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23. Kapitel

Alle Tage die folgten, waren Tage des Kampfes, und deshalb hatte jeder Tag seine besonderen Erlebnisse. Aber so groß war ihre Zahl, daß man genötigt ist, eine Auswahl zu treffen. Sonst würde die Chronik der glorreichen Zeit, in der Weißwolf an der Spitze des Dunkeld-Packs lief, allein dicke Bände füllen und keinen Platz mehr lassen für das, was nachher kam und vielleicht größere Bedeutung hatte.

Vor allen Dingen muß man wissen, wie das Pack auf die Jagd ging. Wir haben sie auf heißer Fährte gesehen, wenn das Pack in geschlossenen Klumpen hetzt, aber das war, wenn das Wild schon gesichtet war. Das schwierigste Geschäft war es gerade, erst eine Jagdbeute zu erspähen. Sie dann zu Fall zu bringen, war verhältnismäßig einfach.

Man muß außerdem bedenken, daß in diesem Jahr die Berge außerordentlich arm an Wild waren. Woher solche unfruchtbaren Jahre kommen, hat noch niemand in befriedigender Weise zu erklären vermocht. Aber die Tatsache besteht, daß in einem Jahr in einem einzigen Distrikt fünfzehnhundert Bälge erbeutet werden und daß im nächsten Jahr derselbe Bezirk noch keine hundert hergibt. Es gibt Leute, die behaupten, daß nach reichen Jahren die weiblichen Tiere zu feist werden, um Nachwuchs zu bringen und daß deshalb die Natur ihre eigene Verschwendung korrigiert und einem Gewimmel von Tieren ein paar verstreute einzelne Geschöpfe folgen läßt. Dann gibt es eine andere Schule, die alles als Ergebnis großer Wanderungen erklären will.

Aber vielleicht war es in Wirklichkeit so, daß von Zeit zu Zeit die Scharen der Kaninchen und der Mäuse von irgendeiner Seuche dezimiert werden, und Kaninchen und Mäuse sind für die fleischfressenden Tiere, was Gras für die Wiederkäuer ist. Dann finden die Fleischfresser, daß die wichtigste Quelle ihres Lebensunterhalts versiegt. Die Schwächeren unter ihnen verkriechen sich in ihre Höhlen und verhungern. Die Starken und Kühnen unternehmen manche lange und verzweifelte Fahrt in bisher unbekannte Bezirke, wo sie bessere Lebensbedingungen erhoffen.

Eines dieser mageren Jahre hatte die San Jacinto-Berge heimgesucht. Um überhaupt ein lebendes Wesen aufzujagen, mußten die Wölfe eine lange Treiberkette bilden, die wie ein riesiges Schleppnetz ein gewaltiges Stück Gelände auf einmal absuchte.

Wenn man sich über die Richtung verständigt hatte, in der die Jagd sich fortbewegen sollte, so liefen La Sombra, Weißwolf und Marco Blanco – der Leitwolf und die zwei klügsten Wölfe des Packs – im gemächlichem Tempo die vereinbarte Mittellinie entlang. Rechts und links, auf den Flügeln, zerstreuten sich die Wölfe in langer Kette.

Sie liefen in wohlabgemessenen Zwischenräumen, die etwa tausend Meter betragen mochten, und im Laufen schnürten sie eifrig im Zickzack hin und her. Wolfseher sind scharf. Wolfsnasen trügen nicht, und erfahrene Wölfe kennen die Verstecke, in denen das Kleinwild sich drückt. So blieb kaum ein Fleckchen undurchsucht.

Da das Pack im ganzen fünfzehn oder sechzehn Wölfe zählte, war das Netz, das sie über das Land hin schleiften, von einem Flügel zum andern, zehn bis zwölf Meilen breit. In einem einzigen Tageslauf suchten sie oft vier- bis fünfhundert Quadratmeilen ab, wenigstens an solchen Tagen, an denen sie der Hunger vorwärtstrieb und sie ernsthaft bei der Sache waren.

Wenn ein Wolf ein Wild erspähte oder witterte, gab er sofort Hals. Seine Nachbarn hörten ihn und gaben den Ruf weiter. In wenigen Sekunden war das Signal die ganze Linie entlanggelaufen und die Flügel begannen langsam gegen die Richtung einzuschwenken, in der, wie das Heulen ihrer Genossen kündete, die Beute zu entfliehen suchte. Wenn die Jagd sich nur ein wenig hinzog, konnte man sicher sein, daß das ganze Pack versammelt war, wenn es galt, den letzten Streich zu führen – gewiß aber waren immer so viel Wölfe rechtzeitig zur Stelle, daß sie mit jedem lebenden Wesen fertigwerden konnten, sei es selbst ein grauer Bär.

