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Viktor Julien St. Denis Dannevig. So, wie ich den Träger dieses Namens zuerst kennen lernte, erschien sein Wesen fast wie eine Zusammenstellung prächtiger Mischfarben, in denen selbst die widerstreitendsten Geschmacksrichtungen etwas zu bewundern finden konnten. Keine scharfen Kanten, an denen die Eigenliebe oder auch die Vorurteile anderer sich hätten stoßen können, traten an ihm hervor. Moralisch, intellektuell und physisch war er glatt wie Samt, und ebenso angenehm in der Berührung. Niemals stellte er sich zu einem anderen in offenen Widerspruch, so sehr von den seinigen abweichende Ansichten derselbe auch vertreten mochte, und doch war es niemals möglich, ihn bei einem offenbaren Widerstreit seiner eigenen Aeußerungen zu ertappen. Der Ultraliberale, als Kenner und Vertreter des Wesens und der Anforderungen des 19. Jahrhunderts und als leidenschaftlicher Feind aller geistlichen und weltlichen Herren, sah in ihm den emporkommenden Mann, auf den man mit Zuversicht werde rechnen können, wenn er sich nur erst »gemausert« und eine wahre, dauernde Farbe angenommen haben werde, und der regierungsfreundliche und mit der Regierung in enger Fühlung stehende Konservative lobte seine verständige Gesinnung und seine gemäßigten Ansichten, und nahm sich vor, bei der ersten im diplomatischen Dienst eintretenden Vakanz seine Anstellung zu befürworten. In der That, ein jeder schied von ihm mit der Ueberzeugung, daß er im Herzen seine Ansichten teile, wenngleich er aus Gründen der Klugheit es nicht für angemessen erachte, mit voller Deutlichkeit sich zu erklären.
All das könnte, wie ich befürchte, zu dem Schlusse verleiten, daß Dannevig ein Heuchler war; aber wenn ich durch das Gesagte bei irgend jemand einen solchen Eindruck hinterlassen habe, so habe ich sicherlich meinem Freunde unrecht gethan. Ich wüßte nicht, daß er jemals einem anderen zu Gefallen seine eigene Ueberzeugung mit Bewußtsein zurückgedrängt hätte. Aber Ueberzeugungen verlangen zu ihrer gedeihlichen Entwickelung einen verhältnismäßig tiefen Boden, und Dannevigs Geist zeigte eine bemerkenswerte Ausdehnung nur in die Weite und weniger in die Tiefe. So war es erklärlich, daß er mit erstaunlicher Leichtigkeit sich die Ansichten desjenigen zu eigen machte, mit dem er gerade sprach. Aber das schloß bei ihm keinen bewußten geistigen Vorgang, keine absichtliche Unaufrichtigkeit in sich. Es hatte vielmehr seinen Grund in einer Art von angeborener geistiger Schmiegsamkeit, in einem unüberwindlichen Widerwillen vor Streit und Zank, und in einem gänzlichen Mangel an eigenen, vorgefaßten Meinungen.
Es war im Jahre 1865, unmittelbar nach dem Abschluß des Friedens zwischen Preußen und Dänemark, als ich die Bekanntschaft Dannevigs machte. Er war damals der Held des Tages; fast unsinnig wurde er von ganz Kopenhagen vergöttert. Er war soeben aus dem Kriege zurückgekehrt, in welchem er durch eine außerordentlich tollkühne Heldenthat sich ausgezeichnet und mit Aufopferung seines Schnurrbartes sieben dänische Compagnien gerettet haben sollte. Die Geschichte machte damals wohl in einem Dutzend verschiedener Versionen die Runde; nach dem, was ich durch möglichst genaue Erkundigungen erfahren, hatte er sich am Abend vor einer Schlacht, als Bauer verkleidet, in das preußische Lager gewagt und dort mit so vollendeter Geschicklichkeit den dummen Tölpel gespielt, daß er den Feind von seiner Harmlosigkeit überzeugte. Doch ehe der Morgen anbrach, hatte er dem dänischen Befehlshaber wichtige Kundschaft gebracht und dadurch den Erfolg einer Truppenbewegung vereitelt, welche die Preußen auszuführen im Begriff standen, und durch welche sie den Feind zu überrumpeln gedachten. Zum Lohn für den geleisteten Dienst war er noch auf dem Schlachtfelde durch Verleihung des Dannebrogordens in den Adelstand erhoben worden.
Ein Umstand, welcher wahrscheinlich den Reiz, den Dannevig für die gesellschaftlichen Kreise der Hauptstadt hatte, noch erhöhte, war das Geheimnis, welches um seine Herkunft schwebte. Man munkelte davon, daß sein Vater in den höchsten Kreisen zu suchen sei, selbst die Namen von Mitgliedern des Königshauses wurden genannt, natürlich stets im strengsten Geheimnis. Schon die Thatsache, daß er aus Frankreich herstammte und doch einen dänischen Namen trug, auch das Dänische sprach wie ein geborener Däne, wurde an sich als eine interessante Anomalie betrachtet. Sodann ließ auch sein gewandtes, aristokratisches Auftreten und der edle Schnitt seines Gesichtes an mancherlei romantische Möglichkeiten denken; seine langen, schmalen Hände, die tadellose Eleganz seiner Toilette, selbst das feine Gewebe seines Taschentuches wiesen doch deutlich genug darauf hin, daß er von der Wiege an mit dem high life vertraut sein mußte. Auch seine Lebensweise bot manchen Anlaß zu neugierigem Geschwätz. Ohne wirklich verschwenderisch zu sein, gab er doch das Geld mit vollen Händen aus und machte den Eindruck eines Mannes, dem unerschöpfliche Mittel zu Gebote stehen, obgleich niemand mit Sicherheit sagen konnte, woher ihm dieselben kämen. Die einzige Lösung des Rätsels war die, es müsse ihm zu freier Benutzung der Geldschrank irgend eines mächtigen Mannes offen stehen, der sich aus Gründen, die nicht in die Oeffentlichkeit gelangen zu lassen er vielleicht alle Ursache habe, veranlaßt fühle, ihn standesgemäß zu versorgen.
Ich hatte in akademischen und gesellschaftlichen Kreisen mehr als genug von Dannevig gehört und war vollständig mit dem sagenhaften Teil seiner Geschichte vertraut, ehe mich ein Zufall seine persönliche Bekanntschaft machen ließ. Er hatte damals bereits von dem ersten Reiz der Neuheit etwas eingebüßt und die professionellen Gähner an den Klubfenstern neigten sich bereits der Ansicht zu, »er sei wohl ein ganz tüchtiger Kerl, aber er sei doch nicht aus dem geeigneten Stoff, um dauerndes Interesse zu erregen«. In den abendlichen Theegesellschaften dagegen, wo die Damen der fashionabeln Welt zusammentrafen, um Ehre und guten Ruf der lieben Nächsten in aller Behaglichkeit abzuschlachten, da gab eine Anspielung auf ihn noch immer Anlaß zu allgemeiner Erregung. Schon sein Name wurde mit Ausdrücken der Entzückung begrüßt und erregte Ausrufe, und enthusiastische Superlative summten einem in wildem Durcheinander vor den Ohren, bis endlich die Sprache selbst ihren letzten Atem erschöpft zu haben schien, so daß für die ganze nächste Woche den Damen nur noch die positiven und komparativen Grade zur Anwendung auf ihre Feindinnen übrig blieben.
Es war ein offenes Geheimnis, daß die Gräfin von Brehm, eine der reichsten Erbinnen des Königreichs, in Dannevig rasend verliebt war und ihm wahrscheinlich, den Wünschen und Traditionen ihrer Familie zum Trotz, die Hand reichen würde. Und welcher Mann, wenn er nicht dem königlichen Hause angehörte, würde so thöricht sein, die Hand einer Gräfin von Brehm zurückzuweisen?
*
Während des Winters von 1865-1866 traf ich Dannevig häufig in den Klubs, bei studentischen Festlichkeiten und geselligen Vereinigungen, und seine wohltönende Stimme, seine kurze und schlagfertige Redeweise und seine Schönheit nötigten mir stets eine gewisse widerstrebende Bewunderung ab. Gleichwohl aber konnte ich mich der Wahrnehmung nicht entziehen, daß die Vorzüge, durch welche er blendete, alle gar sehr, sehr oberflächlich waren und auch seine Schönheit war eine rein physische. Nur als lebendes Wesen betrachtet, hätte er nicht schöner sein können. Seine Augen waren so klar und blau und unschuldig wie ein paar Frühlingsveilchen, und sein Gesicht zeigte die reinen und vollendet schönen Formen einer griechischen Maske, zugleich aber auch deren gänzlichen Mangel an geistigem Ausdruck. Reizend, ungekünstelt und natürlich war der Ausdruck seiner Züge in der Erregung, aber es war gleichwohl nur ein oberflächlicher Glanz und nie schien es der Ausdruck einer wirklich starken und aus dem Herzen kommenden Bewegung zu sein. Wohl mochte er gleich Achilles über den Verlust einer lieblichen Briseïs trauernd grollen und beim Anblick des Räubers in wilde Worte der Schmähung ausbrechen können; aber in demselben Augenblick, da man ihm eine Briseïs wiedergegeben hätte, wäre seine Wut ebenso plötzlich dem unbegrenzten Wonnegefühl des Besitzes gewichen.
Am Abende vor meiner endlichen Abreise von Kopenhagen gab er mir zu Ehren in seiner Wohnung eine kleine Gesellschaft, zu der etwa ein Dutzend unserer Freunde oder auch einige mehr eingeladen waren.
Ich muß gestehen, daß er ein prächtiger Wirt war. Ohne auch nur im geringsten den Schein besonderer Anstrengung zu erwecken, wußte er einem jeden das Gefühl vollkommenen Behagens zu geben, füllte jede Pause im Gespräch durch die Erzählung einer spaßhaften Anekdote oder eines Ereignisses aus seinem Leben aus, und zwar so geschickt, daß wir alle zu unterhalten glaubten, während wir doch unterhalten wurden. Das Souper war ein wahres Meisterstück der Kochkunst, und die herrlichen Weine zeigten in ihrer Auswahl den Geschmack des Aristokraten. Er selbst aß und trank mit der Bedächtigkeit und dem Behagen eines Mannes, der, ohne eigentlich ein Gourmand zu sein, die Kunst des Dinierens doch zu den schönen Künsten zählt und wohlgefällig sich als einen Kenner betrachtet. Nichts, glaube ich, hätte mich in seinen Augen tiefer herabsetzen können, als wenn ich einen Mangel an Vertrautheit mit den Vorschriften des guten Tones bei Tische verraten, wenn ich z. B. zum Rheinwein die weißen Gläser oder zu Sherry und Madeira die blauen benutzt hätte.
Als die Stunden der Nacht vorrückten, erhob sich Dannevigs sprühende Heiterkeit zu einer fast gefährlichen Höhe, und nichts Geringeres als eine Explosion konnte, so schien es uns, das Ende sein. Und diese Explosion trat denn auch ein, und zwar in Gestalt einer Rede, deren Wortlaut, soweit er im Laufe der Jahre mir nicht entschwunden ist, ich hier möglichst genau wiedergeben will.
Nach einigen geheimnisvollen pantomimischen Zeichen, die an einen wunderlich ruhigen und bedächtigen Kellermeister gerichtet waren, erhob sich unser Wirt, nahm eine Haltung an, als ob er vor dem Weltall eine Rede halten wollte, und sprach wie folgt:
»Meine Herren! Da unser distinguierter Freund hier (alle Amerikaner sind ja, wie Sie wissen, geborene Souveräne und demnach distinguiert) im Begriff steht, uns zu verlassen, treibt mich der Geist, dem Gefühl Ausdruck zu geben, welches uns alle in dieser ereignisreichen Stunde beseelt.« (In diesem Augenblick kehrte der Kellermeister mit zwei Flaschen zurück, die Dannevig ergriff und zu allgemeiner Besichtigung hochhielt.) »Bravo! hier halte ich in meiner Hand den edlen und kostbaren Saft, die zur Flüssigkeit verdichtete Quintessenz alles dessen, was reich und schön und süß ist in der Geschichte, im Charakter und Klima von la belle France, einen Saft, nach dem selbst Fürsten der Mund oft vergebens gewässert hat – kurz, eine Flasche Château Yquem. Ich habe meine Gründe, die schönste Blume meines Kellers zu pflücken, bei einer Gelegenheit, wie diese es ist; denn was ich jetzt sagen will, ist in vieler Hinsicht kein Kompliment, und dieser königliche Wein wird nötig sein, um dem Eindruck, den meine Rede hervorbringen könnte, entgegen zu wirken. Mit anderen Worten, ich wünsche, daß die Vortrefflichkeit meines Weins einen Ersatz biete für die Mängel und Härten meiner nachfolgenden Bemerkungen.
