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Das monotone Rollen der Räder, das Anthony Bard nun schon seit zwei Tagen hörte, gab ihm das seltsame Gefühl, als ob er nicht im Raum vorwärts, sondern in der Zeit rückwärts reise. Mit jeder Meile, die er hinter sich brachte, glaubte er Wochen, Monate, Jahre zurückzugleiten, immer näher und näher dem Beginn seiner Erdentage zu. Er sah und hörte nicht, was um ihn her vorging, achtete nicht auf die Landschaft, die draußen am Fenster vorüberflog ...
Er war schon weit im Westen, als ein Mann zu ihm in den Zug stieg, der die ganze Atmosphäre der Wildnis und der einsamen Berge mit sich hereinbrachte.
Es war auf einer Station in Nebraska, wo Anthony beobachten konnte, daß ein bedeutender Mann nicht körperlich groß zu sein brauchte, um einen imponierenden Eindruck zu machen. Wie Napoleon selbst den riesigsten seiner Marschälle Ehrfurcht einflößte, so wurde auch der kleine, sonnverbrannte Mann von dem Kofferträger mit einer respektvollen Ehrerbietung behandelt, die auf den ersten Blick beinah etwas Komisches hatte. Er war überdies so häßlich, daß man betroffen und verlegen lächeln mußte, wenn man ihn ansah. Beim Bau seines Gesichts hatte der Natur offenbar ein Keil als Modell vorgeschwebt. Die Nase war lang und dünn, die Stirn zurückfliehend, die Lippen schmal. Das Kinn spitzte sich zu einem mathematischen Punkt zu, während nach hinten alle Linien auseinanderflossen. Die immer breiter werdenden Kinnbacken waren dick mit Muskeln bepackt, und die Ohren standen weit vom Kopf ab wie geschwellte Segel. Die Schädeldecke war glatt wie eine Billardkugel, die Haare, die eigentlich dorthin gehörten, schienen nach hinten gerutscht zu sein, denn im Genick wuchs ein wahrer Urwald, der weit über den Rockkragen herabfloß.
Als dieser merkwürdig aussehende Mann das Abteil betreten hatte, blieb er erst eine ganze Weile stehen, ehe er einen Platz wählte. Nach getroffener Wahl faltete er seine Hände im Schoß und saß, die scharfen, kleinen Augen geradeaus gerichtet, drei Stunden regungslos da. Dann erhob er sich und ging nach dem Speisewagen. Anthony folgte ihm, setzte sich zum Essen an den gleichen Tisch und suchte in ein Gespräch mit ihm zu kommen.
»So eine Reise ist recht ermüdend!« sagte er, »zumal man immer die gleiche, öde Szenerie vor Augen hat.«
Der kleine Mann musterte ihn eine Weile durchdringend, bevor er antwortete:
»Diese monotone Ebene war früher einmal durch Büffelherden belebt.«
Anthony sah ihn verblüfft an, warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und fragte dann:
»Haben Sie am Ende noch solche Büffelherden gesehen?«
»Freilich!«
Die Antwort war nicht die kurze, ablehnende eines Menschen, der ungeschoren bleiben will, sondern wirkte nur wie die Feststellung einer nackten Tatsache.
»Wahrhaftig?« fragte Anthony erstaunt. »Für so alt hätte ich Sie, weiß Gott, nicht gehalten!«
Dies Kompliment war offenbar keiner Antwort wert. Der kleine Mann wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Schinken und den Spiegeleiern, die er sich bestellt hatte, zu. Er nahm einen ordentlichen Bissen mit größter Vorsicht auf die Messerklinge und hob diese zum Mund, der sich zu ganz erstaunlicher Größe geöffnet hatte. Im letzten kritischen Augenblick aber rutschte das Ei ab und glitschte auf den Teller zurück.
»Gefehlt!« lachte Anthony auf. Er konnte nichts dafür – diese Bemerkung war ihm ganz ohne seinen Willen entschlüpft.
Der andere sah ihn höchst mißbilligend an.
»Wenn Sie schießen wollen, und jemand stößt Sie gegen den Arm, gerade wenn der Finger den Abzug löst – würden Sie das einen Fehlschuß nennen?« fragte er mit todernstem Gesicht.
»Verzeihen Sie meine Ungezogenheit! Ich wollte Sie natürlich nicht kränken.«
»Ich habe noch nie im Leben gefehlt!« sagte der andere und schob zum Beweise dessen das Ei mit einer eleganten Bewegung in den Mund.
»Darf ich mich Ihnen vorstellen? ... Ich heiße Anthony Bard.«
»Marty Wilkes!«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Sie stammen aus dem Westen, Herr Wilkes?«
»Weiter nach dem Osten, als diesmal, bin ich noch nie gekommen.«
»Und hat es Ihnen dort gefallen?«
»Nein – selbst hier ist mir noch viel zuviel Zivilisation!«
Anthony warf einen erstaunten Blick durchs Fenster auf die unfruchtbare, braune Prärie, die sich draußen endlos dehnte.
