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Ich glaub, wir führen eine Leiche mit im Raum.
Henrik Ibsen
Wenn es gälte, Mißbildung statt Geistesbildung hervorzubringen, auf geistigem Gebiet Krüppel, Einäugige, Hinkende, Bucklige zu erzeugen, so könnte man sich schwer ein besseres Mittel dazu denken als den Religionsunterricht, wie er, von der Presse gestützt, in Schulen, Kirchen und Hochschulen erteilt wird. Dieser Unterricht ist unfruchtbar wie ein Maultier. Er wendet die Vernunft an, um die Vernunft zu bekämpfen. Alle finden sich darein. Auch ich für mein Teil bin zahm wie ein Lamm, aber wie ein Lamm, das Wölfe frißt.
Das Altertum träumte von einem Fabeltier mit Löwenkopf, Ziegenleib und Schlangenschwanz. Es wurde Chimära genannt. Dieses Tier hat im 20. Jahrhundert Existenz erlangt, schwebt summend durch den vernunftleeren Raum. Die Athleten der Dummheit schwingen sich auf seinen Rücken und klammern sich an die Mähne der Chimära. Von dieser Höhe aus überschauen und lenken sie das Geschlecht.
Steigen sie auf die Erde herab, um Religion und Religionsunterricht zu verjüngen, so benehmen sie sich wie die Töchter des Pelias, die ihren alten Vater, um ihn zu verjüngen, in den Kessel der Medea steckten. Er wurde nicht verjüngt, sondern gekocht, bis nur unkenntliche Reste von ihm übrig waren. Die Sprache ist noch voll von Worten, denen für einen Menschen der Neuzeit keine Wirklichkeit mehr entspricht. Was heißt es, erlöst zu sein? Was heißt es, errettet zu sein? Was heißt: selig werden durch Glauben oder Taten? Die Worte setzen eine massive Hölle und ein nicht minder körperliches Himmelreich voraus. Windeier, die die Chimära gelegt hat, und die menschliche Feigheit, einer brütigen Henne gleich, vergebens auszubrüten versucht.
Auf jeden Fall ist und bleibt es ein kleines Verdienst, ein gut Teil kaltes Wasser in die heiße Hölle der Geistlichen gegossen zu haben.
Ernest Renan war ehrwürdig und flößte Sympathie ein durch seinen, jetzt stark veralteten Versuch, eine menschliche Jesusgestalt vor dem Hintergrund der Landschaft, die er bei einer Reise in Palästina kennenlernte, und aus seinem allgemeinen Eindruck von orientalischer Gefühlsweise zu gestalten. Sein Versuch, den Entwicklungsgang im inneren Leben des so gedichteten Jesus, den Übergang von Sanftheit zu Bitterkeit, von Milde zu Herrschsucht zu schildern, stimmte, rein psychologisch gesehen, überein mit der Beobachtung des Sichablösens verwandter Seelenzustände bei bedeutenden Männern späterer Zeiten und war als historisches Experiment zwar wenig überzeugend, aber interessant, wie auch in hohem Maße verständig. Allerdings war es ein Versuch, dem von vornherein jede hinreichende Erfahrungsgrundlage fehlte.
Geradezu lächerlich und nichts anderes ist dagegen die Sicherheit, mit der einzelne moderne Bibelforscher versuchen, ihren platten Rationalismus zu vertreten: sie behaupten, wenn nur die Wunder im Neuen Testament ausgesondert würden, bliebe eine historische Jesusgestalt als Kern der Erzählungen übrig. Um diese auszuziehen, muß man mehr aussondern als die Wunder, bedeutend mehr: Menschenvernunft und historischen Sinn. Dann steht der auf moderne Art frisierte Jesus der liberalen Theologen da.
