Ida Boy-Ed
Um ein Weib
Ida Boy-Ed

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IX.

Bruhn, der Diener, sah die Morgenpost seines Herrn durch, indem er sie auf dem Schreibtisch ordentlich aufstapelte. Eigentlich war ja nichts daran zu sehen und gar nichts daran zu ergründen. Aber aus der Gewohnheit seiner Domestikenneugier heraus konnte er es doch nicht lassen, jeden Brief genau zu betrachten und ihn, wenn die Aufschrift von Damenhand schien, gegen das Licht zu halten.

Er hatte sich die Lebensumstände bei einem so berühmten und noch dazu so stattlichen Mann ganz anders gedacht: aufregend, abenteuerlich, einträglich. Aber es ging hier entsetzlich still und ernst zu. Der Herr arbeitete fast immer und schien keine andere Erholung zu kennen als mal eine Ausfahrt. Es kamen keine verschleierten Damen angereist und es gab keine beschönigenden Trinkgelder.

Die heutige Post bot wieder keinerlei Interesse. Wohl waren da offenbar ein paar Briefe mit weiblichen Handschriften, aber er hatte längst aus dem Papierkorb und den einfach durchrissenen und also leicht wieder zusammenstellbaren Briefbogen festgestellt, daß das immer nur Betteleien um die Handschrift des Herrn waren.

Noch las er eine Postkarte, obgleich die Buchhändlermitteilung, die sie enthielt, ihn gar nicht interessierte, da wurde die Tür aufgerissen und Hagen kam herein.

Blitzschnell legte Bruhn die Karte auf den Stapel von Postsachen, stand dann in seiner blauweißen Leinenjacke und seinem glattgebürsteten Haar, ein Bild der Ordnung und Beflissenheit stramm neben dem Schreibtisch und meldete, daß die Post soeben angekommen sei.

»Gut, gut«, sagte Hendrik Hagen und winkte jedem weiteren Wort ab. Es machte ihn zuweilen ungeduldig, wenn man ihn überhaupt nur ansprach.

Er ließ sich nieder. Schwer und müde, unausgeruht nach einer Nacht voll brennender Qual.

Er seufzte als er die Post sah. Er nahm die Postkarte, las, daß das bestellte Werk nicht vorrätig aber in wenig Tagen lieferbar sei. Und behielt die Karte gedankenlos in der Rechten, stützte den linken Arm auf und umklammerte mit seinen Fingern seine Stirn, wie einer, der schwere Kopfschmerzen hat und dem die kalte Hand auf der heißen Haut zur Wohltat wird.

So saß er lange – fuhr endlich erschreckt zusammen – irgendwo im Haus schlug eine Tür zu – das jagte seine Nerven auf ...

Da war die Post ... Ja, die mußte durchgesehen werden.

Er öffnete den ersten Brief. Ein junger Schriftsteller bat ihn, ihm doch einen Verleger zu besorgen. Das koste den großen, berühmten Meister doch nur ein Wort. Er selbst suche schon so lange vergebens und habe einfach keine Lust mehr, sich immer abweisen zu lassen; auch läge dieser Mißerfolg gewiß nicht an seinen Arbeiten, die er als wertvoll bezeichnen dürfe; die Herren Verleger hätten eben ein Vorurteil gegen Anfänger.

Weiter: ein Handlungsgehilfe fragte in kaufmännischem Deutsch an, ob er nicht das Drama, welches er verfaßt habe, zur Begutachtung einsenden dürfe und sprach das Verlangen aus, daß Hendrik Hagen dann einen Theaterdirektor veranlassen möge, das Stück schleunigst aufzuführen. Inzwischen aber, damit er sorgloser seinem schriftstellerischen Geschäft nachgehen könne, leihe Hagen ihm wohl ein paar hundert Mark.

Der dritte Brief: eine Dame, die irgendwo an irgendeiner Table d'hote einmal mit ihm über das Wetter zehn Worte gesprochen hatte, erinnerte ihn an diese »freundliche Beziehung« und leitete aus ihr das Recht her, ihn zu bitten, daß er doch die beifolgende Skizze ihrer hochbegabten Enkelin bei irgendeiner Zeitung anbringen möge. Ihre Enkelin schreibe eben auch, freilich nur zum Zeitvertreib und um sich ein bißchen Taschengeld zu machen. Daß sie sich ganz und gar der Schriftstellerei widme, würde ihr Papa, der sehr exklusiv denke, der Tochter nie erlauben.

Ferner: ein Mann, der sich auch für verkannt und auch für ein Opfer der unkünstlerisch gesonnenen Verleger hielt, schickte seine im Selbstverlag erschienenen Gedichte und ersuchte, den Betrag dafür mit nur fünf Mark per Post an ihn senden zu wollen. Endlich bat noch eine Beamtenwitwe, die behauptete, die einzigen erquickenden Stunden ihres enttäuschungsreichen Lebens bei der Lektüre von Hagens Werken verbracht zu haben, um ein Darlehn von fünfzehnhundert Mark, weil sie eine Pension gründen wolle. Und ein Backfisch aus Österreich flehte um Hendrik Hagens Autogramm, da sie eine begeisterte Verehrerin seiner Werke und besonders seines Romans »Starre Herzen« sei.

Nur über diesen Backfisch lächelte er, denn er hatte einen Roman mit dem gefühlvollen Titel »Starre Herzen« nie geschrieben. Aber an solche Verwechslungen seitens der jugendlichen Unverschämten war man ja gewöhnt.

Und alles andere? Allmählich widerte es ihn fast an. Er wußte, daß sich dergleichen täglich auch auf den Schreibtischen seiner nur einigermaßen bekannten Kollegen und Kolleginnen häufte. Es war ja nicht allein diese merkwürdige Zeitkrankheit der Schreibwut, die ihn ungeduldig machte. Es war die Dummheit, die ihn für dumm hielt, die er oft kaum noch ertrug – diese naive Plumpheit, die ihn »Meister« nannte, um ihn morgen für einen »schlechten Schriftsteller« zu halten, wenn er alle Wünsche unerfüllt ließ. Früher hatte er sich noch die Mühe genommen, diesen Toren zu sagen: jeder Verleger kümmert sich nicht nur um den Nachwuchs, er schaut geradezu nach ihm aus, schon aus Geschäftsnotwendigkeit, wie ein kluger Forstmann Schonungen anlegt, wenn auch die Eichen in seinem Wald noch lange nicht zum Schlagen bestimmt sind. Früher schrieb er: die Theaterdirektoren lechzen nach neuen, guten Stücken. Er sagte auch wohl einmal: sehen Sie mich an, ich fing auch einst an, unbekannt und namenlos und auch ich sandte meine Manuskripte an die Verleger und man schickte sie mir nicht zurück.

Er hatte aber längst begriffen: alle diese »Verkannten« und Dilettanten folgerten kein »also ...« Und ihre Enttäuschung machte sie, die sich unaufgefordert an ihn herangedrängt hatten, zu seinen Feinden.

Jetzt beantwortete er alles knapp, ablehnend. Er hätte auch einfach gar keine Zeit gehabt, sich an die Lesung all der Manuskripte zu machen, die man ihm zuschicken wollte und nur zu oft einfach gleich ins Haus sandte.

