Ida Boy-Ed
Um ein Weib
Ida Boy-Ed

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VII.

Brita sah hinaus. Sie hatte es in der Nacht zuweilen gehört, wie der Sturm und die mit ihm einherprasselnden Regengüsse die Erde mißhandelten. Mit dem selbstischen Behagen des Halbwachen, der vom warmen Bett aus das Unwetter nur gerade als Folie des eigenen angenehmen Zustandes empfindet, hatte sie ihren Kopf dann tiefer hineingemuschelt ins weiche Kissen und war immer rasch wieder eingeschlafen.

Nun, heut morgen kam es ihr erst nachträglich ganz zum Bewußtsein: es war eine böse Sturmnacht gewesen.

Man sah es auch dem Park an, auf den hinaus Britas Fenster gingen. Dort, über dem Mittelweg, der den Park in zwei Hälften teilte, lag ein gewaltiger Ast. Und doch faßten diesen Weg Rabatten mit Buschrosen ein, hinter denen breite, jetzt ganz vom Regen durchweichte Rasenstreifen kamen. Und erst hinter ihnen erhoben sich aus dichten, halb verwilderten Gebüschen Baumgreise mit mächtigen und altersmürben Wipfeln. So starke Arme hatte also der Sturm gehabt, daß er mit ihnen bis hinüber zum Mittelweg den großen Ast getragen. Nun lag er da wie ein verschobenes und verbogenes Skelett, das auf den Rücken gefallen ist, und streckte die kahlen hölzernen Knochenarme mit den eckigen Ellenbogen jämmerlich empor.

Was an letzten Blättern etwa noch Busch und Baum durchsprenkelt gehabt, war herabgefegt über Nacht. Nur an dem dichten Hainbuchengestrüpp, das sich wie eine kleine Mauer vor der Gebüschpartie hinterm rechten Rasenstreifen hinzog, saßen die rostbraunen Blätter dicht und kraus zusammengewelkt.

Ein sehr blasser Himmel schwebte hoch und in seinen Farben über dem häßlichen Bild. Er hatte etwas kraftloses, als sei er nach ungeheuersten Anstrengungen zu erschöpft, um zu leuchten. Unter seinem dünnen Blau zog noch weißes Gewölk hin, in seltsam zergehenden, auseinanderfließenden Formen. Zuweilen deckte es die Sonne. Dann stand die Welt in feuchtem Schatten und schien voll von Kümmernissen und Tränen. War die Sonne frei, ging ein mildes, resigniertes Licht über all die Spuren, die die wütende Nacht hinterlassen, und diese abgekühlten Sonnenstrahlen erheiterten die Natur nicht.

Brita seufzte. Halb über das, was ihr Blick vom Fenster her an wehmutsvollen Bildern umschloß. Halb über ihre Gegenwart.

Die stand in so viel Unklarheiten und Unsicherheiten. Und das war der Zustand, den Brita, ihrer Art nach, von jeher am wenigsten ertragen hatte.

»Nein,« dachte sie, indem sie hinaussah, aber eigentlich in sich hineinsah, »ich kann nicht warten. Das hab ich nie können. Warten ist mir gräßlich. In der Ungewißheit: kommt was Gutes oder was Schlechtes, nähm ich lieber das Schlechte, bloß damit ich eine Gewißheit hätte.«

Jetzt mußte sie auf so viel warten – eigentlich auf die ganze Zukunft.

Das hatte sie vorher ja auch schon getan. Aber Großmamas Tod hatte es so deutlich gemacht – das war doch ein Abschnitt ...

»Wenn wenigstens Nachrichten von Papa kämen – oder er selbst«, dachte Brita.

Bis gestern nachmittag war noch Leben im Haus gewesen. Dies merkwürdig feierliche, unfreie, posierte Leben, das um den Tod herumsteht. Man war gekommen, viele, viele Menschen, und hatte Besuche gemacht, Hände in schwarzen Handschuhen hatten sich ihr entgegengestreckt. Das Rollen von Wagenrädern klang als dumpfe Erschütterung im Hause wieder. Kränze kamen und ihr Grün und Weiß peinigte die Nerven und ihr Geruch war aufdringlich und fatal. Man mußte aufschreiben, ordnen, danken, fragen. Die Buchhaltung der Trauerkonvention mit Gewissenhaftigkeit führen ...

Und immer waren die beiden Männer da – zugleich – oder jeder für sich. – Hendrik Hagen ging durch das Haus, fast wie ein Herr und Schützer. Und wenn sie gerade dachte, sie könne all den Trost, der ihrer Kummerlosigkeit mit so lächerlich funebren Mienen dargebracht ward, nun gar nicht mehr mit anhören, sah sie Andrees Blicke auf sich gerichtet ... Und darin stand ein Trost, der nicht dem unbeweinten Tod der alten Frau galt.

Brita wußte selbst nicht warum, aber diese Blicke taten ihr sehr wohl. Sie mußte dann immer denken: diese lästigen Stunden nehmen ein Ende ... man wird ja auch mal wieder lachen dürfen ... braucht sich nicht mehr anstaunen zu lassen, daß man nicht weint ...

Wie hätte ich weinen sollen, dachte Brita, ich kannte sie so wenig und verstand sie gar nicht. Ich wußte nicht, warum sie so viel log und sprach – hin und her, schwarz von weiß und weiß von schwarz –, sie war wohl nervenkrank ... gewiß, das war sie.

Nun fiel Brita ein, daß sie ja doch geweint habe. Und indem sie sich dessen erinnerte, feuchteten sich wieder ihre Augen.

Sie hatte den Tag noch einmal erlebt, wo ihre Mutter begraben worden war – das machte sie weinen – weinen. –-

Und all die versteckten Demütigungen, die sie in der schiefen Stellung im Stevenschen Hause erlebt, fielen ihr, so zusammenhanglos sie mit Großmama waren, doch an ihrem Grabe ein und machten sie weinen – weinen. –-

Ja, über das ganze Leben mußte sie weinen. Wenn sie es recht besah, hatte es ihr noch nicht viel Schönes gebracht. Es wurde wirklich Zeit, daß das Glück kam ...

Früher hatte Brita nicht empfunden, daß ihr etwas fehle, daß ihrer Eltern Dasein sich im engen Kreis, um den sich Sorgenschranken zogen, abspielte. Sie war einfach, heiter und zärtlich neben ihrer Mutter einhergegangen.

Aber in diesem großen, glänzenden Haus der Stevens – da begriff sie, was man alles von seinem Leben haben könne, wenn man Stellung und Geld besitzt. Und weil sie nicht recht Demütigungen ertragen konnte, fing sie bei den Stevens an, sich zu betonen – nahm ein wenig das Gebaren der Aristokratin zwischen Parvenüs an. Und das ließen ihr die Stevens nicht nur hingehen, sondern Brita spürte wohl, daß sie ihnen ein menschliches Paradestück für den Salon war und daß der altadelige Name, den sie trug, immer recht laut und oft, genannt und erklärt wurde – was natürlich nicht verhinderte, daß in andern Stimmungen und Zusammenhängen die Stevens in ihrer Gegenwart ganz unbefangen über arme Leute mit Hochmutsansprüchen spöttelten.

Und hier wiederum, nur damit keiner denke, sie sei ein armes Mädchen, das bei der Großmutter einen Unterschlupf gefunden, hier trat sie als glänzende, weltsichere Amerikanerin auf – in den geschenkten Kleidern von Ethel Stevens.

Wie dumm und wie unverständlich, dachte Brita, daß man etwas tun kann, das man nachher selbst nicht begreift.

Vor einiger Zeit auf dem Damentee bei Frau Amtsrichter Haldenwang hatte Brita zugehört, wie zwei junge Mädchen sich neckten, und die eine sagte der andern, die ein bißchen wichtig getan: ›Mach dich man nicht so.‹ Brita hörte diesen Ausdruck zum erstenmal. Aber sie verstand sofort, was er bezeichnen wollte.

Und sie wußte nun, sie hatte sich auch »gemacht«. Wozu? Wie lächerlich eigentlich. Und besonders wie unbequem.