Wenn man sich das vor Augen hält, so wird man begreifen, daß ein zahlreiches Pack fett werden kann, wo eine kleine Rotte zum Skelett abmagert. Die Rotte aber, in der Weißwolf führte, blühte und gedieh. Sie hatten einen Führer, der allen inneren Zwist im Pack unnachsichtlich verhinderte. Solange es ihnen gut ging, hatte noch keiner die Zähne gegen die Genossen gefletscht. Außerdem aber machte ihr junger Anführer freigiebig Gebrauch von der ungewöhnlich reichen Erfahrung der beiden alten Wölfe, die mit ihm liefen. Sie halfen ihm, die Gegend zu bestimmen, in der das Pack jagen sollte.

Da sie die Mitte der langen Front bildeten, war die Langsamkeit, mit der die dreiläufige Wölfin und der Terrier mit seinen kurzen Läufen vorwärtskamen, hinreichend ausgeglichen. Gewöhnlich erreichten sie die Beute schon längst, ehe die Wölfe von den äußersten Flügeln zur Stelle waren.

Aber trotz aller Schlauheit und trotz aller Mühen erlebten sie manchen mageren Tag. Einmal nahm ihr Fasten auf merkwürdige Art ein Ende. Sie trabten lässig durch das untere Tal des Tomahawk-Flusses, als Marco Blanco, der Alte, einen Vielfraß erspähte, der auf dem Damm einer Biberkolonie kauerte und bemüht war, mit den mächtigen Krallen seiner Tatzen die gefrorene Erde aufzureißen.

Marco Blanco stieß einen kurzen Mahnruf aus. Leise lief das Signal die Linie entlang, die rasch um den bezeichneten Punkt einzuschwenken begann. In kurzer Zeit lagen fünfzehn hagere Wölfe im winterlich nackten Buschwerk und starrten auf die seltsame Szene zu ihren Füßen hinunter.

Weißwolf wollte sich mit einem Satz hinunterstürzen, den Vielfraß zerreißen und auf eigene Faust weitergraben. La Sombra aber hielt ihn zurück. Sie bewies ihm, daß der Biberdamm durch und durch vereist war und die Erde durch den Frost so hart wie Holz. Was konnten die vergleichsweise schwachen Krallen eines Wolfes dagegen ausrichten?. Aber der Vielfraß ist für den Kampf ums Dasein besser ausgestattet als jedes andere Tier auf der Welt. Er hat Krallen wie ein Bär, furchtbare Werkzeuge, die wie Meißel in alles eindringen, was nicht purer Fels ist, und in seinem buckligen Körper und seinen kurzen Tatzen steckt eine geradezu gigantische Kraft. Bald freilich zeigte es sich, daß hier selbst der Vielfraß ein verdammt hartes Stück Arbeit gefunden hatte. Seine Krallen begannen sich abzunutzen, ja zu brechen. Seine Tatzen bluteten. Trotzdem ließ er nicht nach, denn jeder Vielfraß schleppt im Magen einen boshaften Teufel mit herum, der ihn ewig mit dem Schreckbild des Verhungerns ängstigt und ihn niemals verläßt. Unter der hartgefrorenen Erdschicht, das wußte er, regte sich genug Leben, um seinen Wanst zu füllen.

So trieb er seinen Stollen tiefer und tiefer. Der Geruch des Bluts, das von seinen mißhandelten Tatzen troff, wurde vom Wind zu den Wölfen hinaufgetrieben und ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie warteten, bis der Vielfraß eine Erdschicht erreicht hatte, die nicht mehr gefroren war und in dem Augenblick, wo er sich fast bis zum Wasser durchgegraben hatte und sie sahen, wie die weiche Erde aus dem Graben zu fliegen begann, glitt das ganze Rudel geduckt, blitzgleich, den Abhang hinunter und fiel über das Tier her.

Sie hatten eine Schlacht zu liefern, die Weißwolf niemals wieder vergaß. Der Vielfraß war kaum den vierten Teil so groß wie der kleinste Wolf im Pack, aber auf mysteriöse Weise hatte die Natur in dieser kleinen Gestalt die Muskelkraft von zwei ausgewachsenen Bergwölfen zusammengedrängt. Der Vielfraß wehrte sich mit der Wut eines zum Tode Verurteilten. Aber grimmige Fänge packten ihn von allen Seiten und er starb – buchstäblich – in der Luft.

Äußerste Not gehört dazu, um das Fleisch des Vielfraß' selbst dem Gaumen eines Wolfes genießbar erscheinen zu lassen. Aber das Dunkeld-Pack hatte gerade schlechte Zeiten. Der stinkende Leichnam ihres Gegners war rasch verschlungen. Dann scharrten sie in der Grube weiter, bis sie das Wasser erreicht hatten und die weichen Körper der Biber ihrem Angriff preisgegeben waren. Tapfere Biber waren es, durchaus gesonnen, von ihren meißelartigen Zähnen zur eigenen Verteidigung wacker Gebrauch zu machen, aber was vermag ein Biber auszurichten, wenn ihn die Zähne eines Wolfes im Genick gepackt haben?