Jede Wundererzählung besteht aus zwei Hälften. Die erste Hälfte ist stets gang und gäbe. Wenn jemand z. B. hoffnungslos krank ist, so ist das eine traurige aber alltägliche Sache. Dies wird indessen nur als Voraussetzung erzählt, damit der Kranke durch göttliches Eingreifen plötzlich gesund wird. Daß jemand stirbt, ist eine Begebenheit, die man täglich in einer Stadt oder in einem Lande erlebt. Sie wird mitgeteilt, weil sonst in den Evangelien der Verstorbene nicht durch magische Mittel ins Leben zurückgerufen werden könnte. Nimmt man also die zweite Hälfte des Wunders, das Wunderbare fort, so bleibt das Nichts zurück, das keinerlei psychologisches, geschweige denn religiöses Interesse hat. Außerdem wird diese erste Hälfte des Wunders für den Blick des Beobachters in der Regel gleichzeitig mit der zweiten verschwinden.
Denn wenn die alltägliche Begebenheit nur erzählt wird, um die Grundlage für ein Wunder abzugeben, dann hat man Ursache, auch diese Begebenheit für ein zu diesem Zweck erfundenes Phantasiegebilde (Dichtung, Fabel oder Mythe) zu halten. Ein Schriftsteller hat treffend bemerkt, wenn Rotkäppchen vom Wolf verschlungen und vom Jäger befreit werde, könne der erste Punkt zur Not wahr sein. Es ließe sich denken, daß der Jäger käme und den Wolf tötete. Daß das Kind hingegen unbeschädigt im Bauch des Wolfes liege, sei nicht glaubhaft. Und dieser Umstand habe rückwirkende Kraft, errege Zweifel an der Existenz Rotkäppchens und am Überfall des Wolfes.
Ursprünglich ist alles in den christlichen Vorstellungen Mythe.
Der Rationalismus beginnt damit, daß er die Sonne der Mythe um die Erde, d. h. um irdische Begebenheiten kreisen läßt und den Gottmenschen von dem Menschen Jesus abhängig macht. Das war und ist das Ptolemäische System in der Religionsforschung.
Es lag ja folgender innerer Gegensatz oder Widerspruch vor: Das göttliche Wesen befleckte sich durch Körperlichkeit, und der Messias sollte und mußte ein göttliches Wesen sein. Gleichzeitig aber sollte er menschliche Gestalt haben und den Opfertod erleiden. Das zweite Jahrhundert quälte sich mit diesen zwei unversöhnlichen Vorstellungen, die zusammengezwungen werden sollten. Die Gnostiker lehrten, daß der menschliche Körper des Göttlichen ein Scheinkörper, die Qualen am Kreuz nur scheinbar waren. Sie grübelten, wie der Messias geboren worden war, ohne daß Umarmung und Empfängnis vorausgegangen waren. So war Jesu Mutter denn nur eine Scheinmutter. Die Scheinmutter und die Scheinbrüder verstehen selbstverständlich nichts vom Wesen Jesu, halten ihn für wahnsinnig. Worauf er seine Jünger, die ihm folgen, dann als Mutter, Bruder und Schwester bezeichnet.
Hier nach einem historischen Kern zu suchen, ist ebenso unsinnig wie im achtzehnten Jahrhundert der Versuch des alten Rationalisten Paulus, den historischen Kern des Wunders zu finden, daß Raben kamen und Elias ernährten. Seine Erklärung war, daß Elias die Raben schlachtete und aß, so daß der Hunger ihn nicht bezwingen konnte.
