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– Es ist wahr, so erzählte mir der frühere Detektiv Barfin, daß von allem, was ich in meiner Praxis erlebt – und es hat da wahrlich nicht an aufregenden Ereignissen gefehlt – doch das geheimnisvolle Verschwinden Herrn Imbergers zu den rätselhaftesten und interessantesten Fällen gehört, die ich jemals verfolgt habe. Es ist damals sehr viel darüber gesprochen worden; jetzt, nachdem so viele Jahre darüber hingegangen sind und ich mich aus dem Dienste zurückgezogen habe, kann ich Ihnen Genaueres darüber mitteilen, denn der wahre Sachverhalt ist niemals in die Öffentlichkeit gedrungen.
Herr Imberger war ein reicher Mann, der von seinen Renten lebte und der nichts anderes tat, als sammeln, und zwar war es seine Liebhaberei, Türklopfer zu sammeln. Ich verstehe nichts davon, aber ich glaube, daß er sehr seltene Stücke zusammengebracht hatte. Diese Sammlung war eine seiner Geliebten – die andere war Andrea, seine Frau.
Er hatte die Fünfzig schon überschritten, als er heiratete. Seine Frau, mit der er nun schon drei Jahre in glücklicher Ehe lebte, war fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Sie hatte blondes Haar und dabei schöne schwarze Augen; sie war ungewöhnlich hübsch und weitläufig verwandt mit Herrn Imberger. Natürlich besaß sie keinen Pfennig.
Sie bewohnten ein kleines, behagliches Haus, das in einer ruhigen Straße in Passy gelegen war und über dessen Gartenmauern hohe Bäume auf die Vorübergehenden herabblickten. Die Bedienung war bewährten alten Dienern anvertraut.
Ein Sohn von Herrn Imbergers ältestem Bruder lebte bei ihnen. Er hieß Max. Unter dem Vorwande, die Kunst des Malens zu studieren, hatte er sich beinahe ganz ruiniert, indem er zehn Jahre lang zuerst in Paris, dann in Italien, wieder in Paris und endlich im Orient ein wüstes, an sexuellen Exzessen reiches Leben geführt hatte und sich endlich darauf legte, Hochstapler und alte neurasthenische Weiber anzuführen. Als er wieder nach Paris zurückkehrte, war er völlig mittellos; dennoch empfing dieser prächtige Herr Imberger, der sein einziger Verwandter war, ihn nicht nur freundlich, sondern nahm ihn auch in sein Haus auf und stellte ihm sogar seine Börse zur Verfügung, als ob er sein eigener Sohn gewesen wäre – trotz aller übeln Geschichten, die über den schönen Max, seine Neigung zum Spiel und seiner vielen Händel mit übelberüchtigten Frauen durch die Luft schwirrten. Er rettete dadurch wahrscheinlich seinen Neffen davor, nähere Bekanntschaft mit der Polizei zu machen.
Imbergers junge Frau war, wie es scheint, zuerst nicht sehr einverstanden mit dieser Freundschaft gewesen. Obgleich Max ihr Vetter und außerdem der Spielgefährte ihrer Kindheit war, schien sie ihm zu mißtrauen, ja sogar ihn zu fürchten. Nach und nach jedoch hatte sich das aber gegeben und ganz ausgeglichen und alle drei schienen einträchtig und vollkommen glücklich miteinander zu leben.
Die Sache hat an einem Februarabend angefangen. Frau Imberger war allein auf einen Kostümball gegangen, Imberger fand keinen Geschmack an derartigen Unterhaltungen, die Verkleidungen langweilten ihn, aber es freute ihn, wenn seine Frau sich amüsierte, und er ließ sie mitmachen, was sie nur wollte.
Außerdem aber kam er regelmäßig, um seine Frau abzuholen und nach Hause zurückzuführen; an diesem besonderen Abend hatte er versprochen, sich um ein Uhr mit ihr zu treffen, um gemeinschaftlich zu Abend zu essen.
Er kam nicht. Die Uhr schlug halb zwei, halb drei, kein Imberger erschien. Die junge Frau wundert sich zuerst und beunruhigte sich dann; ihr Mann war die personifizierte Pünktlichkeit; zuerst suchte man sie zu beruhigen mit allen guten Gründen, die man bei solchen Gelegenheiten hervorsucht; da sich aber ihre Angst immer mehr steigerte, ließ sie sich endlich durch zwei Freunde ihres Mannes nach Hause begleiten.
