckte, so besteht darin doch nicht die vollkommene Freude. Und wenn ein Minder-Bruder die Sprachen aller Völker und alle Wissenschaften und Schriften verstände, so daß er zu prophezeien, und nicht nur, was künftig ist, sondern auch die Gewissen Anderer zu offenbaren wüßte, und wenn er aller Schätze der Erde kundig wäre, und wenn er die Kräfte und Eigenschaften der Vögel, der Fische, der Thiere, der Menschen, der Wurzeln, Steine, Bäume, Gewässer kännte, so bestände darin noch nicht die vollkommene Freude.

Und wenn ein Minder-Bruder so gewaltig zu predigen verstünde, daß er alle Ungläubigen zum Glauben bekehrte, so wäre das noch nicht die vollkommene Freude.

Aber wenn wir zu Sancta Maria von den Engeln kommen, vom Regen durchnäßt, von Kälte erstarrt, mit Koth ganz besudelt und von Hunger gequält, und dort an der Pforte klopfen und der Pförtner erzürnt kommen und sagen wird: »Wer seid ihr?« und wir ihm antworten: »Wir sind zwei von euren Brüdern;« wenn er hingegen sagen würde: »Ihr seid zwei schlechte Kerle, die überall in der Welt umherlaufen, den Armen das Almosen abstehlen;« und wenn er uns nicht aufthun würde, sondern bei Schnee und Regen, in Frost und Hunger bis zum Tode stehen ließe, und wenn wir dann so viele Abweisungen und Unbilden ohne alle Entrüstung und Murren geduldig ertragen, demüthig und liebevoll gesinnt sein würden, weil der Pförtner uns wirklich kennt und Gott seine Zunge wider uns erregt, schreibe: Darin besteht die vollkommene Freude.

Wenn wir dann mit Anklopfen fortfahren, und jener Pförtner auf uns als auf Ungestüme losgeht und auf's roheste in's Gesicht schlägt und sagt: »Packet euch von hier, ihr Niederträchtigen, und gehet in's Wirthshaus; denn wer seid ihr? Hier bekommt ihr durchaus nichts zu essen.« Wenn wir dann solches geduldig ertragen und in Liebe von Herzen verzeihen, schreibe: Darin besteht die vollkommene Freude.

Und wenn wir von allen Seiten gedrängt sein werden, wenn der Hunger uns plagt, Kälte in unsere Glieder dringt und schon die Nacht einbricht, und wir noch immer anklopfen und anhaltend rufen und flehen, daß man uns aufthun möchte, jener Pförtner aber darüber höchst erzürnt sagen wird: »Dieß sind unverschämte Kerle, ich will sie aber zur Ruhe bringen.« Wenn er dann mit einem knotigen Prügel herauskäme, uns bei der Kapuze ergriffe, auf die Erde in Koth und Schnee würfe, und uns so grausam schlüge, daß unser Leib mit Wunden bedeckt würde; wenn wir dann so viel Schmach, so viele Unbilden und Schläge mit Freuden ertragen, mit dem Gedanken, daß wir die Leiden Christi des Hochgelobten ertragen sollen, schreibe und merke es genau: Darin besteht die vollkommene Freude. Nun vernimm den Schluß!

Unter allen Gnadengaben des heiligen Geistes, die Christus seinen Dienern verliehen hat und verleihen wird, ist die vornehmste: sich selbst besiegen und um Gottes und der Liebe Gottes willen gerne Schmähungen ertragen. Denn in allen oben erwähnten Wunderdingen können wir uns nicht rühmen, weil sie nicht unser, sondern Gottes sind. Denn was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen? Aber im Kreuze der Trübsal und Bedrängniß können wir uns rühmen, weil dasselbe unser ist. Und deshalb hat der Apostel gesagt: Es sei ferne von mir, mich in etwas Anderm zu rühmen, als im Kreuze unsers Herrn.


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