Wahrscheinlich hatte ich die dunkle Empfindung davon, daß ich gar nichts, gar nichts vorstellte. Deshalb wollte ich gern, daß man mich für Wunder was nähme, sagte sie sich.

Ihr war seit kurzer Zeit wieder so einfach und so fröhlich zumute, wie damals, als ihre Mutter dafür sorgte, daß jeder Tag vom Morgen bis zum Abend Inhalt hatte. Sehr klug wußte die Mutter das anzufangen, und Brita begriff erst später, daß oft Unterricht gewesen war, was ihr Unterhaltung bedeutet hatte.

Dann auf einmal stand Brita ohne Führung und ohne Pflichten da und wußte nicht recht, wohin mit sich. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, daß innerlich unsichere Menschen äußerlich leicht etwas Posiertes annehmen.

Wahrscheinlich war das ihr Fall gewesen.

Wodurch ihr aber diese gute Unbefangenheit zurückgekommen war, wußte sie sich nicht zu erklären.

Aber zugleich war sie auch von einer so merkwürdigen und ganz unbestimmten Ungeduld erfaßt worden.

Ihr war, als warte sie. Es mußte irgend etwas geschehen.

Und nun war etwas geschehen. Großmama war gestorben. Aber das hatte die große, drängende, unklare Ungeduld doch nicht beruhigen können ...

Immerhin ...

Brita dachte: Gott, es ist ja wohl eigentlich pietätlos ... aber so natürlich ...

Und sie malte sich aus, was nun werden würde.

Papa gab natürlich drüben alles auf und kam für immer in die Heimat zurück. Er würde Iserndorf bewirtschaften, als Herr auf dem Grund und Boden sitzen, der schon viele Generationen den Benraths gehört hatte.

Brita verstand sehr genau, amerikanische und deutsche Verhältnisse voneinanderzuhalten. Sie wußte, das Vermögen, welches Iserndorf etwa darstelle, wäre in Amerika nichts. Hier aber, als adelige Besitzer auf uraltem Gut, hier gehörte man trotzdem zur ersten Gesellschaft. Ihr Papa würde es also gewiß nicht verkaufen.

Es würde vielleicht Mühe kosten, Ordnung in die Wirtschaft zu bringen, aber das war ja auch wieder interessant und lohnend.

Manchmal war Brita ein bißchen beunruhigt gewesen, wenn sie das seltsame Gebaren der Großmutter beobachtete und die Notdürftigkeit aller Anschaffungen und Reparaturen. Aber Großmama war alt, wunderlich, nervös, zerfahren, sagte sie sich.

Und seit gestern nachmittag, seit dem imposanten Begräbnis, war in Brita jede leise Unruhe erloschen. Halb Wachow und die ganze Umgegend war dabeigewesen. Im melancholischen Trott war Wagen hinter Wagen von Iserndorf nach Breitenhagen gefahren. Wie ein schwarzer, mißgestalteter, vielgliedriger Heerwurm wand sich der Zug durch die verwaschne, braune, trübe Landschaft und kam nach einer erschrecklich langsam verfließenden Stunde auf dem Dorfkirchhof an, wo hart an der Kirchenmauer das Erbbegräbnis der Benraths seinen dunklen, übelriechenden Mund aufgetan hatte. Daneben stand dann der Pastor Maurer, die Hände klammernd um das vor der Brust erhobene Gebetbuch gefaltet. Seiner Rede hörte Brita genau zu. Dieser Rede, die einfach eine Hymne gewesen war. Und wie viele von den Männern und Frauen, die die offene Gruft in der Haltung schicklicher Wehmut umstanden, sagten Brita nachher noch ein knappes aber ehrendes Wort über die Tote.

Brita hatte erst ein einziges Mal einer Beerdigung beigewohnt: vor mehr als zwei Jahren der ihrer Mutter. Und da folgten wenig Menschen dem Sarge, und was diese wenigen sagten an begeistertem Lob, an herzlichen Trauerworten, schien noch zu gering, blieb noch hinter der Wahrheit zurück ...

Und daraus machte Brita in ihrer halben Klugheit, in ihrer fragmentarischen Welt- und Menschenkenntnis ihre Schlüsse: so ehrte man nur große Herzen oder große Vermögen, oder große Stellungen.

Am Grabe ihrer Mutter war das große, gütige Herz geehrt worden. Mit ihren Herzenseigenschaften aber hatte die wunderliche, unklare alte Frau gewiß niemandem wohlgetan ...

Und von einer großen Stellung hatte Brita auch nichts gehört, denn dazu gehörte nach ihrer Meinung ein ganz anderer Apparat.

Und so schloß sie ganz einfach:

»Also...«

Dies »also« war köstlich beruhigend, gab ein ganz überraschendes Selbstgefühl. Ein bißchen Vermögen haben, auf sicherem Platz stehen, das war doch eine schöne Sache.

Wieder dachte sie an ihre arme Mutter, die es so mühsam gehabt hatte. Wenn sie es doch hätte erleben dürfen, auf Iserndorf als Herrin zu sitzen! Wie hätte Brita es ihr gegönnt – wie innig, wie sehr ...

Unter diesen Gedanken zog sie sich an. Ganz ohne Eile, obschon es sehr spät war. Sie hatte nach den aufregenden Tagen das Bedürfnis, ohne Ordnung mit den Stunden zu verfahren, ganz nach ihrem Gefallen.

Mamsell hatte jetzt kein Recht mehr, ein mucksches Gesicht dazu zu machen.

Sie, Brita, sie war die alleinige Herrin, bis ihr Vater eintraf.

Sie fühlte sich dadurch gehoben ...

Auch vor den beiden Männern ...

Und als sie fertig angekleidet war, ging sie noch immer nicht zum Frühstück hinunter, sondern kramte in ihren Sachen herum. Es hieß heraussuchen, was man etwa für die Trauer verwenden könne. Brita hatte sich erst einmal ein schwarzes Crêpe de Chine-Kleid zurecht gemacht, das eigentlich für Gesellschaften bestimmt und mit ziegelrotem Gürtel geputzt gewesen war. Es ging ja nicht gut an, alle Tage vom Morgen bis zum Abend in dieser feinfaltigen, spitzenbesetzten Pracht einherzugehen. Brita fand eine schwarzseidene Bluse. Aber sie war weißgesteppt. Sie erwog als schwere, sehr wichtige Frage, ob sie einer Wachower Schneiderin die Anfertigung eines Trauerkleides von Wolle oder Tuch anvertrauen könne, oder ob sie an eine Berliner Firma schreiben solle. Frau Antoinette Haldenwang, obgleich diese selbst immer ein bißchen zu kräftig und kleinbürgerlich aufgeputzt war, konnte vielleicht raten ... Ja, Brita wollte nach Berlin schreiben.

Endlich ging sie treppab. Die verschossenen und zerschlissenen Läufer, die als schmaler, grauroter Streif inmitten der breiten, alterstrockenen Treppenstufen gelegen, hatte man gerade vor drei Wochen fortnehmen müssen, weil sie zu schlecht gewesen waren. Kahl ging nun die Treppe hinab zwischen dem dunkel übermalten Geländer von seltsam gemusterten Holzstäben. Jeder Schritt hallte hart auf den Stufen.

Es soll ein neuer Läufer angeschafft werden, beschloß Brita.

Überhaupt mußte das Treppenhaus neu dekoriert werden. Es war abscheulich. Es hätte in einem Gefängnis stehen können. So grauweiß getüncht die Wände ... Und unten im Flur diese Stühle, die wohl alt, aber trotzdem häßlich waren.

Brita sah sich im Hinuntergehen das Holzgeländer auf den Stil hin an. Offenbar Louisseize, dachte sie. Und daran mußte man sich dann halten bei der Neudekoration von Treppenhaus und Flur.

In der ersten Zeit ihres Aufenthaltes hier hatte Brita sich oft über die kärgliche Einrichtung des Herrenhauses gewundert. Ihr Papa hatte ihr doch von so schönem, altem Familienhausrat erzählt, der die Räume auf Iserndorf fülle. Sie fragte danach. Und dann antwortete Großmama heftig, daß hier niemals andere Sachen gewesen seien als diese, daß ihres Papas Erinnerungen ihn täuschen müßten.