»Amerika hat bisher niemals die Wohlthat meiner Wertschätzung genossen, und vielleicht erklärt das zum Teil die Unreife und Roheit seiner gegenwärtigen Zustände. Jetzt hat es nun einen voll befähigten Sendling zu uns herübergeschickt, der dorthin getreulich meine Ansichten berichten wird, und wenn er seine Sache gut macht, dann mögen Sie auf gewaltige Umwälzungen jenseits des Oceans in kommenden Jahrzehnten gefaßt sein. Um mit dem Anfang zu beginnen: Der amerikanische Kontinent in seiner Ausdehnung von Pol zu Pol, mit seiner merkwürdigen Verengung in der Mitte, erschien mir in meinen Knabenjahren stets wie ein der Welt über den Rücken geworfener doppelter Sack. Der symbolische Sinn dieser Gestalt war mir damals nicht völlig klar, jetzt aber glaube ich, ihre wahre Bedeutung zu erkennen. Während die Jahrhunderte mit ihrer wechselnden Bildung über Europa dahinrollten, wurde es dem Allmächtigen klar, daß eine geräumige Rumpelkammer nötig sei, um all den unnützen Plunder, der zu der veränderten Lage der Dinge nicht mehr paßte, zur ewigen Aufbewahrung darin beiseite zu packen. Wie man nun wohl in einer Rumpelkammer unter einer Menge wirklichen Plunders häufig einen Gegenstand von hohem und seltenem Werte findet, so kann man auch in Amerika unter all dem Auswurf der Menschheit bisweilen durch das Funkeln eines echten Edelsteins von Menschen überrascht werden. Unser Freund hier, ich brauche das nicht hinzuzufügen, ist solch ein Edelstein, wenngleich geschnitten nach der Mode des vorigen Jahrhunderts, als die Menschen im Jagen nach Freiheit und anderen trügerischen Beuten zu Wilden wurden und nach Erschöpfung aller zahmeren Arten der Zerstreuung sich damit unterhielten, einander die Köpfe abzuschlagen. Fern sei es von mir, eine so barbarische Geschmacksrichtung bei meinem geehrten Gast auch nur für möglich zu halten. Ich wünsche nur darauf hinzuweisen, daß das Land, von dem er stammt, die revolutionären Ketzereien, die wir im vorigen Jahrhundert gehabt haben, noch nicht durchgemacht hat, daß sein Volk noch in jenen unklaren Fieberphantasien lebt, von denen Europa nur durch einen langen und ernstlichen Aderlaß geheilt wurde. Für mich ist es immer ein unlösliches Rätsel gewesen, wie ein Mann, der die ›Alte Welt‹ gesehen hat, bei klarem Verstande ein solches Land wie Amerika zu beständigem Aufenthalt wählen kann. Ich für mein Teil würde niemals daran denken, einen solchen Schritt zu thun, ich müßte mich denn zuvor der Reihe nach mit allen übrigen Ländern der Erde verfeindet haben, und da das menschliche Leben für ein solches Experiment zu kurz ist, denke ich, niemals die Gastfreundschaft Bruder Jonathans unter seinem eigenen Dache in Anspruch zu nehmen.
»Was Südamerika betrifft, so habe ich niemals den Nutzen seines Daseins für die Weltordnung entdecken können, wenn es nicht einfach als Ballast auf die südliche Hemisphäre geworfen wurde, um das Umschlagen der Weltkugeln zu verhüten.
»Nun, die Moral dieser erbaulichen Bemerkungen ist die, daß ich meinen Gast auffordern wollte, den Mißgriff, den er in der Wahl seines Geburtslandes gethan hat, sobald als möglich wieder gut zu machen. Wie der Mensch nie vorsichtig genug sein kann in der Wahl seiner Eltern, so kann er auch bei der Wahl seines Heimatslandes die Vorsicht nicht übertreiben. Mein letztes Wort zu dir ist: ›Brich dein Zelt ab und baue es da wieder auf, wo die Menschheit, das Staatswesen und die Kochkunst in einem vorgerückteren Stadium der Entwickelung sich befinden!‹ Freunde, mit dem Wunsche der baldigen Rückkehr unseres Gastes laßt uns auf seine Gesundheit trinken!«
Ich antwortete mit vielleicht unnötiger Heftigkeit auf diese hochmütige Rede, und ein sehr hitzig geführter Wortstreit war die Folge. Als die Gesellschaft endlich aufbrach, legte Dannevig, voll Besorgnis, mich verletzt zu haben, vertraulich seinen Arm auf meine Schulter, zog mich von der Thür zurück und drängte mich auf einen Lehnstuhl nieder.
»Sehen Sie mich an!« sagte er, indem er mir gegenüber Platz nahm. »Sie und ich, wir dürfen nicht anders denn als Freunde voneinander scheiden. Es war nicht meine Absicht, Ihnen gegenüber den Beschützer zu spielen, und wenn meine närrische Rede einen solchen Eindruck auf Sie gemacht hat, bitte ich Sie um Vergebung.«
Er streckte mir seine lange, schöne Hand entgegen, nach kurzem Zögern schlug ich ein und der Friede war geschlossen.
»Zünden Sie sich eine andere Cigarre an,« fuhr er fort und warf sich auf einen mit Damast überzogenen Fauteuil mir gegenüber. »Ich bin heute in mitteilsamer Laune und möchte Ihnen etwas erzählen. Ich fühle durchaus das Bedürfnis, mein Herz einmal vor jemand auszuschütten, und das Schicksal weist mich auf Sie, als auf den einzigen hin, dem ich mit Ruhe meine Geständnisse anvertrauen darf. Uebermorgen liegt zwischen uns der Ocean, und wenn die Wahrung meines Geheimnisses Ihnen zu drückend erscheint, wenn es Ihre Verschwiegenheit auf eine zu harte Probe stellt, so thut mir Ihre Indiskretion keinen Schaden. Hören Sie also. – Wahrscheinlich ist Ihnen doch das Stadtgespräch zu Ohren gekommen, das meinen Namen mit dem der Gräfin von Brehm in Verbindung bringt?«
Ich nickte bejahend.
»Nun, meine Bescheidenheit verbietet mir, zu sagen, inwieweit jenes Gerücht wahr ist. Aber thatsächlich ist, daß sie mir die unzweideutigsten Beweise ihrer Gunst gegeben hat. Von einem Manne, der so viel von der Welt gesehen hat, wie ich, kann man natürlich nicht erwarten, daß er vom Standpunkt der Sentimentalität aus eine solche Leidenschaft erwidert; aber von ihrem – wie soll ich sagen?« ...
»Sagen Sie, vom finanziellen Gesichtspunkt aus betrachtet, ist sie Ihrer Beachtung nicht unwert,« warf ich ein, unfähig, meinen Widerwillen zu verbergen.
»Nun ja,« fuhr er in aller Ruhe fort. »Sie haben das Richtige getroffen. Indessen bin ich auch durchaus nicht blind für ihre bezaubernden Reize. Zudem hat die Gräfin eine verborgene Ader von Stolz in ihrem Charakter, der sie mit der Zeit meinem Herzen teuer machen könnte. Gestern abend zum Beispiel waren wir aus dem Ball bei dem Baron v. P..., und wir beide tanzten fast ununterbrochen miteinander. Während wir nun nach dem Text einer berauschenden Melodie durch den Saal flogen, flüsterte ich ihr im Gefühl meiner Sicherheit halb scherzend ins Ohr: ›Gräfin, was würden Sie sagen, wenn ich um Ihre Hand anhielte?‹ ›Halten Sie um meine Hand an, und Sie werden sehen,‹ antwortete sie ernst, und dabei traf mich ein flammender Blick aus ihren großen schwarzen Augen, und ich schämte mich fast meiner unüberlegten Worte. Natürlich wagte ich es an dem Abende und an dem Orte nicht, die entscheidende Frage zu stellen, obgleich die Versuchung für mich groß war. Nun, das zeigt doch, daß die Frau Geist hat, um nicht mehr zu sagen. Was denken Sie darüber?«
»Ich denke,« antwortete ich mit scharfer Betonung, »daß ich, wenn ich ein Freund der Gräfin von Brehm wäre, mich morgen zu ihr begeben und sie beschwören würde, alsbald jeden Verkehr mit Ihnen abzubrechen.«
»Bei Jupiter!« rief er laut lachend aus, »wenn ich ein Freund der Gräfin von Brehm wäre, würde ich genau dasselbe thun, da ich aber ihr Liebhaber bin, so kann man von mir nicht erwarten, daß ich den Fall von einem so uneigennützigen Gesichtspunkt aus betrachte. Zudem wäre das für mich verlorene Mühe, denn entre nous, sie ist zu sehr in mich verliebt.«
Ich fühlte, daß ich bei längerem Bleiben meine Ruhe ihm gegenüber unmöglich länger bewahren konnte. Ich erhob mich deshalb ohne Umstände und zog meinen Ueberrock an, mit dem Vorgeben, ich sei müde und fühle das Bedürfnis, vor meiner Einschiffung am nächsten Morgen einige Stunden zu schlafen.
»Nun,« sagte er und schüttelte mir dabei herzlich die Hand, als wir uns in der Halle verabschiedeten, »wenn der Zufall Sie jemals wieder zu einem Besuch nach Dänemark führen sollte, müssen Sie mir versprechen, mich aufzusuchen. Sie werden mir stets ein lieber Gast auf meiner zukünftigen Besitzung sein.«
*
Etwa drei Jahre später saß ich hinter meinem Redaktionspult in einer Zeitungsredaktion in Chicago, und die Erinnerung an den glücklichen Winter, den ich in Kopenhagen verlebt hatte, war mir nahezu aus dem Gedächtnis entschwunden. Da wurden, es war früh am Morgen, die Postsachen gebracht und unter meinen Briefen fand ich ein Schreiben von einem Freunde in Dänemark, mit dem ich noch gelegentlich korrespondierte. In dem Briefe las ich unter anderem folgendes:
»Seit Sie uns verlassen haben, ist es mit Dannevig unaufhaltsam abwärts gegangen, und zuletzt stand er so, daß nur seine Würde als Ritter des Dannebrogordens ihn vor völligem Untergang bewahrte. Etwa vor einem Monat verschwand er plötzlich vom gesellschaftlichen Horizont, und das Gerücht sagt, er sei vor seinen zahlreichen Gläubigern geflohen und befinde sich wahrscheinlich auf dem Wege nach Amerika. Während er wie bisher auf großem Fuße weiter lebte, versiegten allmählich seine Hilfsquellen, welcher Art immer dieselben sein mochten. Wenn man dem allgemeinen Gerede Glauben schenken darf, lebte er während der letzten beiden Jahre von der Aussicht auf seine Vermählung mit der Gräfin von Brehm, eine Aussicht, die sich in Kopenhagen stets zu barem Gelde machen ließ. Die Gräfin hielt, nebenbei gesagt, an ihrer Liebe zu ihm unwandelbar fest, und er hätte sie vielleicht schon längst zum Altar geführt, wenn die Familie der Gräfin der beabsichtigten Heirat nicht so entschieden entgegen gewesen wäre. Der alte Graf that, wie man erzählt, einen Schwur, sie zu enterben, wenn sie jemals wieder seinen Namen vor ihm erwähne, und die, welche ihn kennen, sind fest überzeugt, daß er sein Wort gehalten hätte. Die Gräfin dagegen war gern bereit, Dannevig zuliebe ein solches Opfer zu bringen, aber jetzt ließ sich dieser durch seine feige, berechnende Vorsicht zu einem thörichten Schritt verleiten. Er zögerte und zögerte, und zwar lange genug, um schließlich zehn andere Frauen, selbst wenn sie aus weniger hohem Stande wären und mit ihrer Liebe kein so schweres Opfer brächten, wie es bei ihr der Fall ist, um die Geduld zu bringen. Nun geht das Gerücht, daß der alte Graf, um ihn auf jeden Fall von seiner Tochter zu entfernen, ihm den bestimmten Vorschlag machte, alle seine Schulden zu bezahlen und ihm noch ein hübsches Mehr für die Reisekosten zu geben, wenn er sich bereit finden lasse, das Königreich für einen gewissen Zeitraum von Jahren zu verlassen. Allem Anschein nach ist Dannevig thöricht genug gewesen, dieses Anerbieten anzunehmen, und es würde mich daher nicht überraschen, wenn Sie binnen kurzem von ihm dort drüben etwas hören, in welchem Falle ich darauf rechne, daß Sie mich über sein Thun und Treiben auf dem Laufenden erhalten werden. Ein Ritter vom Dannebrog ist, wie Sie wissen, eine zu hervorragende Persönlichkeit, um in den Wogen Ihrer alles gleich machenden Demokratie vollständig zu verschwinden. Seien Sie überzeugt, wenn Dannevig auf einer öden Insel gestrandet wäre, auf die eine oder andere Art würde er es doch möglich machen, die Aufmerksamkeit des Weltalls auf sein Dasein zu lenken. Er hat, wie Sie wissen, für ein Leben in der Verborgenheit einmal kein Talent, es steckt in ihm etwas von einem Cäsar, und ich zittere für das Schicksal Ihrer Konstitution, falls er längere Zeit bei Ihnen dort drüben bleiben sollte.«
Vier Monate waren seit dem Eintreffen dieses Briefes vergangen, und ich hatte fast die Erwartung (ich will nicht sagen, die Hoffnung) aufgegeben, Dannevig bei mir zu sehen, da öffnete sich eines Morgens die Thür meines Bureaus und ein großer, blondhaariger Mann trat ein. Mit einer gewissen, nachlässigen Grazie, an der ich ihn alsbald hätte erkennen sollen, trat er an mein Pult und streckte mir seine Hand entgegen.