Aber auch in dem kleinen Haus zu Passy, das dunkel und still dalag, war Imberger nicht zu finden. Die erschreckten Diener, die man aus ihrem Schlafe weckte, sagten aus, daß ihr Herr gleich nachdem Madame gegangen sei, Gesellschaftstoilette gemacht und sich dann gegen elf Uhr in sein im Unterhause gelegenes Zimmer eingeschlossen habe. Er habe gesagt, daß er keinen mehr notwendig habe, man möge zu Bett gehen. Er selbst habe noch etwas zu arbeiten und beabsichtige, sich dann zu Fuß in das Haus der befreundeten Familie zu begeben, wo seine Frau ihn erwarte. Der Neffe Max hatte in der Stadt gespeist und befand sich jetzt wohl im Klub. Er kam erst gegen vier Uhr, nach einem sehr bewegten Pokerspiel nach Hause und geriet völlig außer Fassung über die unerklärliche Abwesenheit seines Onkels.
Es war am Morgen des darauffolgenden Tages, daß man mich damit beauftragte, die notwendigen Nachforschungen anzustellen. Ich hatte schon zu jener Zeit ein gewisses Renommee. Unser Chef vertraute mir die Führung dieser Affäre an, indem er mir sehr weitgehende Instruktionen gab, denn Herr Imberger war eine in ganz Paris bekannte Persönlichkeit, und sein rätselhaftes Verschwinden würde natürlicherweise einen Teufelslärm verursachen.
Ich mache mich sofort mit größtem Eifer an die Arbeit; ich untersuche das Haus in Passy aufs sorgfältigste, ich untersuche auch den Garten und finde nichts. Ich frage alle Welt. Die junge Frau – nie im Leben habe ich ein hübscheres Wesen gesehen als sie – mit ihren bleichen Wangen, ihren großen, tränenerfüllten Augen und dem aufgelösten Haar – die junge Frau antwortete auf alle Fragen, die ich an sie richtete, immer nur in derselben erschrockenen Weise:
»Ich weiß es nicht, ich weiß nichts, er wollte kommen, er ist nicht gekommen ... Oh, ich bitte Sie, bringen Sie ihn mir zurück ...«
Und dann brach sie in konvulsivisches Weinen aus, das mit einer Nervenkrisis endete.
Der Neffe Max, ein bildschöner, junger Mann, mit feingeschnittenem, einen etwas brutalen Ausdruck tragenden Kopf und einer athletischen Gestalt, schien von tiefstem Schmerz ergriffen zu sein, was ihn jedoch nicht hinderte, mir zu helfen, so gut er konnte, indem er mich bei meinem Rundgang durch das Haus begleitete und sich bemühte, irgendeine Spur aufzufinden. Er hatte nicht die geringste Ahnung über das Schicksal seines Onkels und wies meine Andeutung, ob es vielleicht doch möglich sei, daß dieser irgendeinem galanten Abenteuer nachgegangen sei, mit der größten Entrüstung zurück.
»Sie kennen ihn nicht,« sagte er zu mir, »er interessierte sich für nichts anderes in der Welt als für seine Sammlung, und er hat niemals wen anders geliebt, als seine Frau. Mir, der ich ihn achtete und liebte wie einen Vater, hat er stets die liebevollste Nachsicht erwiesen. Er hat es mir erspart, für die Torheiten meiner Jugend zu leiden und ihm allein verdanke ich es, daß ich meine Stellung in der Welt behaupten kann!«
Und er trocknete die Augen.
Was die Diener betrifft, so waren sie ganz bestürzt und verängstigt; sie hatten alles gesagt, was sie wußten, und ich versuchte es nacheinander mit Güte, Strenge und durch überraschende Fragen etwas anderes aus ihnen herauszulocken, es war alles vergebens.
Ich stellte ernste Nachforschungen über das Privatleben Herrn Imbergers an; aber Herr Imberger hatte sozusagen gar kein Privatleben. Alle Welt kannte seine Gewohnheiten. Wenn er allein ausging, sagte er vorher, wo er hinging, und wo er zu finden sei, und er war in keinem zweideutigen Hause bekannt gewesen, weder von Ansehen noch dem Namen nach – davon hatte ich mich überzeugt, denn ich schleppte seine Photographie überall mit herum. Er zählte nicht zu jenen alten Herren, deren Tugend etwas durchsichtig ist und die häufig von unseren Diensten abhängen, und niemals ist sein Name auch nur in der geringsten Beziehung zu irgendeinem banalen Skandal genannt worden; er war ein durchaus rechtschaffener Mann, der seine Frau zärtlich liebte. Er hatte keine Feinde, soviel dies bekannt war, auch keinen Kummer, und er hatte stets solide gewirtschaftet. Er hatte kein Geld bei seinem Bankier eingezogen und in dem in seinem Arbeitszimmer stehenden Safe befand sich eine bedeutende Summe. Es ergab sich ferner, daß sich all seine Kleider in gewohnter Ordnung in der Garderobe befanden. Es fehlte nichts, als der schwarze Gesellschaftsanzug, den er am Tage seines Verschwindens getragen hatte, und der Mantel, den er sich von seinem Diener hatte zurechtlegen lassen; all dies wies darauf hin, daß Imberger wohl jedenfalls das Haus in der Absicht verlassen hatte, mit seiner Frau zusammenzutreffen.