Weiter: Da war noch ein Brief von einem Verleger; ob es denn gar nicht möglich sei, fragte der, daß auch er einmal ein Hagensches Werk in Verlag bekomme. Und noch eine Postkarte: ein lieber Gruß von einem befreundeten Kollegen, der gerade eine Reise um die Erde machte. Und endlich noch ein Brief, dessen Aufschrift von weiblicher Hand herrührte.

Im Augenblick als er den Brief in die Hand nahm, die Schrift sah – diese moderne, englische, sichere Schrift, hatte er eine Vorempfindung ...

Heiß stieg ihm das Blut in den Kopf.

Ja, es war ein Brief von ihr.

Er hielt ihn in seiner kalten Hand – sah mit unersättlicher Begier hinein – die Buchstaben waren ihm wie ihr Gesicht – er forschte darin ... Und fand nichts, nichts ...

Sie schrieb nur:

»Hochverehrter Herr Hagen, ich habe ein Telegramm bekommen. Mein Vater ist mit der Bolivia glücklich in Hamburg angelangt. Er wird morgen mittag hier sein. Ganz gewiß wird er Sie sobald als möglich aufsuchen wollen. Ich denke mir, gleich morgen nachmittag. Hoffentlich paßt es Ihnen.

Ihre dankbar ergebene

Brita Benrath.«

Einfacher und sachlicher konnte keine Mitteilung sein. Daß sie an ihn ergehen mußte, lag in den Verhältnissen.

Auch eine Dichterphantasie, auch ein dürstendes Herz konnte in diese knappen Zeilen nichts hineingeheimnissen.

Und dennoch bereitete es ihm ein blasses, unruhiges Glück, sie zu besitzen, mit seinen Händen dieses Blatt zu halten, das sie in der ihrigen gehabt, das von ihr beschrieben worden war.

Und mehr noch: er konnte ihr wieder schreiben. Sich ihr in einer neuen Form nähern – die Verhältnisse hatten es bisher nicht mit sich gebracht, daß Briefe zwischen ihnen hin und her zu gehen brauchten ... Sie sahen und sprachen sich immer.

Es war ihm wie eine Gnade, ein Trost, nach den ungeheuren, finstern Erschütterungen des gestrigen Tages.

Er schob all den Wust der lästigen und naiv-unverschämten Briefschaften von sich, nahm Papier aus der offenen Kassette, die rechts neben dem Tintenfaß auf seinem Schreibtisch stand, und begann an Brita zu schreiben.

Und während seine Feder sich bemühte, einfache Worte zu finden, sagten seine Gedanken ihr, an die er schrieb, tausend Zärtlichkeiten. Er lächelte vor sich hin wie ein Berauschter – alle Not seines Herzens verschwamm in seligen Gedanken. Er war ihr nahe – hörte ihre Stimme, sah ihre Augen, empfand ihr ganzes Wesen – war kühn und sicher – liebte sie – gehörte ihr – lebte im Glanz ihres Lachens ... Die schwarzen kleinen Buchstaben auf dem Papier sagten nur kurz:

»Um Ihrem Herrn Vater, der doch reisemüde sein wird, die Fahrt hierher zu ersparen, werde ich mir heute, am späten Nachmittag, die Freude machen, Sie, mein liebes gnädiges Fräulein und Ihren verehrten Herrn Vater in Iserndorf aufzusuchen. Ich bin

Ihr Hendrik Hagen.«

Aber seine Seele sprach zugleich zu ihr: Dich liebe ich, dich, mehr als mein Leben – alles, was ich einst empfand an Liebesleid und Liebesglück waren Vorhofserwartungen – du bist die Erfüllung – du allein der Altar...

Indessen kam die Sonne ins Zimmer. Sie warf durch die Glastür rechts vom Fenster, vor dem der Schreibtisch stand, sehr schräge noch einen Strom blanker Strahlen herein. Es war gerade, wie wenn ein Mensch ein Lächeln in einem Mundwinkel hat.

Der Sonnenstrom rückte dann langsam, langsam etwas weiter. Und als er voll auf die weißlackierte Tür prallte, öffnete sie sich.

Das Klopfen hatte der Mann, der gerade den Brief schloß und beschrieb und dachte, daß Barch ihn mit dem Auto hinfahren solle, das Klopfen hatte er überhört. Aber das Offnen der Tür empfand er gleich, mit seinem sechsten Sinn für jede Störung, den sein Beruf bei ihm ausgebildet hatte. Er fuhr herum ...

Im vollen Licht, das in tausend Stäubchen zitterte, stand sein Stiefsohn ...

Langsam erhob er sich. Schwer, groß, drohend.

Sein Stuhl fiel hart zu Boden.

Auf dem Gesicht des jungen Menschen war ein verlegenes Lächeln, ein gutes, bittendes, aber doch etwas unsicheres Lächeln.

»Du wünschest?« fragte Hendrik Hagen.

»Darf ich dich mal ein paar Minuten stören, Papa?« bat der andere bescheiden.

»Es ist meine Arbeitszeit.«

Ablehnender konnte der Ton nicht klingen.

Aber dennoch trat Andree mit freiwerdender Lebhaftigkeit ein paar Schritte ins Zimmer vor.

»Es ist sehr wichtig, Papa«, sagte er beschwörend.

»Er will mir sagen, daß er sich gestern ihre Liebe erobert hat«, durchfuhr es den Mann. Und er fühlte: dann schlag' ich ihn nieder... auf der Stelle ...

Er sah wieder die rote Wolke auf sich zuwallen ...

Sein Verstand war wach und versuchte sich zu wehren: Nein – nein – nein – keine Tat des Wahnsinns ...

»Wichtig? ...«

Nun kam Andree ganz heran. Und mit jenem merkwürdigen Doppelempfinden, das in fast allen Menschen auch in den erregtesten Momenten noch ist und das sie an das seelische Erlebnis hingibt, aber auch zugleich mit der nüchternen Umwelt verbindet – in diesem Doppelempfinden sah Andree, daß der Schreibtischstuhl umgestürzt war.

Er bückte sich und hob ihn auf.

Die Nüchternheit dieser kleinen Handlung hatte eine merkwürdig befreiende Wirkung. Andree, der noch vor der Tür draußen gedacht hatte: wie soll ich es richtig sagen? konnte nun gut vorbringen, was er wollte.

»Ja, Papa,« sprach er dann, mit den Händen noch die Lehne festhaltend, »oder ist es nicht wichtig, daß wir nun wieder seit jenem unglückseligen Gespräch so stumm und kalt aneinander vorbeigehen? Wir schlafen unter demselben Dach, wir essen an dem gleichen Tisch und wir sprechen nur ein paar Worte, solange Bruhn im Zimmer ist. Das ist doch unerträglich. Das darf nicht so weitergehen.«

»Ich habe das schlimme Wort nicht gesprochen, das uns trennt.«

Andree bekam einen roten Kopf.

»Ich weiß wohl, Papa – es war ganz abscheulich von mir, mit dem ›Gericht‹ zu drohen. Als ob ich das je imstande wäre – mit dir zu prozessieren, um den Besitz, der uns von meiner Mutter kommt! Ich bitte dich, verzeih' mir. Du weißt, ich bin so 'n Hitzkopf. Ja, nicht wahr, du vergibst mir.«

Er ließ die Stuhllehne und trat dicht an Hendrik Hagen heran. Mit einer knabenhaften, sehr liebenswürdigen Zutraulichkeit, ein bißchen schuldbewußt, aber schon vor sich selbst entsühnt, weil er reuevoll um Vergebung bat, streichelte er den Rockärmel des Mannes.