»Hallo, alter Knabe!« sagte er mit einem schwachen, müden Lächeln; »wie geht es dir denn? – Du scheinst mich wohl nicht zu erkennen.«
»Himmel!« rief ich. »Dannevig! – Nein, ich erkannte Sie nicht. Wie Sie sich verändert haben!«
Er nahm den Hut ab und warf sich in einen Stuhl mir gegenüber. Seine großen, nichtssagenden Augen hefteten sich auf die meinen mit einem halb übermütigen, halb rechtfertigenden Blick, als ob er entschlossen sei, zu einer verzweifelten Lage die beste Miene zu machen. Sein einst so stolzer Schnurbart hing wie verzagt hernieder und sein unrasiertes Gesicht sah unbeschreiblich eingefallen und verlebt aus. Aller Glanz schien aus seinen Zügen verschwunden zu sein, und mit ihm hatte sein Gesicht die Hälfte seiner früheren Schönheit und all seine Würde verloren.
»Dannevig,« sagte ich mit dem Tone des vollen mir zu Gebote stehenden Mitgefühls, »was ist mit Ihnen geschehen? Soll ich, Sie beim Worte nehmend, glauben, daß Sie mit der ganzen Welt sich verfeindet haben und daß dieses Land jetzt Ihre letzte Zufluchtsstätte ist?«
»Nun,« antwortete er ausweichend, »das möchte ich nicht gerade sagen. Es ist eher Ihre abscheuliche demokratische Küche, die mich zu Grunde gerichtet. Ich habe nicht eine vernünftige Mahlzeit bekommen, seit ich meinen Fuß auf diesen verwünschten Kontinent gesetzt habe. Ein alles durchdringender plebejischer Geruch nach Republikanismus haftet an allem und jedem, was man hier genießt, gerade genug, um auch den gesundesten Appetit zu Grunde zu richten, und dazu ein gewisses barbarisches Einerlei des Speisezettels, das selbst einen Diogenes zur Verzweiflung bringen würde. Mag doch der Teufel einmal Ihre ledernen Beefsteaks, so zähe wie die Prosa des Tacitus, holen und Ihren unbeschreiblich geschmacklosen Buchweizen und Ihre schweren, melancholischen Weine, und ich schwöre darauf, Sie würden nie wieder etwas von ihm hören!«
»So, das genügt, Dannevig!« rief ich lachend. »Sie haben jetzt mehr als genug gesagt, um mich von Ihrer Identität zu überzeugen. Ich gestehe, ich war zweifelhaft, ob Sie es wirklich selbst sein könnten, aber Sie haben meine letzten Zweifel zerstreut. Es war meine Absicht, Sie heute zu mir zu Tisch zu bitten, aber Sie haben mich ganz und gar entmutigt. Sie wissen, ich lebe ganz als Junggeselle und ich habe keinen Château Yquem und keinen Fasan à la Sainte Alliance, oder wie all die schönen Dinge sonst heißen mögen, an welche Ihre herrlichen Tage im Café Anglais Sie vielleicht gewöhnt haben.«
»Das thut nichts. Ihre Gesellschaft wird mich einigermaßen mit dem Republikanismus Ihrer Tafel versöhnen. Uebrigens ohne Umschweife gesagt, können Sie mir dreißig Dollar leihen? Ich habe meinen einzigen anständigen Anzug für jenen Betrag verpfändet, und in meinem gegenwärtigen Kostüm komme ich mir entsetzlich plebejisch vor, beinahe wie mein eigener Kellermeister, und – was noch schlimmer ist – ich behandle mich selbst dementsprechend. Ich habe es bisher nie geglaubt, wie sehr die angeborene Würde eines Mannes durch seine Kleidung beeinträchtigt werden kann. Nun noch eines: Ich bin durchaus genötigt, etwas zu arbeiten, und nach Ihrem Aussehen zu urteilen, möchte ich fast sagen, daß der Journalismus ein recht einträgliches Geschäft zu sein scheint. Nun, könnten Sie mir vielleicht die eine oder die andere Anstellung bei der Redaktion Ihrer Zeitung verschaffen? Wenn Sie zum Beispiel einen Pariser Korrespondenten brauchen, dazu bin ich gerade der rechte Mann. Ich kenne Paris in und auswendig, und mit allen maßgebenden Persönlichkeiten in Frankreich habe ich mein Glas Wein getrunken.«
»Aber wir würden Ihnen wohl kaum so viel zahlen können, daß Sie billigerweise die Reise auf unsere Kosten machen könnten.«
O Sancta Simplicitas! Nein, mein Junge, solche Absichten habe ich nicht. Ich kann die ganze Sache, und zwar vollkommen plausibel, hier unter Ihrem Dache abmachen; und bei einigem Studium der auswärtigen Telegramme möchte ich mich verpflichten, Thiers und Jules Favre selbst zu überzeugen, daß ich ihr Mienenspiel vorgestern abend von meiner Privatloge in der Oper aus beobachtete, daß meine Augen durch ihr Schlüsselloch schauten, während sie ihre Morgentoilette vornahmen, und daß ich als Lauscher bei ihren geheimsten Beratungen zugegen war. Was ich auch immer sein mag, ich hoffe, Sie halten mich doch nicht für ein unerfahrenes Kind?«
»Nein,« antwortete ich, durch seine leichtherzige Auffassung zu heiterer Laune gestimmt. »Es wäre vielleicht gut für Sie, wenn Sie etwas mehr von einem solchen wären. Aber als Pariser Korrespondenten könnten wir Sie niemals engagieren, am allerwenigsten auf die von Ihnen vorgeschlagenen Bedingungen hin. Wenn es mir nun aber auch gelingt, Ihnen eine Anstellung zu verschaffen, beherrschen Sie das Englische hinreichend, um mit Leichtigkeit in dieser Sprache zu schreiben?«
»Ich sehe, Sie sind geneigt, Ihren heimatlichen Skepticismus in vollem Maße auf mich anzuwenden. Aber für mich hat es niemals etwas gegeben, was ich nicht thun konnte. Zuerst freilich würde ich mich vielleicht etwas auf Ihr Korrekturlesen verlassen müssen, aber ich wage zu behaupten, daß ich, noch ehe viele Monate vergehen, auf eigenen Füßen stehen würde.«
Nach einigem weiteren Hin- und Herreden kamen wir dahin überein, daß ich mich für ihn verwenden würde, und nach einem Besuch bei dem Pfandleiher, bei welchem Dannevig seine »Würde« deponiert hatte, trennten wir uns mit dem Versprechen, uns beim Mittagstisch wieder zu treffen.
*
Es war gewiß eine eigenartige Stellung für einen Ritter vom Dannebrog, vertrauten Freund von Fürsten und Vornehmen und Ex-Habitué des Café Anglais, ein gewöhnlicher Reporter für eine Chicagoer Zeitung zu sein. Und doch war dies die Stellung, zu deren Annahme mein Freund (nach einigen kühnen Versuchen in litterarischer und Kunstkritik) sich schließlich genötigt sah. Als Kunstkritiker wäre er vielleicht erfolgreich gewesen, wenn die Kunst des Westens seinem eigenen schwer zu befriedigenden und hoch entwickelten Geschmack nur etwas mehr entsprechend gewesen wäre. So wie die Sachen lagen, hatte seine Thätigkeit die Folge gehabt, in noch nicht vierzehn Tagen die ganze Künstlerschaft gegen unsere Zeitung in Wut zu bringen, und da einige Vertreter derselben mit den einflußreichsten Aktionären unseres Zeitungsunternehmens persönlich befreundet waren, so wurde seinem zerstörenden Eifer durch einen strikten Befehl dieser Autoritäten, gegen deren Willen es keine Berufung gibt, Einhalt gethan. Auf dem Gebiet der litterarischen Kritik hatte er mit ähnlichem Mißgeschick zu kämpfen. Er hielt fest an seiner Ansicht, daß das Durchlesen eines Buches notwendig das freie Urteil des Kritikers ungebührlich beeinträchtigen müsse, und daß ein mit feiner litterarischer Nase begabter Mann nach sorgfältigem Studium des Titelblattes und einem flüchtigen Blick auf die Vorrede sich ein durchaus verständiges Urteil zu bilden imstande sei. Ein Mann, der ein Buch schreibe, sei selbstverständlich in der Täuschung befangen, weiser oder besser als die große Mehrzahl seiner Mitmenschen zu sein, und man erweise ihm daher einen moralischen Dienst, wenn man ihn von seinem Irrtum überzeuge. Wenn ein Schriftsteller behauptet, »daß sein Werk eine Lücke in der Litteratur ausfülle«, so sei das eine sträfliche Ueberhebung, die aus moralischen Gründen eine Züchtigung verdiene; wenn der Autor seinen Lesern sage, »er habe nur auf die dringenden Bitten seiner Freunde zu seiner Arbeit sich entschlossen«, so sei es nur recht und billig, der Meinung Ausdruck zu geben, daß seine Freunde sehr lange Ohren gehabt haben müßten. Nichtsdestoweniger bildeten etwa einen Monat lang die litterarischen Kritiken Dannevigs einen interessanten und Aufsehen erregenden Teil unserer Zeitung; man konnte sie am zutreffendsten bezeichnen als geistreiche kleine Essays voll scharfen, epigrammatischen Witzes über irgend einen durch das Titelblatt eben gangbarer Bücher angeregten Vorwurf. Als jedoch der erste Monat zu Ende ging, begannen die Büchersendungen an unser Bureau allmählich seltener zu werden, und nach Ablauf eines zweiten Monats hatten wir für einen litterarischen Kritiker weiter keine Verwendung. Mein Freund wollte nun also als Reporter seinen letzten Versuch machen.
Zu einer der ersten Proben seiner Thätigkeit in dieser seiner neuen Würde gab ihm ein Massenmeeting Gelegenheit, das anläßlich einer wichtigen Municipalwahl veranstaltet wurde. Da ich Bedenken trug, seinen »Bericht« ohne Revision in Druck zu geben, entschloß ich mich, zwei oder drei Stunden Schlaf zu opfern und seine Rückkehr abzuwarten. Aber die Nacht rückte vor, es schlug zwölf, eins und zwei, und kein Dannevig ließ sich sehen. Ich begann unruhig zu werden; unsere letzte Platte ging um vier Uhr in die Presse und ich hatte anderthalb Spalten für seinen erwarteten Bericht offen gelassen. Da ich nicht gern zu totem Füllstoff greifen mochte, machte ich in aller Eile einen Auszug aus einem neu erschienenen Monatsheft und übergab ihn dem Werkführer.