Meine Untersuchung ergab bis jetzt auch nicht das kleinste Resultat; es schien, als ob das Geheimnis, das ich zu enthüllen strebte, immer undurchdringlicher würde. Man hatte bis jetzt immer meinem Spürtalent volle Anerkennung zukommen lassen, aber ich muß gestehen, daß in diesem Falle es mich völlig im Stich ließ. Ich fand nicht den geringsten Anhaltspunkt, war wie vor den Kopf geschlagen und völlig ratlos.
Es gab vielleicht dennoch einen Schlüssel zu diesem unlöslich scheinenden Geheimnis, aber ehe ich es versuchte, den in Anwendung zu bringen, mußte ich alle anderen Hilfsquellen erschöpfen. Meinen Verdruß zu erhöhen, wuchs das Interesse des Publikums an dem Verschwinden Herrn Imbergers täglich mehr. Es war gerade eine sogenannte sauere Gurkenzeit, in der es kein besonderes Gesprächsthema gab: weder die Reise irgendeines Herrschers, noch äußere oder innere politische Streitigkeiten, weder irgendeine Katastrophe, noch eine große Premiere. Ganz Paris interessierte sich für das Geheimnis von Passy, und die Zeitungen fingen an, sich mit einer Ausdauer über mich lustig zu machen, die mir höchst geschmacklos erschien.
Am 1. März läßt mich der Chef rufen und stellte mir Professor Ferrier vor, der, wie er mir sagt, mir eine Mitteilung zu machen hat.
Sie wissen, daß Ferrier schon zu jener Zeit ein berühmter Arzt, Professor der Fakultät und Mitglied der medizinischen Akademie war. Er war ein großer, gutmütig aussehender Herr mit blassem, glattrasiertem Gesicht, langer Nase und großem Mund, dessen klare Augen, mit denen er die Menschen durch und durch zu schauen schien, hinter den Gläsern einer goldenen Brille hervorlugten.
»Man hat mir gesagt, daß Sie ein intelligenter Mensch seien,« sagte er zu mir, als wir allein waren, »und ich glaube das. Hören Sie mich also an: ich bin erst gestern von einer Reise zurückgekehrt, es war mir unmöglich, eher hier zu sein, und ich bin nur zurückgekommen, um eine Unterredung mit Ihnen zu haben. Imberger ist einer meiner besten Freunde gewesen. Wir waren zusammen auf der Schule. Er war reich. Ich aber war sehr arm. Er hat es mir möglich gemacht, zu studieren. Als wir beide auf der Universität waren, hat er die ihm von seinen Eltern erhaltene monatliche Apanage mit mir geteilt, damit ich leben und arbeiten könnte. Ihm – viel mehr wie mir selbst – verdanke ich es, wenn ich das geworden, was ich heute bin. Ihm allein verdanke ich, daß es mir vergönnt ward, so manches Menschenleben zu retten, Kranke zu pflegen und zu heilen. Imberger gehörte zu den wenigen seltenen Menschen, deren unendliche Herzensgüte uns schadlos halten müssen für die Grausamkeit, die Feigheit und das Laster so vieler Elenden, die an uns vorübergleiten. Ich sage Ihnen das, damit sie verstehen, was der Sinn des Wortes Freund bedeutet, wenn ich es auf ihn anwende ... Außerdem möchte ich es aller Welt sagen, es in den Straßen ausrufen, daß ...«
Seine Stimme stockte, seine Augen nahmen einen drohenden Ausdruck an, und ein heller Tropfen lief über seine große Nase.
»Was denken Sie über sein unerklärliches Verschwinden?« endete er trocken.
Ich fühlte mich ein wenig geniert, aber einem solchen Manne gegenüber war es unnötig, zu versuchen, lügen zu wollen. »Ich glaube, daß er ermordet worden ist,« sagte ich daher einfach.
