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Es war am 2. Juni des Jahres 186*, als ein junger Norweger, Namens Halfdan Bjerk, an der Landungsbrücke bei Castle Garden den amerikanischen Boden betrat. Bei dem Passieren der geraden und engen Gasse wurden ihm die üblichen Fragen vorgelegt, nach seinem Namen, Geburtsort und wie viel Geld er habe. Darüber erschrak er denn gar sehr.
»Und Ihr Ziel?« fragte der grimmig blickende Beamte an dem Schalter.
»Amerika,« erwiderte der Jüngling; und dabei lüftete er höflich seinen Hut.
»Glauben Sie, daß ich Zeit für schlechte Witze habe?« brüllte der Beamte fluchend.
Der Norweger fuhr sich mit der Hand durchs Haar, lächelte furchtsam und verbindlich und versuchte so unbefangen wie möglich auszusehen; aber seine Hand zitterte, und sein Herz schlug in beängstigend schnellem Tempo.
»Schreiben Sie ihn für Nebraska!« rief mit heiserer Schnapsstimme ein in Tabaksrauch gehülltes stämmiges Individuum, das den Dienst an der Barriere hatte; »gehen nicht Viele nach Nebraska?«
»Meinetwegen: Nebraska!«
Die Barriere wurde geöffnet: die hinter ihm drängten den furchtsamen Reisenden vorwärts, und der an der Barriere gab ihm noch einen Extrastoß, so daß er seitwärts nach einem Zaun flog, der den Weg einfaßte. Da setzte er sich dann und versuchte sich klar zu machen, er sei nun wahr und wahrhaftig im Lande der Freiheit.
Halfdan Bjerk war ein lang aufgeschossener, schlanker Jüngling von zartesten Körperformen, mit einem Paar wundervoll klaren, treuherzigen Augen, einem glatten, rosigen, bartlosen Gesicht und weichem, wehendem, blondem Haar, das er ungescheitelt aus der Stirn hintenüber gestrichen trug. Mund und Kinn waren wohlgeformt, nur für einen Mann vielleicht ein wenig zu schwächlich in den Umrissen. Im Zustand der Ruhe mochte der Ausdruck der gefälligen Züge an Correggios heiligen Johannes erinnern. Sein Vaterland hatte er verlassen, weil er ein glühender Republikaner und in abstracto davon überzeugt war, daß die Menschen, generell und individuell, in einer Republik glücklicher als in einer Monarchie leben. Und in herrlichen Träumen hatte er sich die breite, großartige, herzbefreiende Existenz ausgemalt, die er in einem Lande führen würde, wo jeder seines Nächsten Bruder war, wo keine sinnlosen Traditionen eifersüchtig Wache hielten über verjährten und verrotteten Systemen und Altären, und der Reif eines Vorurteils nimmer aus die Blüte einer jungen Seele fiel!
Halfdan war das einzige Kind seiner Eltern gewesen. Der Vater, ein vermögensloser Regierungsbeamter, starb ihm, als er noch ein Kind, und die Mutter gab Musikstunden und hielt Pensionäre, um für ihren Sohn zu ermöglichen, was man eine gelehrte Erziehung nennt. Auf dem Gymnasium erfreute sich Halfdan des Rufes besonders hervorragender Begabung, und als er mit achtzehn Jahren die Universität bezog, prophezeite man ihm eine glänzende Zukunft. Er machte die hübschesten Verse und spielte jedes mögliche Instrument mit derselben Leichtigkeit und Virtuosität. So war er denn ein Liebling und Vorzug aller gesellschaftlichen Kreise. Besaß er doch unter seinen vielen Talenten auch das ehrwürdige, Silhouetten ausschneiden zu können; zeichnete die geschmackvollsten phantastischsten Arabesken zu Stickmustern; malte sogar in Oel, gleichviel ob Landschaft oder Porträt. Was er auch unternahm, es ging ihm glatt und gut von der Hand, in der That erstaunlich gut für einen Dilettanten und doch nicht so gut, daß er auf den Titel eines Künstlers hätte Anspruch machen dürfen. Es fiel ihm aber auch gar nicht ein, diesen Anspruch zu machen. Einer seiner Kommilitonen sagte – in einem Anfall von Eifersucht – gelegentlich von ihm: »Als die Natur drei Genies fertig hatte, einen Dichter, einen Musiker und einen Maler, nahm sie die übriggebliebenen Reste, schüttelte sie aufs Geratewohl durcheinander und das Resultat war Halfdan Bjerk.« Um so anziehender machte ihn selbstverständlich diese entzückende Mischung von Fertigkeiten und Vorzügen für die Damen, die den glücklichen Besitzer zu zahllosen Thees einluden, wo sie seine unermüdliche Geduld auf die härtesten Proben stellten und ihn Heldenthaten in seinen tausend Künsten verrichten ließen. Dafür nannten sie ihn »reizend« und »himmlisch« und schmückten ihn mit anderen enthusiastischen Beiwörtern, die man sonst mit männlichen Namen selten in Verbindung bringt.
Wunderlicherweise fanden diese Talente bei den Männern der Universität nur eine geringe Anerkennung, und nachdem Halfdan sich drei Jahre lang vergeblich auf das Examen philosophicum vorbereitet, glitt er unmerklich langsam aber stetig in die Reihen der »bemoosten Häupter«, die ein feierliches Schweigen beobachten, so oft die Rede auf Examina kommt, mit jeder neuen Generation von Füchsen fraternisieren und schließlich ein Teil des eisernen Bestandes ihrer Alma Mater werden. In den großen amerikanischen Gelehrtenschulen werden solche Leute mitleidslos fortgeschickt: aber das Temperament der europäischen Universitäten haben die Jahrhunderte weidlich abgekühlt, und sie halten in ihrem weiten, mittelalterlichen Herzen einen Platz offen für unglückliche Söhne. Die Professoren grüßen sie mit gutmütiger Vertraulichkeit, wenn sie ihnen in den Hallen oder Auditorien begegnen; man behandelt sie mit freundlicher Duldsamkeit, läßt sie fortvegetieren, bis sie sterben oder Erzieher in einer Landpastorenfamilie werden. Hier verlieben sie sich dann unweigerlich in die älteste Tochter und flüchten so nach manchen Stürmen in den Hafen eines bescheidenen Glücks.
Wäre dies das Schicksal unseres jungen Freundes gewesen, würden wir ihn jetzt und hier mit einem vertrauensvollen Lebewohl zu den ferneren Stationen der Pilgerfahrt seines Lebens entlassen haben. Nun aber wollte es sein Unglück, daß der gute Bjerk dahin neigte, die Regierung für seine studentischen Mißerfolge so oder so verantwortlich zu machen; und diese verhängnisvolle, mit einem ästhetischen Enthusiasmus für das klassische Griechenland verquickte Tendenz reifte bei ihm die Ueberzeugung, die Republik sei die einzige Regierungsform, unter der sich Leute von seinem Geschmack und Temperament, menschenmöglicherweise wohlfühlen und ihren Genius entfalten könnten. In den festen, heiteren Glauben an dies Dogma mischte sich, so wenig wie in die anderen, die er sich über Halfdan Bjerks Sein und Wesen gebildet hatte, nicht die leiseste Spur von Bitterkeit. Die alten Institutionen, sagte er, wären verrottet, bis ins Herz, wurmstichig und bedürften einer radikalen Erneuerung. Stunden und Stunden konnte er so in der Kneipe sitzen und bei einem Glase milden Grogs perorieren über die Wohlthaten des allgemeinen Stimmrechts und der Geschworenengerichte; und die Füchse drängten sich herbei in hellen Haufen und saßen da mit aufgesperrten Mäulern und riefen donnernden Beifall bei einer besonders witzigen Anspielung des beredten, geistreichen Spötters. O sonnige, sonnige Tage! Tage, an die der arme Halfdan noch lange, lange mit Wehmut zurückdenken sollte; Tage, aus denen plötzlich dunkler Abend wurde, als die alte Frau Blerk starb und nichts hinterließ als ihr Mobiliar und einige glücklicherweise sehr geringfügige unbezahlte Rechnungen. Halfdan, den man nicht gerade einen besonders praktischen Mann nennen konnte, verbrachte entsetzliche Stunden bei dem Bemühen, »die Angelegenheiten der Mutter zu ordnen«, und verkaufte zuletzt in einem Anfalle äußerster Ratlosigkeit, gegenüber einer so verzwickten Aufgabe die ganze Hinterlassenschaft in Pausch und Bogen an einen Leihhändler für 250 Speciesthaler. Nur ein paar Ringe und Schmucksachen behielt er. Dann nahm er von der Stammkneipe feierlichen Abschied in einer seiner brillantesten Reden: einer Parallele der Lebensläufe von Perikles und Washington – nach seiner Ansicht die größten Männer, welche die Welt gesehen. Zum Schluß gab er noch seine Theorie der demokratischen Verfassung zum besten und eine gedrängte Uebersicht der Ursachen, aus denen man das rapide Wachsen der amerikanischen Republik zu erklären habe.
Am nächsten Morgen vertauschte er die Hälfte seiner weltlichen Güter für ein Billet nach New-York und schwamm ein paar Tage später auf dem Meere nach dem Lande der Hoffnung, da hinten »im fernen West«.
Von Castle Garden setzte Halfdan seinen Weg durch Greenwich Street fort, verfolgt von einem Haufen Hotelkommissionäre und ähnlichem Gelichter.
»Kommen Sie mit mir! Ich bin auch deutsch,« schrie ein Finne. » Voilà, voilà, je parle français,« brüllte ein zweiter und griff nach seiner Reisetasche. » Jeg er Dansk. Talé Dansk!« Ich bin ein Däne. Ich spreche dänisch. kreischte ein dritter mit einem Accent, welcher seine Glaubwürdigkeit ernstlich in Frage stellte. Um dem unverschämten Gesindel, das mit jedem Moment frecher wurde, zu entgehen, warf er sich in den erstbesten Omnibus, setzte sich, sah zum Fenster hinaus und war bald so völlig von den bunten Scenen, die an ihm vorüberglitten, in Anspruch genommen, daß er sich gar nicht darum kümmerte, wohin denn eigentlich die Fahrt ging. Der Schaffner, der das Geld einsammelte, steckte nach kurzem vergeblichen Verständigungsversuch den erhaltenen Schilling in die Tasche, ohne etwas herauszugeben. Endlich, nach Verlauf von fast einer Stunde hielt der Wagen, der Schaffner rief: »Centralpark!« und Halfdan fuhr erschrocken aus seinen Träumereien auf, stieg mit zaghaftem, nachdenklichem Schritte aus, starrte in hoffnungsloser Verwirrung auf die langen Reihen palastartiger Häuser, und ein banges Gefühl der Vereinsamung überkam ihn. Wie anders hatte er sich das gedacht! Wie hatte sein Herz dem großen, herrlichen Unbekannten so warm entgegengeschlagen! Und nun – die Welt war doch sehr groß, viel größer als sie ihm von dem behaglichen Winkel da oben unter dem Nordpol erschienen, ganz verzweifelt groß und ganz verzweifelt unsympathisch, und er ein verzweifelt winziges Atom in dieser großen unsympathischen Welt!
Er schwankte hinüber zu einer Bank an dem Eingange des Parkes und saß da lange Zeit und beobachtete die stattlichen, vorüberwirbelnden Karossen, die promenierenden schönen Damen, wie sie lachten und schwatzten; die unnahbaren Polizisten, die in stoischer Würde in den glatten Gängen auf und nieder schritten; die auffallend angezogenen Kinderfrauen, welche er in seiner nordischen Unschuld für die Mütter und Tanten der Kinder hielt, ebenso wie ihm die Kinderwagen, in welchen die kleinen Insassen unter den schattigen Kronen der Ulmen spazieren gefahren wurden, als Wunder zierlicher Kunst erschienen.
So hatte er, ohne zu wissen wie lange, gesessen, als plötzlich ein kleines blauäugiges Mädchen in blauer Polonaise, das einen blauen Sonnenschirm in den mit Glacéhandschuhen bedeckten Händchen trug, vor ihm stehen blieb und in scheuer Verwunderung zu ihm aufblickte. Das Persönchen sah genau aus wie die feinste Modedame en miniature. Er hatte von je die Kinder lieb gehabt, immer sich an ihrer zutraulichen Art und Redeweise ergötzt, und nun berührte es ihn wie ein warmer Freundesgruß, daß diese kleine sorgsamst und zierlichst aufgeputzte Schönheit gerade ihn unter den Hunderten hier auf den Bänken im Schatten der großen Bäume ihrer besonderen Aufmerksamkeit wert gehalten.
»Wie heißen Sie, liebes Kind?« fragte er in freundlich teilnehmendem Tone.