Aber neulich auf dem so jäh unterbrochenen Fest hatte diese unangenehme Frau Marya Keßler mit einem eigenartigen Lächeln gefragt, ob ihre Großmama schon die Zeichnungen von Van de Velde habe. Auf Britas verwunderte Gegenfrage »Zeichnungen? Wovon?« sagte die Frau, daß Frau v. Benrath doch alle ihre alten Eichenmöbel an einen Berliner Antiquitätenhändler verkauft habe, weil sie sich modern einzurichten wünsche. Brita hatte sich vorgenommen, die Großmama darüber zur Rede zu stellen, wenigstens in der Form vorwurfsvollster Fragen. Dazu war es ja nicht mehr gekommen. Man mußte es eben hinnehmen als eine der vielen Sonderbarkeiten der alten Dame, die ihre überreizten Nerven nicht mehr zu kontrollieren vermochte.

Aber ihrem Papa würde es gewiß sehr leid tun, die alten Erbstücke nicht mehr vorzufinden. Vielleicht waren sie wieder zurückzukaufen ... Man mußte sehen ...

Sie kam ins Wohnzimmer. Gerade schien die blasse Sonne hinein mit dem kümmerlichen bißchen Lächeln, das sie aufzubringen vermochte. Und gerade traf ein Strahlenbündel den leuchtend sauberen Tapetenflicken, der sich von der Wand abhob, auf die Zeit, Staub, Rauch so viel unklare Töne abgelagert hatten.

Das ging natürlich nicht länger so. Hier mußte alles neu und sauber werden.

Papa würden wohl ein bißchen die Haare zu Berge stehen vor all dem vielen, was eben sein mußte!

Brita dachte ganz verständig: es braucht ja nicht kostbar, nicht elegant zu sein. Nur ordentlich, sauber, dem Auge wohltätiger.

Und sie nahm sich vor, sich im Hause und in der Wirtschaft um alles zu kümmern. Das würde sich wohl lernen lassen. Brita hatte aus den Gesprächen der anderen hiesigen Damen entnommen, daß alle sich um ihr Hauswesen kümmerten. Die Stevenschen Damen hatten es natürlich nicht getan. Ihre Mutter konnte es nicht, weil sie Geld verdienen half: sie war vor ihrer Heirat deutsche Lehrerin gewesen und gab auch als Frau viele Stunden in Schulen und hielt einen Kursus für junge Kaufleute.

Der Gedanke, sich zur Hausfrau auszubilden, erheiterte sie ungemein. Es war für den Augenblick nur ein Spielzeug- und Sportgedanke.

Lübbers brachte Tee und Eier.

»Lübbers,« sagte sie etwas streng, »ich wünsche nicht, daß Sie in dieser alten Jacke servieren. Livree, bitte, immer Livree.«

Er antwortete gar nichts.

Brita begann mit Behagen zu frühstücken, obgleich sie einmal nebenher dachte: »Der Tee ist doch zu schlecht.«

Ihre Gedanken kehrten zu der »Hausfrau« zurück.

Sie fragte sich, ob sie es wohl verstehen werde, ihrem Vater ein gemütliches Heim zu schaffen. Sie wußte von sich, daß sie einen geradezu künstlerischen Geschmack habe. Aber sie hatte doch eine ungefähre Ahnung, daß der allein nicht die genügenden Hilfsmittel gäbe. »Hausfrau« – das war natürlich etwas sehr kompliziertes. Man mußte Menschen befehlen und Dingen sich unterordnen können. Man mußte eine unglaubliche Menge von scheinbar lächerlichen Kleinigkeiten wissen und doch das Ganze nur im Auge haben. Man mußte ein glänzendes Gedächtnis haben und doch jede unangenehme Störung rasch vergessen können. Man mußte die Gewissenhaftigkeit haben, zu sparen und Takt, an der rechten Stelle Geld auszugeben.

Es war entsetzlich, was man alles mußte. Brita hatte mit ihrer Intelligenz an dem negativen Beispiel, das die haltlose alte Frau gab, Studien gemacht.

Aber dies nun in Wirklichkeit selbst zu leisten – es durchzuführen, nicht nur im ersten Anlauf und in dem Spaß, den jede neue Beschäftigung macht – das war's – da lag die Schwierigkeit – das konnte die Last werden ...

Wenn man einen Mann lieb hat, kann man das, fühlte Brita plötzlich.

Und darüber erschrak sie. Das war so in ihr emporgewallt – überraschte sie selbst.

Sie träumte vor sich hin – sah dem Sonnenstrahlenbündel zu, das mit der abscheulichen alten Wand spielte.

Sie dachte an Hendrik Hagen, von dem Großmutter immer gesagt ...

Und sie hatte so die Idee: der hielte seine Frau wie eine Fürstin ... der wollte, der brauchte keine »Hausfrau« ... eine Göttin vielleicht, für seine Dichterträume ...

Immer »Göttin« spielen mußte aber mindestens ebenso anstrengend und verstimmend sein, wie es gewesen war, sich als was Apartes zu betonen.

Wenn Großmama recht gehabt, hatte sie ihm doch offenbar gerade in der Rolle der Weltdame gefallen. Oder hatte er vielleicht unter ihrem Gebaren ihre Unklarheit erkannt? Wenn man das wüßte!

»Was für ein Unsinn«, dachte Brita und verspottete sich selbst.

Es war nur eine fixe Idee von Großmama gewesen. Ganz gewiß!

Hendrik Hagen wollte ihr wohl als ein ergebener Freund. Mehr nicht.

Brita war stolz darauf, daß ein so auserlesener Mann sich freundschaftlich um sie bemühte.

Sie wollte nun auch endlich seine Gedichte lesen. Oder lieber erst den Roman »Simson«. Sie mochte eigentlich nicht gerne Gedichte lesen. Sie hatte immer das Gefühl, als sei das ein unnützer Klingklang, der sie gar nichts angehe.

Sie hatte ein so schlechtes Gewissen, weil sie immer noch nicht dazu gekommen war, und fürchtete sich vor dem ersten Alleinsein mit ihm, weil doch das Gespräch darauf kommen konnte ...

Gestern nachmittag ließ sie sich deshalb einfach verleugnen, ließ sagen, sie habe Kopfweh, als Lübbers ihr den Herrn von Rote Heide meldete.

Als sie nachher, hinter der Gardine versteckt, gesehen, daß es nicht Hendrik Hagen, sondern Andree von Marschner gewesen, ärgerte sie sich. Es war ihr gerade wie eine Strafe für ihre kleine Lüge gewesen.

Mit Andree hätte man doch nach all den feierlichen und schauerlichen Tagen wieder einmal heiter sein können ...

Sie stand auf. Mitten hinein in all diese hin und her treibenden Gedanken, die zu verfolgen so wunderlich unterhaltsam war, drängte sich wieder die unklare, fast quälende Ungeduld ...

Brita fühlte wieder, daß sie nicht warten könne und bildete sich ein, sie warte auf ihren Vater.

Sie ging im Zimmer hin und her, sehr unruhevoll.

Wenn Papa noch lange, lange nicht kommt, dachte sie, kann es einfach schrecklich werden.

Ihr Blick fiel auf den Tapetenflicken.

Das lenkte ihre Ungeduld auf Äußerliches. Ihr kam die Idee: man muß die Bilder umhängen, damit der Flicken zugedeckt wird.

An jener Wand hing im hochgeschwungenen Halbkranz eine Zahl von kleinen Silhouetten. Die schwarzen Köpfchen auf weißem Grund waren von blauem Passepartout umgeben, die ein dunkles Rähmchen abschloß. Dieser Halbkranz zog sich zu Häupten eines ovalen Ölbildes in Goldrahmen hin. Das Gemälde zeigte in etwa Drittellebensgröße und stark nachgedunkelten Farben einen Benrath, der Lützower Jäger gewesen war und deshalb aussah wie Theodor Körner. Es hatte, wie immer die Bilder aus vergangenen Zeiten, für den Blick der Nachfahren etwas Typisches.