Es zuckte seltsam um Ferriers Mundwinkel, er sammelte sich aber sehr rasch und antwortete mir mit vollkommen ruhiger Stimme:
»Auch ich bin überzeugt davon. Eine etwaige Flucht oder ein Selbstmord kommen für mich, der ich ihn so genau gekannt habe, gar nicht in Erwägung. Er ist jedoch verschwunden, und es ist klar, daß es ein anderer war, der ihn verschwinden ließ. Sind Sie nun auch der Ansicht Ihres Chefs, daß hier ein Zufallsverbrechen vorliegt, daß Imberger etwa an irgendeiner Straßenecke von Apachen ermordet worden sei?«
»Nein,« sagte ich offenherzig. »Dann hätte man den Leichnam gefunden. Wenn er das Opfer der Apachen geworden wäre, die ihn angefallen hätten, um ihn zu berauben, so würde es diesen doch nicht geglückt sein, die Leiche vollständig verschwinden zu lassen, selbst wenn sie dies gewollt hätten.«
»Dann aber, dann ... was denken Sie davon?« Sein durchdringender Blick ruhte fest auf mir. »Was ist Ihre persönliche Ansicht?«
»Ich denke ... ich denke ... Sie wissen, Herr Professor,« antwortete ich ausweichend, »daß unser Beruf uns dazu zwingt, oft an sehr unwahrscheinliche Dinge zu denken ...«
Es entstand eine Pause.
»Nein,« sagte dann plötzlich der Professor, das beantwortend, was ich nicht ausgesprochen hatte, »nein, Sie ist nicht darein verwickelt, sie nicht, ich kenne sie.«
»Nein,« fügte er ungeduldig hinzu, »schütteln sie nicht den Kopf, wir werden nie weiterkommen, wenn Sie nicht glauben, was ich Ihnen sage.«
Ich erlaubte mir, ihn zu unterbrechen.
»Wir haben,« sagte ich, »einen alten Ehemann, wenigstens relativ alt, im Vergleich mit seiner so sehr viel jüngeren Frau. Er ist reich, sie ist arm. Zwischen diesen beiden nun steht ein junger Mann, kräftig und schön, interessant und gewissenlos, der prädestinierte Geliebte! Der Gatte verschwindet plötzlich auf unerklärliche Weise – ich denke, die Lösung dieses Rätsels ergibt sich von selbst. Wenn ich diese Spur bisher noch nicht verfolgt habe, so geschah dies, weil mir von meinem höchsten Vorgesetzten der Befehl wurde, ehe ich dazu überginge, jedes andere Mittel zu versuchen.«
»Nein,« wiederholte Ferrier, »Ihre Lösung ist falsch – das heißt, sie ist zur Hälfte falsch, denn er allein ist der Schuldige ... Ich meine diesen Elenden, den Imberger in seiner Güte und Großmut vor dem Untergang, ja vor dem Zuchthause gerettet hat. Er ist der Geliebte Andreas, er ist ein brutaler, sinnlicher Mensch, eifersüchtig und geldgierig, er wollte beides für sich ganz allein haben, das Geld und die Frau, das Geld zuerst ...«
»Aber,« wandte ich ein, »haben wir auch nur den kleinsten Beweis?«
»Keinen. Es ist Ihre Aufgabe, die Beweise herbeizuschaffen. Wenn Sie dazu meiner persönlichen Hilfe, irgendeiner Auskunft, gleichviel welcher Summe Geldes bedürfen, so lassen Sie es mich wissen, es wird ganz unter uns bleiben. Wir müssen die Leiche auffinden und uns des Mörders versichern; er ist ganz außerordentlich schlau und scharfsichtig, und wir müssen uns davor hüten, seinen Argwohn zu erregen.«
Er verließ mich. Seine Ansicht deckte sich mit der meinen und bestärkte sie. Aber ich bedurfte wenigstens des Anfanges eines Beweises, und ein Fehlgriff würde mir teuer zu stehen kommen.
Max bewohnte jetzt eine Junggesellenwohnung im Viertel von Europa und ging nur sehr selten nach Passy. Die junge Frau lebte ganz ihrer Trauer. Ich wartete auf den Augenblick, in dem ich handelnd eingreifen konnte ... Die Zeitungen überhäuften mich mit Spöttereien über meinen mangelnden Spürsinn. Einige Reporter schienen infolge persönlicher Beobachtungen ebenfalls auf die Vermutung dessen gekommen zu sein, was ich für die Wahrheit hielt; sie wiesen mit versteckten Andeutungen auf die Wahrscheinlichkeit eines leidenschaftlichen Familiendramas hin, und man ging sogar so weit, Verdächtigungen auszusprechen, die sich nur auf »den schönen Max« beziehen konnten.
Da geschah es, daß sich plötzlich ein ganz außergewöhnliches Ereignis zutrug: man war Herrn Imberger auf der Straße begegnet.
Es war das Kammermädchen Frau Imbergers, das ihren, in so rätselhafter Weise verschwundenen Herrn zum ersten Male wiedersah. Das Mädchen kehrte eines Abends in höchster Aufregung in das kleine Haus von Passy zurück und versicherte, daß sie soeben in einer benachbarten Straße ihrem alten Herrn in Person begegnet sei.