Und so schlemmte das Pack, bis keiner mehr zu schlemmen vermochte und schlief dieselbe Nacht einen gesegneten Schlaf.

Ein andermal wurde ein Tier von unbekannter Witterung im Sumpfland des oberen Winnemago aufgespürt. Sie verfolgten es über die Winnemago-Berge und holten es im Tal der Sieben-Schwestern ein, ein Ungeheuer von sieben Fuß, mit einem unförmigen Kopf und langen dürren Läufen – ein Elenhirsch, der sich so weit nach Süden verirrt hatte.

Am Seeufer wurde er gestellt und erwies sich als gefährlicher Feind. Kein Elch hatte dem Dunkeld-Pack so viel zu schaffen gemacht. Zwei der jüngeren Wölfe kamen ums Leben, ehe Weißwolf den entscheidenden Sprung tat und der Elenhirsch spürte, wie eine Zange aus glühendem Eisen ihn bei der Schnauze packte. Ein Schlag mit einem seiner Hufe hätte genügt, den Feind zu zerschmettern. Aber im ersten Schreck bäumte er sich, um den seltsamen Blutegel abzuschütteln, der sich an seine Windfänge gehängt hatte und in der Zwischenzeit war der Rest des Packs über den Gegner hergefallen.

Weißwolf sah untätig zu, als seine Kameraden um den gefallenen Riesen wimmelten und sich mit seinem Fleisch vollstopften. Ein plötzlicher Ekel regte sich in seiner Brust, ein Gefühl des Abgestoßenseins, das er sich nicht zu erklären vermochte. Er wußte nur eins: Wölfe und Wolfssitten waren ihm über die Maßen widerwärtig. Er machte kehrt und trottete durch die Wälder, die sich am Muncie-See hinziehen, bis er vom Gipfel einer Anhöhe vor sich den stählernen Spiegel des Pekan-Sees erblickte und den letzten Zipfel eines kleineren Gewässers, in dessen Nähe eine Rauchsäule aufstieg und stetig durch die Bäume südwärts rollte.

Mit einem Ruck machte Weißwolf halt. Er machte halt und fühlte zitternd eine Versuchung in sich aufsteigen, die er noch nie empfunden hatte.

Er konnte es nicht verstehen. Was sah er denn? Den Holzrauch, der von dem Haus des Menschen aufstieg. War es nicht Mensch, der die stählernen Zähne in der Erde zu verbergen pflegte, solche Zähne wie die, die eines Abends La Sombra gepackt hatten? Aber statt daran zu denken, dachte er an das üppige Unterland an einem Sommertag, wenn viele solcher Rauchfahnen über die Erde wehten, an das Blöken der Rinder, an die Luft, die vom Geruch des blühenden Getreides, von dem süßen Duft trocknenden Heues allenthalben gesättigt war.

Es war ein höchst angenehmes Bild und die Erinnerung daran behagte Weißwolf. Aber was ihm mehr als alles andere behagte – vielleicht gerade wegen der Gefahr, die darin lag –, war die Erinnerung an die Häuser des Menschen, an die lärmenden Spiele und Raufereien der Hunde und ihre scharfen, töricht kläffenden Stimmen. Und schließlich dachte er auch an die Menschenstimmen selbst – und an die Augenblicke, wo er das Ungeheuer selbst aus der Ferne erspäht hatte. Am lebhaftesten erinnerte er sich an die beiden Reiter, die mit ihren sechs Hunden ihn bis ans Ufer des Winnemago verfolgt hatten. Er dachte daran, wie ein Ruf von ihnen genügt hatte, die Tapferkeit ihrer Hunde bis zum Wahnsinn anzuspornen.

Gewiß war es ein schönes Leben in den Bergen. Es war ein Triumph und eine Ehre, in so jungen Jahren Herr und König zu sein über ein Rudel Wölfe. Aber in diesem Augenblick wünschte er sich trotz allem, ins Unterland zurückzukehren, aber ohne das Dunkeld-Pack mit sich herumzuschleppen.

So weit war er gekommen in seinem Sinnen, ohne zu begreifen – denn nur die Bilder der Erinnerung und vage Gefühle wirbelten durch sein Hirn –, als er hinter sich die giftige, spöttische Stimme eines Fuchses hörte. Sie sprach: »Öffne die Augen weit, Weißwolf! Denn was du siehst, ist ein Zeichen der Sklaverei, die dir noch beschieden ist. Öffne die Augen weit, o Weißwolf!«

Er drehte sich um und erblickte denselben räudigen alten Rotfuchs, mit dem er und La Sombra zusammengetroffen waren, als sie, in heimlicher Furcht vor der Meute der Wolfshunde, längs des Winnemago ins Gebirge hinaufgestiegen waren. Es war derselbe Fuchs und das Grinsen, das den abgebrochenen Eckzahn sehen ließ. Weißwolf schüttelte sich voll Abscheu und Verachtung.


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