Der sah vor sich nieder und schwieg.

Er dachte daran, daß er selbst, in guten und entwaffneten Gedanken, schnell über diese Drohung gelächelt hatte. Daß sie ihm ein Beweis gewesen war, ein so willkommener, von der Unreife dieses jungen Menschen ... Und daß es ihn einige Tage hindurch fast Mühe gekostet hatte, sein Wesen noch so in fremde, feindliche Kälte zu hüllen – nur weil er fühlte: Die Frage durfte noch nicht entschieden werden, dieser Streit um die Scholle mußte noch fortdauern, weil hinter ihm sich der heißere Kampf verbarg ...

Nun aber, seit jenem furchtbaren Augenblick gestern – nun hatte sich alles verwandelt ...

Nervöse Schauer durchrieselten ihn wie Frostgefühl, als er die streichelnde Hand an seinem Arm fühlte.

Diese bittende Stimme, dieser zutrauliche Ton waren ihm unerträglich. Er fühlte: gleich, gleich würde er mit der Faust dreinschlagen – –

Und hatte doch eine dumpfe Empfindung, daß dieser junge Mensch gut, liebenswert, frisch, natürlich handelte ...

Und gerade das, das steigerte noch seinen haßvollen Zorn.

Ja, wenn dieser da widerwärtig wäre ...

Welche Wärme aus seinen hübschen dunklen Augen leuchtete ...

Wie offen, wie jung, wie strahlend dies Gesicht war ...

»Sieh mal, Papa,« begann Andree wieder zu bitten, »ich hab' 'ne Entschuldigung. Es reizte mich so, daß du gewissermaßen meine Mutter verleugnetest. Wenn du nur selbst hättest deinen Ton hören und dein Gesicht sehen können! Aber ich weiß ja: das war auch nicht so gemeint. Ich weiß doch, wie du sie geliebt hast. Noch gestern abend las ich die Verse, die du ihr nach ihrem Tode weihtest. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie mich wieder rührten. Und ich sah es doch: all die Jahre hast du ihrem Andenken gelebt, lebst ihm noch. Und das find' ich so wundervoll – Liebe bis über den Tod ...«

Seine Augen feuchteten sich. Er war gerührt. Und fuhr dann mit frischem, heiterm Mut fort:

»Aber wenn man mal in Rage kommt – nicht? Wenn man heftig gegeneinander wird! Was sagt man dann nicht alles. Das wollen wir aber nicht auf die Goldwage legen – was?«

Während dieser Worte gingen mit der Raschheit, die nur haßgepeitschte Gedanken haben können, die merkwürdigsten Erwägungen durch Hagens Hirn. Es war an das Zusammenknüpfen der Dinge, an Folgerungen, an Voraussetzungen gewöhnt – wie es sonst an den Stoffen, die dem Schriftsteller sich für seine Arbeit aufdrängten, arbeitete – so arbeitete es nun an dem eigenen Erlebnis ... Ja, klüger war es, sich scheinbar zu vertragen ... damit nachher niemand sagen konnte: sie waren Feinde ...

Und die Entscheidung war so nahe ... da lag Britas Brief ... heut abend vielleicht schon würde er wissen, ob er hier der Herr bleiben müsse oder nicht ...

Gewiß, es war besser, den Versöhnten zu spielen.

Wie es auch wurde. Für Leben oder Tod ...

Damit die Welt nachher rühmte: und gerade hatten sie sich endlich als Vater und Sohn gefunden ...

Und neben all diesen tollen Grübeleien war sein Verstand scharf und hell wach und redete kalt und hohnvoll: das ist ja Wahnsinn – du lebst hier dein Leben, du schreibst hier keinen Roman ... Und alles, was du fühlst und möchtest, ist Fieber – du wirst es nicht tun – besinne dich – hier ist hellichter Tag und dies ist die nüchterne Alltagswelt ...

Ja – Alltagswelt ... aber auch in ihr schlägt ein Mann den andren nieder um das Weib ...

Er lächelte in sich hinein ... mit so sonderbarem Ausdruck ...

Andree staunte das Gesicht an. Es war ihm neu. Es erschien ihm das eines Kranken.

»Du hast recht, lieber Andree. Vergessen wir den Zwischenfall«, sagte er.

»Ach Papa, wie dank' ich dir,« rief der junge Mann und nahm einfach die schlaff herabhängende Hand des Älteren, um sie fest mit seinen beiden Händen zu umschließen und zu drücken. »Es hat mir all die letzten Tage vergällt. Und mein Herz war schon sowieso so voll ... Wenn man hofft und im nächsten Augenblick wieder nicht weiß, ob man hoffen darf ... Nein, nein, ich weiß wohl: Du magst kein Vertrauen – du meinst: Männer müssen schweigend alles mit sich abmachen ... Ja, du, du sprichst dich in deinen Werken aus – aber unsereiner – man muß ja mal herausschreien ...«

Hendrik Hagen stand, als sei alles Leben in ihm tot, jede Anteilnahme in ihm erloschen – blaß, stumm, fast atemlos.

Aber in dem andern war zu viel Bewegung, glückliche und doch voll Unsicherheiten – er konnte sie nicht niederzwingen, ganz stumm und ganz mannhaft, wie er dachte, daß von ihm verlangt werde ...

Er lachte kurz auf, heiß, verlegen – wie heimliche, stolze, junge Liebe lacht.

»Wenn du wüßtest, daß ich sehr viel zu hören bekommen habe deinetwegen!« sagte er wichtig und voll strahlender Geheimnistuerei.

Hendrik Hagen begriff von wem! Dieses Liebeslachen sagte es ihm ...

»So?« fragte er, »meinetwegen?«

»Ja, Fräulein Brita fand, daß man sich von einem Mann, wie du es bist, auch mal ein scharfes Wort, eine böse Laune in aller Demut gefallen lassen müßte. Du glaubst nicht, wie sie dich verehrt, wie sie dir dankbar ist.«

Er fühlte: Dieser will mir das Weib, das ich liebe, als Schwiegertochter empfehlen...

Er lachte laut auf...

Aber er stand ja einem einfachen, unbefangenen Herzen gegenüber. Und das hörte nicht die Nebentöne in diesem Lachen...

Andree lachte mit.

»Ja und sie hat mir noch gestern anbefohlen, dich um Verzeihung zu bitten ...«

»Sieh mal an – also nur deshalb...«

»O nein, Papa,« beschwor Andree mit rotem Kopf, »ich war schon von selbst entschlossen.« »Ich glaub's – ja, gewiß – aber nun – sieh, du weißt – meine Arbeitszeit...«

Andree sagte, er gehe schon und bat um Verzeihung wegen der Störung, aber es sei doch zu wichtig gewesen ...

Der zurückbleibende Mann besann sich keinen Augenblick.

Ihm war, als habe er große Eile. Als jage und treibe ihn irgend etwas. Als müsse er nun handeln.

Zunächst sollte der Brief an Brita fort. Er trug ihn selbst auf den Wirtschaftshof und suchte Barch, den er in der Garage pfeifend beim Laternenputzen fand.