»Es war unser Herr,« sagte sie mir, als ich sie nach dieser phantastischen Begegnung ins Verhör nahm, »es war wirklich und wahrhaftig unser Herr! Ich habe doch Augen, um zu sehen, und wenn ich mit dem Kopfe unter dem Messer läge, würde ich noch sagen, daß es unser Herr gewesen, und wenn er es nicht war, so ist es sein Geist gewesen! Denn das ist wahr, daß er nicht aussah wie ein lebender Mensch, er trug einen großen schwarzen Mantel und sein Gesicht sah sehr seltsam aus. Er kam schnell daher; mir lähmte der Schrecken über sein plötzliches Erscheinen förmlich die Beine, und er hat das benutzt, um die Straße hinabzueilen und sich davonzumachen. Aber es war der Herr! Ich kann es vor dem Richter beschwören. Man hat ihn ermordet und nun kann sein Geist keine Ruhe finden und irrt umher ...«
Sie ließ sich nicht abbringen von dieser Erzählung, aber ich muß sagen, daß ihr anfangs kein Mensch geglaubt hat. Die Ansicht des Professors Ferrier, daß dies eine Halluzination gewesen sei, war auch die meine, und alle Welt teilte sie.
Aber bald darauf erschien Herr Imberger von neuem. Er wurde gegen sechs Uhr von einem Antiquitätenhändler in der Straße Chateaudun gesehen. Die Erscheinung zeigte sich an der Türe des Ladens, die sie öffnete, als ob sie eintreten wolle. Dann aber drehte sie sich rasch um, wie ein Mensch, der sich eines Besseren besinnt und verschwand in der Menge. Der Kaufmann, dessen Kunde Imberger schon seit mehreren Jahren war, erkannte ihn ganz entschieden. Allerdings fiel es dem Manne auf, daß er ein etwas seltsames und verstörtes Aussehen gehabt, auch war er sehr bleich und machte einen leidenden Eindruck, aber er versicherte auf das bestimmteste, daß jeder Zweifel an seiner Identität ausgeschlossen sei.
Von da an erschien Herr Imberger noch zu wiederholten Malen. Im Zeitraum von vier bis fünf Tagen wurde er von mehreren Personen gesehen, deren Glaubhaftigkeit nicht in Zweifel gezogen werden konnte und die alle dieselbe Aussage machten: Herr Imberger habe einen großen schwarzen Mantel getragen, sei sehr eilig und rasch einhergeschritten, und sein Gesicht habe seltsam bleich und starr ausgesehen. Man begegnete ihm nur in der Dämmerstunde; und kaum hatte man ihn gesehen, so entfernte er sich schon mit eiligen Schritten. Sein Rechtsanwalt, Herr Druide, versuchte es, ihn auf dem Boulevard Montmartre zu verfolgen, wo er unversehens aufgetaucht war, aber Herr Imberger war so schnell entflohen, daß es unmöglich war, ihn einzuholen.
Auch Professor Ferrier sah mit seinen eigenen Augen den Freund wieder, den er ermordet glaubte.
»Ich habe ihn gesehen,« so erzählte er mir, »ich habe ihn wirklich gesehen, darüber ist kein Zweifel möglich. Ich kam aus der medizinischen Akademie, wo ich einen Vortrag gehalten hatte. An der anderen Seite des Trottoirs stand ein Auto, aus dessen herabgelassenem Fenster Herr Imberger zu mir herübersah, ganz wie früher, wo er mich manchmal vor der Akademie erwartete. Ich erkannte ihn ganz genau, weil das Licht der Wagenlaterne hell auf sein Gesicht fiel. Ich eilte ihm entgegen, aber in demselben Augenblick sauste das Auto davon, während Imberger nach mir zurückschaute und mir ein Zeichen machte, dessen Sinn ich jedoch nicht verstand.«
Von Halluzinationen konnte hinfort nicht mehr die Rede sein, denn die moderne Medizin wie die Jurisprudenz geben das Umherwandeln von Phantomen, Gespenstern und den Geistern der Verstorbenen nicht zu. Obwohl einige Zeitungen halb scherzhafte Artikel über das Erscheinen des Ermordeten brachten und obwohl spiritistische Revuen energisch dafür einsprangen, daß derartige Dinge sehr möglich seien und daß die Geschichte zahlreiche Beispiele dafür liefere, so befestigte sich doch im allgemeinen der Glaube, daß Herr Imberger noch unter den Lebenden sei.