Alles hier ist Symbol, sogar der Name des Gottmenschen Jeshua, der ebensogut mythologisch wie biographisch sein kann. Der Engel sagt zu Joseph: »Sie wird einen Sohn gebären, dem du den Namen Jesus geben sollst; er wird sein Volk von Sünden erretten.« Jeshua wird mit Erlöser (griechisch Soter übersetzt). Epiphanius übersetzt ihn mit Therapeut, was eine Mischung von Arzt und Retter ist. Das Matthäus-Evangelium hat die sinnbildliche Bedeutung des Namens verstanden. Der Engel sagt zu Joseph: »Sie wird einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen; denn er wird sein Volk selig machen von seinen Sünden.«
In den Evangelien, verhältnismäßig späten, rationalisierenden Erzeugnissen, sind Mythen und Mysterien zu Anekdoten geworden; Jesus speist an einem öden Ort fünftausend Menschen mit fünf Broten und einigen kleinen Fischen. Ursprünglich scheint das Brot den Körper des Messias bezeichnet zu haben. Später wird das Mysterium zu einer Anekdote.
Oder das Mysterium wird zu Zauberei. Die Hochzeit in Kana scheint einen mythischen Hintergrund gehabt zu haben. Wer die Braut war, wird nicht gesagt, aber es sieht so aus, als sei die Mutter Jesu die Festgeberin gewesen. Die Mutter Jesu ist gleich da. Jesus weist sie barsch ab. Aber es hat sich, soweit man vermuten kann, ursprünglich um den Mysteriengott und eine heilige Mahlzeit, um die Nahrung des Lebens, um göttlich erzeugten Wein gehandelt. Es ist also ein Gegenstück zum Abendmahl gewesen, das an den Beginn vom Leben Jesu gestellt wurde, wie das Abendmahl an den Schluß.
Die uralten Naturmythen, die hinter den Evangelien lagen, bereiteten, wie gesagt, große Schwierigkeiten. Der rein geistige Gott durfte sich nicht mit einem Weibe paaren, und doch erforderte die Vorstellung vom Entstehen, von der sich das Altertum nicht freimachen konnte, eine auch rein körperliche Paarung.
In den Evangelien sind Gottheit und Göttin zu einem einfachen Menschenpaar geworden, und sie können ohne Schuld Kinder miteinander zeugen. Nur ist eines dieser Kinder nicht der Sohn eines menschlichen Vaters. Denn vor Eingehen der Ehe war auf geheimnisvolle Weise ein göttlicher Same in die Jungfrau gelegt. Bei Lukas wird das zu reiner Verherrlichung jungfräulicher Keuschheit. Maria legt das Kind in die Krippe, und die Hirten vom Felde kommen und beten es an. Sie repräsentieren die Menschheit, und die Engel aus dem Himmel singen ihnen: »Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.«
Lukas hat die Geschichte vom Kindermord entfernt.
Ursprünglich hat der Kindermord vielleicht nur das eine Kind zum Gegenstand gehabt. Mithras (oder der Stier des Mithras), Attis und Adonis erlitten sofort den Tod und ermöglichten dadurch die Erschaffung der Welt; sie erstanden zu neuem Leben und wurden Beschützer vor dem Tode. In der Offenbarung Johannis steht der Drache neben der schwangeren Himmelskönigin, um sofort ihr zartes Kind zu verschlingen.