Er blieb als Wächter, um zu sehen, daß der ohne Verzögerung fortkam.

Wenige Minuten später stand er, ins Haus wieder zurückkehrend, noch unter dem Eingang still und sah dem davonhuschenden weißen Wagen nach, der ein Staubgewölk hinter sich ließ und rasch in ihm unsichtbar ward. Der Chauffeur brachte den Brief nach Iserndorf ...

Hendrik Hagen machte dann in seinem Zimmer keinen Versuch zu arbeiten.

Er nahm kein Buch vom Borde.

Er wußte doch: er konnte weder schreiben noch lesen.

Seine Gedanken standen still – sein Leben stand still ...

Es war eine große Pause ...

So wie vor rasendem Unwetter die Natur den Atem anhält ...

Oder wie in Kunstwerken auf der Bühne bange Sekunden des Schweigens sich zu Zeiträumen voll Erwartung und Entsetzen dehnen können ...

Er fühlte nur das eine: Er oder ich!

Das klopfte sein Herz. Das sagten seine Schritte. Das tickte die Uhr. Das war der Zweitakt, nach dem sich die Welt bewegte.

Immerfort – immerfort ... Er oder ich! Ich oder er!

Die Stunden hatten keine bleiernen Füße – sie schwebten gleich ihm, mit ihm in dieser Pause – losgelöst war alles aus dem Zusammenhang mit dem sonstigen Leben – jede Empfindung dafür, ob die Zeit rasch oder langsam vorwärts gehe, war aufgehoben.

Er ward sein eigner Zuschauer, sah sich an der Ordnung des Tages teilnehmen, mit jemand am Tisch sitzen, der Andrees Gesicht und Wesen hatte und doch nur ein Phantom war ... Nicht er, der nicht leben durfte ... Nicht er, der ein suchendes Mädchenherz ins Schwanken brachte und es dem einen stahl, dem allein es schlagen sollte ...

Und dann kam die Stunde, wo er sich rüsten konnte, zu fahren.

Er war ganz besonnen, er bedachte, daß man Vater und Tochter eine schickliche Zeit nach dem Wiedersehen allein lassen müsse. So ließ er es Spätnachmittag werden, ehe er fuhr.

Draußen schlief der Tag ein, freundlich wie ein Greis, der an seinem heiteren Lebensabend auf seine erstaunlich lang bewahrten Kräfte stolz ist und lächelnd sich auf die nahende, erquickliche Nachtruhe freut.

Der Mann, der in die seine und zurückhaltende Stimmung dieses liebenswürdigen Abends hineinfuhr, nahm sie nicht in sich auf.

Das einzige, was er wohltätig empfand, war die sausende Schnelligkeit, mit der sein Gefährt den Wald durcheilte, über die Landstraße glitt. Die Gegend flog vorbei.

Er dachte immer nur: bald werde ich wissen ...

Ihm war, als sei er zum Richter über einen Menschen bestellt – Tod oder Gnade stand bei ihm ...

Wenn sie den andern liebte oder auf dem Wege zu seinem Herzen war – unbewußt, nachtwandlerisch, wie werdende Liebe geht?

Er oder ich! klopfte wieder dumpf und im Takt sein Blut.

Und wieder empörte sich sein Verstand ...

Er handelte mit ihm – sagte: ich will nur erst wissen! Nur erst der Wahrheit ins Gesicht sehen – weiter nichts ...

Und gegen diese Gier nach der Wahrheit, die vielleicht das Glück, vielleicht das Elend war, konnte auch der Verstand nichts aufbringen. Ja, der spielte ganz gefaßt mit dem Gedanken, daß dann so oder so die Ruhe käme ...

Der Herzschlag aber klang in den Schläfen und schmerzte und war wie ein Hammer, der auf zwei Töne abwechselnd schlug: Er oder ich! Ich oder er ...

Wie das unerträglich wurde... Wie eine Monomanie...

Er kam an. Still lag der Platz vor dem Hause. Der verrenkte Löwe im zerzausten Boskett, der mit seiner Tatze das schräggestellte Wappen von Sandstein mit den zerbröckelnden Rändern hielt, schien sein Maul mit den zerbrochenen Zähnen noch weiter aufzureißen als sonst. Vom Wirtschaftshof her schimpften die Hunde mit pausenlosem Gebell, rasend, weil sie nicht sahen, was sie doch wachsam meldeten.

Noch glänzte in der Front des Iserndorfer Herrenhauses kein Fenster freundlich von gelbem Lampenlicht. Der hindämmernde Tag füllte es noch mit einer stillen, letzten Helle.

Sie war klar genug, um Hendrik Hagen genau zu zeigen, was für ein Mann es sei, der ihm schon auf dem Flur entgegentrat.

Britas Vater!

Eine sehr starke Bewegung überkam ihn – sie machte ihn befangen. Ihm war, als sei der ganze Wert seiner Persönlichkeit ausgelöscht – als habe sein Leben gar keine Früchte getragen ... Es war die einfache Unsicherheit des Bewerbers dem Vater der Geliebten gegenüber – ein wunderbar beklemmendes Gefühl – und doch gab es ihm alle Seligkeiten der Jugend zurück ...

Herr v. Benrath reichte ihm die Hand, mit festem Druck hielt er sie einen Augenblick.

»Brita, die am Fenster aufgepaßt hat, sagte mir, daß Sie es seien.«

Sie hatte nach ihm ausgesehen! Wie das seiner kranken Seele wohltat...

Er legte ab – merkwürdig langsam. Herr von Benrath stand dabei und Lübbers nahm mit ungewohnter Lebhaftigkeit Hagen den Mantel aus der Hand.

Dabei sahen sich die Männer in die Augen, lächelten einander an – melancholisch der eine, liebevoll der andere – und schwiegen.

Herr v. Benrath war nicht als Sohn seiner Mutter zu verkennen. Hätte man ihn neben der Lebenden gesehen, würde sich vielleicht kein wahrhaft verwandter Zug ergeben haben. Aber da nur ein Vergleich mit einem Erinnerungsbild möglich war, schien es, als bestehe eine Ähnlichkeit der Erscheinung. Auch er war groß, mager und hielt sich ein wenig vornübergebeugt. Auch sein Kopf war im Verhältnis zur langen Gestalt auffallend klein.

Aber er hatte ein bärtiges Träumergesicht und darin hellbraune Augen mit dem Ausdruck zugleich von Offenheit und Trauer.

Im Zimmer hatte Brita inzwischen die Lampe angezündet und die beleuchtete den Teetisch, der in Erwartung des Besuchs schon hergerichtet gestanden.

»Hat sich hier inzwischen etwas verändert?« fragte Hendrik Hagen. Es war eine andere Stimmung in den Raum gekommen seit vorgestern, wo er hier zum letztenmal gewesen war.

»Ich habe nur aus dem ganzen Hause das bißchen Gute, was an Sachen da war, zusammengesucht und so ist das Zimmer voller geworden – alles steht auch anders«, erzählte Brita.

»Der erste Eindruck sollte mir nicht gleich zu weh tun«, sagte ihr Vater und streichelte ihr das Haar. Sie sah ihn zärtlich an und nickte ein wenig – fast mütterlich tröstend – wie eine, die mit Blick und Gebärde sagen will: warte nur, es wird alles gut werden.