»Klara,« erwiderte die Kleine zögernd; dann, nachdem sie sich mit einem zweiten Blick seiner Harmlosigkeit versichert: »wie komisch Sie sprechen!«
»Ja,« sagte er und bog sich nieder, die schmale behandschuhte Hand zu nehmen; »ich spreche nicht so gut wie Sie; aber ich werd's bald lernen.«
Klara blickte verwundert drein; hob den Sonnenschirm, warf den Kopf mit der Miene der Ueberlegenheit zurück und fragte: »Wie alt sind Sie?«
»Vierundzwanzig Jahre.«
Sie begann halblaut an den Fingern zu zählen: »Eins, zwei, drei,« vier; aber bevor sie bis zu zehn gekommen, hatte sie die Geduld verloren und rief: »Vierundzwanzig – das ist sehr viel. Ich bin erst sieben, und Papa schenkte mir zu meinem Geburtstag einen Pony. Haben Sie auch einen Pony?«
»Nein; ich besitze nichts, außer was in der Reisetasche ist; und nicht wahr, da ginge ein Pony nicht recht hinein?«
Klara blickte neugierig nach der Reisetasche und fing an zu lachen; wurde plötzlich wieder ernsthaft, fuhr mit der Hand in die Tasche und schien eifrig nach etwas zu suchen. Nun zog sie einen Puppenkopf von Porzellan hervor, dann ein rotangestrichenes Brettchen, auf welchem Buchstaben gemalt waren und zuletzt einen Penny.
»Wollen Sie's haben?« sagte sie und hielt ihm ihre sämtlichen Schätze mit beiden Händen hin; »da!«
Bevor er noch antworten konnte, rief eine schrille, scharfe Stimme: »Um Gottes willen, Kind, was thun Sie!«
Und die Bonne, welche tief in ihren »New-York Ledger« versunken war, rauschte heran, riß das Kind fort und verschwand so schnell, wie sie gekommen.
Halfdan erhob sich und wanderte stundenlang ziellos auf den mäandrischen Wegen und Pfaden. Er stattete den Menagerien einen Besuch ab, bewunderte die Statuen, nahm ein sehr leichtes, aus Kaffee, belegtem Butterbrot und Eis bestehendes Mittagsmahl im chinesischen Pavillon ein, und entdeckte gegen Abend eine verschwiegene dichte Laube. Da konnte er sich denn ungestört seinen Gedanken hingeben und über dem noch ungelösten Problem seiner Zukunft brüten. Das kleine Ereignis mit dem Kinde hatte der Empfindung seines Unglücks die Schärfe genommen und ihn so ein klein wenig mit sich selbst und der großen mitleidslosen Welt, die so gar keine Rücksicht auf ihn nahm, ausgesöhnt. Freilich wenn er's sich so recht deutlich vorstellte, mit einem wie warmen Herzen, mit wie eifrigem Wollen er hierher gekommen war, einzugreifen in das Riesenwerk des Fortschrittes der Menschheit – war's recht, war's nur menschlich, ihn so gröblich zu mißachten und herumzustoßen, als ob er ein Eindringling und ein Feind sei? Vor ihm lag die riesige unbekannte Stadt, in der das Leben mit mächtigen, vollen Herzschlägen pulsierte, eine atemlose, unheimliche Hast, eine kalte grausame Leidenschaft alles und jedes in wahnsinnigem Wirbel umzutreiben schien – war da Platz für einen sanften, warmherzigen Enthusiasten, wie er? Konnte er denn etwas anderes erwarten, als schleunigsten Untergang?
Es ergriff ihn eine seltsame, unbesiegliche Furcht, als habe ihn der pfeilschnelle Strudel bereits ergriffen, gegen den jeder Widerstand machtlos war. Er drückte sich, verkroch sich schaudernd tiefer in das Laubwerk. Er konnte nicht nach der Stadt zurück. Nein, nein! niemals! Er wollte hier bis zum Tagesanbruch verborgen, ungesehen bleiben und dann ein Schiff suchen, dem der Wind die Segel schwellte nach dem teuren Heimatslande, wo die Bergriesen in heiterer Majestät zum blauen Himmel aufragten, wo die Fichtenwälder während der langen Sommerdämmerungen träumerisch ihre süßen Märchen flüsterten, wo das Menschenleben in sanfter Schönheit dahinfloß, die Ziele bescheiden, die Tugenden klein, aber auch die Laster klein waren, und idyllische Seelen glücklich sein durften. Er sah sich schon im Geist dasitzen und den erstaunten Hörern die Wunder berichten, so ihm auf seiner Pilgerfahrt begegnet; und wie ihm in der weiten, weiten Welt nur ein einziges Wesen einen freundlichen Gruß geboten und das ein kleines schönes Mädchen.
Darüber mußte er lächeln und lächelnd schlief er ein; schlief einen gesunden Schlaf zwei oder drei Stunden. Einmal war's ihm, als ob er Fußtritte und Geflüster zwischen den Büschen hörte, und er machte einen Versuch, sich zu erheben; aber die Müdigkeit überwältigte ihn, und er schlief weiter. Da packte ihn eine Faust derb an die Schulter, und eine grobe Stimme brüllte in sein Ohr: »Auf, Sie verschlafener Schlingel!«
Er rieb sich die Augen und sah beim Dämmerschein des Mondes einen riesigen Polizisten, der einen wuchtigen Stock über seinem Kopfe schwang. Der Schrecken vom Abend überkam ihn mit vermehrter Gewalt; sein Herz stand für einen Moment still und hämmerte dann, als wollte es ihm die Brust zersprengen.
»Fort! Marsch!« donnerte der Polizist und schüttelte ihn heftig am Rockkragen.
In seiner Verwirrung hatte er ganz vergessen, wo er sich befand, und versicherte seinen Angreifer auf norwegisch mit fliegenden Worten, daß er ein harmloser ehrlicher Reisender sei, aber der herkulische Büttel war taub gegen seine Bitte, ihn freizugeben.
»Meine Reisetasche!« rief Halfdan, »lassen Sie mich wenigstens meine Reisetasche mitnehmen!«
Sie kehrten zu dem Platze, wo er geschlafen hatte, zurück, aber die Reisetasche war nirgends zu finden. Halfdan ergab sich mit stummer Verzweiflung in sein Schicksal und sah sich nach einer kurzen Fahrt in einem Omnibus, in einem großen niedrigen Raume vor dem Revierinspektor. Er schlug die Hände vor das Gesicht und brach in Thränen aus.
»Die große – die heilige Republik!« murmelte er, »o du Blütentraum der Seele! Weh mir! Ich habe die Wurzeln meines Daseins ausgerissen, und niemals wird es blühen.«
Wie zum grausamen Hohn kamen ihm alle die tönende Phrasen in die Erinnerung, mit denen er in seiner Abschiedsrede auf der Kneipe die große Republik gefeiert hatte. Was kümmerte sich die große Republik um Leute wie er? Ein paar brauner Arme, welche die Pickaxt schwingen oder den Pflug regieren konnten, nun freilich – die empfing sie mit eifrigem Willkommen; für ein kindliches, liebendes Herz, ein großmütig phantastisches Gehirn hatte sie nur des Gesetzes rauhen Gruß.
Am nächsten Morgen wurde Halfdan aus der Polizeistation entlassen, nachdem er eine Strafe von fünf Dollar wegen Herumtreibens hatte bezahlen müssen. Mit Ausnahme von einigen Pfund, die er in Liverpool gewechselt, hatte er in der Reisetasche all sein Geld verloren, und er besaß seines Wissens in der Stadt, ja in ganz Amerika keinen Freund. Sein Kapital zu vergrößern, kaufte er fünfzig Exemplare der »Tribüne«, aber, da es bereits ziemlich spät am Tage war, wurde er kaum eines los. Am nächsten Morgen faßte er noch einmal an der Ecke von Murray Street und Broadway Posto, in der harmlosen Hoffnung, die Blätter vom vergangenen Tage doch noch an den Mann zu bringen, und fand wirklich unter dem Publikum der Omnibusse, welche unaufhörlich diesen großen Kreuzungspunkt passieren, einige Käufer. Zu seiner nicht geringen Ueberraschung kehrte aber einer der Herren mit wütender Miene zu ihm zurück, schüttelte ihm die Faust unter der Nase und schimpfte auf ihn los. Der arme Halfdan, der kaum ein Wort von all dem verstand, und dem die Situation völlig unbegreiflich war, blickte so hilflos drein, daß es einen Stein hätte erbarmen können. Da ihm durchaus keine englische Phrase einfallen wollte, machte sich seine grenzenlose Verlegenheit endlich in ein paar norwegischen Ausrufen Luft. Sofort war der Zorn des Mannes gebrochen; er griff nach dem Blatt, das er auf das Trottoir geschleudert, und stand da, Halfdan neugierig anblickend.
»Sie sind ein Norweger?« fragte er.
»Ja; ich kam gestern erst von Norwegen.«
»Wie heißen Sie?«
»Halfdan Bjerk.«
»Halfdan Bjerk? Gott's Donner! Sie hier? Es scheint, Sie kennen mich nicht mehr?«
Halfdan erwiderte mit zitternder Stimme, daß er sich augenblicklich nicht auf das Gesicht des Herrn besinnen könne.
»Na, glaub's schon, daß ich mich ein gut Teil verändert habe,« sagte der Herr, jetzt auf norwegisch. »Ich bin Gustav Olson; lebte 'mal mit Ihnen in demselben Hause; ist freilich lange her.«
Gustav Olson, wahrhaftig! Der Portierjunge in dem Hause, in welchem seine Mutter, als er noch ein Kind war, einen Stock innegehabt! Er erinnerte sich sehr wohl, wie er mit dem Jungen in aller Heimlichkeit um Taschenmesser und Knöpfe gehandelt trotz der wiederholten Warnungen der Mutter. Denn Gustav mit seinem breiten Pockennarbengesicht und dem roten Haar galt den feinen Bewohnern der oberen Etage als ein etwas zweifelhafter Charakter, dem man lieber aus dem Wege ging. Hatte er doch einmal einen Oberstensohn, der sich unverschämt gegen ihn betragen, geprügelt, ein andermal einem frischgebackenen Lieutenant einen Schneeball an den Kopf geworfen, und diese Missethaten, wie sich's gehörte, in einer Besserungsanstalt abgebüßt. Seit der Zeit war er von Halfdans Horizont verschwunden. Und da stand er nun mit demselben Pockennarbengesicht, um das jetzt der Bart lustig wucherte, demselben rebellischen Haupthaar, welches sich nie dem besänftigenden Einflusse eines Kammes fügen wollte, denselben plebejischen Händen und Füßen, derselben plumpen vierschrötigen Gestalt. Aber seine Wäsche war tadellos, und seine flotten Manieren und der gesuchte modische Anzug bewiesen klärlich, daß es dem Manne gut ging.
»Na, Bjerk,« sagte er in einem kameradschaftlichen Tone, der für das Ohr des idealistischen Republikaners fast etwas Verletzendes hatte, »du wirst dir ein besseres Geschäft aussuchen müssen. Die ›Tribüne‹ von gestern zu verkaufen, weißt du, das rentiert sich hier nicht. Komm mit in unser Comptoir; will sehen, ob sich was für dich thun läßt.«
»Aber ich möchte dir ungern Umstände verursachen,« stammelte Halfdan, dem es selbst in der gegenwärtigen jämmerlichen Lage gegen den nationalen Stolz ging, einem Menschen, welchen er früher nicht als seinesgleichen angesehen, eine Gunst zu verdanken.
»Unsinn, mein Junge! Allons: Ich habe nicht viel Zeit zu verlieren! Das Comptoir ist nur zwei Carrés von hier. Du siehst nicht aus, als ob du ein freundliches Anerbieten so ohne weiteres von der Hand weisen dürftest.«
Freilich! ein Ertrinkender darf nicht fragen, ob die rettende Hand einem Standesgenossen oder einem Tieferstehenden gehört! Und Halfdan schluckte die Demütigung hinunter und trabte an der Seite seines dienstfertigen Freundes durch den verwirrenden Lärm des Broadway.
Sie traten in ein großes, elegant ausgestattetes Comptoir, in welchem die Commis mit glatten und geschäftlich apathischen Mienen an den Pulten standen und kritzelten.
»Amüsiere dich, wie du kannst,« sagte Olson, »Van Kirk wird in zwanzig Minuten hier sein, ich habe keine Zeit, dich zu unterhalten.«
Eine melancholische halbe Stunde verging. Dann wurde die Thür geöffnet; ein hochgewachsener schöner Mann mit einem ins Graue spielenden Vollbart und von imponierender Haltung trat herein und begab sich zu seinem Platz in einem kleineren Raum, der an den großen stieß. Hastig öffnete er einen Haufen Briefe, der auf seinem Pulte aufgeschichtet lag, rief mit scharf tönender Stimme nach einem Commis, der sofort zur Stelle war und ein halbes Dutzend Briefe nebst den betreffenden Anweisungen entgegennahm. Dann griff der Herr nach einem reinen Bogen und begann sofort zu schreiben. Es war in seinem Wesen etwas so Schlagfertiges, Bestimmtes, Geschäftsmäßiges – dem armen Halfdan erschien der Gedanke, vor diesen Mann als ein Bittender zu treten, völlig hoffnungslos.