Während Markus und Johannes mit der Taufe Jesu, die eine rationalisierte Geburtsgeschichte ist, beginnen, fangen Lukas und Matthäus mit der mirakulösen Geburt an. Die Zeit ist gekommen, da das Urbild der irdischen Menschen, das rechts vom Vater sitzt, das Urlicht, das von Ewigkeit an bei Gott war, zur Erde herabsteigen soll. Der Fürst der Finsternis hat schon die Erde in Besitz genommen. Seine Diener, die Dämonen, schweben umher und behexen die Menschen. Die sieben Dämonen zum Beispiel, die von Maria von Magdala ausgetrieben werden, scheinen von den sieben Planeten zu stammen. Das Auftreten des Teufels selbst in der Wüste Jesus gegenüber scheint eine halbwegs rationalisierte Mythe zu sein. Vielleicht ist der Böse ursprünglich Jesus als Drache entgegengekommen. Vielleicht hat Jesus ihn gefällt, und seitdem fliehen alle Dämonen vor Jesus. Wie die Mythe hier vorliegt, ist sie undurchsichtig. Der Teufel fordert Jesus auf, Steine in Brot zu verwandeln, was er ja, wie man denken muß, leicht tun könnte. Indessen antwortet er ausweichend: »Es steht geschrieben: Der Mensch lebt nicht von Brot allein.« Nach dem 91. Psalm, den der Teufel merkwürdigerweise zitiert, braucht Jesus den Engeln, wie er sagt, nur Befehle zu erteilen; sie werden ihn dann auf Händen tragen, so daß er seinen Fuß an keinen Stein stößt. Aber Jesus schlägt es ab, sich von der Zinne des Tempels hinunterzuwerfen, mit der Begründung: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Es ist wie ein Wettstreit zwischen dem Teufel und Jesus, wer von ihnen die meisten Schriftstellen auswendig könne. Endlich schlägt Jesus die Herrschaft über die Erde aus und wird dadurch Herr über alle Dämonen. Er erweist sich gleich als Herr über die Dämonen des Wassers, als er mit seinen Jüngern über einen mythischen See fährt, der in Galiläa liegen soll. Er schläft ein; die Dämonen erheben sich, so daß er die Elemente beschwören muß, um die Dämonen zur Ruhe zu bringen.
Jesus begegnet nach der Landung einem Besessenen, der zwischen Gräbern wandelt. Gräberstraßen lagen sonst nicht bei den Häfen. Dieser Besessene ist riesenstark, und sein Name ist das römische Legion, so daß eine Andeutung auf die Garnison Jerusalem darin verborgen scheint. Die Heerscharen der Hölle sind gemeint. Bei Markus werden zweitausend Teufel erwähnt, aber eine römische Legion bestand sonst in der Regel aus sechstausend Mann. Als der Dämon Jesus sieht, stürzt er vor ihm nieder und bittet um Gnade. Er sagt, wenn er sich nicht mehr von Menschenblut ernähren könne, wolle er mit Schweineblut vorlieb nehmen (die Juden aßen bekanntlich sonst kein Schweinefleisch). Jesus bannt nun den Dämon in eine Schweineherde. Die ganze Herde stürzt sich infolgedessen von einer Anhöhe herunter und ertrinkt im See. Die Hirten flüchten und melden den Zadarenern, was sie gesehen haben. Sie finden den Rasenden ruhig und zufrieden dasitzen, worüber sie heftig erschrecken.
Den Evangelisten hat ein ständiges Verhältnis zwischen Jesus und den Dämonen vorgeschwebt. Sie stehen in ununterbrochener geistiger Verbindung miteinander. Für die Anhänger des Markus ist es so geworden, daß Jesus unerkannt auf der Erde wandelte und sich ängstlich zu verheimlichen bemühte, daß er der Messias war. Daher findet man bei Markus (10) zum ersten Male die Stelle, die bei Lukas wiederholt wird: »Niemand ist gut denn der einige Gott.« Daher trotzt Jesus hier den Dämonen, die ihn als Messias begrüßten, und daher kommt sein Verbot an alle geheilten Kranken, von seinen Wundertaten zu reden.
In der römischen Kaiserzeit glaubte man trotz der Kunst der Ärzte an das Blut unschuldiger Kinder. – Der älteste Sohn ist nicht nur in frühester Zeit, nicht nur in Tyrus und Sidon Baal zum Opfer gebracht, sondern bekanntlich selbst in dem sonst hoch entwickelten Karthago, wo die Kinder Moloch geopfert wurden. Die gruppenweise in Palästina gefundenen Kinderleichen – deren Skelette oftmals abgebildet sind – deuten darauf hin, daß der Brauch, dem Gott die Erstgeburt zu opfern, lange bestanden hat. Die Legende von Abraham und Isaak weist natürlich darauf hin, nicht weniger die Legende von Jephta und seiner Tochter. Das Leben des Messias selbst denkt man sich nur erhalten, wenn die gleichzeitig mit ihm geborenen Kinder ermordet wurden. Die Sage vom Kindermord in Bethlehem beruht hierauf.