Am nächsten Tage gegen Mittag überbrachte mir ein Schutzmann folgendes mit Bleistift auf ein Notizbuchblatt geschriebenes Billet:
»Lieber Freund!
»Ich hielt gestern abend eine Rede, und zwar eine gute Rede, über die Bedrückung der Menschheit; aber ihre Wirkung auf meine Zuhörer war, das mindeste zu sagen, seltsam. Auch ihre Folgen waren, soweit ich persönlich davon betroffen wurde, nichts weniger als angenehm. Als ich mich heute Morgen in meinem Taschenspiegel betrachte, finde ich, daß meine Nase einen unverhältnismäßigen Umfang gewonnen hat, ganz abgesehen von einer ungewöhnlichen, seitlichen Entwickelung. Wenn Sie die Güte haben wollen, den Herrn, der in seiner Gefälligkeit Ihnen dieses mein Schreiben zu überbringen übernommen hat, nach meinem derzeitigen Aufenthalt zu begleiten, werde ich Ihnen weitere Erklärungen über die Sachlage geben. Nebenbei gesagt, es ist durchaus nötig, daß Sie kommen.
In Eile der Ihrige
Viktor J. St. D. Dannevig,
R. d. D.-O.«
Ich fand Dannevig, wie ich erwartet hatte, in dem sogenannten Rüsthaus (dem Stadtgefängnis) in anmutiger Unterhaltung mit einem halben Dutzend Polizeibeamten, denen er mit unnachahmlicher Grazie und gutem Humor seine Abenteuer vom vorigen Abend erzählte. Er war zu sehr vertieft in seine Erzählung, um meine Ankunft zu bemerken, und ich hielt es nicht für geraten, ihn zu unterbrechen.
»Sie können sich denken, meine Herren,« sagte er soeben, indem er seine Worte mit den lebhaftesten Gestikulationen begleitete, »welchen Eindruck die Berührung einer plebejischen Faust mit meinem zarten Kinn auf mich machen mußte. In der That, meine Herren, ich war so überrascht, daß ich buchstäblich das Gleichgewicht verlor. Ich nahm, wie Sie ja ohne Zweifel selbst wissen, für mich nur das Recht in Anspruch, das mir als einem freien Bürger zusteht, Protest zu erheben gegen die Anmaßungen einer zügellosen Oligarchie, welche gegenwärtig diese schöne Stadt regiert. Mein Fall ist genau der des Cajus Gracchus, welcher allerdings auch, wie ich zugeben muß, einen ähnlichen Lohn davontrug.«
»Aber Sie waren betrunken,« erwiderte eine rauhe Stimme aus seiner Zuhörerschaft. »Sinnlos betrunken.«
»Betrunken!« rief Dannevig schnell mit einer Gebärde würdevoller Abwehr. »Ich lege Ihnen als gebildeten und erfahrenen Männern die Frage vor: Wie wollen Sie jenen Zustand des Leibes und der Seele definieren, den man volkstümlich mit dem Worte ›Trunkenheit‹ bezeichnet? Ich war eben nur angenehm aufgeheitert, soweit bei der Beschaffenheit des gemeinen Fusels, den man in diesem gesegneten Lande zu trinken pflegt, von Aufheiterung die Rede sein kann. Nun, wenn ich in den Tagen meines Glückes die Ehre gehabt hätte, Ihre Bekanntschaft zu machen, da hätte es mir großes Vergnügen bereitet, Ihre Geschmacksbegriffe in Bezug auf Wein und alkoholische Getränke etwas aufzubessern. Diese Mischgetränke, die man hier zu Lande so hoch hält, sind meiner Meinung nach äußerst demoralisierend.«
Jetzt schien es mir nun doch hohe Zeit, diesen Redefluß zu unterbrechen; ich trat auf den Redner zu und legte meine Hand auf seine Schulter.
»Dannevig,« sagte ich, »ich habe keine Zeit zu verlieren. Lassen Sie mich alsbald diese Angelegenheit für Sie ins reine bringen.«
»In einem Augenblick werde ich Ihnen zur Verfügung stehen,« antwortete er mit einer graziösen Handbewegung, und damit setzte er für weitere fünf Minuten seinen Vortrag über die verderblichen Wirkungen der Mischgetränke fort.
Nach einem Besuch im Amtszimmer des Richters, einem kurzen Verhör und Bezahlung einer Geldbuße machten wir uns auf den Heimweg. Dannevig, der sich in ausnehmend liebenswürdiger Laune fühlte, bot mir seinen Arm, und als wir am Ausgang wieder an der Gruppe von Polizeibeamten vorbeikamen, zog Dannevig höflich seinen zerknitterten Hut vor ihnen ab und wünschte ihnen scherzhaft einen guten Morgen. Das Kreuz des Dannebrog hing mit seinem roten Bande am Knopfloch seines Rockes, dessen Vorderseite durch die hinterlassenen Spuren von eingetrocknetem Punsch buchstäblich glasiert war.
»Mein Gesichtstypus zeigt, wie Sie bemerken werden,« sagte er, als wir einen vorüberfahrenden Omnibus anriefen, »einige sehr auffallende Abweichungen vom klassischen Ideal. Doch es liegt wenigstens ein Trost für mich in dem Gedanken, daß er wahrscheinlich bald wieder seine normale Gestalt annehmen wird.«
Natürlich berichteten alle Morgen- und Abendzeitungen unter flammenden Ueberschriften von Dannevigs Auftreten als Redner und von seiner schmachvollen, gewaltsamen Entfernung aus dem Massenmeeting, und der schonungsloseste Spott wurde über ihn, wie über die Zeitung, deren Vertreter er war, ausgegossen. Eine zweite Probe ähnlicher Art machte der journalistischen Carriere Dannevigs ein Ende, ich durfte es nicht wagen, mich noch weiterhin seiner Sache anzunehmen, und er wurde in Ungnade entlassen.
Für einige Wochen verschwand er aus meinem Gesichtskreis, und ich begann zu hoffen, er habe sich der Alten Welt wieder zugewendet, wo Talente solcher Art, wie er sie besaß, aus dem gesellschaftlichen Markt sich besser verwerten lassen. Aber in dieser meiner Hoffnung sollte ich schmerzlich enttäuscht werden.
*
Eines Tages, als ich eben in einem von Journalisten viel besuchten Restaurant mein Frühstück bestellt hatte, trat ein Deutscher, Namens Pfeifer, einer der größten Kapitalisten unserer Zeitung, herein und setzte sich zu mir an den Tisch.
Es war ein etwas ungeschlachter und korpulenter Herr mit einem sehr runden, kahlen Kopf und dem selbstbewußten Auftreten des reichen Mannes.
»Ich habe Sie an allen Ecken und Enden gesucht,« begann er in seiner Muttersprache. »Sie wissen, es findet morgen abend ein Ball im Turnverein statt – es soll ja, wie man sagt, etwas Großartiges sein. Wahrscheinlich hat man Ihnen doch Billets dazu geschickt?«.
»Ja, zwei.«
»Und Sie werden hingehen?«
»Ich hatte mir schon halb und halb vorgenommen, Fenner oder sonst jemand hinzuschicken.«
Nun wurde Herr Pfeifer außerordentlich vertraulich und setzte mir in geheimnisvollem Flüsterton auseinander, weshalb er mich so eifrig gesucht habe. Die Sache sei die, er habe eine Nichte, wirklich ein allerliebstes Kind, die aus Milwaukee zu ihm zum Besuch gekommen sei und den Winter hier zubringen sollte. Nun habe das arme Kind ihr Herz daran gehängt, morgen den Turnerball mitzumachen, und er kenne, aufrichtig gesagt, nur sehr wenige junge Herren, denen er bei einer solchen Gelegenheit sie gern anvertrauen möchte. Ob ich nun wohl die Formlosigkeit seiner Bitte gütig entschuldigen und, ohne der jungen Dame von seinem Anteil bei der Angelegenheit etwas zu sagen, ihr meine Begleitung zum Ball anbieten wolle? Ob ich mich verpflichten wolle, als Beschützer für sie zu sorgen und sie bei guter Zeit nach Hause zu bringen? Und ob ich endlich, um jeden Argwohn bei Fräulein Pfeifer unmöglich zu machen, ihn heute besuchen wolle, um bei ihm zu speisen und zugleich ihre Bekanntschaft zu machen?
Eine Gelegenheit von der Hand zu weisen, die Bekanntschaft einer jungen Dame zu machen, welche auch nur entfernt der Bezeichnung als »ein allerliebstes Kind« entsprach, war meinen Grundsätzen zuwider, und ich brauche nicht hinzuzufügen, daß ich im vorliegenden Fall demselben treu blieb.
Ein Deutscher, selbst ein solcher, den man nicht zu den wirklich Gebildeten zählen möchte, hat gleichwohl für sein Leben stets einen gewissen dunklen historischen Hintergrund, und deshalb ist ihm auch jene Effekthascherei mit barbarischem Prunk zuwider, wodurch man zuweilen so unangenehm in den Häusern von Amerikanern berührt wird, die sich mit ihrem Reichtum nicht auf ein entsprechendes Maß von Bildung zu stützen vermögen. Das war mein erster Gedanke, als ich das Besuchszimmer des Herrn Pfeifer betrat, und damit bat ich denselben zugleich im Herzen um Verzeihung für mein bisheriges, die geistige Ueberlegenheit hervorkehrendes Auftreten ihm gegenüber. Die schweren, soliden Möbel, die ernsten und nicht ganz unbedeutenden Gemälde, ja selbst die Farbe der Wände, alles machte den Eindruck eines behaglichen, obgleich etwas düsteren Komforts. Auch seine Nichte schien, obwohl es ihrer Gestalt keineswegs an Anmut fehlte, an diesem alles durchdringenden Ausdruck echt deutscher Solidität und häuslichen Behagens mehr oder weniger Anteil zu haben. Sie war eine von den Frauengestalten, die dazu geboren zu sein scheinen, irgend einen unglücklichen Mann unverdient glücklich zu machen. (Ich fühle stets eine gewisse unbestimmte Regung des Hasses gegen jeden Mann, selbst wenn ich ihn nicht kenne, der ein liebenswertes, herziges, junges Weib heimführt. Es ist ein für allemal meine Ueberzeugung, daß ihm ein unverdientes Glück damit zuteil wird.) Ein lieblicher, hausmütterlicher Ernst lag in der ruhigen Würde ihres Wesens, und doch glaubte ich in der Tiefe ihrer anscheinend so ruhigen Augen schlummernd eine Fülle echt jungfräulicher Empfindungen zu bemerken. Ihre Gesichtsbildung war entschieden germanisiert; nicht auffallend schön vielleicht, aber ungemein anmutend. Kein störender Zug darin, kein schroffes Hervortreten einzelner Linien desselben beeinträchtigte die ruhige Schönheit des Gesamtbildes. Ihr blondes Haar war oben auf dem Kopf in einen schweren Knoten geschlungen, und die ungesuchte und doch geschmackvolle Einfachheit ihrer Toilette war, wie ich das auffaßte, nichts anderes, als ihr Charakter in seiner Uebertragung auf die Bekleidungskunst. – Während ich so dastand und sie betrachtete, nahmen meine Empfindungen unwillkürlich die Gestalt jener weihevollen Heineschen Strophe an, und kaum konnte ich der Versuchung widerstehen, sie zu citieren:
»Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt',
Betend, daß Gott dich erhalte,
So rein und schön und hold.«
In meinem stillen Vergnügen, aber nicht ohne ein gewisses Wohlgefallen, machte ich die Bemerkung, daß sie sich mit ihrer Schleppe noch nicht so recht zu behelfen wußte, und aus dem Umstande, daß sie dann und wann einen verstohlenen Blick auf dieselbe warf, schloß ich, daß ihre Erfahrung in Bezug auf lange Kleider erst neueren Datums sein müsse. Ich machte ferner, als sie mir zum Gruß entgegentrat, die Wahrnehmung, daß ihre Hände der Arbeit nicht ungewohnt waren; das konnte indes meine Hochachtung vor ihr nur erhöhen.