Wenn man den Halbkranz der Silhouetten etwas weiter von dem Ölbild abrückte und verstreuter anordnete, würde eines von diesen putzigen kleinen Täfelchen mit den schwarzen Köpfchen mitten auf den Fleck, ein anderes gerade auf die rechte Ecke oben, ein drittes auf die linke Ecke unten vom Fleck kommen. Dann würde er nicht mehr so sichtbar sein.

Brita stieg auf einen Stuhl, um die Sache erst einmal zu probieren, indem sie eine der Silhouetten vom Nagel nahm und vor den Fleck hielt.

Aber dies war nun wirklich zum Verzweifeln. Der reine Tapetenhintergrund ließ erst erkennen, daß das Weiß, auf dem die schwarzen Profilköpfe klebten, sehr altersgelb und verstaubt war.

Brita stand ein bißchen mutlos auf dem Stuhl, das kleine blau-weiß-schwarze Bildchen in der herabhängenden Rechten. Ihr kam dies symptomatisch vor: so würde es im ganzen Hause gehen: alles was in der Idee Veränderung zum Bessern schien, zeigte in der Ausführung, daß es nur eine Veränderung innerhalb des Schlechten war.

Es würde und konnte nicht anders werden: Papa mußte das ganze Haus auf einmal neu zurechtmachen lassen. Vielleicht hatte er inzwischen ein wenig geschäftliches Glück gehabt und brachte ein paar tausend Dollars mit. Damit konnte man hierzulande viel anfangen. Oder in Großmamas Nachlaß fanden sich versteckte Gelder. Brita hatte noch neulich in einer Zeitung sowas dergleichen gelesen: Eine alte Frau, die vor Geiz fast gehungert und gefroren hatte, hinterließ in Bettkissen und Wäschekasten eine Menge von Tausendmarkscheinen, die von den Erben fast übersehen worden wären. Bei Großmamas Wunderlichkeiten konnte man auch auf dergleichen gefaßt sein.

So stand Brita auf dem Stuhl, ließ sich von ihren Wünschchen zu allerlei phantastischen Vorstellungen tragen und spürte dabei, wie das bißchen blasse Sonne ihr doch recht angenehm den Rücken wärmte.

Nun öffnete sich die Tür mit dem unerträglichen, langausgezogenen, piepsenden Ton, mit dem die seit undenklichen Zeiten nicht geölten Angeln immer geschwätzig meldeten, daß jemand hereinkam.

Es war wieder Lübbers.

Brita dachte, er wolle das Frühstücksgeschirr herausholen, denn Mamsell mochte schon tüchtig in der Küche herumschimpfen über die verschobene Ordnung der Vormittagsstunden.

Von ihrem hohen Stand herab befahl sie:

»Bringen Sie mir mal rasch einen Hammer und ein paar Nägel; ich will doch mal versuchen ...«

»Hier ist jemand, der das gnädige Fräulein in Geschäften sprechen muß«, sagte Lübbers und hielt die Tür am Klopfer fest und schlug sie ganz zurück, als solle eine Rotte Infanterie hereinmarschieren.

»Geschäft ... das ist doch des Verwalters ...«

Aber da sah Brita schon, daß zwei Männer hereinkamen. Der eine davon war Ludewig. Und der andere hatte ein bärtiges Allerweltsgesicht, ernst, höflich von Ausdruck. Und er hatte eine Uniform an, die Brita nicht kannte. Aber sie kannte sich überhaupt in diesem Lande der Uniformen noch nicht zwischen den verschiedenen Knöpfen und Rockaufschlägen und Litzen aus und hatte nur neulich auf dem Haldenwangschen Ball unter zahlreichen Scherzen sich belehren lassen, worin die Unterschiede zwischen der Uniform des Infanterieoberleutnants Müller und der des Gardepionieroberleutnants Püllmann bestanden. Auch wußte sie, wie die Briefträger aussahen.

Sie stieg vom Stuhl und dachte etwas neugierig: wer ist denn das? Daß dies weder ein Kamerad von Püllmann noch von Müller noch ein Briefträger war, sah sie wohl.

Ludewig mit seinem verschwollenen, verächtlichen Gesicht, in dem die hellblauen Augen stechend zwischen den weißen, fettgerundeten Lidern plierten, kam mit seinem breitbeinigen Gang auf Brita zu. Aber nicht, um eigentlich sie anzureden, sondern gewissermaßen, um sie dem fremden Mann zu zeigen.

»Dies ist Fräulein v. Benrath«, sagte er.

Der bärtige Mann kam auch näher, während Lübbers zögernd und unbescheiden zusehend sich kaum entschließen zu können schien, das Zimmer zu verlassen. Erst auf eine Bewegung Ludewigs hin, der ausholte, wie jemand, der eine Ohrfeige geben will, machte Lübbers sich davon.

»Sie sind Fräulein v. Benrath?« fragte der bärtige Mann, indem er aus der Brustinnenseite seines Rockes ein sehr großes und stark angefülltes Taschenbuch holte. Der schwarze Lederband war zur größeren Sicherung seines Inhalts noch mit einem breiten braunen Gummiband umgürtet.

Brita, durch die Formlosigkeit des ihr sehr widerwärtigen Ludewig geärgert, sagte hochmütig:

»Jawohl, ich bin die Enkelin der verstorbenen gnädigen Frau. Sie wünschen von mir?« Und sie nahm wieder ihre großartige Weltdamenhaltung an.

»Geld wünscht Herr Voß. Wenn Voß kommt, will er immer Geld«, sagte Ludewig mit seinem wegwerfendsten Ausdruck und lächelte den Mann an, als habe er diesen durch einen Witz aufgemuntert.

Herr Voß streifte das Gummiband von dem Lederumschlag; es schnellte ab und versank aus seiner Angespanntheit in zusammengekrümmte Schlotterigkeit. So hing es vom Rücken der Tasche herab, aus der Herr Voß nun ein Papier nahm.

»Geld?« sagte Brita, »aber das ist doch Ihre Sache, Herr Ludewig.«

Zugleich dachte sie aber schon allerlei: weil ihr Papa, der Erbe und Herr, noch nicht zur Stelle war, mußte sie vielleicht formelle Dinge erledigen – unterschreiben –, vielleicht erlosch Ludewigs Vollmacht von selbst mit dem Tod derjenigen, die sie ihm gegeben.

Nun hatte Herr Voß das Papier entfaltet und warf noch einen Blick hinein.

»Für die Getreidehandlung Engelmann & Wilde zu Rostock, vertreten durch die Rechtsanwälte und Notare Hüne, Klaußen und Meyerhoff daselbst, habe ich die Summe von zehntausendvierhundertdreiundsiebenzig Mark auch fünfunddreißig Pfennig einzukassieren und im Nichtzahlungsfalle Arrest auf Mobilar und Inventar zu legen«, sprach er und sah Brita aufmerksam und sehr ernsthaft an.

Brita lächelte. Ein wenig verlegen. Und gab sich eine noch viel vornehmere Haltung. Denn sie begriff: hier war von geschäftlichen Dingen die Rede, die sie nicht verstand, und es war gewiß nicht klug, zu zeigen, daß man nicht verstehe ...

»Ja mein Gott,« sagte sie möglichst freundlich, »ich kann nur wiederholen: alle geschäftlichen Angelegenheiten gehören in das Departement des Herrn Verwalters. Und hat er nicht das Recht, nach Großmamas Tod, sie zu erledigen, muß eben alles liegen bleiben, bis mein Papa kommt.«

»Das hier kann nicht liegen bleiben,« sprach Ludewig kurz, »das haben wir seit zehn Wochen gewußt, daß, wenn wir heute nicht zahlen ...«

»So bezahlen Sie den Mann,« sagte Brita und glaubte, daß Ludewig doch wohl ihrer Erlaubnis und Zeugenschaft für solche Auszahlung bedürfe.

Herr Voß wartete still.