»Sie wissen demnach im Westen gut Bescheid?« fragte er.
»Das will ich meinen! Bin überall 'rumgekommen.«
»Dann kennen Sie vielleicht auch das?«
Damit holte Anthony die zusammengelegte Photographie des Farmerhauses am Fuß der beiden Bergriesen aus der Brusttasche, faltete sie auseinander und reichte sie Wilkes. Der betrachtete sie ruhig einen Moment und sagte dann:
»Das sind die ›Kleinen Brüder‹!«
»Wahrhaftig? ... Dann brauch' ich also, um dies Haus zu finden, nur an den Fuß dieser Berge zu reisen.«
»Sechzig Meilen vom Fuß der Berge wird es immerhin noch liegen.«
»Das ist ganz unmöglich. Es sieht doch aus, als ob sie sich direkt hinter ihm erhöben!«
Wilkes gab ihm die Photographie zurück und fuhr stillschweigend mit seinem Essen fort. Nicht etwa, weil er Anthonys Einwand übelgenommen hätte – er war einfach hungrig und ohne jede Neugier.
»Aber das kann doch jeder Mensch sehen!« warf Anthony ein, um sein Gegenüber zum Reden zu verlocken.
»Höchstens einer mit schlechten Augen!«
»Wieso können Sie aber die Entfernung genau auf sechzig Meilen abschätzen?«
»Weil ich dort gewesen bin!«
»Demnach wird also der dicke Baum hier und das Haus nicht schwer zu finden sein. Dazu brauch' ich ja nur einen Kreis von sechzig Meilen Durchmesser um den Berg herum abzusuchen.«
»Das können Sie, wenn Sie soviel überflüssige Zeit haben.«
»Wüßten Sie eine kürzere Methode?«
»Allerdings!«
»Und welche wäre das?«
»Ich würde fünfundfünfzig Meilen vom Fuß der beiden Berge aus direkt in nordöstlicher Richtung zu suchen anfangen.«
»Wie, zum Teufel, kommen Sie gerade darauf?!«
»Ist gar nicht so schwer! Wenn Sie lange genug draußen gewesen wären, hätten Sie's sicher auch gefunden ... Die Gegend dort ist in der Hauptsache Sand und Felsen – Bäume gedeihen nur, wenn sie gegen den eisigen Nordwind geschützt sind. Zu diesem Zweck bilden sich auf der Nordseite der Stämme Moosflechten. Nun sehen Sie sich mal Ihre Photographie näher an. Das Zeug, das da so 'rumhängt wie der Backenbart eines Mannes, der sich wochenlang nicht rasiert hat, ist Moos. In dieser Richtung liegt also Norden. Na – ist der weitere Schluß nicht höchst einfach?!«
»Donnerwetter – haben Sie scharfe Augen!«
»Ich versteh' sie nur zu gebrauchen!«
»Der Grund, warum ich das Haus suche, ist natürlich ...«
»Gründe soll man für sich behalten!«
»Da haben Sie recht! ... Aber Sie sind doch sicher, daß ich auf Ihre Methode den Platz finde?«
»Ich bin keiner Sache sicher – höchstens meines Schießeisens, wenn's dicke Luft gibt.«
»Ein sehr vernünftiges Prinzip! ... Na – wenn ich die mächtige Kiefer finde, werd' ich ja wohl auch das Haus finden.«
»Wahrscheinlich nur die Trümmer davon.«
»Warum?«
»Ihre Photographie ist doch uralt!«
»Dann sind aber bestimmt doch die Bäume noch da!«
»Wenn sie nicht inzwischen gefällt worden sind!«
Anthony schwieg betroffen eine Weile. Schließlich sagte er nachdenklich:
»Ich fürchte, ich werde mich schwer im Westen eingewöhnen. Ich kann zwar gut reiten und ganz anständig schießen – aber vor den Menschen ist mir ein bißchen bange. Nicht nur, daß sie sich anders kleiden – auch ihre Sprache verstehe ich nicht.«
»Unsinn! ... Die Leute da sind Männer und Weiber wie andere auch – ihre Kleider sind aus Wolle und Baumwolle, genau wie anderswo, und was sie sprechen, ist das gleiche Englisch wie Ihrs!«
»Sie glauben also wirklich, daß sich die Menschen im Osten von denen des Westens nicht wesentlich unterscheiden?«
»Höchstens durch die Empfindung für die Schönheit des Westens. Wenn Sie die haben, Kamerad, werden Sie sich bald bei uns sehr wohl fühlen!«
»Wenn Sie diese Äußerung im Osten machen würden, wären die Leute vielleicht geneigt, ein bißchen zu lächeln.«
»Ich würde ihnen das Lächeln schnell austreiben! ... Übrigens hab' ich mal gehört, das Komischste an den Menschen östlich und westlich der Rocky Mountains sei, daß sie alle ...«
Er machte eine Pause, als ob er sich besinnen müsse.
»Nun?« fragte Anthony gespannt. »Was sind alle?«
»Amerikaner, mein lieber Bard!«