Und da schlüpfte Olson in das Privat-Comptoir, zog die Glasthür hinter sich zu, kam nach ein paar Minuten wieder heraus und winkte Halfdan.
»Sie sind ein Norweger, höre ich,« sagte der Chef und blickte dabei mit zerstreuter Miene über die Schulter auf den Supplikanten, »Sie möchten beschäftigt sein. Was können Sie?«
Was können Sie? Furchtbare Frage! Aber hier war offenbar keine Zeit zu langem Besinnen. So nahm denn Halfdan all seinen Mut zusammen und erwiderte heimlich bebend: »Ich habe sowohl das
Examen artium, als auch
das
philosophicum bestanden; hatte im ersteren
laud durchweg, aber im letzteren
haud bei der ersten Disciplin.«
Das
Examen artium ist an der norwegischen Universität die Zulassungsprüfung; das
philosophicum der erste Grad. Die Censuren sind
laudabilis prae ceteris (in der Studentensprache:
prae),
laudabilis oder
laud,
haud illaudibilis oder
haud u. s. w.
Anm. d. Verf.
Mr. Van Kirk drehte sich auf seinem Stuhle herum und starrte den Sprecher an.
»Das ist alles griechisch für mich,« sagte er in strengem Ton; »können Sie Rechnungen führen?«
»Ich fürchte, nein.«
In Norwegen zählte die Kunst der Rechnungsführung nicht zu den freien. Nur Tütendreher mochten sich über so banausische Dinge den Kopf zerbrechen; und wenn unser Norweger den seinen für den Moment nicht so voll gehabt hätte mit der leidigen Frage der Existenz, würde er notgedrungen die an ihn gestellte haben übelnehmen müssen.
»Und Buchführung?«
»Ich glaube, nein; ich habe es nie versucht.«
»Dann seien Sie versichert, daß Sie nichts davon verstehen. Aber Sie müssen doch irgend etwas verstehen. Ist denn da gar nichts, wovon Sie glauben, Sie könnten sich damit Ihren Lebensunterhalt verdienen?«
»Ich kann Klavier spielen – und – und – Violine.«
»Sehr schön. Kommen Sie heute nachmittag in mein Haus. Mr. Olson wird Ihnen die Adresse geben. Von mir erhalten Sie einen Zettel an Mrs. Van Kirk. Vielleicht engagiert sie Sie als Musiklehrer der Kinder. Guten Morgen.«
Am Nachmittag um vier Uhr stand Halfdan in einem großen, wohlerhellten Salon, dessen glänzende Vorhänge und Portieren, kostbare Teppiche und phantastisch geschnitztes Möblement ihn blendeten und verwirrten. Es war das alles so fremd, so fremd! nirgends ein bekannter Gegenstand, an dem das müde Auge ausruhen konnte! Wohin er schaute, überall erblickte er in den hohen Krystallspiegeln sein Konterfei und sah mit Grausen, wie abgetragen sein Rock, wie plump seine Stiefel, wie schäbig und verzwickt seine Erscheinung. Mit jeder Sekunde wuchs seine Angst, und eben überlegte er, ob er sich nicht durch eine schleunige Flucht retten könne, als das Rascheln eines Kleides vom ferneren Ende des Gemaches ihn zusammenfahren machte. Eine kleine Dame von rundlichen, aber äußerst feinen Formen rauschte auf ihn zu, nickte leicht mit dem Kopfe und ließ sich in einen Schaukelstuhl sinken.
»Sie sind Mr. – der Norweger, der Musikstunden geben will?« sagte sie, indem sie dabei eine Lorgnette mit goldener Einfassung an die Augen führte und dann auf einen Zettel blickte, den sie in der Hand hielt.
Mrs. Van Kirk war augenscheinlich mindestens zwölf Jahre jünger als ihr Gemahl und wohl nur wenig über vierzig. Ihr blondes, frisch gekräuseltes Haar fiel in leichten Löckchen über eine glatte, niedrige Stirn; Nase, Mund und Kinn waren von zarten und doch festen Linien umschrieben, der Teint mit Hilfe der Kunst oder auch von Natur vollkommen; die Augen vom reinsten Blau, hatten infolge der Kurzsichtigkeit der Dame einen etwas gekniffenen, forschenden Blick. Aber dieser Blick war ohne jegliche Härte, schien vielmehr nur ein lebhafteres Interesse anzudeuten und wurde von drei feinen perpendikulären Fältchen accompagniert, die sich vertieften und glätteten, je nachdem die Dame den Gegenstand ihrer Beobachtung mehr oder minder scharf ins Auge faßte.
»Bitte, Ihren Namen,« sagte Mrs. Van Kirk. »Mr. Van Kirk hat vergessen, mir Ihren Namen zu schreiben.«
»Halfdan Bjerk.«
»Halfdan B– wie buchstabieren Sie das?«
»B–j–e–r–k.«
»B–jerk. Schön, aber wie heißen Sie auf englisch?«
Halfdan sah verdutzt drein und wurde bis in die Ohren rot.
»Ich möchte wissen,« fuhr die Dame eifrig fort und in der augenscheinlich wohlwollenden Absicht, ihm herauszuhelfen: »was Ihr Name im Englischen bedeuten würde. B–jerk! B–jerk! das muß doch irgend etwas bedeuten?«
»Bjerk ist ein Baum – eine Birke.«
Das Wortspiel mit Bjerk und »
birch«, und ebenso das folgende mit
Half (halb)
Dan und
whole (ganz)
Dan ist nur unvollkommen wiederzugeben. Auch die englische Abkürzung
Dan = Daniel bleibt natürlich im Deutschen ohne die schalkische Wirkung des Originals. Um mich derselben einigermaßen zu nähern, lasse ich Mrs. Van Kirk noch Birke in Birk verkürzen.
Anm. d. Uebers.
»Sehr schön: Birke – Birk – das ist ja ein ganz respektabler Name. Und Ihr Vorname? Wie sagten Sie doch gleich?«
»H–a–l–f–d–a–n.«
»Halb Dan? Warum nicht ganz Dan? Und damit gut? Dan Birke oder Daniel Birk. Wahrhaftig es klingt ganz menschlich.«
»Wie Sie befehlen,« murmelte das Schlachtopfer und sah dabei sehr unglücklich aus.
»Sie müssen mir schon verzeihen, daß ich so gerade heraus bin. B–jerk! Sehen Sie, das könnte ich niemals aussprechen lernen.«
»Was Ihnen angenehm ist, Madame, darf mit Sicherheit auf meinen Beifall rechnen.«
»Das ist hübsch von Ihnen; und Sie werden finden, es verlohnt sich stets der Mühe, mir gefällig zu sein. Sie möchten also Musikstunden geben. Wenn's Ihnen recht ist, werde ich meine älteste Tochter rufen lassen. Sie versteht sich ausgezeichnet auf Musik, und findet sie Geschmack an Ihrem Spiel, will ich Sie auf Wunsch meines Gatten engagieren, nicht als Ediths Lehrer, wissen Sie, sondern für meine jüngste Tochter Klara.«
Halfdan verbeugte sich, und Mrs. Van Kirk rauschte in das Vorzimmer, klingelte und kam wieder zurück. Ein Diener in Livree trat ein und verschwand geräuschlos wie er erschienen. Dieses lautlose Kommen und Gehen hatte für unseren Norweger etwas unheimlich Geisterhaftes; er war daran gewöhnt, daß derbe Hacken auf nackte Dielen traten und das wachsende Geräusch der Schritte den Harrenden vor jeder Ueberraschung sicherte. Und während er also dachte und träumte und schier vergessen hatte, wo er war, umschwebte ihn ein köstliches Parfüm und wob das Traumnetz dichter und märchenhafter.
»Mr. Birk,« sagte Mrs. Van Kirk, »dies ist meine Tochter Miß Edith.«
Halfdan sprang auf und verbeugte sich in tiefster Bestürzung.
»Edith,« fuhr dann die Dame fort, »dies ist Mr. Birk. Dein Papa schickt ihn hierher; er meint, er könne Klara Klavierstunde geben. Und nun, liebes Kind, sei so gut, und sieh zu, was Mr. Birk kann. Ich verstehe nicht genug von Musik, um das zu beurteilen.«
»Wenn Mr. Birk die Güte haben will, etwas zu spielen, wird es mir eine Freude sein, ihm zuzuhören,« sagte Miß Edith mit einer Stimme, deren Silberklang Halfdans leises Ohr wonnesam berührte.
Er gab schweigend seine Bereitwilligkeit zu erkennen und folgte den Damen in ein kleineres, von dem Salon durch Flügelthüren getrenntes Gemach.
Die Erscheinung des schönen jungen Mädchens, an dessen Seite er nun dahin schritt, hatte sein Herz urplötzlich mit einer Empfindung erfüllt, in welcher Glut und schaudernde Seligkeit seltsam gemischt waren. Er konnte die Augen nicht von ihr wenden; es war, als hielte ein Zauber ihn gefangen. Und dabei hatte er immerfort das peinliche Bewußtsein, daß neben dem Glanz, der die Holde umgab, seine eigene armselige Erscheinung in einem grausamen Schatten stand. Die hohe, schlanke Pracht ihrer Gestalt, die anmutige Eleganz ihrer Toilette, welche ein vollendetes Muster jener Kunst schien, die sich selbst verbirgt, die elastische Sicherheit ihres Schrittes – das alles umschwebte, umwogte ihn, wie duftige Schleier die ihn in unbekannte Regionen qualvoller Lust entrückten.
Er nahm an dem Flügel Platz und spielte Chopins Notturno in G-dur, während die Damen hinter ihm erstaunte Blicke wechselten. Und in der That, der Schwung und die souveräne Leichtigkeit, mit der seine kunstgeübte Hand die elfenzarten Fäden des goldenen Gespinstes wob und durcheinander schlang und nun aus den ätherhaften Variationen zu dem greifbaren Thema überging, dessen leiseste Schattierungen er erklingen ließ, man wußte nicht wie – auch ein weniger gebildetes Ohr, als Ediths, die alles, was New-York an musikalischen Hilfsquellen bot, erschöpft hatte, würde gegen die Vorzüge eines solchen Spiels nicht unempfindlich geblieben sein. Und sie hatte dieselben tief empfunden. Als er über die letzten verklingenden Noten zu den beiden Schlußaccorden (ein Finale, das für Chopin so charakteristisch ist) gekommen, erhob sie sich und eilte zu ihm hin mit einem unbedachten Eifer, der beredter war als tönendste Lobesworte.
»Bitte, spielen Sie diese Passage noch einmal,« rief sie und summte leise die Melodie; ich habe die monotone Wiederholung dieses Satzes (und sie gab denselben durch die leichte Berührung von ein paar Tasten an) eigentlich immer für einen Mangel der sonst vollendeten Komposition gehalten. Aber wie Sie ihn spielen, ist es alles andere als monoton. Sie legen in die Phrase mehr Sinn und Gehalt, als ich jemals glaubte, daß dieselbe enthalten könnte.«
»Es ist meine Lieblingskomposition« erwiderte er bescheiden. »Ich habe auf keine andere so viel Fleiß und Nachdenken verwandt, es wäre denn etwa auf die in G-moll, welche bei aller Verschiedenheit der Stimmung und des Stils einen wesentlich verwandten Gedanken ausdrückt.«
»Mein lieber Mr. Birk,« rief Mrs. Van Kirk, welche von der Sicherheit, mit der Halfdan trotz seines mangelhaften Accentes, die technischen Ausdrücke anwandte, noch mehr erbaut war als von seinem Spiel; »Sie sind ein vollendeter Künstler, und wir werden es für einen großen Vorzug ansehen, wenn Sie den Unterricht unserer Kleinen übernehmen. Ich habe Ihnen mit tiefer Befriedigung zugehört.«
Halfdan wurde rot, verbeugte sich und wiederholte, wie Edith gewünscht, den letzten Teil des Notturnos.
»Und nun,« nahm Edith das Gespräch wieder auf; »darf ich Sie bitten, mir auch die in G-moll zu spielen, die mir noch mehr zu raten gegeben hat, als die in Dur?«
»Sie hätte freilich zuerst gespielt werden sollen,« erwiderte Halfdan; »sie hat eine viel intensivere Färbung und ein tieferes Pathos, aber der Schluß scheint keiner zu sein. Er gibt keine Ruhe und scheint eine bloße Ueberleitung zu der in Dur, welche denn auch wirklich ihr eigentliches Supplement ist und den fragmentarischen Gedanken vollendet.«
Mutter und Tochter wechselten abermals erstaunte Blicke, während Halfdan in die hochgehenden Wogen des Moll-Notturnos tauchte und sich bis zum Schluß immer tiefer in Eifer und Leidenschaft spielte.