Das Diner, ebenso ernst und solide, wie alles in Herrn Pfeifers Haus, ging ohne irgend einen bemerkenswerten Zwischenfall vorüber. Herr Pfeifer sprach beharrlich mit mir von Geschäftsangelegenheiten, und die junge Dame mir zur Seite nahm das als etwas ganz Selbstverständliches hin, ohne anscheinend auch nur den leisesten Anspruch auf den kleinsten Bruchteil meiner Aufmerksamkeit zu erheben. Als das lange und langweilige Diner endlich zu Ende war, setzte sie sich auf die Aufforderung ihres Onkels ans Piano und sang in tiefem, mächtigem Kontraalt das von Schubert so prächtig in Musik gesetzte Heinesche Lied von unerwiderter Liebe:
»Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht,
Ewig verlor'nes Lieb! Ich grolle nicht.
Wie du auch strahlst in Diamantenpracht,
Es fällt kein Strahl in deines Herzens Nacht.«
Es lag eine Leidenschaft und ein Pathos in ihrer Stimme, das mich geradezu in Erstaunen setzte, und als ich mich nun beeilte, ihr meinen Dank auszusprechen für das Vergnügen, das sie mir bereitet habe, nahm sie meine Komplimente mit schönem, ungekünsteltem Enthusiasmus auf, als gälten dieselben nur dem Komponisten und könnten gar nicht auch zugleich an sie gerichtet sein.
»Es liegt ein so tiefer Schmerz in jedem Wort und in jeder Note,« sagte sie mit glühenden Wangen; »er zürnt ihr nicht, sagt er, und doch fühlt man, daß noch eine heimliche Bitterkeit in seinem Inneren brennt.«
Nun trug sie das Lied: »Auf Flügeln des Gesanges« vor, und dann setzten wir uns nieder und sprachen für den Rest des Abends von Musik und von Heine. Herr Pfeifer machte es sich in seinem geräumigen Lehnstuhl bequem, rauchte bedächtig und mit stillem Behagen seine Pfeife und warf dann und wann eine verächtliche Bemerkung über unseren Lieblingsdichter ein.
»Er hat sein Vaterland schändlich verleumdet!« sagte er. »Und einen Mann, der das thun kann, vermag ich nicht zu achten. Zudem war er ein erbärmlicher, noch dazu von seinem Glauben abtrünniger Jude, und da ich, wo ich es irgend vermeiden kann, mit Juden nicht gern etwas zu thun habe, so habe ich niemals auch nur eines seiner Bücher gelesen.«
»Aber Onkel,« erwiderte darauf seine Nichte mit Wärme, »er konnte doch sicherlich nicht dafür, daß er ein Jude war. Und niemals hat jemand Deutschland mehr geliebt als er, wenn er auch harte Dinge über sein Vaterland gesagt hat.«
»Das ist eine Sache, von der du nichts verstehst, Hildegard,« sagte Herr Pfeifer mit väterlicher Entschiedenheit und blies dabei eine dicke Rauchwolke zur Decke empor.
Fräulein Hildegard schien einen Augenblick zu einer Erwiderung geneigt, aber sie nahm den Ausspruch überlegener Weisheit mit unterwürfigem Stillschweigen hin. Der Alte gab mir einen leisen, vertraulichen Wink, als ob er sagen wollte: »Sehen Sie, man muß den jungen Mädchen nur ihren Standpunkt klar machen« – und bald darauf nahm ich meinen Abschied.
*
Etwa eine Viertelstunde später, als wir verabredet hatten, fuhr ich an dem Ballabend mit einem Wagen bei Fräulein Hildegard vor und fand sie zu meinem Erstaunen bereits in der Pracht ihrer Balltoilette mitten in dem dunklen Besuchszimmer stehen, denn offenbar fürchtete sie sich, in ihrem Ballstaat sich niederzusetzen. Ich hatte mich darauf gefaßt gemacht, noch eine gute halbe Stunde warten zu müssen, und nun mußte ich mir selbst über meine anscheinende Unpünktlichkeit Vorwürfe machen.
»Weshalb sollte ich es Ihnen nicht gestehen,« sagte sie, als ich mit dem Bemühen, meine Person auf den kleinstmöglichen Raum zusammenzudrängen, neben ihr im Wagen saß, »das ist heute mein erster Ball. Ich kenne auch keinen von den Herren, die heute abend dort sein werden, aber ich kenne zwei oder drei junge Damen aus Milwaukee, die versprochen haben zu kommen, und so werde ich mich wenigstens, selbst wenn ich nicht viel tanzen sollte, nicht einsam fühlen.«
»Ich hoffe, Sie werden mir doch den ersten Platz auf Ihrer Tanzkarte einräumen,« antwortete ich. »Wie viele Tänze wollen Sie mir gewähren?«
»Soviel Sie nur immer wollen. Onkel hat es sich angelegen sein lassen, mir einzuprägen, daß ich Ihnen ohne Widerspruch zu gehorchen und mich ganz Ihrem Willen zu fügen habe.«
»Das war sehr unrecht von ihm. Es kann nicht meine Absicht sein, eine Gunstbezeugung von Ihnen zu beanspruchen, die Sie mir nicht aus freiem Willen gewähren wollen.«
»So habe ich das nicht gemeint,« antwortete sie, eifrig abwehrend, und bei dem flüchtigen Schein einer Gasflamme sah ich für einen Augenblick ihr strahlendes, unschuldiges Gesicht. »Wie könnte ich vergessen, daß ich Ihrer Freundlichkeit all das Vergnügen verdanke, das ich heute abend haben werde; und wenn Sie mit mir zu tanzen wünschen, so ist das natürlich sehr freundlich von Ihnen.«
»Nun, das ist nicht viel besser,« antwortete ich leise mit vorwurfsvollem Ton, während ich mich selbst dabei im Herzen schuldig fühlte. »Daraufhin einen Anspruch an Sie zu begründen, würde mir noch mehr widerstreben.«
»Oh, was rede ich doch für Unsinn zusammen!« rief sie im Tone halb scherzhaften Bedauerns aus. »Ich will es Ihnen nur sagen, ich bin gar so vergnügt, und wenn ich so recht glücklich bin, dann rede ich jedesmal närrisches Zeug.«
Beim Eintritt in den prächtig erleuchteten und geschmückten Ballsaal bemerkte ich zu meiner unangenehmen Ueberraschung, daß die Gesellschaft ein wenig gemischter war, als ich erwartet hatte. Ich trug deshalb kein Bedenken, meinen Namen für vier Walzer und eine Quadrille auf der Tanzkarte meiner schönen Partnerin einzutragen, welche, wie ich gleichfalls bemerkte, große Aufmerksamkeit im Saale erregte, zum Teil vielleicht durch ihre Schönheit und zum Teil durch ihre prachtvolle Toilette. Sie trug ein Seidenkleid von frischer, schimmernder, meergrüner Farbe, wie man sie an klaren Sommertagen in den norwegischen Fjorden sieht; die Täuschung war eine so vollkommene, daß ich, wenn ich mit ihr tanzte, jeden Augenblick Seegras und blaßgrüne Wassergewächse an seinem Saum hervorsprossen zu sehen erwartete, so daß mir die weißen Feldliliensträuße in ihrem Haar, wenn ihr sanfter Wohlgeruch mir entgegenwehte, fast wie eine Anomalie erschienen. Sie tanzte nicht mit wildem Sichgehenlassen, sondern mit leichter rhythmischer Anmut, gleichsam als wäre die Musik in ihre Seele gedrungen und als gehorchten ihre Glieder nur einem inneren harmonischen Antrieb. Als wir den ersten Walzer getanzt hatten, überließ ich sie der Gesellschaft einer ihrer Freundinnen aus Milwaukee, um einen geeigneten Tänzer für sie zu suchen, dessen Berührung ich für sie nicht geradezu als eine Entweihung empfinden würde. Ich hatte etwa die Mitte des Saales erreicht, als ein freundschaftlicher Schlag auf meine Schulter mich veranlaßte, mich umzudrehen.
»Dannevig!« rief ich, fast starr vor Ueberraschung; »wo kommen Sie her? Beim Zeus! Sie kommen mir hier so unerwartet, wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel.«
»Welcher den Alten als ein Zeichen galt,« erwiderte Dannevig schlagfertig, »daß Zeus zürne und neue Opfer verlange. Nun, das Opfer, welches ich von Ihnen verlange, ist, daß Sie mich jenem reizenden Kinde vorstellen, welches als Ihre Dame zu gewinnen Sie das unverdiente Glück gehabt haben.«
»Sie verstehen es, Ihre Bilder geschickt zu wählen,« antwortete ich ruhig, »aber selbst die Römer waren, wie Sie wissen, bei aller Herzenshärte, die man ihnen vorwirft, nicht grausam genug, um Menschenopfer zu gestatten. Und auch ich, der ich hier die Rolle des Pontifex spiele, möchte mich daher auf keinen Fall eines solchen Frevels schuldig machen.«
Eine wahrhaft fürchterliche Veränderung ging bei diesen Worten in Dannevigs Gesicht vor. Ein Blick von geradezu tierischer Wut entstellte für einen kurzen Augenblick seine hübschen Züge; seine Augen flammten, seine Stirn zog sich zu dichten Falten zusammen.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich weigern, mich vorzustellen?« fragte er mit heiserem Tone.
»Ebendas wollte ich damit sagen,« antwortete ich in gut gespielter Gelassenheit.
»Und glauben Sie wirklich,« fuhr er fort, während seine Stirn sich allmählich glättete, »daß Sie mich hindern können, die Bekanntschaft jenes Mädchens zu machen, wenn es mich gelüstet, Ihnen zum Trotz das zu thun?«
»Ich glaube nichts derartiges,« lautete meine Antwort, »aber Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, daß Sie mich nicht einschüchtern können. Unter allen Umständen soll jene Dame Ihre Bekanntschaft nicht mir verdanken.«
Einen Augenblick blieb Dannevig wie nachdenkend stehen, dann fuhr er, mit einem jener plötzlichen, für ihn so charakteristischen Gefühlswechsel in gut kameradschaftlichem Tone fort: »Nun, das ist wirklich spaßhaft! Sie haben wieder einmal bei S... das lederige Beefsteak gegessen, vor dem ich Sie so oft gewarnt habe, und, was noch schlimmer ist, Sie haben zum Nachtisch Fleischpasteten gehabt. Ihre Verdauung ist in bedenklicher Unordnung. Wenn alte Freunde wie Sie und ich über so ein dummes Ding von Mädchen in Streit geraten, das ist ja gerade, als wenn ein Mann einen Selbstmord begeht, weil er sich mit einer Stecknadel die Hand geritzt hat. Wenn wirklich Ihr Herz hier mitspricht, so will ich Ihnen nicht in den Weg treten. Ich wünsche Ihnen Glück, obwohl ich, nach dem, was ich gesehen, zu urteilen, fast sagen möchte, Sie hätten eine bessere Wahl treffen können. Auf Wiedersehen!«
Leichten Schrittes bewegte er sich durch den Saal und verlor sich in der Menge. Nachdem ich Fräulein Hildegard einige mir befreundete Journalisten als Tänzer zugeführt und mit großer Geduld ihren begeisterten Worten des Entzückens über ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit zugehört hatte, suchte ich mir einen Platz am oberen Ende des Saales und beobachtete mit der alles bemängelnden Unzufriedenheit des Philosophen die tanzenden Paare. Dannevigs Abschiedsworte hatten mich mit einer gewissen Unruhe erfüllt; ich wußte, daß sie nicht aufrichtig waren und ich befürchtete, daß er vielleicht eben jetzt damit umgehe, einen unheilvollen Plan so oder so zur Ausführung zu bringen. In diesem Augenblick kam ein Paar in wirbelndem Tanze gerade auf mich zu; eine blaßgrüne, seidene Schleppe streifte meinen Fuß und ein blitzender Strahl vom Ordenskreuz des Dannebrog fiel mir ins Auge. Ein wilder Schrei entfuhr mir; mein Blut war in stürmischer Wallung. Ich befand mich, ich fühlte es, in gefährlicher Aufregung. Als wie gewöhnlich das beschleunigte Tempo des Orchesters daran erinnerte, daß der Tanz zu Ende war, konnte ich es nicht über mich gewinnen, meine schöne Partnerin aufzusuchen und fühlte mich auch nicht dazu aufgelegt, meine üble Stimmung zu verbergen, als ich sie leichten und eiligen Schrittes auf mich zueilen sah. Sie selbst war augenscheinlich zu erregt, um die Veränderung wahrzunehmen, die mit mir, seit wir uns getrennt hatten, vorgegangen war.