Die Taube, die von so entscheidender Bedeutung in der christlichen Mythenwelt ist, war der babylonisch-syrischen Göttin Istar oder Astarte, wie auch der griechischen Aphrodite geweiht. Sie gehörte dieser Naturgöttin, die wie jene Gottheiten und wie die ägyptische Isis im Himmel und auf Erden wohnte.
In den Sprüchen Salomos im Alten Testament ist der Name der Göttin Sophia (Weisheit). Der strenggläubige jüdisch-alexandrinische Philosoph Philon sagt, mit der Weisheit zeugte Gott Kosmos. Bei den Gnostikern ist Sophia der heilige Geist, Ruach, und in einem alten Evangelienbruchstück nennt Jesus den heiligen Geist (der auf Hebräisch Femininum ist) seine Mutter.
Nach Mitteilung des Evangeliums standen am Ufer des Jordans nicht wenige Menschen, die den Himmel sich öffnen und eine Taube herabfliegen sahen, während sie eine Stimme rufen hörten: »Dies ist mein Sohn, der Heißgeliebte usw.« Der griechische Text kann übersetzt werden: »Mein Sohn, mein Geliebter.«
Durch naturphilosophische Grübelei wurde, um die Einheit der Gottheit zu bewahren, Attis gleichzeitig Kybeles Sohn und Gatte, wie auch Horus, der Sohn der Isis, gewöhnlich in ihren Gemahl Osiris verwandelt wurde. – Ruach = Isis = Sophia scheint zugleich Gemahlin und Tochter des höchsten Gottes gewesen zu sein.
Die Gnostiker ließen Sophia und Christus eine unlösbare Einheit mit dem irdischen Jesus eingehen. Bei ihnen ist die Rede von einer Göttin, Sophia, die von bösen Geistern gefangengehalten und von ihrem Bruder, Christus, der sie heiratet, befreit wird. Mutter und Tochter sind in den Mysterien in der Regel Varianten derselben Gestalt. In der ursprünglichen Gnosis ist Sophia die Vorläuferin der Mutter Gottes. Die gefangene Natur- und Himmelskönigin wird als Mutter, Schwester und Geliebte Christi aufgefaßt. Sechs Frauen im Neuen Testament werden Maria genannt (die Mutter, Maria von Magdala, die Schwester des Lazarus, die Mutter von Jakobus und Jose, die Mutter des Johannes Markus und die Mutter des Klopas). Eine Maria ist also die Mutter Jesu, eine andere Maria, die Schwester des Lazarus, steht in schwesterlichem Verhältnis zu ihm. Maria von Magdala ist deutlich die Geliebte. Zwischen Jesus und dieser Sünderin ist von Dichtern der verschiedenen Länder und Zeiten eine Verbindung platonischer Liebe gestiftet worden und zahllos von den größten Malern verherrlicht. Was in der ältesten Phantasie der Menschen vielleicht ein erotisches Gefühl war, ist bereits im Altertum so umgeformt, daß das Geschlechtliche in ätherischer Keuschheit aufgelöst ist. Das Evangelium ist ja außerdem durch und durch eine Rationalisierung der mythischen Grundvorstellung.
Da es die Aufgabe des Mysteriengottes ist, den Tod zum Besten der Menschen zu erleiden, taten die, die ihn der Sage nach zur Hinrichtung auslieferten, eigentlich ein gutes Werk, wenn sie ihn kreuzigen ließen. Es gab denn auch Sekten, die Judas rechtfertigten. Satan kann niemand verblenden, wenn Gott es nicht zuläßt, und es war also Gottes Beschluß, daß die Juden, die nach dem Neuen Testament Jesus verfolgen, verstockt wurden.