»Bezahlen – bezahlen!« wiederholte Ludewig und zuckte die breiten, fetten Schultern, »wenn wir das könnten, hätten wir uns nicht erst verklagen lassen brauchen.«

»Sie können – Sie können – das nicht bezahlen? ...« fragte Brita sehr langsam; »ist es denn keine Wirtschaftsangelegenheit ...«

»Woll. Für Saatkorn – seit drei Jahren aufgesummt – unsern eigenen Roggen haben wir ja immer schon auf'm Halm verschachern müssen ...«

»Vielleicht,« sagte Herr Voß höflich und milde, »wählen das Fräulein den Ausweg, aus Ihrer eigenen Tasche zu zahlen und sich dann später mit dem Erben von Iserndorf, der ja Ihr Herr Vater ist, auseinanderzusetzen.«

»Ich – ich –« Brita wurde doch sehr ängstlich. Großmama mußte sehr viel Unordnungen angerichtet haben. Aber wozu war denn dieser abscheuliche, dieser plumpe Herr Ludewig da, der immer aussah, als wolle er gerade angewidert ausspucken. Brita empfand in diesem Augenblick einen großen erbitterten Zorn auf ihn.

»Ja, mein Gott, woher soll ich so viel Geld ...« »Zehntausendvierhundertdreiundsiebenzig Mark auch fünfunddreißig Pfennig«, sagte Herr Voß so sachlich, als fülle er etwa schreibend einen Scheck aus.

Brita ahnte nicht, daß manche Kreise in Wachow sie ihrer Kleider und ihrer Haltung wegen für eine reiche junge Dame hielten, daß schon für ganz naive Gemüter allein das Wort Amerika hinter ihr wie eine Gloriole stand.

Herr Voß war natürlich kein naives Gemüt. Er hörte immer nur mit Unglauben vom Reichtum sprechen. Aber er hatte es für alle Fälle angebracht gefunden, dem Fräulein diesen Ausweg zu zeigen ...

»Das Fräulein sind also nicht in der Lage, zu zahlen?« fragte er.

»Nein – wie sollte ich. Das muß alles bleiben, bis mein Vater kommt,« sprach sie, »der wird natürlich alles ordnen. Meine arme Großmama war alt und nervös. Und wie es scheint, sind ihre Geschäfte nicht in guten Händen gewesen,« schloß sie mit einem zornigen Blick auf Herrn Ludewig, den dieser aber gar nicht bemerkte.

Denn Herr Ludewig sah zu, wie die Sonnenstrahlen fast ruckweise von der Wand und vom Estrich hinwegloschen.

Es war, als trüge eine Hand alle Helligkeit aus dem Zimmer.

Und nun war es ganz wie in eine große Stille und Achtlosigkeit versunken.

Der bärtige Mann besann sich ein wenig. Sonst, wenn er in seinem Amt vornehm gekleideten Menschen gegenüberstand, reizte ihn die Eleganz und gab ihm ein Gefühl richterlicher Überlegenheit. Er kam sich dann so ein bißchen wie ein Cherub vor, der mit flammendem Schwert die Menschen aus dem Paradies vertrieb, in welchem sie wegen ihrer Sündhaftigkeit nicht mehr das Recht hatten, zu wohnen.

Aber für dies schöne Fräulein hatte er ein, wenn auch gemäßigtes, Bedauern.

»Wenn Sie also nicht zahlen können,« sagte er, »muß ich, so leid es mir tut, Arrest auf Mobilar und Inventar legen.«

»Was wollen Sie?« fragte Brita erstaunt und mit plötzlich erwachender großer Unruhe.

»Ich muß alles versiegeln.«

»Was für eine Idee! Sie bilden sich doch nicht ein, daß ich so etwas zugeben werde.«

Ludewig lachte kurz und plump auf, bezwang sich aber sofort und sagte:

»Gnädiges Fräulein haben nichts zuzugeben oder zu verbieten. Herr Voß ist der Gerichtsvollzieher.«

»Der ... der ...«

Herr Voß zuckte die Achseln, so, als wolle er ausdrücken, daß er niemals als Ursache, sondern immer nur als Folge des Unterganges komme – er also total unschuldig an der Geschichte sei. Und dann fing er an, am Tisch, nachdem er die Zuckerdose und die Kachel mit der Teekanne darauf etwas beiseite geschoben, aus seinem dicken großen Taschenbuch, das er aufgeschlagen hinlegte, allerlei sonderbare kleine Papieretiketts herauszukramen ...

»Ach,« sagte Brita voll leidenschaftlicher Ungeduld, »das ist doch Unsinn. Sie hören doch: wenn Papa kommt, wird er alles bezahlen.«

Herr Voß war es gewohnt, daß Frauen, ja sogar Männer, in solcher Lage die allerüberflüssigsten Reden an ihn richteten. So, als brauche man ihm bloß gut zuzusprechen, um den Vollzug des Gerichts aufzuhalten. Als könne er mit freundschaftlichem Händedruck die Geschichte beenden und sagen: »na, gelegentlich zahlen Sie wohl« – oder »wenn's Ihnen denn heute noch nicht paßt ...«

Diese Überschätzung seiner Person rührte ihn nicht weiter, verursachte ihm aber auch keine Ungeduld mehr. Er war so daran gewöhnt, daß er schweigend darüber hinweg ging.

Aber als Brita sah, daß er fortfuhr, die kleinen Papierstreifen zurechtzulegen und sich benahm, als sei er taub und sei allein im Zimmer, ging sie herrisch auf ihn zu.

Sie legte ganz einfach ihre Hand auf seine Papiere und sagte mit sprühenden Blicken und einer vor Zorn bebenden Stimme:

»So hören Sie doch. Ich weiß nicht, was Sie hier eigentlich wollen. Diese Leute sollen warten. Sie werden ihr Geld bekommen. Ich werde nicht erlauben, daß Sie unsere Sachen anrühren.«

Gerade hatte das Sonnenlicht wieder die Laune, klar hereinzuzielen. Und es beleuchtete Britas erregtes und doch auch ängstliches Gesicht. Ja, mit ihrem Zorn suchte sie ihre Angst zu übertrumpfen.

Herr Voß sah auf und sah sie sehr aufmerksam an.

»Fräulein«, sagte Ludewig warnend.

Aber Brita war unaussprechlich empört. Ihr Stolz flammte förmlich.

So etwas mußte sie ertragen. Und dank der dunklen Wirtschaft dieses Menschen. Die arme Großmama hatte gewiß nichts hiervon geahnt.

»Das habe ich Ihnen zu danken«, rief sie ihm zu. »Schaffen Sie diesen Mann fort, sage ich Ihnen.«

»Man bloß kein'n Widerstand gegen Staatsgewalt«, riet Herr Ludewig, indem er die Linke in die Hosentasche steckte und mit der Rechten eine abwinkende Bewegung in den Sonnenstrom hinein machte, neben dem er im Schatten stand. Seine dicke rötliche Hand brachte alle Stäubchen im Strahlenbündel ins Wirbeln.

»Die Sache is nämlich die,« fuhr er fort, »was Engelmann & Wilde sind, die haben wahrhaftig Geduld genug gehabt und gemahnt und gemahnt, eh daß sie klagten. Na, und als das Urteil erging, hieß es natürlich: vollstreckbar in zehn Wochen. Und wenn man dann nich zahlt, kommt eben der Gerichtsvollzieher. Das müssen Fräulein dja doch woll verstehen ...«

»Es ist auch nur Form«, sagte Herr Voß und ging mit einem jener kleinen Papierzettelchen auf das gerade im Sonnenschein so solid und kostbar nachgedunkelt glänzende Ölbild des Lützower Jägers zu, der wie Theodor Körner aussah. Denn »alte Bilder« gehörten zu den Sachen, die immerhin etwas wert sein konnten. »Wenn Herr v. Benrath in den nächsten Tagen kommen und zahlen sollte, wird die Pfändung sofort aufgehoben.«

»So warten Sie doch auf ihn«, sprach Brita fast unhörbar. Ihr Mund war ihr ganz trocken ... Sie zitterte am ganzen Körper ... Eine furchtbare Angst kam ihr ...

»Das kann Herr Voß nicht.«

»Depeschieren Sie an diese Firma!« flehte Brita.

Herr Voß klebte dem Lützower Jäger ein weißes, mit schwarzen Buchstabenzeichen bedrohlich bedrucktes Scheinchen auf die Rückseite der alten, bräunlichen Leinwand.