»Mr. Birk,« sagte Edith, als er sich flammenden Antlitzes und die zitternde Erregung der Musik noch in allen Nerven spürend vom Piano erhob, »Sie sind ein viel größerer Musiker, als Sie zu wissen scheinen. Ich habe seit längerer Zeit keine Stunde mehr genommen, aber Sie haben meinen ganzen musikalischen Ehrgeiz wieder wachgespielt, und wenn Sie mich auch zu Ihrer Schülerin annehmen wollen, werde ich es als eine große Gunst betrachten.«
»Ich weiß kaum, ob ich Sie etwas lehren kann,« antwortete er, während seine Blicke mit inniger Lust an der schönen Gestalt hingen; »aber in meiner augenblicklichen Lage darf ich freilich ein so schmeichelhaftes Anerbieten nicht ablehnen.«
»Sie meinen, Sie würden es ablehnen, wenn Sie in der Lage wären, es zu dürfen?«
»Nein; ich würde nur mit meinem Gewissen strenger zu Rate gehen?«
»Gut, gut! ich übernehme mit Freuden jede Verantwortung auch dafür, daß ich mich von Ihnen habe hinters Licht führen lassen.«
Mrs. Van Kirk hatte unterdessen den Inhalt ihres duftenden Taschenbüchelchens von Juchtenleder untersucht und nahm jetzt zwei frische Zehndollarnoten heraus, die sie ihm hinhielt.
»Ich möchte mich Ihrer versichern, indem ich Ihnen ein Honorar im voraus aufdränge,« sagte sie mit freundlich vertraulichem Nicken und einem flüchtigen Blick auf seine Erscheinung, den er nur zu wohl verstand, »es könnte jemand dieselbe Entdeckung machen, die wir gemacht, und uns überbieten.«
»Sie dürfen darüber ganz ruhig sein und sich auf meine Zusage verlassen,« erwiderte Halfdan, dessen lebhaftes Erröten bewies, daß er die Absicht der Dame vorsätzlich mißdeutete; »Sie haben nur zu befehlen, wann ich mich wieder einfinden soll.«
»Dann bitte: Morgen Vormittag zehn Uhr.«
Und Mrs. Van Kirk faltete zögernd ihre Noten zusammen und legte sie wieder in das Taschenbuch.
Das plötzliche Geldanbieten war unserem Idealisten überaus peinlich gewesen. Es war das erste Mal, daß ihn jemand für die Ausübung seiner Talente hatte bezahlen wollen, als wäre er ein gewöhnlicher Tagelöhner. Aber ein Blick in Mrs. Van Kirks von herzlichem Wohlwollen strahlendes Gesicht sagte ihm, daß es kindisch sei, sich hier beleidigt fühlen zu wollen, und sein Unwille war verflogen.
Noch an demselben Nachmittag erbot sich Olson, der von dem guten Glück des Freundes unterrichtet war, freiwillig zu einem Darlehen von hundert Dollar und begleitete ihn in das Atelier eines fashionabeln Schneiders, wo mit seiner Erscheinung die entsprechende angenehme Veränderung vorgenommen wurde.
In Norwegen kann und will die Kleidung der Frauen jene erste unschuldige Bestimmung, ein Schutz vor den Unbilden des Wetters zu sein, nicht verleugnen. Wenn eine derartige Absicht in der Toilette der heutigen New-Yorker Damen noch mitspielt, so ist dieselbe jedenfalls so verhüllt, daß sie so schwer aufzufinden ist, wie eine Sanskritwurzel in ihren französischen und englischen Derivativen.
Dieser Gedanke schoß unserem Halfdan durch den Kopf, als Edith, köstlich anzuschauen in der ätherischen Anmut ihrer duftigen Morgentoilette, vor dem Piano ihm zur Seite Platz nahm und eines jener dünnen rotgebundenen Chopinhefte öffnete, in welchen die reichen, wundervollen Melodien friedlich ruhen, wie seltsame exotische Blumen in einem Herbarium. Sie begann die Fantasia impromptu zu spielen, deren intensive, atemlos zu dem abgebrochenen Finale haftende Leidenschaftlichkeit nur durch einen rapiden, aus dem Vollen einer gleichartigen Empfindung quellenden Vortrag wiedergegeben werden kann.
Aber Ediths Finger arbeiteten mit einer gewissen Mühseligkeit; der undeutliche Anschlag stumpfte die schneidige Schärfe so mancher eindringlichen Phrase ab; und wenn man ihr Spiel keinen Mißerfolg nennen durfte, so war es wegen der kraftvollen Intention, die überall durchblickte.
Als sie geendet, machte sie eine wegwerfende Bewegung, schloß das Buch und ließ die gekreuzten Hände in den Schoß sinken, wandte den großen leuchtenden Blick auf den Lehrer und sagte: »Ich wollte Ihnen nur einen Beweis meiner Unfähigkeit geben, damit Sie wissen, was Sie eigentlich unternommen haben. Nun sagen Sie mir offen und ehrlich, sind Sie nicht entmutigt?«
»Ganz und gar nicht,« erwiderte er, während der wonnige Zauber ihrer Nähe ihm durch alle Nerven zitterte; »Sie haben das echte musikalische Feuer, aber Ihre Finger weigern sich der Ausführung Ihrer Intentionen und wollen discipliniert sein.«
»Und Sie glauben, sie disciplinieren zu können? Es ist eine widerspenstige Gesellschaft, die mir unendlichen Kummer macht.«
»Wollen Sie mir einen Blick auf Ihre Hand erlauben?«
Sie hob die rechte Hand und ließ sie, dem augenblicklichen Impulse folgend, in die seine sinken. Er konnte einen leisen Ruf der Ueberraschung nicht unterdrücken, faßte sich aber alsbald wieder und sagte: »Verzeihen Sie, es ist eine vorzügliche Hand – eine Hand, geschaffen, Wunder – musikalische Wunder zu verrichten. Sehen Sie – (er hatte Zeigefinger und Mittelfinger auseinander gebogen) – sehen Sie hier! Wie fest in den Knöcheln und doch wie biegsam! Ich zweifle daran, daß selbst Liszt sich solcher Finger rühmen kann. An Ihren Händen liegt es wahrlich nicht, wenn Sie ein zweiter Bülow werden, was nach meiner Ansicht ein gut Teil mehr ist als ein zweiter Liszt.«
»Genug, genug! ich danke Ihnen!« rief sie mit ungläubigem Lächeln; »Sie ziehen sich gut aus der Affaire; Sie schieben mir die ganze Verantwortung zu, wenn ich nicht ein zweiter, der Himmel weiß wer? werde. Ich für mein Teil will völlig zufrieden sein, wenn Sie aus mir einen so guten Musiker machen, als Sie selbst sind, und ich ein nicht zu schwieriges Stück spielen kann, ohne das schreckliche Bewußtsein, die schönen Gedanken irgend eines großen Komponisten grausam zu verstümmeln.«
»Sie sind zu bescheiden; Sie –«
»Nein, nein,« unterbrach sie ihn mit einer Lebhaftigkeit, die ihn schier erschreckte; »ich bin gar nicht bescheiden. Ich bitte Sie, fahren Sie nicht fort, mir Komplimente zu machen. Mit dem billigen Artikel bin ich anderswoher allzu reichlich versehen. Ich kann's nicht ausstehen, wenn man mir sagt, ich sei besser, als ich weiß, daß ich bin. Wollen Sie mir wirklich durch Ihren Unterricht eine Wohlthat erweisen, müssen Sie völlig ehrlich zu mir sein und mir meine Mängel ohne Rückhalt sagen. Ich verspreche Ihnen von vornherein, daß ich niemals beleidigt sein werde, und hier ist meine Hand darauf. Nun? ist der Handel abgeschlossen?«
Seine Finger legten sich unwillkürlich fester um die weiche, schöne Hand.
»Ich bin nicht unehrlich gewesen,« murmelte er, »aber ich werde in Zukunft selbst gegen den Anschein der Unehrlichkeit auf der Hut sein.«
»Und wenn ich noch so schauderhaft spiele?«
»Auch dann.«
»Und auch nur dann werden wir gut miteinander auskommen. Glauben Sie nicht, daß dies alles eine damenhafte Grille ist; es ist mein völliger Ernst. Ihr Männer und besonders ihr Ausländer, glaube ich, habt die Idee, daß ihr uns mit freundlicher Nachsicht behandeln und unsere Thorheiten, wenn wir thöricht sind, mit irgend einem höflichen Namen aufputzen müßt. Ihr gebt euch die äußerste Mühe, uns zu Spielzeugen, das heißt, in euren und in unseren Augen verächtlich zu machen; denn kann da Achtung sein, wo man sich um die Wahrheit herumdrückt! Aber die Mehrzahl der amerikanischen Frauen ist aus einem zu guten Stoff, als daß man sie so behandeln dürfte. Sie fühlen die heimliche Unaufrichtigkeit, auch wo sie es höflicherweise nicht merken lassen; und dabei kommen beide schlecht weg, der Schmeichler und die Geschmeichelte. So! und nun verzeihen sie mir, wenn ich bei einer so kurzen Bekanntschaft so aufrichtig zu Ihnen gesprochen habe; aber Sie sind eben ein Ausländer, und ich meine, es ist ein Freundschaftsdienst, Sie so schnell wie möglich in unsere Art und Weise einzuweihen.«
Er wußte kaum, was er antworten sollte. Der an Leidenschaft streifende Eifer, in den das schöne Geschöpf urplötzlich geraten war, die von ihr geäußerten Empfindungen, die so weit von dem abwichen, was er bis dahin von Frauen gehört hatte, und doch so völlig richtig waren – er saß da und starrte sie in stummer Verwunderung an.
Sie bemerkte es wohl und sagte einlenkend: »Ich fürchte, ich habe Sie stutzig gemacht; aber wirklich, es war nicht zu vermeiden, wenn wir einander überhaupt verstehen sollten, Sie verzeihen mir deshalb; nicht wahr?«
»Verzeihen?« murmelte er; »was hätte ich zu verzeihen? Ich habe Ihnen nur dankbar zu sein. Aber vielleicht verbieten Sie auch die Dankbarkeit; vielleicht –«
»Und jetzt erinnern Sie sich Ihres Versprechens!« unterbrach ihn Edith, den Finger scherzend drohend erhebend.
Die Lektion nahm nun ohne weitere Unterbrechung ihren Verlauf. Als dieselbe zu Ende war, trat, von Mrs. Van Kirk begleitet, ein kleines Mädchen ein, welches das Haar auf Wickeln trug und in einem steifen, nach allen Seiten weit abstehenden Kleidchen stak. Halfdan erkannte sogleich seine kleine Bekanntschaft aus dem Park und es erschien ihm ein gutes Omen, daß dieses Kind, dessen freundliche Teilnahme sein Herz in einem Augenblick erwärmt hatte, als seine Lage völlig verzweifelt war, auch fürder mit den freundlichen Augen in sein Leben auf dem neuen Kontinent hineinschauen sollte. Auf Klara machte die Veränderung, die mit seiner Erscheinung vorgegangen, offenbar den größten Eindruck, und sie konnte nur mit Mühe abgehalten werden, ihre Bemerkungen darüber zu äußern.
Auch sie erwies sich als eine sehr gelehrige Schülerin; es mußte dahingestellt bleiben, ob sie an dem Unterricht oder an dem Lehrer größeren Geschmack fand.
So war ein Monat vergangen. »Mr. Birk« stand fest in der Gunst sämtlicher Mitglieder der Familie Van Kirk. Mrs. Van Kirk sprach von ihm zu den Freundinnen, welche sie besuchten, als von einer »wahren Perle«, wobei die Damen denn freilich häufig nicht wußten, ob »die Perle« ein Koch oder ein Kutscher war. Edith nannte ihn den aristokratischen Fremden gegenüber »ein wahrhaftes Genie« und erregte damit in ihren Seelen die undeutlichsten Bilder von wehendem Lockenhaar, einem glänzenden Samtrock, weitkrämpigem Hut, herausforderndem Halstuch und einer obligaten Miene plebejischer Unverschämtheit. Genies mit ausländischem Typus werden in der New-Yorker Gesellschaft niemals für »zweifelsohne reinlich« angesehen, und gegen Vorurteile dieser Art kämpfen Götter selbst vergeblich. Klara, die mittlerweile den unerschöpflichen Schatz von Feenmärchen entdeckt hatte, den ihr Lehrer aufgespeichert, versicherte ihre Spielkameraden über die Straße herüber, daß er »zum Küssen« sei, und lud sie häufig zu seinen wundervollen Geschichten ein. Mr. Van Kirk war natürlich nicht mit im Ausschuß und bezahlte die Musikstunden unweigerlich.