»Wenn ich jetzt,« sagte sie mit so viel Schelmerei im Ton, als eine Frau von ihrer Eigenart dessen fähig ist, »zu Ihnen mit einer Bitte komme, die Ihnen vielleicht ein wenig seltsam erscheinen wird, so dürfen Sie mir das nicht übel deuten. Ihre mir bewiesene Güte und Freundlichkeit ist es allein, die mich den Mut finden läßt, Sie um eine Gunst zu bitten, die von Ihnen nicht gewährt zu erhalten, mich wirklich mehr überraschen würde, als ihre Gewährung. Die Sache ist die: Es ist da ein Herr, der gar so gern mit mir tanzen möchte, und meine Tänze sind schon sämtlich vergeben. Würden Sie sich nun wohl entschließen können, einen von den Ihrigen aufzugeben? Einmal weiß ich ja doch, daß es bei Ihnen nur aus Pflichtgefühl geschah, wenn – wenn – wenn Sie so viele nahmen,« endigte sie endlich den Satz, als ich mich nicht geneigt finden ließ, ihr zu Hilfe zu kommen.
»Wir wollen über meine Beweggründe nicht streiten, mein Fräulein,« sprach ich mit so viel Freundlichkeit im Ton, als mir zu Gebote stand; »aber ehe ich Ihr an sich nicht unbilliges Verlangen erfülle, müssen Sie schon so gütig sein, mir zu sagen, wer der Herr ist, dem mein Opfer zu gute kommen soll.«
»Sein Name ist Dannevig. Er ist ein Ritter des Dannebrogordens, und zudem, wie er mir sagt, ein vertrauter Freund von Ihnen.«
»Dann sagen Sie ihm wohl, mein Fräulein, daß ihn unsere Freundschaft wohl hätte veranlassen sollen, seine Bitte persönlich bei mir anzubringen, statt Sie als seine Botin zu senden.«
Eine glühende Röte überflog ihr Gesicht, dann wandte sie sich kurz um und schritt trotzig und mit der Miene beleidigter Majestät durch den Saal nach dessen unterem Ende.
Die Nacht rückte vor. Die Stunde für das Souper kam heran und die Höflichkeit nötigte mich, Fräulein Pfeifer aufzusuchen. Dann nahmen wir in einer Ecke Platz und aßen und plauderten dabei, aber gleichgültig und eben nicht in heiterer Laune, indem wir mit scheinbarem Interesse bei ganz unbedeutenden Gesprächsgegenständen verweilten und wie nach stillschweigendem Uebereinkommen es vermieden, uns mit unseren Blicken zu begegnen. Dann trat ein Herr heran, um sie wieder zum Tanze aufzufordern, und ich fühlte mich im ersten Augenblick dadurch fast erleichtert. Und doch überkam mich schon im nächsten Moment ein leidenschaftliches Bedauern; ich empfand ihre Abwesenheit fast wie einen persönlichen Verlust und hätte sie jetzt gern zurückgerufen, um ihr mit der Offenheit des Freundes die Gründe darzulegen, die mich zu einer so rauhen und gewaltsamen Störung ihrer Freude bewogen hatten.
Ich weiß nicht, wielange ich so in dumpfem und mürrischem Hinbrüten dasaß, während von Zeit zu Zeit, wenn der Zorn in mir aufstieg, eine wilde Verwünschung gegen Dannevig sich mir auf die Lippen drängte. Was ging mich, alles in allem, dieses Mädchen an? Ich war doch sicherlich nicht in sie verliebt. Und wenn sie durchaus in ihr Verderben laufen wollte, was nötigte mich denn, sie daran zu hindern? Und doch, sie war ein Weib, ein liebreiches, reines und treuherziges Weib, und auf jeden Fall war es meine Pflicht, ihr die Augen zu öffnen, und ich gelobte mir, ihr die Wahrheit zu sagen, selbst auf die Gefahr hin, mir ihren Haß dadurch zuzuziehen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß es einige Minuten über zwei war; nicht ohne Gewissensbisse erinnerte ich mich des Versprechens, welches ich Herrn Pfeifer gegeben hatte, und beschloß, mich der Verantwortlichkeit, welche ich aus freiem Willen auf mich genommen hatte, nicht zu entziehen. Ich durcheilte den Saal nach allen Richtungen, ich durchforschte mit den Augen die tanzenden Paare, ich schickte ein Mädchen mit einem kurzen Auftrage in das Ankleidezimmer, aber Fräulein Hildegard war nirgends zu sehen. Jetzt ging mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf; ich ergriff meinen Hut und eilte in die Restaurationsräume hinab. Dort fand ich sie, in einem von dem allgemeinen Gastzimmer durch niedergelassene Vorhänge abgetrennten Raume, bei einem Glase Rheinwein und einer Schale Eis voller Fröhlichkeit und in heiterem Geplauder mit Dannevig.
»Fräulein,« sagte ich, mit gemessener Höflichkeit zu ihr herantretend, »es thut mir leid, daß ich genötigt bin dieses angenehme tête-à-tête zu unterbrechen; aber der Wagen ist vorgefahren und ich muß Sie bitten, mir das Vergnügen Ihrer Begleitung zu gewähren.«
»Nun,« rief sie im Tone eifrigen Bedauerns, während ihre Augen noch mit bezaubertem Blick auf Dannevigs Gesicht geheftet waren, »ist es denn in der That so durchaus nötig, daß wir gerade jetzt aufbrechen? Bestehen Sie wirklich darauf? Herr Dannevig erzählte mir soeben einige reizende Abenteuer aus seinem Leben in Dänemark.«
»Es freut mich, Ihnen sagen zu können,« antwortete ich, »daß ich mit Herrn Dannevigs Abenteuern hinreichend vertraut bin, um vollkommen in der Lage zu sein, seinen lückenhaften Bericht zu ergänzen. Es wird mir ein großes Vergnügen bereiten, die Unterhaltung fortzusetzen ...«
» Sacr-r-r-ré nom de Dieu!« fuhr Dannevig, von seinem Sitze emporspringend, auf. »Das ist mehr, als ich ertragen kann!« und eine Karte aus seiner Brusttasche hervorziehend, schleuderte er sie vor mich hin auf den Tisch. »Darf ich um die Ehre eines Zusammentreffens mit Ihnen bitten?« fuhr er in ruhigerem Tone fort. »Es ist hohe Zeit, daß wir beide einmal unsere Differenzen auf dem einzig möglichen Wege miteinander austragen.«
»Herr Dannevig,« erwiderte ich im Tone kalter Ironie, der indessen durchaus nicht meiner augenblicklichen Gemütsstimmung entsprach, »die erste Forderung des Gesetzbuches der Ehre, auf welches Sie sich berufen, ist, wie Sie wissen, daß die streitenden Parteien an Geburt und gesellschaftlicher Stellung einander ebenbürtig sein müssen. Nun können Sie sich des Vorzuges rühmen, ein Ritter vom Dannebrog zu sein, während ich keinen solchen Anspruch auf Auszeichnung habe. Sie sehen also, daß Ihr Vorschlag absurd ist.«
Fräulein Hildegard hatte sich inzwischen erhoben, ich bot ihr meinen Arm und mit tiefer Verbeugung vor dem zürnenden Helden verließen wir das Zimmer. Während unserer Heimfahrt wurde kaum ein Wort gesprochen; der Wagen rasselte über das holperige Pflaster und der Kutscher knallte mit seiner Peitsche, während wir in den entgegengesetzten Ecken des Wagens einander gegenüber saßen und uns beide unseren besonderen, nicht eben heiteren Gedanken überließen. Als wir nun aber zusammen die große Freitreppe vor Herrn Pfeifers Hause hinaufgestiegen waren und ich eben im Begriffe stand, die Hausthür zu öffnen, streckte sie mir plötzlich ihre Hand entgegen; ich ergriff dieselbe und hielt sie fest mit der meinigen umschlossen.
»Sie sind mir,« sprach sie in versöhnlichem Tone, »ein zu lieber Freund, als daß ich im Streit mit Ihnen auseinandergehen möchte. Wollen Sie mir nicht frei und offen sagen, weshalb Sie so entschieden dagegen waren, mich mit Herrn Dannevig tanzen zu lassen?«
»Von Herzen gern, sobald Sie mir Gelegenheit dazu geben wollen,« antwortete ich mit Wärme. »Inzwischen werden Sie meine Gründe auf Treue und Glauben annehmen und meinem Worte vertrauen müssen, daß es sehr gewichtige Gründe waren. Sie dürfen überzeugt sein, daß ich mich der Gefahr, Sie zu beleidigen, nicht ausgesetzt hätte, wenn es nicht meine feste Ueberzeugung wäre, daß Dannevig ein Mann ist, mit dem ungestraft keine junge Dame Bekanntschaft schließt. Ich kenne ihn seit vielen Jahren und spreche kein voreiliges Urteil.«
»Ich fürchte, Sie sind ein sehr strenger Richter,« erwiderte sie leise und mit betrübter Stimme; »gute Nacht!«
Im Laufe der nächsten Monate kam mir aus verschiedenen Quellen gar mancherlei über das ungeregelte Leben Dannevigs zu Ohren. Er hatte bei einer der Einwanderungsgesellschaften eine Stellung als Dolmetscher erhalten und reiste als solcher allmonatlich zweimal nach Quebeck, um die Einwanderer in Empfang zu nehmen und nach Chicago zu führen. Indessen wollte sich mir keine Gelegenheit darbieten, Fräulein Pfeifer die Geschichte seiner Vergangenheit zu enthüllen, obgleich ich fortgesetzt ein häufiger Gast im Hause des Herrn Pfeifer war und gar manchen angenehmen Abend mit ihr und ihrem Onkel verbrachte. Ich tröstete mich indessen mit dem Gedanken, daß es einer solchen Enthüllung jetzt nicht mehr bedürfe, und fühlte mich nicht bewogen, einen Mann zu verfolgen, dessen Schändlichkeiten, wie ich glaubte, auf alle Fälle mit ihren Folgen nur ihn selbst treffen könnten. Immerhin aber war ich, da ich sein Talent für die Verfolgung eines einmal gefaßten Planes im Dunklen hinlänglich kannte, vorsichtig genug, Herrn Pfeifer auf seine Person warnend aufmerksam zu machen, natürlich ohne dabei auch nur andeutungsweise seiner Nichte zu erwähnen. Eines Abends, als wir beide im vertraulichen Genuß einer Pfeife allein in seinem Bibliothekzimmer saßen, erzählte ich ihm, einzig und allein als zu der geheimen Geschichte unserer Zeitung gehörend, einige von den sehr fragwürdigen Streichen, die Dannevig, im Dienste unserer Zeitung stehend, ausgeführt hatte. Herrn Pfeifer machte das gewaltigen Spaß, und er schwur, dieser Dannevig sei der interessanteste Kerl, von dem er jemals gehört habe.
Einige Tage später wurde ich durch einen Besuch Dannevigs überrascht, der wieder einmal obenauf zu sein schien. Und doch, jenes unnennbare aristokratische Air war dahin, und auch in seiner Gesichtsbildung, deren vollkommene Schönheit mich bei unserer ersten Begegnung bezaubert hatte, war eine Veränderung vorgegangen, allerdings eine zu flüchtige Veränderung, um sie mit Worten zu bezeichnen. Um es in möglichster Kürze zu sagen, der Wechsel des Aufenthalts hatte sich ihm nicht zuträglich gezeigt. Wie die schönsten europäischen Reben, so war auch er auf unserem Boden heimisch geworden, aber er war dabei zu etwas Gemeinerem geworden, als wozu die Natur ihn bestimmt hatte. Er sprach mit überwältigendem Redefluß über alles und jedes unter der Sonne, spielte, wie er es in der That immer gethan hatte, mir gegenüber den Beschützer und Gönner, und das alles mit einer gewissen überströmenden Liebenswürdigkeit, die an Unverschämtheit vergebens ihresgleichen gesucht hätte.