Hendrik Hagen war bezaubert. Ein neuer Zug in ihrem Wesen! Weiblich, gütig, mutvoll ...

Ja, schwere Heimkehr war es für den alternden Mann gewesen – aber es schien Hagen, als müßten alle Enttäuschungen aufgewogen sein durch den Besitz solcher Tochter. Ihm war der Maßstab für alle andern Lebenswerte abhanden gekommen: er empfand nur noch die Geliebte und sie war ihm der Mittelpunkt der Welt ...

Er war von der Beobachtung ihrer Gestalt ganz hingenommen – sah zu, wie sie Tee eingoß und anbot – folgte ihr mit den Blicken, wenn sie hin und her schritt in dem weichfließenden und weder für das Haus noch eigentlich auch für die Trauer recht passenden schwarzen Kleid.

Daß der andere Mann in peinlichen Verlegenheiten dasitzen mochte, fiel ihm gar nicht ein. Er genoß diese Augenblicke – sie waren wie ein Idyll inmitten des stürmischen Erlebens ... Wie ein ruhevolles Zukunftsbild: er, die Geliebte, ihr Vater – das stille, bürgerlich-friedvolle Licht, der goldbraune Trank in den alten feinen Tassen, das wohltätige Schweigen ... Diese Augenblicke gaben den Vorgeschmack von den Sicherheiten und dem Frieden des Besitzes ...

Herr v. Benrath blickte in seine Tasse hinein und verfolgte, wie der Zucker langsam im Grunde der topasfarbenen Flüssigkeit zerging. Er hielt dabei immerfort die Tasse am Henkel fest, als warte er nur das Zerschmelzen des Stückes Zucker ab, um sie dann zum Munde zu führen.

Aber der Zucker war längst zerschmolzen und noch immer sah der Mann dem Vorgang zu, der sich gar nicht mehr begab.

Endlich, nach schwerem Zaudern fuhr er auf und suchte Hagens Blick und sah, wie der an Brita hing.

Da wurde er ein wenig rot ... Das, was er dachte, machte seinem empfindlichen Gefühl alles noch unfreier ...

Seine Tochter hatte noch kein Gespräch mit ihm geführt, das nicht zuletzt von ihr bis zu dem Sohn dieses Mannes geleitet worden war. Und ihm war der Glaube gekommen, daß Hendrik Hagen für den Sohn handle. – Er, der nichts von den Feindseligkeiten zwischen Hendrik Hagen und Andree v. Marschner erfahren hatte, dachte fast gar nicht das Wort »Stiefsohn«.

Er mußte sich bemühen den Unbefangenen zu spielen – vor allen Dingen, um diesen Männern das Gefühl der Freiheit zu geben ... Um keine Hoffnungen zu zeigen – gegen die auch sein Stolz sich wehrte... sein Kind war so arm, daß er nichts wünschen durfte und konnte, ohne zugleich jeden Wunsch schon als Indiskretion zu empfinden ...

»Ich weiß nicht, Herr Hagen,« begann er – Hagen wandte sich ihm sofort und mit ergebener Aufmerksamkeit zu – »ich weiß gar nicht, ob ich unser Gespräch mit Dank oder mit Fragen beginnen soll. Beides, Dank und Fragen bewegen mich übermächtig.«

»Beschäftigen wir uns nur mit den wenigen, nötigsten Fragen«, sagte Hagen; »aber lassen Sie mich erst erfahren, wie es Ihnen geht.«

»Wie es einem mürben Mann gehen kann, der als Rekonvaleszent nach einer Lungenentzündung schlimme Nachrichten bekommt. Man fühlt sich eben etwas widerstandslos.«

»Ich bin da, um Ihnen alles abzunehmen – oder vielmehr mein Freund und Rechtsbeistand Dr. Berthold ist dafür da. Denn hier tut ja ein Mann not, der sich in allen Paragraphen auskennt.«

»Was dieser Ludewig mir in einem kurzen Gespräch dargelegt, war so entmutigend, daß ich fürchte ...« er unterbrach sich und sprach in seiner etwas kraftlosen, ergebenen Art weiter:

»Sie haben große Geldopfer gebracht, Herr Hagen – Sie haben einen schmachvollen Bankerott von meinem Hause, meinem Namen abgewendet. Daß Sie es nicht getan haben, um nun als der Gläubiger, der Iserndorf in der Hand hat, mich zu drängen, weiß ich von selbst. Aber da die Verhältnisse doch noch trüber liegen, als ich nach den Depeschen annehmen durfte, fürchte ich, daß Sie Ihre rasche Tat noch bereuen.«

»O nein, Papa, du kennst Herrn Hagen nicht, wenn du denkst, er könnte eine edle Tat bereuen«, rief Brita in einer begeisterten Aufwallung.

Sie sah ihn strahlend an und er konnte nichts tun, wie in heißem Glück ihre Hand nehmen und dankbar küssen.

Sie hatte sich seit jener Stunde, wo er für sie eintrat, sie beschützte und dann doch nicht um sie warb, mit ihrer Mädchenweisheit einen Hendrik Hagen zurechtgedacht, der weniger einem Menschen als einem selbstlosen, göttlichen Wesen glich. Es war das erstemal in ihrem Leben gewesen, daß sie jemand Geld hingeben sah nicht zu eignem Nutzen. Der Eindruck und seine Nachwirkungen waren außerordentlich. In Amerika, vor ein paar Monaten noch, hätte sie gedacht: der muß ein Narr sein. Hier aber und jetzt und da es gerade Hendrik Hagen war, dachte sie: er ist ein Gott. Womit sich ihr unbewußt auch etwas Väterliches verband ...

Nun zweifelte sie auch keinen Augenblick mehr daran, daß Großmama sich nur etwas eingeredet gehabt hatte, weil es ihr so wünschenswert erschien, die Enkelin reich zu verheiraten. Ein Wunsch, der Brita jetzt, wo sie die verzweifelte Vermögenslage kannte, sehr erklärlich schien. Sie selbst hatte ja Zeiten gehabt, wo sie dachte: Geld ist alles.

Alle ihre Lebenserfahrungen waren nur ganz äußerlicher Natur. Sie konnte noch nicht mehr erkennen von den Dingen, als die Umrißlinien. Und nun stand es für sie in aller Einfachheit fest: Hendrik Hagen war ein unaussprechlich edler und selbstloser Mann.

In tiefen und langen Gesprächen hatte sie es auch mit Andree erörtert. Und die beiden jungen Menschen wollten natürlich eine Einheit im Wesen des Mannes finden und wiederherstellen. Denn zu solcher Großmut und Selbstlosigkeit paßte ja nicht der Starrsinn, mit dem er sich an Rote Heide klammerte. Und Andree sprach von der großen Liebe des Mannes zu der Toten. Brita las dann – endlich! – seine Gedichte und kam zu der Einsicht, daß es in der Tat so sei: er konnte sich, wenn er es auch einmal im Zorn verleugnet hatte, nicht vom Grabe der Geliebten trennen. Ihre Verehrung für Hendrik Hagen steigerte sich seitdem zu einer unbefangenen Begeisterung.

»Daß Fräulein Brita so für mich aussagt, macht mich stolz«, sagte er.

Herr v. Benrath lächelte wehmütig.