Unterdessen kämpfte Halfdan vergeblich gegen seine wachsende Leidenschaft für Edith und fand sich, je mehr er sich wehrte, um so hoffnungsloser in das Netz verstrickt. Die Fliege mag, solange sie sich ruhig verhält, sich über ihre Lage täuschen, die geringste Bewegung wird ihr die Gefahr zeigen und, daß sie verloren ist. So hoffte er, fürchtete er, grollte, kämpfte, haderte er mit seinem Geschick, schäumte in die Zügel und fiel aus seiner Müdigkeit in den Zustand apathischer Hilflosigkeit zurück. Trotz der freundlichen Teilnahme, die sie ihm gewährte, fühlte er seine Fremdheit nirgends so bitter, als in ihrer Nähe. Einmal nahm sie seine Huldigung als etwas hin, das eigentlich ihrer Beachtung nicht wert war; ein andermal ließ sie sich dieselbe offen gefallen, neckte ihn mit seiner »Ritterlichkeit aus der Alten Welt«, die sich in der praktischen amerikanischen Luft bald verflüchtigen würde, und nannte ihn ihren »Viking, ihren Ritter und getreuen Knappen«. Aber keinen Augenblick fiel es ihr ein, seine Anbetung in einem ernsthaften Lichte zu sehen und der Gedanke, er könne je ihr Geliebter werden, war ihr augenscheinlich niemals in den Sinn gekommen. Als ihr Umgang intimer wurde, hatte er sich erboten, seine Lieblingsdichter mit ihr zu lesen, und ihr nach und nach etwas von seiner Begeisterung für Heine und Björnson mitgeteilt. Sie ihrerseits hatte seine Aufmerksamkeit den amerikanischen Dichtern zugewandt, die für ihn bis dahin kaum mehr als leere Namen gewesen waren. Auf diese Weise hatten sie sich gegenseitig gefördert und bereichert und manche anmutige Stunde während der langen Winternachmittage eines in des anderen Gesellschaft zugebracht. Nur daß Edith bei einem ausgeprägten Sinn für Humor manchmal mit Mühe ihr Lachen verbarg, wenn er Longfellows »Psalm des Lebens« und Poes »Raben« mit echtem Enthusiasmus und falschem Accent vorlas. Die Betrachtung, daß sein Leben nie einen Teil des ihren gebildet, daß er nicht liebte, was sie liebte, ihre Vorurteile nicht teilte (und Frauen sind in diesem Punkte besonders streng), erstickte in ihr zeitweise jede Sympathie für ihn. Solange das Experiment neu war, hatte es immerhin ein Interesse gehabt, eines anderen Herz ohne bestimmte Absicht zu durchforschen, und da viel Neues und Fremdes zu finden. Nach und nach aber nahm diese Entdeckungsreise einen unbequem ernsthaften und beinahe furchtbaren Charakter an. Zu solchen Zeiten war es eine wirkliche Erleichterung, wenn irgend jemand von ihrer Nation, und wäre es von der friedlich dummen Sorte gewesen, das Beisammensein störte. Sie konnte sich dann dem wohlthuenden Gefühl häuslicher Sicherheit überlassen, brauchte keine Ueberraschungen zu fürchten, und daß in dem glatten Fahrwasser des Gesprächs plötzlich Tiefen sich aufthun würden, welche ihr die Unbefangenheit raubten. Und dann, wenn sie sich Halfdans wieder erinnerte, fühlte sie sich von seiner glänzenden Unterhaltungsgabe fast abgestoßen, als von etwas Widerwärtigem und Nichtamerikanischem – dem billigen Resultat ausländischer Geburt und monarchischer Erziehung. Nicht als ob sie jemals das republikanische Wesen sehr hoch gehalten hätte! Sie gehörte zu denen, für welche Politik und lärmende Brutalität in Sprache und Kleidung nicht zu trennen sind, und war dem Schicksal dankbar, welches den Damen verstatte, diesem rohen Spiel fern zu bleiben. Aber in Gegenwart dieses Fremden wurde sie zu ihrem Erstaunen patriotisch, und das sonst etwas verschwommene, aus allen möglichen langsamen unmerklichen Einflüssen zusammengesetzte Etwas, das doch schließlich unser Wesen ausmacht, und das wir in abstracto unser Vaterland nennen, nahm für sie allmählich eine sehr greifbare und verständliche Gestalt an.
Und während so ihr Amerikanertum sich gleichsam auf sich selbst besann, schlug sie nur allzu oft dem Herzen ihres ausländischen Anbeters die grausamsten Wunden.
Einst – an einem 4. Juli, nachdem bereits mehr als ein Jahr seit Halfdans Ankunft verflossen – hatte eine Gesellschaft junger Herren und Damen einen patriotischen Vortrag angehört und war dann zu einem zwanglosen Frühstück eingeladen worden. Bevor man sich zu demselben niedersetzen konnte, verbrachte man erklärlicherweise die Zeit mit Singen von Nationalliedern, und Halfdans heller Tenor that sein bestes, die etwas unsicheren Stimmen zusammenzuhalten. Nachdem man geendet, trat Edith an ihn heran und überschüttete ihn mit Ausdrücken ihrer Dankbarkeit.
»Wir alle müssen Ihnen sehr, sehr verbunden sein,« sagte sie, »und ich für mein Teil bin es im höchsten Grade.«
»Aber weshalb?« fragte Halfdan und sah ganz unglücklich dabei aus.
»Daß Sie unsere Nationallieder mitsingen. Aber nun müssen Sie uns auch eines der Ihren zum besten geben. Wir würden alle entzückt sein, zu hören, wie ein schwedisches – oder ist es ein norwegisches? – Nationallied klingt.«
»Ja, ja, Mr. Birk; bitte, singen Sie ein schwedisches Lied!« rief man von allen Seiten.
Sie hatten natürlich nicht die entfernteste Ahnung von ihrer Grausamkeit. Er hatte sich in seinem Enthusiasmus für den Tag zu vergessen erlaubt, daß er nicht von demselben Stoff wie sie gemacht, daß er ein Verbannter und Fremder war und kein Recht hatte, sich an den Segnungen der Freiheit zu laben wie sie. Edith hatte sich angelegen sein lassen, diese glückliche Illusion zu zerstören, und ihn wieder einmal in sein eisiges Nordland geschleudert. Der leidenschaftliche Schmerz, der in seinem Herzen aufwallte, erstickte ihn fast; seinen Jammer, seinen Zorn zu verbergen, stürzte er an den Flügel, warf sich auf den Stuhl und schlug ein paar einleitende Accorde an, die vielleicht ein wenig zu ausdrucksvoll gerieten. Und nun erhob er seine Stimme: »Unser Land, unser Land, unser Vaterland!« und Zorn, und Leid und Liebe – das alles donnerte und schluchzte und klagte in den wunderbaren, zugleich kriegerischen und weichen Tönen des schwedischen Volkshymnus in hinreißendem Zusammenklang. Und sie überschütteten ihn mit Beifall und die jungen Damen drängten sich um ihn: »Bitte, bitte, bitte, schreiben Sie uns die Noten auf, bitte, bitte!«
So verging Monat auf Monat, und jeder Tag brachte sein eigen Leid. Die Weise, wie Mrs. Van Kirk ihn patronisierte und ihr Wohlwollen für ihn zur Schau trug, setzte seine Geduld auf kaum erträgliche Proben. Wagte er einmal ein unschuldiges Wortspiel oder auch nur einen nicht ganz gewöhnlichen Ausdruck, nahm sie es stets für falschen Sprachgebrauch und verbesserte ihn mit freundlicher Herablassung. Und doch lag in zehn Fällen neunmal der Fehler nur in ihrer eigenen mangelhaften Phantasie und nicht in seinem mangelhaften Englisch. Dann erbarmte sich Edith auch wohl seiner gelegentlich und bewies ihrer Mutter, daß ein Ausdruck, weil er nicht im gewöhnlichen Gebrauch, darum doch zulässig und gewiß grammatikalisch und überdies im Geiste der Sprache sein könne. Er saß und lauschte und bewunderte ihre Logik und war ihr dankbar selbst für die Leiden, die sie ihn erdulden ließ, und denen solche selige Augenblicke folgen konnten. Es war ja Seligkeit, von ihr verteidigt zu werden, zu fühlen, daß sie und er zusammenstanden einer stumpfen, verständnislosen Welt gegenüber! Ach! sollte er ihr denn nie in der alten romantischen Weise zeigen dürfen, wie sehr er sie liebte! Konnte denn nicht irgend etwas Großes, Furchtbares geschehen, das alle socialen Gedanken über den Haufen warf und sie Schutz suchen ließ an seinem Busen – einen einzigen Moment das herrliche Haupt an seine Brust lehnte – einen Moment nur, wo sie vergaß, daß er ein Ausländer war, nichts dachte, nichts fühlte, als daß er ein Mensch sei mit einem treuen, liebevollen Herzen! Bis dahin, welch unaussprechliche Lust, die zarten Spitzen nur zu streifen an dem Stuartkragen, der ihren Hals so duftig umhüllte! Ach! es war ja unmöglich, es konnte ja nimmer sein, es waren ja selbstlose Gedanken eines Liebenden! Und war damit nicht ausgesprochen, daß sie rein waren, wie das Herz der Wasser, und gut, wie alles, was aus dem tiefsten Bronnen der menschlichen Natur fließt?
Edith ihrerseits wußte natürlich, daß ihr Lehrer sie liebte. Wann hätte eine Frau dergleichen jemals nicht gewußt! Wann jemals die flüchtigen Accente nicht verstanden, die unbewußten Blicke und Gebärden und die hundert anderen Mittel und Wege, auf denen das Geheimnis längst entflohen ist, während der beraubte Wächter noch immer die Schlüssel triumphierend in den ohnmächtigen Händen hält.
Ja, Halfdans Geheimnis war ihm entflohen; aber Edith konnte aus einer Sache nicht viel machen, die ihr oft genug in einem fast lächerlichen Lichte erschien. Daß eine so starke und zugleich so demütige, so von aller Hoffnung verlassene und doch so unveränderliche Liebe etwas Großes und Rührendes sei, kam ihr niemals in den Sinn. In dem socialen Codex des amerikanischen Lebens gilt es als unumstößlich, daß eines Mannes Wert durch seine Stellung bedingt ist. Bedeutende Züge in einem Ausländer (er hätte sich denn eben eine ganz außergewöhnliche Position zu verschaffen gewußt) berühren ihn geradezu als etwas, das stark nach der Fremde schmeckt, und sind ihm verdächtig.
Nun war Halfdan unzweifelhaft ein gebildeter Mann mit den Manieren und dem Betragen eines Gentleman, ohne den mindesten Anflug des den Amerikanern so verdächtigen und verhaßten theatralischen Auftretens. Ja, es fehlten ihm selbst jene gründlichen Einzelheiten, welche der amerikanische Reisende als unvermeidliche Eigentümlichkeiten nicht amerikanischer Geburt herausgefunden zu haben glaubt; seine Fingernägel überschritten keineswegs die vorgeschriebene Länge; er schwelgte nicht wie ein früherer Anbeter von Edith, ein französischer Graf, in dem weiblichen Geschmack für Diamantringe (vielleicht weil er keine besaß); seine Höflichkeit war nicht zudringlich und von seinem ausländischen Accent selbst war nur noch gerade so viel übrig geblieben, um seiner Sprache eine anziehende individuelle Färbung zu geben. Trotz alledem und alledem konnte Edith nicht darüber weg, daß er durch und durch unamerikanisch war, Seine idyllische Ruheliebe, seine kindliche Offenheit und Naivetät, seine gänzliche Unfähigkeit, sich vor und vorwärts zu drängen – das alles war völlig unvereinbar mit dem amerikanischen Geiste. Einem Amerikaner wäre es unmöglich gewesen, in einer untergeordneten Stellung zu verharren, ohne auch nur den Versuch zu machen, seine Lage zu verbessern. Aber Halfdan konnte gelassen und neidlos zusehen, wie sein Freund Olson, der, was Erziehung und Talente betraf, so tief unter ihm stand, mit reißender Geschwindigkeit sich über ihn erhob; konnte, auf dem Schoße die kleine Klara und ein paar andere zierliche Geschöpfchen um sich her, auf einem Schemel in der Ecke sitzen und ihnen stundenlang Märchen erzählen, während sein freundliches Gesicht strahlte von unschuldigem Glück. Und wenn Klara ihm einen Kuß geben wollte, wenn er verspräche, weiter zu erzählen, so war das Freudenmaß gar voll. Das schöne Kind hatte sich mit ihrem herzigen Wesen und zutraulichen Reden ganz in sein verlassenes Herz gestohlen; er hing an ihr mit rührender Zärtlichkeit. War sie doch die einzige, die noch nicht zu wissen schien, daß in seinen Adern ein anderes Blut rollte, die noch nicht gelernt hatte, daß sie eine Amerikanerin war und er – ein Ausländer.