»Geht nicht. Muß nu seinen Gang haben,« sagte Ludewig, »ich will bloß hoffen, daß Herr v. Benrath wirklich kommt – am fünfzehnten haben wir sonst wieder die Ehre von Herrn Voß ... mir schwant so was ... der Kornhändler Lange ... na, das kommt ja, wie's kommt. Wissen Sie was, Herr Voß: ich bin doch höllisch neugierig, ob der Sohn die bankerotte Erbschaft ...«

Er unterbrach sich. Er hörte ein dumpfes, sausendes, rollendes Geräusch und trat ans Fenster und sah das weiße Fahrzeug heranjagen, das er kannte, und sah darin außer dem Chauffeur zwei Männer und hatte eine ärgerliche Empfindung.

Brita aber hörte nichts. Das eine Wort, das hier gesprochen war, hallte in ihr nach ... betäubend – jeden anderen Schall unterdrückend ... sie dachte ihm nach. Und konnte doch eigentlich nicht denken. Sie fühlte es nur. Fühlte, daß es Zerstörung, Demütigung, Armut, Elend, Schrecken bedeutete. Daß es nicht wahr sein dürfe. Und daß es doch ganz gewiß wahr sei! Furchtbar wahr ...

Mit der übermenschlichen Schnelligkeit, in der ein Hirn in Entsetzensaugenblicken denkt, erhellte sich ihr alles, was sie hier erfahren und gesehen ... Und jedes Erlebnis und jede Beobachtung jagte an ihr vorüber und rief ihr vorbeirasend das Wort »Bankerott« zu ... Bankerott ... Sie dachte an ihren Vater ... Er würde kommen ... anstatt der Heimat, die er einst verlassen, weil das Wesen der Mutter ihm nur aus der Ferne ertragbar dünkte, anstatt der Heimat fand er Schmach ... anstatt versöhnender Wehmut an einem Grab, nur neue Bitterkeiten ... oh, käme er nicht ... nein – er durfte nicht kommen ... um hier die Leiden eines Bettlers zu erfahren ... Nein – nicht kommen ... nein... Sie wollte fliehen – zu ihm – wieder über den Ozean – schnell – noch heute – wäre sie doch nie hierhergekommen. –

Flucht schien das einzige – dies elende Haus und allen Schimpf hinter sich lassen ... Aber Flucht – die Reise über den Ozean – kostete Geld ... woher Geld nehmen... Jeder Gedanke war ein Entsetzen ...

Die ganze Stube kreiste um Brita – trichterförmig, wie ein Strudel, der alles hinabzieht ...

Sie sah sich um, mit ängstlichem Erstaunen – sie begriff nicht, warum die Fenster und die Wände zum Karussel geworden waren.

Und quer durch den kreisenden Raum ging der Mann ... mit einem der kleinen Scheine auf den großen Lehnstuhl am Fenster zu ...

Der stand im Sonnenschein, der ihn umstäubte, und ließ sich den behäbig gepolsterten, kleinbürgerlich solid mit schwarz gemustertem Damast bezogenen Bauch wärmen und streckte seine Ohrlehnen vor, wie ein schmunzelnder Großpapa, der auffordert, sich nur recht warm an ihn anzuschmiegen.

Und wieder machte Brita eine Bewegung, als wolle sie dem Manne in die Arme fallen, sein grausames Geschäft aufhalten ... denn ihr war, als müsse sie doch die alte Frau schützen, die da immer gesessen habe ... als sei der Stuhl ein Lebewesen ... als sei er die Tote selbst...

Aber sie fiel hinein in diesen tiefen, großen, alten Stuhl, der die Schwankende in sich aufnahm und seine Arm- und Ohrlehnen über sie hinaus vorstreckte ... Halb ohnmächtig vor Entsetzen ... unfähig, noch zu denken ... wehrlos irgendeiner nicht ganz begriffenen aber furchtbaren Schmach verfallen, schluchzte Brita auf und versteckte ihr Gesicht an einer der großväterlich beruhigenden Ohrlehnen ...

Da hörte sie eine Stimme ... und ihr Gesicht preßte sich noch fester gegen den Damast ... und die Scham machte ihr jäh den ganzen Körper still und kalt und legte sich wie eine Eisenhand auf ihre Brust, daß das Schluchzen verstummte ...

Hendrik Hagens Stimme war das.

So traf er sie ... so ... Und sah dieses ganze jämmerliche Elend und erfuhr diese schreckliche Wahrheit ...

Sie wagte nicht, sich zu rühren ...

»Wir kommen im rechten Moment«, sagte eine fremde Stimme.

Und dann die seine:

»Nein, leider eine halbe Stunde zu spät ...«

Und gleich danach fühlte sie, daß eine Hand ihre Linke umfaßte, mit deren Fingern sie die eine Armlehne umklammert hielt ...

Eine Hand, kalt vielleicht, wie ihre eigene – zitternd vielleicht, wie ihre eigene – und doch mit kraftvoll tröstlicher Festigkeit.

Sie fühlte auch die Nähe eines Menschen, daß sich jemand zu ihr herabbeugte ...

»Gnädiges Fräulein ... liebes Fräulein Brita ... beruhigen Sie sich,« sagte seine Stimme, »es wird alles gut werden.«

Da sprach die fremde Stimme wieder.

»Meine Herren, gehen wir doch in die Verwalterstube ... ich bitte darum ...«

Brita rührte sich nicht.

»Liebes Fräulein Brita ...«

Und die kalte, zitternde Hand streichelte ihre Linke ... bittend, tröstend ...

Die Männerstimmen sprachen weiter, halblaut, fast murmelnd ... das drang an Britas Ohr ... wie man im Halbschlaf die Töne des Lebens noch wahrnimmt und sich doch vom Leben ausgeschaltet fühlt ...

Sie war nicht ohnmächtig ... sie wußte, wer über sie geneigt stand ... Sie wußte, wessen Hand so bittend, so tröstend die ihre streichelte ...

Aber sie war ganz still ... so, als habe sie keine Kraft, ihr Wesen aus dieser merkwürdigen Erschöpfung aufzuraffen.

Sie vernahm auch einige Worte aus der Folge der Reden und Gegenreden, die wie ein murmelndes Flüßchen an ihrem Ohr vorbeirannen: sofortige Erledigung – Scheck – Übernahme dieser und anderer Forderungen – spätere Verständigung mit Herrn v. Benrath – aber doch hier nicht weiter sprechen. –

Und dann Schritte – zugleich der lang ausgezogene, quietschende Ton der ungeölten Türangeln.

Und dann eine vollkommene Stille ...

Obgleich nichts sich rührte, obgleich nicht einmal ein Atemzug laut ward, obgleich Brita die Lider geschlossen und die Stirn fest gegen den schwarzen Damast gedrückt hielt, fühlte sie dennoch: Der Mann stand wartend vor ihr.

Ihr Wesen ward wacher. Die Erschöpfung schwand. Eine tödliche Verlegenheit, die Gefährtin der Scham, bändigte sie aber noch ... sie wußte nicht, wie sie den Mut finden sollte, ihr Gesicht zu zeigen, den Blick zu ihm zu erheben ...

Ihr war, als harre ihrer die entsetzlichste Demütigung ihres Lebens ... Das Mitleid, das sie in seinem Gesicht finden würde, war es ja nicht ... nein, das erniedrigte sie nicht ... aber wenn Großmama recht gehabt hatte ... wenn er wirklich werbend an sie gedacht ... was mochte nun wohl in ihm vorgehen ... vielleicht dankte er Gott, daß er sich noch zurückgehalten gehabt ... daß dieses widerwärtige, finanzielle, herabziehende Elend ihn nichts angehe ... daß er nicht das Mitglied einer bankerotten Familie geworden war ... daß der Zusammenbruch gekommen sei, ehe er gesprochen habe ...

Brita wußte ja gar nicht, ob sie seine Werbung fürchtete oder wünschte ... sie hatte sich nur viel damit beschäftigt. Die alte Frau ließ ihre Gedanken nicht darüber zur Ruhe kommen, immerfort trug sie ihnen mit eifrigen Reden frischen Stoff zu. Brita dachte an seine Absichten – die Großmama bei ihm voraussetzte – in der Prinzessinnenart junger Mädchen: manchmal in der neugierigsten Spannung, manchmal in dem Hochmutsgefühl, als habe sie mit ihrer Person ein Königreich zu verschenken ...