Aber das seltsame, diese ganze Affäre verhüllende Geheimnis hatte damit nur ein anderes Aussehen bekommen. Zu welchem Zwecke verbarg Herr Imberger sich? Sollte er wirklich infolge eines galanten Abenteuers aus seinem Heim entflohen sein? Aber alle, die ihn gekannt hatten, wiesen eine derartige Vermutung zurück, und diejenigen, die ihm nach seinem Verschwinden begegnet waren, behaupteten einmütig, daß sein Aussehen durchaus nicht das eines glücklichen Menschen, sondern vielmehr ein höchst eigentümliches, beinahe unheimliches gewesen sei. Dennoch tauchte dann bald hier, bald dort das Gerücht auf, daß Imberger tatsächlich ein alter Sünder gewesen, dem es unmöglich geworden, seine Laster länger zu verbergen und der deshalb aus der Öffentlichkeit geflohen sei. Die Vertreter dieser Vermutungen stellten die junge Frau Imberger als ein Opfer dar, behaupteten, daß ihr Mann sie in schamlosester Weise verlassen habe und daß schändliche Verleumder sogar ihre Tugend zu verdächtigen gesucht hätten. Aber als ich die junge Frau darüber befragte, wies sie mit größter Entrüstung und Verachtung alles zurück, was auf den Charakter ihres Mannes irgendwie ein falsches Licht hätte werfen können.
»Er war der beste aller Menschen,« wiederholte sie immer wieder, »und keiner schlechten Handlung fähig. Wenn er wirklich noch unter den Lebenden weilt, so muß ein ganz dringender Grund, der mir jedoch völlig unbekannt ist, ihn zwingen, sich vor mir zu verbergen – es sei denn, daß sein Geist sich plötzlich umnachtet hat. Aber wo ist er?«
Sie rang verzweifelnd die Hände und weinte bitterlich. Sie schien mir schöner als je zuvor. Der größere Teil des Publikums neigte übrigens jetzt auch dem Glauben zu, daß Imberger in einem plötzlichen Anfalle von Wahnsinn die Flucht ergriffen habe. Man sprach von der Krisis eines wachen Somnambulismus, einem vorübergehenden Zustand, währenddessen der davon befallene Mensch aufhört, er selbst zu sein, in dem er seine eigene Persönlichkeit verleugnet um sich einer anderen anzubequemen, die ihn aufs Geratewohl durch ein Leben führt, dessen er sich nicht mehr erinnert, sobald er seine eigene Individualität wiedergefunden hat. Professor Ferrier hielt mir zu jener Zeit einen Vortrag über das, was er die Krankheiten des Ichs nannte – was aber seine persönliche Ansicht sei, sagte er mir nicht, und wahrscheinlich zweifelte er ebenso wie ich an den herumschwirrenden Gerüchten.
Die Erklärung, daß sein Verschwinden mit einer plötzlich aufgetretenen Geisteskrankheit Imbergers zusammenhänge, befriedigte mich keineswegs. Ebensowenig glaubte ich an eine Flucht. Ich fragte mich jedoch, ob nicht möglicherweise Imberger sich einfach zu dem Zweck verborgen hielte, um seine Frau und seinen Neffen zu überwachen und zu sehen, was diese tun würden, wenn sich die erste Aufregung über sein Verschwinden gelegt hätte. Aber aus welchem Grunde zeigte er sich dann, und zwar, wie es schien, besonders Leuten, die er kannte? Dann wieder gab es Augenblicke, wo mich der quälende Gedanke verfolgte, daß trotz alledem ein Mord vorliegen müsse. Die Fortsetzung meiner Untersuchung erschien unmöglich. Wie kann man einem sogenannten Verbrecher nachspüren, bei dem es kein Opfer gibt? Aber das Geheimnis Imbergers nahm meine Gedanken immer mehr in Anspruch, und ich war fest entschlossen, den Schlüssel dazu zu finden. Ich hielt, wenn ich mich so ausdrücken darf, stets ein Auge auf das Haus in Passy gerichtet, wo alles in Trauer war, während ich mit dem anderen die Junggesellenwohnung im Viertel von Europa beobachtete, in dem der schöne Max ein üppiges und ausschweifendes Leben führte. Ich bin niemals dahintergekommen, ob er während dieser ganzen Zeit heimliche Zusammenkünfte mit Frau Imberger hatte oder nicht, denn er verstand die Kunst, meine Leute, die ihn beobachten sollten, irrezuführen, in wahrhaft meisterhafter Weise. Es war allmählich bei mir zur fixen Idee geworden, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Ich mußte Imberger finden, tot oder lebendig.
Nun, es war Mittfasten, als ich ihn wiederfand, beides, tot und lebendig! Ich befand mich an jenem Abend in dem großen Saale eines Nachtcafés auf dem Montmartre. Ich gebe Ihnen gern zu, daß ich mich dort nicht der Arbeit halber befand; ich versuchte vielmehr, mich auf ein paar Stunden zu zerstreuen, um auf andere Gedanken zu kommen. Gewohnheitsmäßig unterließ ich es jedoch nicht, gut um mich zu schauen, denn in den Nachtcafés findet man oft Aufschluß über die verborgensten Dinge.