Drei Jahre waren vergangen, ohne die Situation verändert zu haben. Halfdan gab noch immer Klavierstunden und erzählte den Kindern Märchen. Er hatte jetzt viel mehr Schüler als vor drei Jahren, obgleich er sich in keiner Weise um Protektion bemüht und sein Talent zur Schau gestellt hatte. Dafür war denn Mrs. Van Kirk, die seine tiefe Abneigung gegen jedes unkünstlerische Sichvordrängen wohl erkannt, zu seinen Gunsten desto eifriger gewesen; hatte unter ihren aristokratischen Freunden so viel über ihn gesprochen, daß dieselben wohl oder übel auf ihn aufmerksam werden mußten; hatte musikalische Abende gegeben, auf welchen sie ihn in die Matadorenrolle hineingeschmeichelt, und sich sonst tausendfach um ihn und für ihn bemüht. Sein ruhiges, prunkloses Spiel, das von der damals allgemein beliebten prahlerischen, unsoliden Manier so weit entfernt war, galt nachgerade für fashionabel; sogar Virtuosen von Profession fingen an, ihn für voll zu nehmen, und einige, die herausgefunden, daß »mit ihm was zu machen sei,« bestürmten ihn mit verlockenden Anerbietungen zu einem öffentlichen Konzert. Aber mit der ihm eigentümlichen Bescheidenheit mißtraute er dem Urteil dieser Leute, und seine sensitive Natur bebte vor allem zurück, was auch nur den Anschein von Selbstüberhebung und Prahlerei hatte.
Aber Edith – ach, er würde ja den Mut gefunden haben, die Schwelle des Glückes, die jetzt vor ihm lag, zu überschreiten; aber daß Ruhm, falls er ihn je erwerben sollte, ihn ihr irgend näher bringen könnte – der Gedanke war seinem unweltlichen Sinn völlig fremd, und alles, was sich nicht, so oder so, auf sie bezog, ließ ihn gleichgültig, schien ihm nicht der Mühe wert. Wenn sie ihn aufgefordert hätte, öffentlich zu spielen – freilich; sie hätte noch ganz andere Dinge von ihm fordern können! Und endlich forderte sie ihn wirklich auf. Sie und Olson hatten ein Komplott gemacht und arbeiteten aus den freundlichsten Beweggründen einander in die Hände.
»Wenn Sie sich doch nur entschließen möchten,« sagte sie in ihrer gewinnenden Weise eines Tages nach Beendigung der Stunde; »wir würden alle so glücklich sein! Und so stolz, wenn Sie Erfolg haben! Und Sie müssen Erfolg haben; es gibt in der Musik nichts, was Sie nicht erreichen könnten, wenn Sie nur wollen.«
»Glauben Sie das wirklich?« rief er, und seine Augen wurden groß und leuchteten.
»Ganz gewiß!« erwiderte Edith mit Nachdruck.
»Und wenn ich – wenn ich gut spielte, das würde Ihnen wirklich Freude machen?«
»Natürlich!« rief Edith lachend; »wie können Sie nur so albern fragen!«
»Weil ich es kaum zu glauben wage.«
»Nun hören Sie mich einmal ordentlich an,« sagte die junge Dame, indem sie sich in ihrem Stuhl vornüber neigte und ihr schönes Gesicht über und über von Eifer und Freundlichkeit strahlte; »jetzt müssen Sie ausnahmsweise einmal vernünftig sein und thun, was ich Sie zu thun heiße. Ich werde Ihnen niemals wieder gut sein, falls Sie sich diesmal widerspenstig zeigen; ich habe es mir in den Kopf gesetzt. Sie müssen mir von vornherein versprechen, keinen Einwand zu erheben. Hören Sie?«
Wenn Edith diesen Ton gegen ihn annahm, hätte sie ihm nur gleich befehlen können, Wunder zu verrichten. Daß sie durch ihren Eifer Hoffnungen in dem Herzen des Unglücklichen erwecken könnte, die sich nie erfüllen würden – lieber Himmel, sie hatte nichts vor Augen als ihr Ziel. Und war es denn nicht ein gutes, wohlwollendes – für ihn?
»Sie versprechen es also?« rief sie, als er mit der Antwort zögerte.
»Ja, ich verspreche es.«
»Sie dürfen nicht erschrecken – also: Mama und ich haben mit Mr. S– Verabredungen getroffen, daß Sie in einem Konzert, das heute über acht Tage stattfindet, unter seinen Auspizien auftreten. Alle unsere Freunde gehen hin; wir nehmen sämtliche erste Reihen, die Herren unserer Bekanntschaft, habe ich angeordnet, zerstreuen sich durch den ganzen Saal, und wenn sie sich um meine Gunst auch nur das mindeste kümmern, sollen Sie einmal den Applaus hören!«
Halfdan wurde bis zu den Schläfen rot und drehte mit nervöser Hast an seiner Uhrkette.
»Sie müssen wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten setzen, da Sie zu solchen Mitteln Ihre Zuflucht nehmen,« murmelte er.
»Aber lieber Mr. Birk,« rief Edith, die den Mißgriff, welchen sie gemacht, schnell entdeckt hatte; »es ist nicht hübsch von Ihnen, mir dergleichen zuzumuten. Freilich, hätte ein New-Yorker Publikum Ihre musikalische Bildung, so wären meine Vorsichtsmaßregeln allerdings sehr überflüssig. Aber die Zeitungen, wissen Sie, lassen sich durch das Publikum bestimmen, und deshalb müssen wir uns der Leute durch unsere kleinen unschuldigen Künste vergewissern. Alles hängt von dem Erfolge Ihres ersten öffentlichen Auftretens ab, und wenn Ihre Freunde etwas dazu beitragen können, Ihnen zu dem Rufe zu verhelfen, der nur Ihr gutes Recht ist, dürfen Sie ihnen auch nicht die Hände durch Ihre kindische Empfindlichkeit binden. Sie wissen nicht, wie man in Amerika dergleichen zustande bringt; ich aber weiß es, und deshalb müssen Sie Ihr Versprechen halten und alles mir überlassen.«
Es war unmöglich, daran zu zweifeln, daß alles, was Edith that, gut und schön sei. Sie sah in ihrem Eifer für sein Wohlergehen so entzückend aus – es wäre unmenschlich gewesen, ihr entgegenzutreten. So beugte er denn sein Haupt in Demut und begann, mit ihr das Programm des Konzertes zu entwerfen.
Während der nächsten Woche verging kaum ein Tag, an welchem er nicht in den Zeitungen auf einen fulminanten Artikel stieß über den »gefeierten skandinavischen Pianisten«, dessen Auftreten in S–s Halle man entgegensehe, als dem bedeutendsten Ereignis der kommenden Saison. Er war innerlich empört über diese Lobhudeleien, aber da er annehmen mußte, daß es Ediths Einfluß war, der sich in solcher Weise zu seinen Gunsten thätig erwies, beschwichtigte er sein aufgeregtes Gewissen und ließ schweigend geschehen, was er nicht ändern konnte.
Endlich kam der Konzertabend, und die große Halle war, wie die Zeitungen am nächsten Tage versicherten, »bis in den letzten Winkel von einem ausgewählten und verständnisvollen Publikum angefüllt.« Edith mußte ihre Vorsichtsmaßregeln meisterhaft getroffen haben, denn als er die Estrade betrat, wurde er mit einem enthusiastischen Beifall empfangen, als wäre er ein weltberühmter Künstler gewesen. Auf Ediths Rat waren ihre zwei Lieblings-Notturnos als die ersten Nummern auf das Programm gestellt worden; dann folgte eine jener Chopinschen Balladen, deren rhythmische Pracht wie in dichten melodischen Reihen und Bataillonen daherrauscht und stürmt, das Ohr gleichsam belagernd, und dann wieder heftig zum Rückzug zu rufen scheint, um in einem großen allgewaltigen Angriff und Vorstoß die weitverstreuten Klangmassen zum endlichen Siege zu führen. Sodann gab er noch eine von Liszts » Rhapsodies hongroises«, ein Impromptu von Schubert; aber der größere Teil des Programms war Chopin gewidmet, weil Halfdan, mit der großen hoffnungslosen Leidenschaft in seinem Herzen, fühlte, daß er diesen Komponisten besser interpretieren konnte, als irgend einen anderen. Er riß die Versammlung im Sturm fort.
Als er sich nach der letzten Nummer in die Garderobe zurückzog, umdrängten ihn die Freunde und überschütteten ihn mit Lob und Glückwünschen, voran Mrs. Van Kirk und Edith. Sie bestanden darauf, ihn in ihrer Equipage nach Hause zu fahren. Klara gab ihm einen Kuß, Mrs. Van Kirk stellte ihn den Damen als »ihren Freund, Mr. Birk« vor, und Edith hielt seine Hand so lange in der ihren, daß er fast die Herrschaft über sich verloren und ihr jetzt und hier seine Liebe gestanden hätte. Ihr holdes Bild, auf dem seine Blicke doch so fest ruhten, verschwand plötzlich hinter dichten Thränenschleiern, eine unaussprechliche Seligkeit erfüllte seine jauchzende Seele. Endlich vermochte er sich loszureißen und wanderte dann ziellos durch die langen einsamen Straßen. Warum sollte er Edith nicht sagen, daß er sie liebe? War es denn ein Verbrechen? War denn diese göttliche Leidenschaft, die bei ihrem ersten Anblick sein Herz durchschauert und Jahr um Jahr sein früheres Sinnen, Denken und Trachten aufgezehrt und dafür etwas Neues, Seltsames, Köstliches geschaffen, vor dem er, wie vor einem Unbekannten, Unbegreiflichen, Heiligen betete – war sie nur von Dämonen ihm zugeteilt als Geißel und Plage, zu prüfen, wieviel er dulden und leiden könne?
Einst – er war fast noch ein Kind gewesen – hatte seine Mutter ihm gesagt, daß irgendwo in dieser weiten Welt ein Mädchen lebe, das Gott für ihn und ihn allein geschaffen habe, und die er lieben würde, sobald er sie sähe, und der sein Leben fortan gehören würde. Er hatte damals nicht gefragt, ob sie ihn wieder lieben werde – das war ihm als selbstverständlich erschienen. Nun hatte er dies Mädchen gefunden, und sie war sehr, sehr gut zu ihm gewesen; aber ihre Güte hatte sich kaum von Grausamkeit unterschieden, weil er mehr als Güte, weil er ihre Liebe gewollt, vielleicht, weil er ihr seine Liebe niemals gestanden. Er mußte es noch heute nacht, während der Mond hoch am Himmel schwebte und in der tiefen, sternendurchglänzten Stille die jämmerlichen Unterschiede der Menschen ausgelöscht schienen. Wußte er doch nur zu gut, wie grausam das unbarmherzige Tageslicht seine Unbedeutendheit aufdeckte gegenüber dem Glanz, der sie umgab! Nein! Nein! Da würden seine Zweifel wieder erwachen! Da würde ihm der Mut wieder fehlen!
Von dem Turm einer benachbarten Kirche schlug es elf. Hoch und stattlich ragte in dem Mondlicht das Van Kirksche Haus; über die Straße fiel der breite, dichte Schatten. Oben in dem dritten Stock sah er zwei erleuchtete Fenster; die Vorhänge waren zugezogen, aber die Läden nicht geschlossen. Sonst war das Haus dunkel. Er erhob die Stimme und sang eine schwedische Serenade, deren Inhalt völlig zu seiner Seelenlage stimmte. Sein heller Tenor erfüllte die stille Nacht; das gegenüberliegende Haus gab ihm in leisem Echo sein Lied zurück:
»Der du an dem nächt'gen Himmel
Goldigst glänzest, holder Stern,
Laß an deinem Blick mich laben,
An dem Anblick deiner Schöne.«
Der Vorhang wurde auf die Seite geschoben, das Fenster vorsichtig gehoben und Ediths herrlicher Kopf erschien in dunklen und doch scharfen Umrissen auf dem hellen Grunde. Sie hatte ihn sofort erkannt.
»Bitte, gehen Sie fort! Sie müssen fortgehen; Sie werden die Leute aufwecken.«
Er vernahm die Worte wohl, obgleich sie nur als ein Geflüster aus dem Schatten herabschwebten; aber in dem Aufruhr seiner Seele hatten sie keinen Sinn für ihn. Und wieder schwang sich seine Stimme zum offenen Fenster empor:
»Ach, mich zieht's zu deiner Wohnung
Von der Erde wildem Kampfe,
Schönster Stern, in deine Höhe;
Süßer Stern, hinauf zu dir!«
»Lieber Mr. Birk,« flüsterte sie wieder in verzweifelten Tönen; »bitte, bitte, gehen Sie fort! Oder – warten Sie einen Augenblick; ich komm' herab.«
Alsbald wurde die Hausthür geräuschlos geöffnet; Ediths hohe, schlanke Gestalt in weißem fließendem Kleide, das blonde aufgeflochtene Haar über die Schulter rollend, erschien für einen Moment und verschwand wieder. Mit einem Sprung war Halfdan die Stufen hinauf und durch die Thür, die Edith hinter ihm zudrückte. Dann ging sie mit raschen Schritten vor ihm her nach dem hinteren Wohnzimmer, in welches der Mond matt durch das Gegitter der geschlossenen Jalousien fiel.