»Sie kennt das Leben noch zuwenig,« sprach er in seiner zaghaft halblauten Art, »sie weiß nicht, daß eine edle Tat, gerade wie eine schlechte, aus dem Täter ihren Sklaven machen kann. Auch Großmut kann Folgen haben, so endlos lästig und anspruchsvoll, daß der Großmütige sich bestraft anstatt belohnt sieht.«

»Lieber Herr von Benrath,« sprach Hendrik Hagen offen und herzlich, »ich habe nicht in einem Moment unbedachter Aufwallung gehandelt, die dem, der sie hat, meist ein schöner Genuß ist. Wieder kalt geworden ist es manchem freilich lästig, im Zusammenhang mit der großen Geste eines Augenblicks bleiben zu sollen. Sie werden mich nicht für einen taxieren, der große Gesten macht. Ich habe gehandelt, wie es mir selbst notwendig war. Das sagt alles. Ich habe alle Möglichkeiten bedacht und mit meinem Freunde Berthold besprochen. Und ich komme deshalb gleich heute, um Sie zu beruhigen: wenn Sie einige Mittel haben und den Mut, Ihren alten Familienbesitz zu übernehmen, so denken Sie, daß es mir ein Glück gewesen ist und auch weiter sein wird, Ihnen darin beizustehen. Ich habe keine andere Bitte als die eine: lassen Sie mich bald Ihren Entschluß erfahren.«

Brita sah die Männer aufmerksam an. Mit seiner stillen Traurigkeit fing ihr Vater an, seine Ansicht zu sagen:

»Mein alter Freund Stevens hat sich mir, ehe ich reiste, wohl bereit erklärt, eventuell eine letzte Hypothek, auch einiges Kapital zur Reorganisation der Wirtschaft herzugeben. Aber er ist nur hilfsbereit, wenn es mit guter Verzinsung geschehen kann. Drüben, nach der Depesche, glaubte ich noch an die Möglichkeit einer bloßen Stockung infolge schlechter Wirtschaft. Jetzt höre ich schon so viel, daß es sich um mehr, um den völligen Ruin handelt. Wenn ich Stevens, wie ich es selbstverständlich müßte, genaue Aufstellungen hinüberschicke, wird er mir sagen: keinen Dollar, alter Freund, und hands off. Das Gut ist ja schon über seinen Wert belastet und es war wohl ziemlich alles vorbereitet, es einem dunklen Ehrenmann in die Hand zu spielen. Was nun werden soll, weiß ich nicht. Ich weiß nur dies eine, daß ich nicht mehr jung, nicht mehr gläubig genug bin, es mit einer so ungeheuren Schuldenlast zu übernehmen. Und ein Käufer? Auch mein Gefühl sträubt sich und leidet, wenn ich denke, daß es doch der Hintermann des Herrn Hermann Fedder sein soll. Wie mich das seltsam berührte, wieder auf den Namen und die geschäftig schleichende Art dieser Fedders zu stoßen. So wanden sich schon ihr Vater und ihre Oheime durch das Leben und Treiben der Stadt. Wie das zu mir von der gewissen deutschen Kleinbürgerträgheit spricht, die sich alles gefallen läßt und dann doch über die klagt, die nur dank ihrer Fuchs spielen können. Seltsam: was ich unverändert wiederfinde, ist gerade solche Erscheinung. Sonst – – Aber ich schweife ab. Verzeihen Sie. Jedes Thema führt zu Erinnerungen und Schlüssen. Stimmung und Kritik des Heimkehrenden – Also ja: wo fände sich ein Käufer? Und einer, der den fast phantastischen Liebhaberpreis zahlt, der gezahlt werden müßte, wenn Sie keinen Verlust erleiden sollen.«

Alles, was Britas Vater sagte, wie er, melancholisch betrachtend, auf die Dinge herabsah, sprach sehr eindringlich zu Hendrik Hagen. Ihm klang aus jeder Menschenseele rasch ein Widerhall eigenen Empfindens – weil er verstand, fühlte er sich verwandt ... Und dies war Britas Vater.

Mit starkem Ausdruck rief er:

»Und wenn ich dieser Käufer wäre!« Er fühlte, daß von neuem eine große Erregung über ihn kam.

Das Gespräch tastete sich der Entscheidung zu.

Und der Entscheidung nicht nur über das Dein und Mein dieser Scholle.

»Und wenn ich Sie bäte, Iserndorf zu bewirtschaften – nicht als mein Pächter – als mein Stellvertreter?« fragte er gleich weiter.

Das feine Träumergesicht des Mannes wurde ganz dunkel und auch Brita errötete.

Mit mehr Mannesanmut, mit mehr Einfachheit und Wärme konnte das nicht gesagt werden.

Der es sagte, erbat es fast als Gunst. Und er wußte: vielleicht hing sein Leben, sein Glück an dem allen.

Aber der, der es hörte, ahnte das nicht – er fühlte nur den harten Schmerz und doch auch, trotz all der Schönheit im Wesen des andern, eine leise, ferne Demütigung.

»Das,« sagte er zögernd, »das könnte ich nicht. Jahre würden hingehen, ehe die Wirtschaft etwas eintrüge. Ich wäre da wie ... Ich wollte sagen, ich würde stets die Empfindung haben, Ihrer Großmut eine Sinekure zu verdanken ... ich würde ...«

Hendrik Hagen begriff die zarten Leiden des Mannes.

»Ich habe bei diesem Anerbieten nur den Wunsch, Ihnen die Möglichkeit freizuhalten, den alten Familienbesitz jeden Augenblick zurückzuerwerben. Unerwartete Glücksumstände könnten eintreten. Oder durch eine Reihe guter Jahre kann Iserndorf ungeahnt rasch gesunden. Vielleicht steigt der Bodenwert in der Folge, wenn die Gesellschaft Neu-Wachow gedeiht – allein der Absatz an die Badekolonie ...« sprach er.

»Ich danke Ihnen. Aber ich kann es nicht. Glücksumstände, Erbschaften und dergleichen stehen nicht hinter den Kulissen meines Lebens und warten nicht aufs Stichwort, um aufzutreten. Die Möglichkeit guter Jahre heranwünschen und hoffen? ... Und immer peinlich unter der Vorstellung zu leiden: wenn sie nun nicht kommen? Was dann? Nein, ich kann nicht ... das nicht...«

»Ich glaubte, Sie hingen an Ihrer Heimat«, sagte Hagen doch überrascht, daß sein Anerbieten den Mann gar nicht verführte, nicht einmal Kämpfe zu kosten schien.

Herr v. Benrath sah vor sich hin. Er lächelte ein wenig und so ergeben schmerzlich, daß es Hagen ergriff.

»Ich habe an ihr gehangen. Ich habe sie sehr geliebt. Ich liebe sie noch. Aber sie ist eine Erinnerung geworden. In Wahrheit ist sie gar nicht mehr. Nicht mehr für mich ... Hat sie sich so verändert? Nur weil das Haus kahl ist und alle Stücke, woran die Geschichte der Familie hing, fort sind? Das ist doch vielleicht nicht möglich? Habe ich mich verändert? Ich weiß es nicht. Schon als ich hierher fuhr, spürte ich es: wir sind auseinandergewachsen, die Heimat und ich. Das ist wie mit Menschen, die sich in der Jugend liebten. Der Nachklang davon kann das ganze Leben vergolden. Das Wiedersehen nach vielen Jahren löscht alle herrlichen Bilder weg. Das Wiedersehen ist beinah wie ein Forscher – der wissenschaftliche Aufschlüsse darüber gibt, daß das, was wir poetisch sahen, in der Tat keinen poetischen Gehalt hatte.«

»Aber glauben Sie nicht, daß Ihnen diese Empfindungen kamen, weil Sie alles traurig wiederfanden?« fragte Hagen.