Und all diese Gedanken schienen sie nun spöttisch anzulachen ...

Nein – nein – sie hatte nicht den Mut, ihn anzusehen ...

Und doch fühlte sie, daß sie ihn nicht länger so still warten lassen könne, daß sie einmal, einmal seinem Blick wieder begegnen müsse ...

Da geschah ihr etwas Eigentümliches: an der Polsterlehne spürte sie plötzlich denselben Geruch, der unfrisch und greisenhaft die Kleider der alten Frau umdünstet hatte. Und mit einer Gebärde des Schauderns fuhr sie empor – ein Frostgefühl bebte durch ihre Glieder ...

Und gerade in diesem Augenblick siegte im launischen Spiel von Schatten und Licht, das die Lufträume unruhig erfüllte, wieder der Schatten.

Brita sah den Mann an, der vor ihr stand – sehr bleich war er ...

Sie verstand nicht, was aus seinen Augen strahlte ... sie empfand nur, daß es Güte war, Wärme ... etwas Erhebendes und Wohltätiges ...

Und mit dem raschen Gefühl des Weibes spürte sie vor allem: in seiner Haltung war nichts, gar nichts Demütigendes.

So steht man vor einer Fürstin ... wartend, ergeben ...

Sie erhob sich. Mit ihren beiden Händen strich sie sich das Haar von den Schläfen zurück und tupfte mit ihrem zusammengeballten Taschentuch gegen die heißen Augen. Sie gab sich viel Mühe, nicht wieder in Tränen auszubrechen.

»Ich versteh das alles nicht«, sagte sie mit jenem Ausdruck, den ein Mensch annimmt, wenn er nur zu gut versteht. Sie schüttelte trostlos den Kopf.

Ihre Trostlosigkeit war seiner Liebe wie ein Geschenk. Er nahm zärtlich und beruhigend ihre Rechte zwischen seine Hände. Er sah ihr tief in die Augen, die mit klagendem, fragendem Ausdruck zu ihm emporgeschlagen waren.

»Ich hoffe,« sagte er, »Sie werden so etwas nicht noch einmal zu erleben haben.«

»Ist es wahr, daß Großmamas Nachlaß bankerott ist?« fragte sie leise.

»Mein Freund und Rechtsbeistand Berthold ist mit mir gekommen. Ich hoffe, wir werden Mittel und Wege finden, den Lauf der Dinge aufzuhalten, bis Ihr Vater kommt und seine Entscheidungen trifft.«

»Er soll nicht kommen!« rief Brita leidenschaftlich, »er hat genug Sorgen in seinem Leben gehabt. Oh, wie ein Proletarier hat er seit Jahren arbeiten müssen ... und immer haben wir heimlich gedacht ... später einmal, ja, dann würde es anders – dann würde er wie ein Herr arbeiten – hier, auf seinem Besitz ... Und nun ... mein Gott – Papa darf nicht seine Stellung aufgeben – das wäre ja Wahnsinn ... sie ist bescheiden, aber er kann doch davon leben ... allein sehr gut ... und ich ... ach, das ist einerlei ... das darf nicht sein: Papa darf nicht kommen.«

Sie hatte ihre Hand seinen beruhigenden zärtlichen Händen entzogen. Sie faltete die ihren und preßte sie gegen den Mund und stand wie vernichtet.

»Man wird ihm depeschieren,« sagte Hagen, »die Lage muß ihm angedeutet werden. Da er nun einmal der Erbe ist, muß er so oder so die Entscheidungen treffen und all diese zahllosen Formalitäten erfüllen ...«

Mit einer wahren Verzweiflung rief sie:

»Und ich soll so lange warten ... immerfort zittern ... immer, daß wieder so ein Mensch kommt.«

Sie sank wieder in den alten, riesengroßen Stuhl und faltete die Hände in ihrem Schoß. Und so tief neigte sie das Haupt zu den gefalteten Händen herab, daß es schien, als beuge sich ihr Nacken unter einer schweren Last.

Er trat zu ihr heran.

»Liebe Brita,« sprach er, »bin ich nicht da? Wollen Sie mir nicht erlauben. Sie zu schützen – für Sie einzutreten –, zu ordnen, was sich vorderhand ordnen läßt ...«

Sie sah empor zu ihm ... in einem zitternden Erstaunen ... hoffend ... doch mit Herzklopfen ...

Sie hatte allerlei rasche, kluge Gedanken und war doch in einer erregenden Gefühlsverwirrung.

Er wollte »ordnen« – also Geld opfern – Geld –, ach, Brita kannte das böse Wort und seine Tragweite nur zu genau ...

Das wollte er?

Das hieß? ...

Und was hieß es, wenn sie annahm?

Sie sah immer wie hypnotisiert in diese leuchtenden Männeraugen –

Und kostete zugleich all die entsetzlichen Demütigungen der letzten Stunde von neuem durch ... das wollte er ihr ersparen ... das? Und der Gedanke an Großmut, an freigebig hinströmendes Geld hatte etwas Berauschendes ...

Eine heiße Dankbarkeit wallte in ihr auf, nahm ihr alle Fassung ... sie dachte auch, tausend Erinnerungen in einem Bild zusammenerlebend, an die harten Jahre ihres Vaters, an allen Gram, den er leiden würde ...

Und ihre Gedanken wurden hinabgezogen in dies brausende Erlösungsgefühl.

»Ja,« sagte sie, »ja ...«

Ihre Stirn lehnte sich gegen seinen Arm ... sie weinte ... Sie hatte ja niemanden als ihn in diesen Augenblicken. So namenlos verlassen war sie vorhin gewesen – allem Schrecken preisgegeben ... Und unbewußt war das weibliche Bedürfnis stark in ihr, den Trost zu fühlen, ihn mit beiden Händen zu erfassen, körperlich ... nach Frauenart den Schutz zu berühren, um an ihn glauben, ihn wirksam empfinden zu können ...

Sie konnte nicht anders ...

Und als sie es getan, kam gleich eine dumpfe Empfindung über sie, daß er nun sagen werde: ich liebe dich! Wenn er sie überhaupt liebte – ja, dann würde er sie jetzt, jetzt in seine Arme nehmen ... in ergebener Erwartung saß sie so ... ohne Furcht, ohne Seligkeit ... ganz müde und zerquält ...

Er sah herab auf das kupferbraune Haar und auf den weißen, weißen Nacken, über dem dies schimmernde Haar in so seinem Ansatz begann ... er sah die Linien der sitzenden Gestalt, die sich so vertrauensvoll ihm entgegenneigte ... er fühlte die Stirn, die sich an seinen Arm gelehnt ...

Er schloß die Augen ... Er bezwang sich, dies junge, schöne Geschöpf nicht emporzuziehen an sein Herz.

Die Lippen brannten ihm trocken vor Begierde danach, diesen weißen Nacken zu küssen ...

Nein, nicht jetzt, nicht in diesem Augenblick ...

Sein Stolz half ihm, sein Verlangen niederzuringen ...

Sie sollte sich ihm nicht in einem Augenblick der Dankbarkeit geben ...

Das konnte ihr und ihm eines Tages die Erinnerung verwirren ...

Und noch eins half ihm seine heißen Manneswünsche zu bezwingen.

Der Glaube, daß er geliebt sei – doch er!

Er fühlte eine rührende, eine vertrauende, eine ganz elementare Hingebung in ihrem Wesen ... sie lehnte sich an ihn, weil er ihr der Nächste, der Einzige auf Erden war ...

Brita weinte sich aus ... Und die dumpfe Erwartung in ihr ward allmählich still – ihr Gemüt erhellte sich ... sie wußte gar nicht, wie ihr geschah, aber eine unendliche Erleichterung breitete sich langsam in ihr aus; wie ein Sonnenaufgang war es gerade ...

Er schwieg immerfort ... wie das wohltat, es war so schonend ... man war wie gerettet neben ihm ... Ruhe, köstliche Ruhe kam durch ihn zurück ...