»Nun, Mr. Birk,« sagte sie, indem sie auf einer Chaiselongue Platz nahm; »mögen Sie mir sagen, was dies mehr als seltsame Betragen zu bedeuten hat. Ich sollte meinen, ich hätte nicht verdient, von Ihnen so behandelt zu werden.«
Halfdan war gänzlich fassungslos; ein nervöses Zittern machte seine Glieder beben, er rang vergeblich nach Worten, nach Atem. Auf leidenschaftliche Vorwürfe war er gefaßt gewesen, aber diese strenge Ruhe wehte ihn an mit Eiseskälte.
»Ich denke, es ist Ihnen klar,« fuhr Edith in derselben kühlen Unnahbarkeit fort, »daß, wenn ich Sie nicht unterbrochen hätte, der Konstabler es gethan haben würde, und Sie wären wegen nächtlicher Ruhestörung verhaftet worden. Dann hätten wir es morgen in allen Zeitungen gelesen, und ich würde für die ganze Stadt auf dem Mokierstuhle gesessen haben.«
Nein, bei Gott, in diesem Lichte hatte er es nicht gesehen; das war ihm etwas völlig unerwartet Neues!
Es entstand eine lange Pause. In einem benachbarten Hofe krähte verschlafen ein Hahn, und die kleine Stutzuhr auf dem Kaminsims tickte ruhig weiter in dem mondlichen Dämmer.
»Wenn Sie mir nichts mitzuteilen haben,« fing Edith wieder an – aber weitaus nicht mehr mit der souveränen Sicherheit von vorhin – »so will ich Ihnen gute Nacht sagen.«
Sie erhob sich und schritt, mit einer großen Bewegung das wallende Nachtgewand hinter sich werfend, nach der Thür.
Er streckte verzweiflungsvoll die Arme nach ihr aus: »Miß Edith! Sie dürfen mich nicht so verlassen!«
Sie blieb stehen, schleuderte mit den Händen ihr Haar zurück und blickte über die Schulter nach ihm. Er warf sich auf die Knie, ergriff den Saum ihres Kleides und preßte ihn an die Lippen.
»Seien Sie kein Thor, Mr. Birk!« sagte sie und versuchte, ihm das Gewand zu entziehen; »stehen Sie auf! Wenn Sie etwas Vernünftiges vorzubringen haben, will ich bleiben und Sie anhören.«
Sie ließ sich wieder auf die Chaiselongue sinken und blickte ihn in erwartungsvollem Schweigen an.
»Miß Edith,« bat er in demselben leisen, vor Leidenschaft heiseren Ton, »haben Sie Mitleid mit mir! Verachten Sie mich nicht! Ich liebe Sie; ich wollte, ich könnte für Sie sterben; dann wäre ich glücklich und – alles vorbei.«
Er stand schaudernd da, die großen Augen in stummem, bangem Flehen auf sie geheftet. Von Ediths Wimpern löste sich eine Thräne und floß langsam über ihre Wangen herab. Sie atmete tief.
»Ah, Mr. Birk,« sagte sie leise; »ich bin traurig, sehr traurig, daß Sie dies Unglück treffen sollte. Sie haben ein besseres Los verdient, als mich zu lieben – ein Mädchen zu lieben, das Ihnen niemals nur etwas von dem zurückgeben kann, was Sie ihm geben.«
»Niemals?« wiederholte er kummervoll, »niemals?«
»Nein, niemals! Sie sind mir ein lieber Freund gewesen und als solchen schätze ich Sie hoch; ich hatte gehofft, es könne so immer bleiben. Aber ich sehe, das kann nicht sein. Es ist vielleicht bester für Sie, mich hinfort nicht zu sehen, wenigstens nicht, als bis – als bis Sie diese hochherzige Thorheit hinter sich haben. Ich kann Ihnen jetzt nichts mehr nützen. Sie haben sich einen glänzenden Ruf erobert; es liegt an Ihnen, diese Eroberung festzuhalten, zu erweitern, und Ihr Glück ist gemacht. Es wird mir immer eine hohe Freude sein, von Ihren Erfolgen zu hören; und wenn Sie jemals einen Freund brauchen, dürfen Sie zu niemand kommen, als zu mir. Ich weiß, dies sind dürftige Worte, und wenn Sie Ihnen kalt erscheinen – verzeihen Sie mir! Ich habe nichts weiter zu sagen.«
Es waren dürftige Worte, freilich, obgleich sie in einem sehr herzlichen Ton gesprochen waren. Er versuchte die Worte abzuwägen, sich klar zu werden über ihre Tragweite: aber in seinem Herzen, in seinem Kopfe war es so schwer, so dumpf. Er ging auf und nieder in dem Gemach, ohne zu wissen, wohin er den Fuß setzte, und doch mit dem lächerlichen Bewußtsein, daß er unmäßig lange Schritte mache. Dann blieb er plötzlich wieder stehen und blickte, die Hände ringend, auf Edith. Und dann jäh, wie ein Blitz durch den leeren Raum, schoß ihm der Gedanke durchs Gehirn, daß er diese ganze Scene irgendwo und irgendwann bereits gesehen – in einem Traum, in einer früheren Existenz. Es war ihm ja so bekannt und zugleich so seltsam sinnlos, gegenstandslos. Die Wände, der Fußboden – alles fing an sich zu bewegen, um ihn zu kreisen; er fuhr sich mit den Händen nach den Schläfen und ließ sich in einen Armsessel fallen. Mit einem leisen Schreckensschrei sprang Edith auf, ergriff eine Flasche Eau de Cologne, die ihr zur Hand war, und kniete an seiner Seite nieder. Sie legte ihm den Arm um den Nacken und richtete seinen Kopf empor.
»Mr. Birk, lieber Mr. Birk,« rief sie in erschrockenem Flüstern; »um Gottes willen, kommen Sie zu sich. Großer Gott, was habe ich gethan?«
Sie blies ihm die Eau de Cologne in das Gesicht, und als er langsam die Augen wieder aufschlug, fühlte er ihre warme Hand auf seiner Stirn, seinen Wangen.
»Gott sei Dank!« murmelte sie, indem sie fortfuhr, seine Schläfen zu benetzen. »Fühlen Sie sich besser?«
»Ich danke Ihnen; es war eine unverzeihliche Schwäche. Aengstigen Sie sich nicht um mich; es wird gleich wieder ganz gut sein.«
Er konnte es eben nur flüstern, er konnte sich nicht aus seiner Lage rühren. Und dann war es so süß, von ihr gepflegt zu werden! Es bedurfte einer starken Mahnung – einer Mahnung des Gewissens, sich zu erheben, als er fühlte, daß ihm die Kräfte zurückkamen.
»Thäten Sie nicht besser, zu bleiben?« flüsterte sie, als er nach Hut und Ueberzieher griff. »Ich will einen der Leute rufen und Ihnen ein Zimmer anweisen lassen. Wir können morgen sagen, Sie seien unwohl geworden; niemand wird daran Anstoß nehmen.«
»Nein, nein,« erwiderte er mit Bestimmtheit. »Ich fühle mich jetzt vollkommen kräftig.«
Aber er mußte sich trotzdem an einem Stuhle festhalten, und sein Gesicht war todesbleich.
»Leben Sie wohl, Miß Edith,« sagte er mit einer von Zärtlichkeit und Treue zitternden Stimme; »leben Sie wohl! Wir werden uns schwerlich jemals wiedersehen.«
»Sprechen Sie nicht so!« erwiderte sie, seine Hand ergreifend. »Sie werden suchen, dies zu vergessen, und doch groß und glücklich sein. Und wenn des Glückes Sonne Ihnen wieder lächelt und – und Sie wollen sich daran genügen lassen, mein Freund zu sein, dann werden wir uns sehen, wie ehemals.«
»Nein, nein!« rief er heftig. »Das wird niemals sein.«
Er schritt nach der Thür mit der Empfindung eines Menschen, der den Tod in allen Gliedern spürt; stand dann wieder still, und seine Blicke zögerten auf der hohen, herrlichen, geliebten Gestalt, deren Umrisse in dem ungewissen Licht verdämmerten. Da schien auch Ediths Maß des Leides voll. Sie stürzte auf ihn zu, und, nur denkend, daß er schwach und unglücklich war und Namenloses litt – um ihretwillen, nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küßte ihn. Er verstand ihre Regung und ihr Thun. So flüsterte er noch einmal: »Leben Sie wohl!« und eilte aus der Thür.
Seit dieser Dezembernacht war für Halfdan Bjerk Amerika nicht mehr, was es ihm gewesen. Eine seltsame Müdigkeit war über ihn gekommen; jeder neue Tag starrte ihm grell und fremd in die schmerzenden Augen; das Straßengeräusch quälte ihn und machte ihn kindisch reizbar; und wieder schien die Einsamkeit seines Zimmers ihm noch trostloser und melancholischer. Mechanisch ging er durch den täglichen Kreislauf seiner Pflichten; die Seele war aus der Arbeit entwichen, das Leben eine einzige trostlose Wüste. Ruhelos eilte er von Ort zu Ort, strich zu jeder Zeit des Tages und der Nacht durch die Straßen und Gassen, umsonst versuchend, seine physische Kraft zu erschöpfen; ja während seine Verzweiflung immer mehr zu stumpfer, hilfloser Lethargie wurde, schien sein sonst zarter Körper an Zähigkeit und Kraft zu gewinnen.
Olson, jetzt ein Partner der Firma Remson, Van Kirk und Comp., stand treulich zu ihm in diesen leidensvollen Tagen. Seine Sympathie war nicht eben wortreich, aber er ertrug mit unerschöpflicher Geduld des Freundes böseste, wunderlichste Launen und hegte ihn wie ein krankes, ihm zur Pflege anvertrautes Kind. Daß Edith bei dieser Freundlichkeit Olsons mit im Spiel, war ein Gedanke, auf den Halfdan seltsamerweise nie verfiel.
Endlich, als der Frühling kam, wurde die Leere seiner Seele plötzlich von dem heißen Verlangen, sein Vaterland zu besuchen, erfüllt. Er teilte Olson den Plan mit, und Olson entschied sich – nach reiflicher Ueberlegung und verschiedenen Beratungen in dem Van Kirkschen Hause – dahin, daß das Vergnügen des Wiedersehens seiner alten Freunde und der Plätze seiner Kindheit ihm die traurige Erinnerung nehmen und die Lust am Leben wiedergeben könne. So fand sich denn unser Norweger eines Morgens, als die Maiensonne mit sanftem Strahl den herrlichen Hafen beschien, auf dem Deck eines großen Dampfers. Ihn fror trotz der Wärme, und der Anblick des Küssens und zärtlichen Abschiednehmens um ihn her vermehrte nur das Gefühl seiner freudlosen Vereinsamung. Olson, der die Einschiffung seiner Bagage überwachte, lief ab und zu; er selbst kümmerte sich sowenig darum, als ob er ein hilfloses Kind wäre. Es that ihm halb und halb leid, daß sein Wunsch nun doch in Erfüllung gehen sollte; er war geneigt, den Freund dafür verantwortlich zu machen, und hatte doch, da die Abreise nun unvermeidlich schien, nicht die Energie, zurückzutreten. Sein Herz klammerte sich an den Ort, wo sein Glück begraben lag, wie wir uns nicht von dem Friedhofe trennen mögen, auf welchem unsere Lieben schlummern.
Zwei Wochen später landete Halfdan in Norwegen. Halb widerwillig verließ er den Dampfer; das Land seiner Geburt erweckte in seiner Brust kein wärmeres Gefühl. Er empfand nur dumpf und schmerzlich, daß er so weit von Edith war. Endlich begab er sich in ein Hotel und saß da während des ganzen Nachmittags am Fenster mit halbgeschlossenen Augen, teilnahmlos, verdrossen das Treiben betrachtend, das sich langsam, schläfrig durch die enge Straße bewegte. Der geschäftige Lärm vom Broadway tönte von fernher in seine Ohren, wie das dumpfe Donnern der sturmgepeitschten See; und was ihm einst eine ewige Qual gewesen, war ihm nun eine süße Erinnerung. Wie oft hatte er, Edith an seiner Seite, sich einen Weg gebahnt durch die Menschenwogen, welche an schönen Nachmittagen im ewigen Strom und Gegenstrom durch die Straße zwischen den Union- und Madison-Squares drängen! Wie gütig, lieb und anmutig war Edith bei solchen Gelegenheiten gewesen; wie frisch ihre Stimme, wie lebhaft und witzig ihre Bemerkungen, wenn sie stillstanden, einen vorübergehenden Bekannten zu grüßen; und vor allem: Wie schön, wie wunderschön! Das war nun vorbei! Würde er sie je wiedersehen?