Ich beobachtete schon seit etwa einer halben Stunde die kleinen Kokotten, die in der Mitte des Saales tanzten, als der schöne Max mit einer ganzen Gesellschaft eintrat. Er war Stammgast dieses Hauses, und da ich darauf gerechnet hatte, ihn hier zu sehen, hatte ich mich möglichst vermummt, damit er mich nicht erkennen sollte. Sie nahmen an einem Tische in der Nähe des meinen Platz. Es waren vier Herren, alle im Smoking. Max, ein großer Börsenspekulant, den ich ein wenig kannte, weil ich von ihm Auskunft über die letzten Geschäfte erbeten hatte, die er für Herrn Imberger vor dessen Verschwinden gemacht hatte, und zwei junge, unbedeutende Lebeleute. Es waren drei kleine Mädchen in ihrer Gesellschaft, Tänzerinnen, die mehr oder weniger echte Perserkostüme trugen. Eine von ihnen, die man Cora nannte, drückte sich zärtlich an den unwiderstehlichen »schönen Max«.
Sie nahmen ein Abendessen ein, zu dem reichlich viel Champagner getrunken wurde. Das Lachen der Herren wurde immer lauter und ausgelassener und dazwischen vernahm man das Gekicher und Gekose ihrer kleinen Damen, die sämtlich in angeheiterter, weinseliger Stimmung waren.
Plötzlich standen zwei von ihnen auf, um zu tanzen.
»So wartet doch, ich komme mit euch,« rief die kleine Cora, die, halb in Max' Schoß liegend, eine Zigarette rauchte. »Und dann will ich euch etwas ganz Besonderes zeigen. Ihr werdet die Augen aufreißen vor Erstaunen.«
»Was hast du denn? Erzähle es uns, Bébé,« sagte der Börsenspekulant mit schwerer Zunge und versuchte es, die Kleine festzuhalten, aber sie entschlüpfte ihm.
»Das ist eine Überraschung! Du wirst es schon sehen, du große Robbe,« rief sie, ihren bunten Pompadour durchwühlend, und lief dann schnell in das Damenzimmer, das sie hinter sich abschloß, als ob sie große Toilette machen wollte.
Fünf Minuten später kam sie wieder heraus, begleitet von einer ihrer kleinen Freundinnen, die wie toll lachte. Sie umfaßte ihre Taille und die beiden Mädchen stürzten sich mitten in das Getümmel der Tanzenden – sie erregten dort sofort die allgemeine Aufmerksamkeit; die tanzenden Gruppen lösten sich auf, drängten sich heran, um die wie toll herumwirbelnden Mädchen zu sehen, man applaudierte, lachte, ohne daß ich bis jetzt entdecken konnte, weshalb dies geschah. Jetzt näherten sie sich ihrem Tische, an dem die beiden jungen Lebemänner mit ziemlich verdrossener Miene saßen, während der Börsenspekulant ganz munter dreinschaute und Max lässig auf seinem Sessel hingestreckt, eine Zigarre zwischen den Zähnen, die kleinen Freundinnen erwartete. Cora machte eine letzte Volte und stand dann vor den Herren still, um sich zu zeigen.
Max warf einen Blick auf sie, dann riß er die Augen weit auf, sein Gesicht wurde leichenblaß und nahm einen von Angst und Grauen verzerrten Ausdruck an; er sprang mit geballten Fäusten auf, warf den vor ihm stehenden Tisch um, und mit einer alle Geräusche des Saales übertönenden Stimme schrie er das Mädchen an:
»Nimm das fort, um Gottes willen, wirst du es sofort fortnehmen?«
Alles verstummte; man sah sich betroffen an. Der Börsenspekulant, der neben Max gesessen hatte, war erschrocken aufgesprungen. Er blickte auf die kleine Cora, die wie versteinert dastand, dann aber erbleichte auch er und rief ganz bestürzt:
»Aber das ist ja das Gesicht Herrn Imbergers!«
Diese ganze Szene spielte sich in der Zeit von zehn Sekunden ab. Schon hatte ich mich herangedrängt, und ich sah, daß die kleine Tänzerin ihr Montmartrefrätzchen hinter einer bemalten Wachsmaske versteckt hatte, die in sehr komischer Weise mit ihren blonden Locken kontrastierte, da es die Maske eines älteren Mannes war, in der ich sofort eine verblüffende Ähnlichkeit mit Herrn Imberger entdeckte; kannte ich seine Züge doch zu genau, da ich mich in den Besitz unzähliger Photographien von ihm gesetzt hatte. Ich trat sofort zu Max heran, legte meine Hand fest auf seine Schulter und sagte:
»Wo hast du die Leiche gelassen?«
Ich hatte einen Kampf mit ihm erwartet, und ich war keineswegs sicher, welchen Ausgang der genommen hätte, da Max ungewöhnlich groß und kräftig war. Aber er war im Grunde doch ein Feigling, und er brach förmlich zusammen unter meinem Griffe. Zum Glücke erschienen im selben Augenblick zwei Schutzleute.