Eine große, freudige, kindliche Begeisterung für den fürstlichen Mann wallte in ihr auf ...

Sie hob das Gesicht. Sie lächelte. Ganz glücklich und ganz unbefangen.

»Ja,« sagte sie, »so einen Mann wie Sie gibt es nur einmal auf der Welt. Aber nicht wahr, nun setzen Sie mir auch alles ganz verständig auseinander und wir besprechen, was ich an Papa kabeln soll.« –

Eine halbe Stunde später gingen Hendrik Hagen und der Rechtsanwalt Berthold zu Fuß über den Iserndorfer Hof, auf den Weg zu, der vom Gut zur nahe vorbeiziehenden Chaussee führte.

Hagen hatte den Chauffeur angewiesen, etwas vorauszufahren und an dem Punkt zu warten, wo der Weg mit der Landstraße zusammenstieß.

Die beiden Männer mußten noch rasch einiges besprechen, ehe sie sich trennten. Hagen fühlte ein starkes Verlangen nach körperlicher Bewegung. Er liebte es, zu wandern, wenn seine Seele in Aufruhr war. Die Natur sprach deutlicher zu ihm, wenn er einsam durch sie hinging. Er konnte rascher, leichter, klarer denken und sich freier selbst betrachten.

Berthold mußte aber sogleich in die Stadt zurück und sollte das Auto benutzen.

Der Anwalt legte dem andern Mann allerlei dar.

Der sah in die Gegend hinaus, während sie langsam vorwärts gingen.

Voraus, links auf dem Hügel, drehten sich die vier großen dunklen Flügel der alten Mühle und jagten rauschend herum im Winde, während die Strohhaube des Mühlendachs bald im Sonnenschein wie graugrüne Bronze leuchtete, bald von fliegenden Schatten düster überhuscht war.

Hendrik Hagen dachte an den Tag, wo er neben dem roten Backsteinunterbau der Mühle Britas Gestalt im leuchtenden Lilakleid vor dem weiten Hintergrund des Himmels gesehen ... zugleich hörte er Bertholds nüchternem Vortrag zu: Zahlen, Zahlen, Zahlen, Termine, Termine, Zinsen, Hypotheken ...

Und er sagte, daß ihm alles recht sei, wie Berthold es einrichte. Nur daß vor allen Dingen »der da« von Iserndorf ferngehalten werde.

Ein paar Schritte vor ihnen ging nämlich der Gerichtsvollzieher Voß, der sein Wägelchen im Dorf hinterm Mühlenhügel eingestellt hatte und es nun dort wieder besteigen wollte.

Jetzt kamen ein paar Braune und bogen von der Chaussee her in den Weg ein und sie zogen eine Kutsche hinter sich her.

Das unelegante, solide Gefährt kannten die beiden Männer gleich: es war Herrn Brügges, des Wirtes vom »Erbgroßherzog«, Landauer.

Voß, im Vorbeischreiten, grüßte in den Wagen hinein.

»O weh,« sagte Berthold, »vielleicht noch ein Kondolenzbesuch ...«

Und da streckte sich schon eine Schulter und ein Kopf aus dem rechten Wagenfenster.

»Halt!« schrie dann eine Frauenstimme, »halt!«

Die Wagentür wurde von innen geöffnet, und Frau Marya Keßler stieg aus, ganz in Trauerpracht, rot vor Genugtuung über die Begegnung.

»Meine Herren,« sagte sie, dem einen die Linke, dem andern die Rechte zu gleicher Zeit hinstreckend, »welches Glück, daß ich Sie treffe. Ich sah eben schon das Auto ... da dachte ich mir gleich ... Gott, aber das war ja Voß!? Sagen Sie bloß das eine, lieber Berthold: steht es so auf Iserndorf? Ja, kann man da denn überhaupt noch Besuch machen ...? Ich wollte nämlich kondolieren. Das schieb ich immer bis nach der Beerdigung 'raus. Ich geh niein ein Haus, wo 'ne Leiche ist. Aber wissen Sie – wenn man da nun doch nicht mehr verkehren kann – in einem Haus, wo Voß was zu tun hat! – O Gott, nein, dann kehr ich lieber um.«

Ihr ganzes Wesen war wie ein Instrument, das plötzlich aufrauscht in den kräftigsten Klangfarben des Triumphes.

Alle Überlegenheiten, die die eine Hälfte der Menschheit allezeit über die andere fühlt, faßten sich für sie in diesem Moment in dem Siegergedanken zusammen: ich bin reich und sie ist arm!

»Meine gnädigste Frau,« sprach Berthold, während aus seinen dunklen Augen ein besonderes Licht aufblitzte und über sein schmales, nach unten vorgebautes Gesicht ein kluges Lächeln ging, »ich darf Sie beruhigen: sollten Sie die Ehre haben, von Fräulein v. Benrath empfangen zu werden, so sitzen Sie dort auf ungepfändeten Stühlen!«

Frau Keßler wehrte mit ihrer in schwarzem Leder glänzenden Hand seinen Worten ab:

»Dumm machen laß ich mich ja nun nich!« sagte sie heiter; »zu bloßen Landpartien hat Voß keine Zeit. Es hat sich also einer gefunden, der erst mal eingesprungen ist ...«

Sie fühlte die zornigen Blicke des heißbegehrten Mannes förmlich auf ihrem Gesicht brennen. Sie wußte seit jenem Ballabend: es war doch hoffnungslos ... Nun kostete sie die Wonne, ihn zu schlagen – zu peitschen – mit Worten – ja, treffen wollte sie... Und zerstören wollte sie...

»Glauben Sie?« fragte Berthold mit wahrhaft kindlicher Unschuld, »ich glaube vielmehr, daß die alte Dame nur zu nervös war, um noch rechte Ordnung in ihren Verhältnissen zu halten, daß diese selbst aber sich als ganz gut herausstellen werden und daß Fräulein v. Benrath sehr beruhigt der Zukunft entgegensehen kann.«

Sie lachte amüsiert.

»Das glaub ich nun selbst,« sprach sie, »das Mädchen wird den ersten besten wohlhabenden Mann nehmen, der um sie anhält. Schön ist sie – irgendein Tor wird sich schon finden, der damit zufrieden ist, sie elegant anziehen zu dürfen ... Warum auch nicht ... ich verdächt ihr das nicht ... Das Leben ist mal so ... Na, wenn Sie also meinen. Berthold ...«

Der, für den dies gesagt war, hörte ... Und trotz des spöttischen Lächelns, das er versuchte, fühlte er, daß sein Herz rascher klopfte.

Er kannte den Unwert der Reden dieser Frau.

Und dennoch ... sie flogen nicht vorbei an ihm wie Kehricht im Winde ... Sie waren wie Saatkörner, die haften, wo das Erdreich nur allzu bereit für sie ist ...

Sie setzte nun den Fuß wieder auf den Wagentritt.

Sie wandte ihr Haupt, auf dessen glattem Haarbau heute ein grandioser schwarzer Hut saß, noch Hendrik Hagen zu, indem sie schon die Umrahmung der Wagentür erfaßte.

»Sie waren wieder mal enorm schweigsam, lieber Hagen,« sagte sie, »aber bei so 'nem Mann nimmt man's für Bedeutenheit ... Weiter!« befahl sie dann dem Kutscher.

»Nehmen Sie es lieber für Erstaunen, meine gnädige Frau«, sprach Hendrik Hagen.

Sie saß schon und beugte sich noch einmal vor.

»Erstaunen? Bitte, worüber?«

»Über Ihre beneidenswert praktische Lebensauffassung.«

»Ja, die hab ich, gottlob«, sagte sie förmlich gesättigt von Zufriedenheit über die Solvenz ihrer Zunge und ihres Geldbeutels. Und dann rief sie ungeduldig:

»Fahren Sie doch zu – – also adieu, meine Herren – adieu ...«

Die beiden Männer sahen wortlos dem Wagen nach, dessen schwarze und etwas schwankende dicke Form, die von hinten fast einer zerdrückten Kugel glich, zwischen den merkwürdig hohen Rädern hing. Die Radreifen, die sich nur gemächlich fortdrehten, waren bekrustet von Straßenschmutz.


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