Die Jünger haben auch nicht das Verdienst, ihn anerkannt zu haben. Zudem sind bei Markus, im kürzesten Evangelium, die Jünger noch verständnisloser als die Juden, und das trotz den unzweifelhaftesten Wundern. Die fruchtlosen Versuche des zweiten Jahrhunderts, Magie und Moral zusammenzuzwingen, machen das Leben Jesu zu einer Kette von Widersprüchen. Teils ist er der verkannte Gottessohn, der mit Milde Hohn, Spott und Schande erträgt, jede Huldigung ablehnt und von den Geheilten Schweigen über seine Wundertaten fordert. Teils ist er der, der einen Einzug in die Hauptstadt hält, welcher sich durch die Begeisterung der Bevölkerung zu einem wahren Triumphzug gestaltet.
Alles ist hier Widerspruch. Wird ihm Ehre erwiesen, so flieht er in die Einsamkeit. Fordern die Pharisäer Zeichen von ihm, so verweigert er sie ihnen oder verweist auf das Zeichen des Jonas, und die Pharisäer wissen nicht, was er meint. Unterdessen vollbringt er tagein, tagaus beständig Wunder. Von einer verstandesmäßigen Betrachtung aus macht sein Leben einen höchst willkürlichen Eindruck.
Zutiefst gesehen, ist das Ganze ein Versuch einer im nichtklassischen Altertum lebenden Menschengruppe, ein geistiges Gebäude, das den Stürmen der Kritik widerstehen können soll, auf einer Grundmauer zu errichten, die keinerlei Verhältnis zu Verstand oder Erfahrung hat.
Nazaräer ist nur die syrische Form für das hebräische Nazoräer und das aramäische Nazarener. Dies war überall im Orient der offizielle Name der Christen. Er konnte nichts mit dem fernen Galiläa zu tun haben. Man hat alle Ursache, die Existenz eines Ortsnamens Nazareth zu bezweifeln. Er wird von keinem nichtchristlichen Literaten erwähnt, ehe er bei Eusebius (viertes Jahrhundert) vorkommt, obwohl sich bei Josephus sowohl wie im Talmud eine Menge galiläischer Ortsnamen finden.
Jesus ist (nach Matthäus) in Bethlehem geboren, aber sein Vater Joseph zieht, aus Furcht vor dem Sohn des Herodes, nach der Flucht nach Ägypten nach Nazareth, damit das Wort des Propheten in Erfüllung gehe: »Er soll ein Nazaräer genannt werden.«
Bei Lukas wird aus demselben Grunde eine unhistorische Volkszählung erfunden, damit Joseph und Maria nach Bethlehem ziehen können, wo Jesus geboren wird, während die Empfängnis in Nazareth stattfindet.
In der ursprünglichen Sage scheint Bethlehem also der entscheidende Ortsname gewesen zu sein, was nicht nur durch die Vorstellung von einer Abstammung von David, sondern auch damit erklärt wird, daß dort ein Adonisfest abgehalten worden sein soll, und daß sich dort eine Mysteriengrotte befand.
Allerdings erwähnen nicht weniger als drei Evangelisten peinliche Erlebnisse, die Jesus bei einem Besuch in seiner Vaterstadt gehabt haben soll, aber zwei von ihnen nennen nicht den Namen der Stadt, nur Lukas gibt den Namen Nazareth an (4, 16), wo Jesus »geboren« war. Das jetzige Nazareth wurde erst im achten Jahrhundert gegründet, hat nie im ersten existiert. Lukas läßt Joseph und Maria von Nazareth nach Bethlehem hinauf und wieder nach Nazareth herabgehen. Von der Festung Gamala in Galiläa aus geht man aber abwärts. Der Name Nazareth wird erst achthundert Jahre später genannt (Le Mercure de France, 1. Juni 1926, S. 505 ff.). Die Erzählung scheint eine späte mythische Umbildung des feindlichen Verhältnisses zwischen Juden und Christen zu sein. Man hat geglaubt, die Ortsbenennung sei durch eine Entstellung des hebräischen Wortes Nasir entstanden. Aber der griechische Kirchenvater Epiphanius (getaufter Jude, 310-403) kennt das Wort Nasiräer gut und unterscheidet es scharf von Nazoräer.