Man führte ihn schnell weg, während die Anwesenden ganz verwirrt dreinschauten, da keiner recht begriffen hatte, worum es sich handelte, bis sie am anderen Tage die Geschichte in der Zeitung lasen.
Die kleine Cora, der ich die Maske abgenommen hatte, schritt schluchzend am Arme des Börsenspekulanten neben mir her.
»Ich hatte ihm die Maske nur deshalb heimlich weggenommen, um ihn zu foppen,« wiederholte sie immer wieder, »er hatte ja so viele in seinem Atelier.«
Und der Börsenspekulant, der plötzlich ganz ernüchtert war, meinte immer nur:
»Was für Geschichten sind das! Wer hätte das einem so netten Jungen zugetraut!« –
Ich habe die Leiche Herrn Imbergers gefunden; sie ist im Keller des kleinen Hauses in Passy verscharrt gewesen. Herr Imberger hatte entdeckt, daß Max seine Frau mit Liebesanträgen verfolgte, und obgleich er nicht glaubte, daß sie ihn erhört habe und daß er ihr Geliebter gewesen sei, so hatte er doch eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Neffen gehabt und diesem befohlen, das Haus zu verlassen. Max (er selbst ist es, der mir diese Details mitgeteilt hat, denn er gehört zur geschwätzigen Art von Verbrechern) hatte die Abwesenheit der jungen Frau (es war an dem Abend des Kostümballes) benutzt, um sein Verbrechen zu begehen. Er hatte sich in dem Arbeitszimmer seines Onkels versteckt und ihn mit den Händen erdrosselt. Darauf hatte er den Körper in den tiefsten hintersten Keller geschleppt. Ich würde ihn vielleicht eher dort gefunden haben, wenn nicht die Justiz durch das angebliche Erscheinen Herrn Imbergers irregeführt worden wäre und man mich offiziell genötigt hätte, meine Nachforschungen zu unterbrechen.
Diese Erscheinungen waren in der Tat eine ingeniöse Erfindung des schönen Max. Es wurde dadurch jeder aufsteigende Verdacht von ihm abgelenkt und meinen Untersuchungen und Nachforschungen ein Ende gemacht. Er hatte in aller Ruhe einen Abdruck von dem Gesicht des Leichnams gemacht und danach eine gemalte Wachsmaske hergestellt, die eine überraschende Ähnlichkeit mit Herrn Imberger hatte.
Sobald er bemerkte, daß ich auf seinen Fersen war, machte er Gebrauch davon. Er zog den großen Mantel des Toten an, und in dem Augenblick, wo das Licht der Laternen sich mit dem des sinkenden Tages vermischte, erschien er plötzlich und schnell mit der Maske über dem Gesichte, deren erschreckende Ähnlichkeit mit Herrn Imberger zu dem Glauben verleitete, diesen selbst zu sehen.
Er hatte diese Maske, ohne sie viel zu verbergen, in seiner Wohnung über dem Kamin befestigt, unter vielen chinesischen und andernteils grauenvollen Masken, und die kleine Cora, die er einmal nachts mit nach Hause genommen hatte, wählte sie unter allen anderen, um einen Karnevalsscherz damit zu machen.
So geschah es, daß Max, der durch den Zufall verraten wurde, der bald den Verbrecher, bald die Polizei begünstigt, gezwungen ward, vor dem Schwurgericht zu erscheinen, wo man jedoch gnädig mit ihm verfuhr, da er nur zehn Jahre erhielt weil man es als mildernden Umstand gelten ließ, daß er behauptete, in der Leidenschaft gehandelt zu haben.
Frau Imberger ist nicht gerichtlich verfolgt worden, sie konnte sogar nicht als Zeugin vernommen werden, da sie schwer an einer Gehirnentzündung erkrankte und lange zwischen Tod und Leben schwebte. In ihren Delirien wiederholte sie immer nur die Worte: »Wenn ich gewußt hätte ... oh, wenn ich gewußt hätte ...« ohne daß es Ferrier, der sie behandelte, gelungen wäre, festzustellen, ob sie Gewissensbisse darüber empfand, daß sie, ohne es zu wollen, doch dadurch, daß sie die Geliebte des schönen Max geworden, mit Schuld an der Ermordung ihres Mannes trug, oder ob ihr Kummer nicht dem Umstand galt, daß sie nichts von der ganzen Affäre gewußt hatte und dadurch außerstand gesetzt war, ihrem Freunde zur Rettung zu verhelfen.