»Uebrigens, da wir gerade vom Bier sprechen,« rief er mit gut gespielter Gleichgültigkeit aus, »was macht denn Ihre Freundin, Fräulein Pfeifer? Ihr Alter ist ja wohl mit einem ziemlich beträchtlichen Kapital bei dieser Zeitung beteiligt, der Hauptaktionär, nicht wahr?«
»Daraufhin mit der jungen Dame ein Liebesverhältnis anzuknüpfen, würde sich nicht lohnen, Dannevig,« antwortete ich in ernstem Tone, da ich wohl merkte, daß er nicht ohne diplomatische Absichten zu mir gekommen war. »Herr Pfeifer ist erstlich einmal nicht ihr Vater und zweitens hat er mindestens ein Dutzend andere Erben.«
»Ein Liebesverhältnis anknüpfen mit Fräulein Pfeifer!« rief er mit herzlichem Lachen; »eher fast würde ich das noch beim General Grant versuchen. Alles in allem genommen, es haftet an ihr, geistig und körperlich, eine gewisse Schwerfälligkeit und Zähigkeit; eine professorale Bedächtigkeit des Denkens, die für mich etwas geradezu Beängstigendes hat. Sie ist eben das unschuldige Ergebnis des Biertrinkens von zwanzig Generationen.«
»Wie wäre es, wenn wir den Gesprächsgegenstand wechselten, Dannevig,« unterbrach ich ihn ziemlich ungeduldig.
»Nun, wenn Sie nicht das wunderlichste Exemplar von einem Menschen sind, das mir jemals über den Weg gelaufen ist!« erwiderte er lachend. »Sie halten das Mädchen doch nicht etwa für eine Heilige?«
»Ja, ich halte sie dafür!« donnerte ich, »und Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie ihren Namen in meiner Gegenwart nicht noch einmal erwähnten, oder ich könnte in die Versuchung kommen, etwas zu thun, was mir vielleicht leid sein würde.«
»Himmel!« rief er, den Thürknopf erfassend, »ich wußte nicht, daß Sie heute in Ihrer gefährlichen Laune wären. Sie hätten einen doch wenigstens darauf aufmerksam machen sollen. Denken Sie doch künftig, wenn Sie Ihren schlechten Tag haben, daran, einen Zettel vor Ihre Thür zu hängen, mit der Inschrift ›Gefährlich – nicht zu betreten!‹ Dann weiß ich doch, wann ich Sie nicht besuchen darf. Guten Morgen.«
*
Am Seeufer, wenig nördlich von Lincoln Park, hatte Herr Pfeifer eine kleine reizende Villa, wo er in idyllischer Ruhe die Sommermonate verbrachte und mit krankhaftem Interesse der Kultivierung europäischer Reben oblag. Hier fand ich mich eines Sonnabends um die Mitte des Juni in den Abendstunden ein, da ich eine Einladung des Besitzers zu einem Besuche über Sonntag angenommen hatte. Ich zog die Glocke und fragte nach Herrn Pfeifer. Er sei unerwartet zur Stadt gerufen worden, teilte mir die Dienerin mit, werde aber augenblicklich zurückkehren, das junge Fräulein werde ich wahrscheinlich im Garten finden. Da mir gerade damals ein tête-à-tête mit Fräulein Hildegard nicht unerwünscht gewesen wäre, suchte ich mir vorsichtigen Fußes meinen Weg durch die Blumenbeete, deren buntes Farbengemisch in der Dämmerung nur noch undeutlich zu erkennen war. Eine lange, hochrote Wolkenwand zeichnete sich am westlichen Horizont ab, und hier und da zeigte sich ein einzelner Stern in dem matten Blau des abendlich verdunkelten Himmels. Grüne, gelbe und rote Lichter waren wie Punkte über die Fläche des Sees verstreut, und die Wogen schlugen in langsamem Takt und mit gurgelndem Geräusch gegen das Ufer unter dem Gartenzaun. Hin und wieder unterbrach der schrille Ton der Pfeife eines kleinen Dampfers die herrschende Stille, wie eine unziemlich lebhafte Bemerkung bei einer ernsten und feierlichen Unterhaltung. Ich hatte den Zweck, der mich hierher führte, halb und halb vergessen und setzte ziellos meinen Spaziergang fort, als ich auf einmal durch den Ton menschlicher Stimmen überrascht wurde, die anscheinend aus einer dichten Weinlaube am unteren Ende des Weges hervordrangen.
»Weshalb willst du mir nicht Glauben schenken, liebes Herz?« hörte ich jemand sagen. Eine gewaltige Erregung – Furcht, Angst und Haß – erschütterte mich bis in die Tiefe meiner Seele. »Dein Zweifel würde Tyndall zur Verzweiflung bringen. Wozu brauchen Engel so zweifelsüchtig zu sein? Stets mißtrauest du mir und verdüsterst mir das Leben durch deine unbegründete Furcht.«
»Aber, Victor,« antwortete eine andere Stimme, die keine andere, als die Hildegards war, »er ist sicherlich ein sehr guter Mensch und würde mir nichts sagen, von dessen Wahrheit er nicht überzeugt wäre. Warum hat er mich nun so eindringlich vor dir gewarnt? Bei all meiner Liebe zu dir kann ich mich doch des Gefühls nicht erwehren, daß etwas in deiner Vergangenheit liegt, was du vor mir verbirgst.«
»Wenn du auf jenen feigen Verleumder hören willst, dann ist es für mich allerdings zwecklos, dich von meiner Aufrichtigkeit überzeugen zu wollen. Aber wenn du es nun durchaus wissen mußt – doch bedenke, daß ich es dir nur sage, weil du mich dazu zwingst – ich habe ihn einmal, weil mein Gewissen mich dazu trieb, so zu handeln – an der Ausführung seines Planes in einem wenig ehrenhaften Liebesabenteuer verhindert, und seitdem verfolgt er mich unausgesetzt mit seinem Haß und sucht jetzt an mir Rache zu nehmen. Bist du nun befriedigt?«
»Nein, Victor, nein. Ich bin nicht befriedigt. Nicht weil ich auf die Worte anderer gehört habe, peinige ich mich mit diesen quälenden Fragen. Bisweilen überkommt mich eine schreckliche Angst, und wenngleich mein Herz sich dagegen auflehnt, ich vermag sie nicht niederzukämpfen. Ich habe das Gefühl, als stehe ein dunkler Schatten, eine Person, ob lebend oder tot, zwischen uns und werde dich stets von mir fernhalten. Es ist erschrecklich, Victor, aber eben jetzt wieder habe ich dieses Gefühl.«
»Und all meine Liebe, meine erste und einzige Leidenschaft, mein Leben, welches ich dir mit Freuden zu Füßen legen würde – das alles also gilt nichts, aus keinem anderen Grunde, als weil ein thörichter Traum dich verfolgt und ängstigt. O, du bist krank, mein Herz, deine Nerven sind leidend.«
»Nein, nein, küsse mich nicht. Nicht heute, Victor, nicht heute.«
Die entsetzliche Entdeckung hatte mich völlig betäubt; ich stand fest wie gebannt und vermochte weder einen Laut hervorzubringen, noch mich zu bewegen. Doch ein plötzliches Rascheln der Blätter drinnen in der Laube löste meine Sinne aus ihrer Erstarrung, und mit zwei mächtigen Schritten stand ich vor dem Eingang der Laube. Dannevig, mich alsbald erkennend, schlüpfte gewandt hinaus, und im nächsten Augenblick hörte ich ihn über den Gartenzaun springen und auf dem weichen Sande des Ufers davonlaufen. Fräulein Hildegard stand regungslos und trotzig vor mir im schwachen Scheine des Zwielichts, und das hörbare Staccato ihrer Atemzüge verriet meinem Ohre die Erregung, welche die mehr und mehr zunehmende Dunkelheit meinen Augen verbarg. Ein überwältigendes Gefühl des Mitleids überkam mich, wie für jemand, dem eine tödliche, unheilbare Wunde geschlagen wurde. Ach, daß Einfalt und Aufrichtigkeit der Seele und der gerühmte weibliche Instinkt einen so armseligen Schutz gegen die Hinterlist der Schlange gewährt! Doch ich wußte, daß mit Gründen mit ihr zu streiten für den Augenblick vergeblich sein und die Sache nur noch verschlimmern müsse.
»Fräulein,« sagte ich, dicht vor sie hintretend und meine Hand leicht aus ihren Arm legend, »von ganzem Herzen beklage ich diesen Vorfall.«
»Bitte, thun Sie sich keinen Zwang an, mir eine ganz überflüssige Teilnahme zu bezeigen,« antwortete sie in einem Tone, dessen erzwungener Stolz wahrhaft rührend, war. »Ich wünsche keine Anschuldigungen gegen Herrn Dannevig aus Ihrem Munde zu hören. Was er nicht angemessen findet, mir selbst zu sagen, will ich von keinem anderen hören.«
»Ich habe Ihnen keine Enthüllungen aufzudrängen versucht, mein Fräulein. Zudem sehe ich, daß Sie sich mit Ihrer Miene beleidigten Stolzes nur vor sich selbst zu rechtfertigen suchen. Sie wollen sich nur selbst an Ihre Standhaftigkeit glauben machen, indem Sie einen Angriff von meiner Seite herausfordern. Wenn die Liebe dahin gekommen ist, Fräulein Hildegard, dann ist der Patient nicht mehr durchaus unheilbar. Nun, um Sie zu überzeugen, daß ich recht habe, wollen Sie mir gütigst einmal gerade ins Auge sehen und mir dann sagen, daß nicht der Schatten eines Zweifels an Herrn Dannevigs Aufrichtigkeit in Ihrem Herzen sich vorfindet, daß Sie glauben, er habe bei einer gewissen Gelegenheit den Tugendhelden mir gegenüber gespielt und in frommem Abscheu mir meine Unredlichkeit vorgeworfen? Können Sie mir ins Auge sehen und mir das dabei sagen?«
»Ja,« rief sie aus, entschlossen in den hellen Mondschein hinaustretend und mit festem Auge meinem Blicke begegnend; aber langsam und allmählich füllten sich ihre Augen mit Thränen, begann ihre Unterlippe zu zucken, und in plötzlicher Bewegung wandte sie sich hinweg und brach in krampfhaftes Weinen aus.
»O nein! Ich kann nicht, ich kann nicht!« schluchzte sie und sank auf den grünen Rasen nieder.
Lange blickte ich voll tiefer Traurigkeit auf sie nieder, während heftiges Schluchzen ihren Körper erschütterte; ein kindliches, inniges Sichgehenlassen lag in ihrem Schmerz, und das beruhigte meine Gedanken, denn es zeigte mir, daß ihre traurige Verblendung nicht hoffnungslos, ihre Wunde nicht so tief war, wie ich gefürchtet hatte.
*
Am Nachmittage des nächsten Tages, als das Diner zu Ende war, schlug Herr Pfeifer vor, einen Spaziergang in den Park zu machen. Hildegard schützte Kopfschmerz vor und bat, zu Hause bleiben zu dürfen.
»Unsinn, Kind,« sagte Herr Pfeifer mit seiner gewöhnlichen gut gemeinten Bestimmtheit. »Wenn du Kopfschmerz hast, dann solltest du erst recht mitkommen. Mach dich nur fertig und laß uns nicht länger warten, als durchaus nötig ist.«
Hildegard fügte sich ohne weitere Einwendungen in den Willen ihres Onkels und bald sahen wir sie in ihrem Promenadenkostüm zurückkehren.
Die Sonne war untergegangen, der Tag war einem herrlichen Abend von ätherischer Klarheit gewichen. Der Mond zog leise zwischen den leichten Sommerwolken dahin und schaute auf das bunte Gewühl der volkreichen Stadt mit jener philosophischen Ruhe hernieder, die dem Monde stets eigen ist, als ob er in seiner luftigen Höhe so unendlich erhaben sei über all die verwirrenden Fragen und Zweifel, von denen unser menschliches Dasein hier unten geplagt wird. Wir waren in den Park eingetreten, der jetzt von festlich gekleideten, Erholung suchenden Menschen belebt war. An einer Stelle trug unter dem grünen Laubdach der Bäume ein Orchester einer mit Entzücken lauschenden deutschen Zuhörerschaft deutsche Musikstücke vor.