Die Ebioniter (die Armen), eine jüdische Bezeichnung für die ersten Christen, hatten zugleich ein jüdisches und vorchristliches Gepräge. Wenn Zusammenhänge zwischen ihnen und den Essenern bestehen, so lassen sie sich vielleicht auf die Makkabäerzeit zurückführen. Ein anderes vorchristliches Christentum war der Simonismus in Samaria. Der Apostelgeschichte zufolge ist Simon ein Zeitgenosse von Jesus. Wenige Jahre nach Jesu Tod nimmt er in Samaria eine hohe Stellung als Sekundärgott ein. Die meisten Kirchenväter (mit Ausnahme des Hippolytus) betrachten den Simonismus als die älteste Ketzerei. Er scheint denn auch vorchristlich zu sein. In meiner früheren kleinen Schrift Petrus war die Rede von der Polemik des Celsus gegen die Christen, »die Simon und seine berüchtigte Freundin Helena verehrten«.
Das eigentümlichste an der christlichen Lehre war ja indessen die Erlösung durch das Kreuz. Vorchristlich ist die Vorstellung des vollkommen Gerechten am Kreuz des Verbrechers. Nach einer alten Legende wurde Jesus gekreuzigt, indem die Schlange, Nahas, Buhlerei mit Eva trieb, dabei von Baal-Aphrodite unterstützt wurde und, ungewiß wie, den Tod Jesu verursachte. Dieser selbst blieb rein und wies Unzucht von sich, starb daher, an den Pfahl gebunden, wie Prometheus (bei Hesiod) an eine Säule gebunden war.
Sühnopfer kannte man in Syrien wie in Babylon, und es besteht die Möglichkeit, daß der zweite Jesaja ein Schüler der Babylonier war.
Die zwei ältesten Handschriften sind Vaticanus und Sinaiticus, die angeblich aus dem vierten Jahrhundert stammen. Indessen weiß niemand, wie Vaticanus in den Vatikan gekommen ist, oder wer die Schrift dorthin gebracht hat. Man behauptet, daß Sinaiticus von dem Gelehrten Tischendorf im Februar 1859 im Kloster Santa-Catharina am Fuße des Sinai entdeckt worden sei. Weder die Mönche noch die Päpste haben es vierzehn Jahrhunderte lang gekannt, es ist also wahrscheinlich im neunzehnten Jahrhundert fabriziert worden.
In diesem Mysterium gab es noch ein anderes Kreuzeszeichen, das nichts mit dem Martergerät zu tun hatte. Dieses Zeichen stammte aus der Feueranbetung älterer Zeiten, als man das Feuer durch Drehen von Holz in einem Bohrloch erzeugte. Das Zeichen galt als Symbol des Lebens und der Zeugung (Adalbert Kuhn, Die Herabkunft des Feuers und des Göttertranks). Christus bringt das ewige Leben, und sein Kreuz ist der Wein des Lebens. Der Gerechte am Kreuz ist ja schon bei Platon als das vollkommene Ideal dargestellt.