Benrath schüttelte ein wenig den Kopf.

»Doch nicht. Das schmerzliche Erstaunen wäre doch mein Teil gewesen. Die Bitterkeit und all diese harten Dinge wären mir erspart geblieben – ja. Aber die verblassen doch bald in mir. Sehen Sie, ich bin immer zu weich gewesen, hab' nie recht kämpfen können. Deshalb paßte ich auch nicht in das Amerika, was die Menschen sich vorstellen, wenn sie davon sprechen. In das, wo man etwas werden kann. Das ›werden‹ heißt ja so gesprochen immer: Geld verdienen. Meine Ellbogen sind schwach. Ich kann auch nicht recht zürnen. Ich gehe den Sachen aus dem Weg. Am liebsten einsam in ferne Welten hinein. Einsam auch in diese tolle Menschenmenge da drüben – ja, arbeitstoll ist sie und hat keine Zeit, sich um stille Menschen zu kümmern. Ich bin einst auch meiner armen Mutter aus dem Weg gegangen. Wie hätte ich neben ihrer Unruhe des Willens leben können.«

Er sah kummervoll auf Brita, die mit Geduld zuhörte und nur durch ein ganz leises, fast unmerkliches Nicken zugestimmt hatte, als ihr Vater ablehnte.

»Wegen Brita ist es mir sehr leid und ich bin voll Unruhe. Gern hätte ich ihr die Rolle gegönnt: Schloßfräulein auf Iserndorf. Ich sah das aus ihren Briefen ... sie genoß das vorweg ... Mein Kind, du brauchst nicht rot zu werden und mir kein Zeichen zu machen. Es war natürlich. Herr Hagen wird es verstehen, daß dir eine Stellung im voraus gefiel, für die du dich von Geburt an bestimmt wußtest.«

Brita kämpfte ein paar Augenblicke gegen ihre Beschämung. Dann sagte sie tapfer:

»Papa, ich habe mich hier zuerst sehr aufgespielt. Und dann erlebte ich jene entsetzliche Stunde mit dem Menschen – hieß er nicht Voß – Gott, und er war noch obenein ganz nett ... Weißt du, solche Demütigung! Es war wie Strafe.«

»Fräulein Brita...«

Aber sie ließ nun Hendrik Hagen nicht zu Wort kommen. Sie wollte sich auch einmal erklären, auch von sich sprechen.

»Ich wußte ja auch nie, was ich eigentlich sollte und wollte. Ich bin so hin und her gestoßen worden in den letzten Jahren. Zwischen kargen Verhältnissen und Überfluß«, sagte sie und faltete die Hände auf dem traulich beschienenen Tisch, beugte sich ein wenig vor und sah bald den einen, bald den andern Mann an, als habe sie ihnen Wichtiges zu eröffnen. Und ihr, für ihr junges Leben war es ja auch alles wichtig. »Bei uns, als Mutter noch lebte, war doch jeder Dollar, ehe er noch eingenommen wurde, schon berechnet. Ich sah dich arbeiten und Mutter sagte, du schriebest mit Unlust, mit der Unsicherheit des Dilettanten – nur um Geld zu machen – deine Reisebeschreibungen wären dir lästige Arbeit. Und ich sah Mutter bei jedem Wetter ihren Stunden nachgehen. Und ich hörte euch immer von Deutschland sprechen, das schöner sein sollte als die ganze andere Welt. Und von der Heimat, in die wir einst ziehen würden, die ein Paradies sei. Ich fühlte wohl: das war wie ein Ausruhen für euch, wenn ihr davon sprachet. Und da kam mir oft dies ganze Sorgen und all dies Rechnen um den Dollar wie Eigensinn von euch vor. Ich dachte immer nur: eines Tages sitzen wir ja doch als vornehme Leute auf Iserndorf. Und dann, als Mutter uns genommen war, kam ich zu den Stevens. Das wollen wir nicht vergessen. Da kriegt' ich ganz verschrobene Ansichten. Wurde völlig vergiftet. Geld sah ich da und was das ist! Und Ethel sagte immer dasselbe, was Großmama nachher sagte: reich heiraten ist das einzige. Ich wußte ja gar nicht mehr, wie ich eigentlich dastand. Ich quälte mich förmlich ins Auftrumpfen hinein, tat wie eine große Dame. Aber das ist nun alles vorbei. Meinetwegen ängstige dich nicht, Papa. Eigentlich bin ich jetzt viel zufriedener als früher. Manchmal förmlich glücklich. Ich weiß nicht, woher das kommt.«

Wie sie das alles vorbrachte! Frei und fast stolz. Wie eine, die durch eine große Empfindung zur Gesundheit zurückgeführt ist ...

Durch Liebe zu mir? fragte sich Hagen. Aber zugleich überkam ihn eine neue, furchtbare Unruhe. Er erinnerte sich, daß die Großmutter ihn so sichtlich herangezogen, ihn förmlich darauf hingewiesen, um Brita zu werben. Wenn Brita nun so unbefangen davon sprach, in seiner Gegenwart, daß die Großmutter ihr von reicher Heirat viel vorgeredet – was hieß das ... Was wollte dieser Grad von Unbefangenheit sagen ...

Das Träumergesicht des Mannes verklärte sich von Wohlgefallen an seinem schönen Kind.

»Aber die Zukunft? Mut und Bescheidenheit sind prachtvolle Dinge. Viele Lebensfragen kann man damit beantworten. Aber Antwort ist nicht immer auch Lösung. Ich sehe unsere Lage nun so: wir werden sehen müssen, Iserndorf zu verkaufen. Von Glück können wir sagen, findet sich ein Käufer, der den realen Wert zahlt. Für das, was darüber hinaus von Ihnen, lieber Herr Hagen, gedeckt wurde, bleibe ich Ihr Schuldner und muß Sie bitten, mir zu gestatten, von drüben aus allmählich diese Schuld abtragen zu dürfen. Meine Einkünfte sind bescheiden. Fast ist es ja ein Wunder, daß sich überhaupt eine Stellung hat für mich schaffen und finden lassen in dieser beständig und hart rasselnden Arbeitsmaschine des Geschäftslebens dort. Und Brita wird es machen müssen wie ihre Mutter: verdienen helfen.«

»Nein,« dachte Hagen, »nein – das wird sie nicht.«

Der Gedanke erfaßte ihn: jetzt gleich werde ich sprechen ... Einen Herzschlag lang erwog er: zuerst zum Vater? Oder zu ihr in seiner Gegenwart?