Am nächsten Tage schlenderte er durch die Stadt und traf ein paar alte Freunde. Sie sahen so sonderbar verändert und langweilig aus. Alle waren sie verlobt oder verheiratet, wußten von nichts zu sprechen als von dieser zu schließenden oder geschlossenen Ehe und von ihren Aussichten im Staatsdienst. Dieser hatte einen einflußreichen Onkel, der auf der Universität Stubenbursch des gegenwärtigen Finanzministers gewesen war; jener baute die Hoffnung einer guten Carriere auf die Familienverbindungen seiner Braut; ein dritter wartete mit Geduld, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, auf den Tod oder die Pensionierung eines alten hinfälligen Bureauchefs, dessen Stelle im Justizministerium – wenn er der Zusage eines einflußreichen Mannes glauben dufte – er dann zweifellos erhalten würde. Alle hatten sie die wunderlichsten Ansichten von der amerikanischen Demokratie und ergingen sich in Prophezeiungen hereindrohenden Unglücks; die eigene Regierung und deren Vorzüge oder Nachteile waren ihnen dagegen ein Buch mit sieben Siegeln. Sie wurden sehr erregt und fingen an zu deklamieren, so oft Halfdan versuchte, ihre Irrtümer zu berichtigen; was sie wüßten, das wüßten sie, und niemand würde imstande sein, ihre einmal gewonnene Ueberzeugung zu erschüttern. Tweed und Tammany-Ring? Nun, wahrhaftig, sie kannten die Kerle! Zwei niederträchtige, spitzbübische Stadtverordnete von New-York oder ihretwegen auch Abgeordnete der Vereinigten Staaten; – Charles Summer? Karl Schurz? Nun, von denen hatten sie nichts gehört, es würde aber auch wohl nicht viel daran sein.
Halfdan gab es auf, die Mohren weiß zu waschen! Was lag daran? Was lag denn überhaupt an irgend etwas?
Gegen Herbst empfing er von einem Landgeistlichen im Norden, mit dem er entfernt verwandt war, eine Einladung, und dort brachte er bis zum Winter seine Zeit mit Jagd und Fischen hin. Aber als Weihnacht herankam und der Tag mühsam mit der allbeherrschenden Nacht kämpfte, wachte der alte Kummer wieder auf mit neuer Kraft. In der Dunkelheit, die jetzt über Land und See brütete, brauchten die Gedanken sich nicht mehr voreinander zu verstecken; sie mochten schweifen, so weit sie wollten? Wo war Edith jetzt? Die süße, köstliche? Schimmerte noch immer derselbe Glanz in ihren Augen, lag derselbe goldene Schein auf ihrem Haar? Klang ihre Stimme noch immer so hell und froh? Und hatte sie ihm nicht gesagt, daß, wenn er nur mit ihrer Freundschaft zufrieden sein wolle, er zurückkehren dürfe zu ihr, und sie würde ihn aufnehmen in der heiter vertraulichen Weise wie ehemals? Er konnte ja nicht leben fern von ihr; weshalb sollte er da nicht ihr Freund sein? Ach, ein einziger Blick in ihr holdes Antlitz war ja ein volles Leben wert; bot Entgelt für eine Ewigkeit von Leid und Jammer!
So schweiften seine Phantasien Tag für Tag und die Nacht lieh dem Sehnen des Tages nur eine tiefere Kraft. Er ging umher wie in einem Traum, ohne auf irgend etwas zu achten, während immer und immer das eine heiße Verlangen, Edith noch einmal zu sehen, mit fieberhafter Monotonie durch sein Wesen pulste. Edith! – Edith! Der Name hatte schon einen bezaubernden Klang. Jeder Gedanke flüsterte Edith; jeder Atemzug hauchte Edith und sein Herz klopfte nur immer den geliebten Namen Edith – Edith!
Und eines Morgens, als er gedankenlos seine Finger gegen das Licht hielt – sie sahen so sonderbar mager und durchscheinend aus – gewann der Gedanke Form. Es kam über ihn mit einer Macht, gegen die er keine Gewalt hatte. So sagte er dem guten Geistlichen lebewohl, nahm seine paar Habseligkeiten und reiste nach Bergen. Da fand er ein englisches Dampfschiff, das ihn nach Hull führte, und ein paar Wochen später war er wieder in Amerika.
Es war spät an einem Januarabend, als ein Schleppboot anlegte und die Kajütenpassagiere an Land brachte. Der Mond segelte ruhig an dem dunkelblauen Himmelsdom, die Sterne flimmerten und schimmerten; es war bitter kalt. Nordwärts vom Strom lag eine große, massive, grauschwarze Wolkenwand, wie ein ungeheurer Vogel, der sein Gefieder gegen die Kälte sträubt.
Halfdan ging schnellen Schrittes dahin. – Die Omnibusse kamen seltsamerweise alle den entgegengesetzten Weg. Dann und wann regte sich in ihm eine kostbare Erinnerung – ein Blick, ein Wort von Edith – sie hatten so lange über diesen Stätten geschwebt und da waren sie wieder mit den Stätten. Da der große Juwelenladen! Wie oft hatte ihn Edith mit dorthin genommen, um seinen Rat zu hören bei einem Geschenk für eine Freundin, die sich verheiraten wollte! Hier war's, wo der freundschaftliche Streit zwischen ihnen stattgefunden über die Bronzestatuette von Faust, die sie für sehr schön hielt, während er mit einer Hartnäckigkeit, welche ihm jetzt unbegreiflich schien, das Gegenteil behauptete. Und als er sie nicht überzeugen konnte, hatte sie ihm zum Zeichen, daß sie ihm nicht böse sei, die Hand gegeben – und Edith hatte eine wundervolle Weise, die Hand zu geben, daß jeder sofort herausfühlte, es war eine Gunst, die ihm erzeigt wurde – und sie waren Arm in Arm aus dem Laden gegangen und durch die belebten, gaserhellten Straßen geschlendert mit dem köstlich sicheren, wohligen Gefühl, nach ihrem Zank nur noch inniger verbunden zu sein. – Da, ein paar Häuser weiter hinauf, waren sie zusammen in einer Gesellschaft gewesen, und er hatte zum erstenmal mit ihr getanzt. – Da war das Restaurant von Delmonico, wo sie ein paarmal so herrlich gefrühstückt, und einmal hatte sie einen Flecken auf das Kleid bekommen, und er hatte zu seiner Verwunderung entdeckt, daß ihr Kleid nicht ein Teil ihrer selbst war, da an ihr selbst doch kein Flecken hätte haften können.
Und schneller und schneller schritt Halfdan dahin; es war ein wenig über elf Uhr, als er an das Haus kam, das er suchte. Die große Wetterwand im Norden hatte sich drohend hinter ihm her am Himmel hinaufgeschoben und streckte ihre langen dunklen Arme nach Ost und West. Die Fenster des Erdgeschosses waren dunkel; aber in denen der Schlafzimmer in den höheren Etagen schimmerte Licht. In Ediths Gemach waren die Innen-Jalousien geschlossen, aber eines von den Fenstern war oben noch ein wenig herabgelassen.
Und wie er nun in zitternder Glückseligkeit zu diesem Fenster emporschaute, kam ihm eine heimische Ballade ins Gedächtnis, die er und Edith oft zusammen gelesen hatten. Es war die Geschichte des Jünglings, der zur Madonna nach Kevelar wallte und ihr als Opferspende ein Wachsherz bringt, daß sie ihn von seiner Liebe und seinem Kummer heilen soll. Und dann dachte er, daß er, wie der arme Jüngling von Köln, nur im Tode genesen könne. Und doch war er ihr in diesem Moment so nahe, sollte sie vielleicht sehen und die Freude darüber war stärker als alles, stärker sogar als der Tod.
So setzte er sich neben den Trittstufen des gegenüberliegenden Hauses, wo etwas Schutz vor dem Winde war, und wartete geduldig, bis Edith ihr Fenster schließen würde. Ihn fror, aber er bemerkte es kaum, so warm pulste die Erwartung, sie zu sehen, durch seine Adern.
Da!
Die Läden wurden aufgeschlagen; Edith stand in der ganzen schlanken Pracht ihrer wundervollen Gestalt klar und schön auf dem hellen Hintergrunde. Sie stieß das untere Fenster hinauf, um das obere zu erreichen, und lehnte sich für ein paar Momente über die Brüstung. Und nun zeichnete sich das herrliche Profil scharf umrissen auf dem Dunkel draußen.
Von der Straße unten kam ein schwacher, unwillkürlicher und doch deutlich hörbarer Schrei. Edith blickte ängstlich hinab; aber die Dunkelheit war dichter geworden; sie konnte nichts unterscheiden.
Das Fenster war befestigt, die Innenläden wurden zugedrückt; der breite Lichtweg, der zu ihr hinaufgeführt, war ausgelöscht.
Halfdan schloß die Augen, die beseligende Vision möglichst lange festzuhalten. Ja, da stand sie noch, ein himmlisches Lächeln auf ihren Lippen.
Die Kälte durchschauerte ihn bis ins Mark – der Schnee kam in wilden Wirbeln die Straße heraufgefegt. Er hüllte sich dichter in seinen Plaid; er wollte Edith noch einmal sehen.
Und da war sie ja wieder; näher kam sie, immer näher; sie berührte seine Wange, leise, zaghaft, und lächelte dabei mit einem seltsamen, kummervollen Lächeln, das gar nicht ihr Lächeln war. Sie beugte sich über ihn; sie berührte wieder seine Wange – wie kalt ihre Hand war; er fühlte die Kälte im Herzen selbst.
Der Schnee fiel in großen Flocken, die, jeder Laune des Windes folgend, hierhin und dorthin wirbelten, aber immer abwärts, immer abwärts, die Erde in ihr weißes Totenlaken hüllend.
Und da ist Edith wieder – wie wunderbar! In langem, schneeweißem Kleide, ernst und gütig, mit dem kummervollen Lächeln auf den Lippen. Sieh! Sie winkt ihm mit der Hand! Er will ihr folgen; aber etwas Schweres hängt an seinen Füßen; er kann nicht von der Stelle. Er will um Hilfe rufen, er kann es nicht; er kann nur die Hand nach ihr ausstrecken, traurig, daß er ihr nicht zu folgen vermag. Aber nun hält sie inne in ihrer Flucht und wendet sich. Er sieht, daß sie einen Myrtenkranz in ihrem Haar trägt, wie eine Braut. Sie kommt zu ihm zurück, das Antlitz leuchtend vor Liebe und Wonne, und beugt sich über ihn und spricht: »Komm! Sie warten auf uns. Ich will dir folgen in Leben und Tod, wohin du immer gehst. Komm! Sie warten lange schon. Sie sind alle da.«
Ihm ist, als wüßte er, wer alle sind, obgleich er nie von ihnen gehört hat und ihre Namen nicht kennt.
»Aber,« sagt er, »ich bin ein Ausländer.«
Es scheint, daß dies aus irgend einem Grunde ein unübersteigliches Hindernis ist. Und von Ediths schönem Gesicht verschwindet das glückselige Lächeln; sie wendet sich weinend ab.
»Edith! Geliebte!«
Da ist sie wieder an seiner Seite.
»Du bist für mich kein Ausländer mehr, Geliebter. Was du bist, bin ich.«
Und sie preßt ihre Lippen auf seine Lippen in wonnesamem, langem Kuß.
Als Edith am nächsten Morgen die letzte Hand an ihre Toilette gelegt hatte und die Fensterläden öffnete, brach ein mächtiger Glanz sonnebeschienenen Schnees auf sie ein und blendete ihr die Augen.
An dem Nebengäßchen gegenüber standen ein halbes Dutzend Leute mit Schneeschaufeln in den Händen und ein paar Polizisten in einem Haufen und schienen eifrig nach ihrem Benehmen über etwas Wichtiges zu beraten.
Da trat ihr Vater, der nach dem Frühstück auf dem Wege in das Comptoir war, zu den Leuten. Er bog sich nieder und blickte auf etwas, das der Schnee halb verhüllte. Plötzlich fuhr er zurück; dabei sah sie für einen Moment sein Gesicht; es war totenbleich.
Eine furchtbare Ahnung erfaßt sie. Sie wirft einen Shawl um die Schultern und fliegt die Treppe hinab. In dem Hausflur begegnet sie dem Vater, der eben hereintritt; vier Männer folgen ihm, die etwas Schweres tragen. Sie weiß, was es ist. Sie möchte sich abwenden; sie vermag es nicht; sie greift krampfhaft nach ihres Vaters Arm und blickt mit stieren Augen auf das weiße Gesicht, dessen Züge der Tod so seltsam gezeichnet hat. Die Flocken, die in seinen Haaren hangen, sind wie der Schnee des Alters; die Kluft zwischen Jugend und Tod ist überbrückt. Und doch ist er schön – so schön! Die reine Stirn, die harmlose, still zufriedene Ruheseligkeit, das anmutige Lächeln – alles, alles hatte der Tod bewahrt. Lächelnd war er von der Erde, die keinen Platz für ihn hatte, geschieden und lächelnd in das Reich eingegangen, wo unter den vielen Wohnungen des Vaters vielleicht auch eine ist für einen anspruchslosen, warmherzigen Idealisten.