»Donnerwetter!« sagte Herr Pfeifer mit enthusiastischer Freude, »das ist ja die Symphonie in E-moll und ganz hübsch gespielt. Hören Sie doch –« und er begann leise und unter lebhaften Gestikulationen die Melodie zu pfeifen – »kommen Sie, wir wollen näher treten und zuhören.«
»Nein, wir wollen lieber hier bleiben, Onkel,« sprach Hildegard dagegen; »ich glaube nicht, daß wir gut thun, näher zu gehen. Sie trinken dort Bier, und es sind so viel abscheuliche Menschen darunter.«
»Unsinn, Kind! Wo hast du denn alle diese dummen Einfälle her? Wo dein Onkel sich nicht scheut, hinzugehen, da wird es dir doch gewiß nichts schaden, wenn du ihm folgst.«
Wir drängten uns also durch die Menge, nahmen unter einem Baume Platz und konnten nun die ganze fröhliche Gesellschaft übersehen, die sich dort um kleine Tische mit mächtigen Krügen voll schäumenden Bieres geschart hatte. Plötzlich ließ sich aus dem unbestimmten und unverständlichen Stimmenlärm, der die Luft um uns her erfüllte, eine einzelne Stimme, etwas lauter als die übrigen, unterscheiden. Schnell wie der Blitz wandten sich meine Augen der Richtung zu, aus welcher die Stimme kam. Dort, nur wenige Schritte von uns entfernt, saß Dannevig zwischen zwei auffallend, aber geschmacklos gekleideten weiblichen Personen. Ein anderer Mann saß ihm am Tisch gegenüber und zwischen ihnen standen ein paar Flaschen und halbgefüllte Gläser. Der Anblick war mir keineswegs neu, und doch erfüllte er mich gerade jetzt mit seltsamem, unaussprechlichem Abscheu. Der Ritter vom Dannebrog benahm sich so liebenswürdig unbefangen, als sitze er daheim am eigenen Herde; aber er sah kläglich herabgekommen aus, der Hut saß ihm hinten auf dem Kopf und das Haar hing ihm in wirren Locken über die Stirn; seine Augen waren schwer und ein wüster Zug von sinnlichem Behagen spielte um seinen Mund.
»Nun, sei nur nicht so spröde, mein Liebchen,« sagte er, indem er seinen Arm vertraulich um die Taille der Person zu seiner Rechten legte; »ich mag deutsche Küsse gern. Ich spreche aus Erfahrung. Engel haben nicht nötig, sich ...«
»Himmel! was fehlt dem Kinde!« rief Herr Pfeifer im Tone höchster Bestürzung. »Du zitterst ja an allen Gliedern. Ich hätte dich bei deinem Kopfschmerz doch nicht veranlassen sollen, auszugehen. Warte hier, ich werde schnell etwas Wasser holen.«
Ehe ich ihn bitten konnte, das mir zu überlassen, war er fort und ich war mit Hildegard allein.
»Lassen Sie uns gehen,« flüsterte sie mit einem tiefen, schaudernden Seufzer und wandte mir mit flehendem Ausdruck ein bleiches Gesicht voll Entsetzen und Abscheu zu.
»Wollen wir nicht Ihren Onkel erwarten?« fragte ich.
»O, ich kann nicht; lassen Sie uns gehen,« wiederholte sie, indem sie meinen Arm ergriff und sich krampfhaft an mich schmiegte.
Wir gingen langsam fort und wurden bald von Herrn Pfeifer eingeholt.
»Wie fühlst du dich, mein Kind?« fragte er ängstlich besorgt.
»O, ich fühle – ich fühle mich – unrein,« flüsterte sie, und wieder schauderte sie zusammen.
*
Zwei Jahre vergingen und ich verlor inzwischen Dannevig vollständig aus den Augen. Ich erfuhr, daß er von der Einwanderungsgesellschaft aus seiner Stellung entlassen war, daß er einige Monate an einem der niedrigsten Theater der Stadt zweite Geige gespielt hatte, und daß er endlich einen kühnen Schritt zur Berühmtheit that, indem er durch die Stimmen der Demokraten als Wahlkandidat für die Stelle des Bezirkssekretärs aufgestellt würde. Ich war indessen treulos genug, darauf hinzuweisen, daß er niemals das Bürgerrecht erlangt habe; eine neue Wahl wurde anberaumt und ein anderer Kandidat aufgestellt.
Bei Pfeifers war ich fortgesetzt ein häufiger Gast, und endlich erzählte ich denn auch Hildegard, auf ihre eigene Anregung, die Geschichte, welche ich ihr so lange vorenthalten hatte. Sie ließ dabei kaum eine leichte Erregung merken, bleich und still, die Hände auf dem Schoße gefaltet, saß sie da und blickte mir ernst ins Gesicht.
Als ich meine Erzählung geendet hatte, erhob sie sich, durchschritt das Zimmer in seiner ganzen Länge, machte dann kehrt und blieb dicht vor mir stehen.
»Das menschliche Leben scheint zuzeiten ein gar nichtiges Ding zu sein, nicht wahr?« sagte sie und schaute mir dabei wieder voll in das Auge.
»Wenn man es vom Standpunkte des Cynikers aus betrachtet, gewiß,« war meine Antwort.
Einen Augenblick blieb sie in Gedanken versunken stehen.
»Habe ich jemals diesen Mann gekannt?« fragte sie, plötzlich zu mir aufsehend.
»Sie wissen es am besten.«
»Dann muß es lange, sehr lange her sein.«
Ein leichtes Zittern durchlief ihre Gestalt. Schweigend drückte sie mir die Hand und verließ das Zimmer.
*
Eines Abends im Sommer des Jahres 1870, um die Zeit, als die Kunde von dem französisch-deutschen Kriege unsere deutschen Mitbürger zu heller Begeisterung entflammte, schlenderte ich, mit großer Befriedigung meinen Gedanken über den Gang der geschichtlichen Ereignisse nachhängend, langsam nach Hause. Etwa zehn Minuten vor der Clark-Street-Brücke sah ich mich plötzlich durch eine dichte Menschenmenge aufgehalten, die sich auf dem Trottoir vor einem deutschen Tanzlokal angesammelt hatte und allem Anschein nach in eifrigem Gespräch über einen interessanten Vorfall sich erging. Mein journalistischer Instinkt veranlaßte mich, stehen zu bleiben und der Unterhaltung zuzuhören.
»Der arme Kerl, mit dem wird es wohl vorbei sein,« sagte jemand. »Aber sie waren beide betrunken; es ließ sich voraussehen, daß es so kommen würde.«
»Ist jemand verwundet?« fragte ich, mich an denjenigen wendend, der mir in der Menge zunächst stand.
»Ja, es war ein armer Kerl von einem Dänen. Er geriet mit einem anderen in Streit wegen des Krieges; meinte, er wolle es unternehmen, allein zehn Deutsche mit der Peitsche vor sich her zu treiben, im schleswig-holsteinischen Kriege habe er das mehr als einmal gethan. Dann kam es zu einer Schlägerei und er wurde erschossen.«
Ich sprach einige Worte mit dem Polizeibeamten vor der Thür und wurde eingelassen. Der Tanzsaal war leer, aber im Hintergrunde des Billardzimmers sah Ich einen Arzt mit aufgeschlagenen Hemdärmeln über einen Mann gebeugt, der ausgestreckt auf einem Billard lag. Ein Aufwärter stand mit einem gefüllten Waschbecken und einem blutigen Handtuch daneben.
»Kennen Sie seinen Namen?« fragte ich den Polizeibeamten.
»Er hieß allgemein der ›dänische Bill‹,« antwortete er. »Kenne ihn schon 'ne gute Zeit; glaube, sein eigentlicher Name war Danborg oder Dan – ... jedenfalls etwas mit Dan – ...«
»Nicht Dannevig?« rief ich.
»Dannevig? Ja, ich glaube, so war's.«
Schnell trat ich jetzt an das Billard. Da lag Dannevig – aber ich möchte sein Aussehen lieber nicht beschreiben. Es schien fast unglaublich, aber dieses Gesicht mit seinen schweren Augenlidern, seiner fettigen Haut und seinen roten Adern zeigte noch eine grauenhafte, verzerrte Aehnlichkeit mit dem edel geschnittenen, herrlich geformten Gesicht des Mannes, den ich einst meinen Freund genannt hatte.
»Beim Zeus!« rief der Arzt mit dem Enthusiasmus des Kenners aus, »welch eine herrliche Gestalt muß das gewesen sein! Kaum jemals in meinem Leben habe ich etwas Schöneres gesehen!«
»Aber er ist nicht tot,« protestierte ich, nicht ohne Besorgnis.
»Nein; aber er hat keine Aussicht, soweit ich das beurteilen kann. Vielleicht lebt er noch bis übermorgen, aber kaum länger. Weiß jemand, wo er wohnt?«
Niemand antwortete.
»Aber, Himmel! Er kann doch nicht hier bleiben!« Es war die Stimme des Aufwärters, der indes seine Worte an keine bestimmte Person gerichtet zu haben schien.
»Ich kenne ihn seit Jahren,« sagte ich; »schaffen Sie ihn nach meiner Wohnung, sie ist nur etwa ein Dutzend Straßenecken von hier entfernt.«
Ein Wagen wurde herbeigeholt, und fort fuhren wir, der Doktor und ich, langsam und vorsichtig, den immer noch Bewußtlosen zwischen uns haltend. Wir legten ihn auf mein Bett und der Arzt verließ mich mit dem Versprechen, noch vor dem nächsten Morgen wiederzukommen.
Bald nach Mitternacht wurde Dannevig unruhig, und als ich zu ihm an das Bett trat, öffnete er mit einem Blick vollen, schrecklichen Bewußtseins die Augen.
»Mit mir ist's nun wohl bald vorbei, alter Freund, nicht wahr?« stöhnte er.
Ich winkte ihm, sich ruhig zu verhalten.
»Nein,« fuhr er mit Anstrengung flüsternd fort, »das hat bei mir keinen Zweck mehr. Ich weiß sehr wohl, wie es mit mir steht; du brauchst dich nicht zu bemühen, mich darüber zu täuschen.«
Einige Zeit lag er nun regungslos, während seine Augen ruhelos im Zimmer umherirrten. Er machte eine Anstrengung zu sprechen, aber seine Worte waren unhörbar. Ich beugte mich über ihn und legte mein Ohr an seinen Mund.
»Kannst – kannst du mir fünf Dollar leihen!«
Ich nickte.
»Du wirst – einen Pfandschein – in meiner Westentasche finden. Die Adresse steht – steht – darauf. Löse ihn ein. Es ist ein Ring. Schicke – ihn – der – der Gräfin von Brehm – mit – mit – meinen Grüßen.« Ein Röcheln erstickte seine Stimme.
Wir verbrachten schweigend mehrere Stunden. Um drei Uhr machte der Doktor einen kurzen Besuch; ich las auf seinem Gesicht, daß Dannevigs Ende nahe war. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die geschlossenen Vorhänge und warfen zitternde Lichtstreifen auf den Teppich. Tiefe Stille herrschte um uns her. Während ich so saß und die verfallene Ruine dieses Körpers betrachtete, wie ihn edler und schöner, für mich wenigstens, ein menschlicher Geist niemals bewohnt hatte, zog die Vergangenheit in lebhaftem Spiegelbilde vor meinem geistigen Auge vorüber, und ein Strom seltsamer Gedanken drang auf mich ein. Da rief mich Dannevig, und wieder beugte ich mich auf ihn nieder.
»Wenn ich – begraben werde,« sagte er in gebrochenem Flüstern, »laß meinen – Orden vom – Dannebrog – auf einem Kissen hinter meinem Sarge tragen.« Und wieder nach einer augenblicklichen Pause: »Ich – ich – habe es – recht bunt getrieben, nicht wahr? Ich – ich – glaube – es wäre für mich – besser gewesen, wenn – wenn ich ein anderer gewesen wäre.«
Eine Stunde später war er tot. Ich selbst und zwei Polizeibeamte folgten ihm zum Grabe; und das Ordenskreuz vom Dannebrog, mit seinem viel befleckten roten Bande, wurde auf einem Samtkissen hinter seinem Sarge getragen.
*
(Ende.)