Nun antwortete Brita. Mit der Freude der Jugend, die im kühnen Vorsatz schon Erfüllung und Sieg vorweg genießt, sprach sie:

»Gewiß, Papa. Ich werde schon sehr rasch irgend etwas lernen und viel, viel verdienen. Oh – du sollst sehen! Ich kann auch mit ganz bescheidenem Leben zufrieden sein. Ich versteh' jetzt gar nicht mehr, wie ich eine Zeitlang Luxus für so etwas Begehrenswertes halten konnte. Ich mal' mir jetzt immer aus, wie schön das doch für euch gewesen sein muß, trotzdem ihr tüchtig zu arbeiten hattet, um vorwärts zu kommen – so zwei junge Menschen, die sich lieben, die zusammen schaffen und streben – das war doch gewiß Glück – großes Glück für Mutter und dich – war das nicht mehr und echter, als wenn Mutter dir gar nicht hätte helfen dürfen? Siehst du: so will ich dir auch helfen.«

Sie träumte das Thema weiter – zu sagen wußte sie nichts mehr dazu. Ihre Seele erging sich in allerlei unbestimmten Vorstellungen: sie sah sich eifrig und sehr hausmütterlich walten vom Morgen bis zum Abend, aber die Person ihres Vaters verschwamm ganz in dem Bilde – verlor sich zuletzt völlig daraus ...

Ihr Vater sprach: beglückte Worte und dann: daß er noch einen Monat längstens bleiben könne, in welcher Zeit sich hoffentlich ein Käufer fände und die Lage auf das genaueste geklärt werden könne. Und er richtete immer wieder seinen Dank an Hagen.

Der hörte nichts. Seine Blicke hingen an Britas verträumtem Gesicht. Das Entsetzen hatte sich vor ihm aufgerichtet wie ein Raubtier – wollte sich auf ihn werfen – bändigte ihn ...

War das, was sie gedacht hatte, nicht ein Bekenntnis – ein unbewußtes Geständnis? Sie träumte von junger Liebe, die sich arbeitsam Schulter an Schulter im Leben vorwärtskämpft ... Von einem Los, wie Andree es ihr bieten konnte ... wie sie es neben jenem ihrer warten sah ... Nein, noch nicht deutlich sah! Sie träumte ins Unbestimmte hinein ... Ihr Herz dämmerte dem Morgen entgegen ...

Es durfte nicht erwachen – es sollte nicht.

Über ihn gingen ihre Gedanken fort – als sei er eine Null – nicht der Mann, dessen Namen man laut und rühmend nannte, wo Deutsche wohnten, dem selbst die Gegnerschaft, die er da und dort hatte, noch Ehre bedeutete –

Nicht der Mann, um den mehr als ein Frauenherz in heißer Not gezittert hatte –

Nicht der, der in hingebendem Liebeswerben gleich opferwillig für sie einsprang, als es galt, ihr Demut und Sorge zu ersparen.

Nein – alles das war nichts. War fruchtlos. Ward gar nicht von ihr verstanden.

Welche Sprache gab es denn noch für ein Herz – wenn all dies nicht beredt war?

Woher die Kräfte nehmen, mit welchen Taten sie bezaubern – um sie dennoch, dennoch zu gewinnen ... dennoch ihre Seele zu verführen?

Wie – wie? dachte er.

Und jetzt schloß Herr v. Benrath seine lange Rede, die keinen Zuhörer gehabt hatte, mit den Worten:

»Also wir haben uns in all diesen Fragen verstanden und ich werde morgen mit Herrn Berthold alles besprechen.«

»Ja,« sagte Hendrik Hagen auffahrend, »ja, alles ganz wie Sie wollen ...«

Nun wurde Brita aufmerksam auf seinen Ton und sein Gesicht ...

»Mein Gott,« dachte sie erschreckt, »hat Papa irgend etwas gesagt, das ihn verletzte? Ganz ohne es zu ahnen?«

Das wäre ihr unaussprechlich betrübend gewesen. Sie wünschte sich ja gar nichts anderes, als ihm fortwährend heiße Ergebenheit und Dankbarkeit zeigen zu dürfen.

Sie konnte sich dann beinahe nicht genug tun ...

Sie sprang auf, wollte sich zunächst in einem ganz einfachen Hausfraueneifer liebenswürdig um ihn bemühen, bot heißen Tee an, nahm ihm seine Tasse fort und tat heiter und unbefangen, während sie ganz erregt dachte: »womit mag Papa ihn nur verstimmt haben? Hätte ich doch zugehört: dann wüßte ich gewiß wodurch.«

Und dann verfiel sie auf das etwas naive, billige Auskunftsmittel, den Menschen zu begütigen, indem sie begeistert von dem Autor sprach ...

»Papa,« plauderte sie, an der Teemaschine hantierend, »wenn du deinen Kopf erst ein bißchen, ein ganz bißchen freier hast von diesen traurigen Dingen, wenn du dich dann so recht erheben willst, dann mußt du Herrn Hagens Gedichte lesen. Sie sind wundervoll.«

Hagen machte eine rasche, abwehrende, sehr schmerzliche Handbewegung. Seine Seele litt zu furchtbar – sie zitterte in dem Entsetzen der Wahrheit, die ihr tagte – Und jetzt – gerade jetzt – in diesem Augenblick der Leiden ertrug er es nicht, Brita in dem Ton von seinen Gedichten sprechen zu hören ...

Denn er fühlte, daß es nicht der Ton der Liebe war ... Die hätte keusch gewartet, um ihm in einer heiligeren Stunde von seinem Werk zu sprechen – –

Aber Brita verstand die ablehnende Handbewegung falsch ...

»Oh, lassen Sie mich es doch sagen«, bat sie eifrig und begeistert.

»Ich kenne, glaube ich, alles von Hendrik Hagen«, sprach ihr Vater. Und er hatte die Überlegenheit, keine Bewunderung auszusprechen.

»Nicht wahr – die Gedichte ›An Nadine‹ sind die schönsten. Findest du nicht auch? Gerade dich, Papa, haben sie gewiß tief berührt.«

Ihr Gemüt wurde bewegt. Sie dachte plötzlich sehr lebhaft an ihre Mutter und an das stille, immer ein wenig gedämpfte Eheglück ihrer Eltern. Ihr schien es gerade in diesem Moment erst recht aufzugehen, daß es ein sehr inniges, durch die beständige gegenseitige Aufopferung etwas schmerzliches Glück gewesen. Es war ihr überhaupt merkwürdig, wieviel sie jetzt immer nachträglich noch begriff ...

»Ja, Papa, so wie du Mutter liebtest und sie nie vergessen kannst – das klingt alles auch in den Gedichten ... Gott, verzeihen Sie, Herr Hagen – ich wollte es nicht sagen – es riß mich so hin –«

Er war schroff aufgestanden.

Sie bat und stand mit feuchten Augen und wollte erklären und erklärend gutmachen.

»Gewiß, ich wollte an nichts rühren, was Ihnen immer noch ein frischer Schmerz ist – ich weiß ja, daß er es ist ... ich bin jetzt immer so aufgeregt ... Das ist vielleicht verzeihlich ... Ich mußte weinen über die Gedichte – es ist so schön, so große Liebe zu sehen ... Vergeben Sie mir – bitte ...«

Er wollte sich zusammennehmen. Es gelang nicht gleich.

»Bitte«, sagte sie da noch einmal mit leidenschaftlichem Kummer. Denn sie sah es so: sie hatte ihm nun durch die Erinnerung völlig die Stimmung verdorben. Sie war sehr unglücklich.

Und er rang es sich ab, noch fünf Minuten lang als ein Mensch bei Verstand zu scheinen ...

Und dann fuhr er in die Nacht hinein ...

Das Wissen, was er gesucht hatte, war ihm geworden ...


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