Am Schluß des Buches » Die Jesussage« wird von mir auf ein seltsames Fest in Alexandria hingewiesen, das im christlichen Altertum als Beweis dafür galt, daß auch die Heiden die Wahrheit des Christentums anerkannten. Epiphanius erzählt, in der Nacht vom 5.–6. Januar versammelten sich die Priester im Tempel Kores unter Gesang und Flötenspiel vor dem Götzenbild, stiegen dann in einen unterirdischen Raum hinab und trugen ein geschnitztes Bildnis herauf, das auf einer Bahre saß. Die Betenden sangen dann: »In dieser Stunde hat die Jungfrau (Kore) Aion geboren.« Kore deutet auf Eleusis hin, und der Sohn war Dionysos. In Ägypten wurde der Knabe gleichbedeutend mit Horus, dem Sohn der Isis, und auf ihn paßte das Lebenskreuz, da er der auferstandene Osiris war. Auch Asien muß dieses Kreuz gekannt haben, über die Anhänger des Mithras wurde ein Zeichen gemacht, das ein Kreuz gewesen zu sein scheint. Die Mithrasverehrung stammte ja von dem alten Zarathustra-Feuerkult.
Joseph, der Sohn Jakobs, scheint in dem Mysterium, aus dem die Jesusgestalt entsprang, zurückgekehrt zu sein. Er war der jüdische Osiris. Sonne und Mond beugen sich vor dem jungen Joseph. Der Brunnen, in den er zuerst geworfen, und das Gefängnis, in das er später gesperrt wird, scheinen Sinnbilder der Unterwelt zu sein, aus denen er in größerem Glanz ans Tageslicht zurückkehrt. Er bringt, wie der Nilgott, Fruchtbarkeit und läßt die Kühe aus dem Flusse steigen.
Das Christentum hielt an diesem Joseph wegen seiner Keuschheit fest. Es gibt im Mysterium des Gottmenschen einen inneren Streit. Gott soll den Erlöser zeugen und doch ohne Sinnlichkeit sein. Zur Lösung dieser Schwierigkeit war Joseph notwendig. Maria entsprach Isis, und zu ihr paßte, als Osiris entsprechend, Joseph.
Auf Erden, in Palästina, lebt das Ehepaar Maria und Joseph. In Wirklichkeit sind sie vom Himmel herabgestiegen. Droben heißt sie Mirjam-Isis-Sophia, und er Joseph-Osiris.
Jüdisches Nationalgefühl und jüdische Religion waren ursprünglich ein und dasselbe. Aber es kam eine Zeit, da man das nationale und das religiöse Element als ungleichartig empfand. Es gab teils einen Gott, der über die jenseitige Welt gebot, teils einen, der mit irdischen Angelegenheiten, namentlich den jüdischen, beschäftigt war.
Der Gegensatz kam vielleicht zum erstenmal im römisch-jüdischen Kriege zum Durchbruch, der im Jahre 70 den Untergang Jerusalems zur Folge hatte. Während des jüdischen Aufstandes gegen Rom scheint man noch keine Zersplitterung gespürt zu haben. Die heftig religiösen Essener waren Josephus zufolge die leidenschaftlichsten Empörer, und eine starke messianische Gärung war der Erhebung vorausgegangen. Die Statthalter hatten den Forderungen der Juden stattgegeben, und die meisten Kaiser suchten Aufstände in Judäa zu vermeiden.
Unter Felix geschah es, daß ein Jude in Ägypten sich für den Messias ausgab und tollkühn dreitausend Mann nach dem Ölberg führte, weil dann, wie er versicherte, die Mauern Jerusalems einstürzen würden. Er scheint die Mauern der Burg gemeint zu haben, hinter denen die römische Besatzung lag. Die messianische Bewegung war also offenkundig gegen Rom gerichtet, und einige Jahre vorher hatte ein gewisser Theudas seinen Anhängern versprochen, sie trockenen Fußes durch den Jordan zu führen und ihnen dadurch seine Berufung zum Messias zu beweisen. Römische Reiterei schritt jedoch ein, und der Schwärmer wurde geköpft.
Die Geschichte des Täufers kann man sich als verwandt gewesen denken, da Josephus behauptet, Herodes Antipas hätte ihn, um Unruhen zu verhindern, gefangennehmen und schließlich hinrichten lassen. Von der Salomesage weiß Josephus nichts. Bezüglich des Johannes, der Hauptgestalt, ist das Dunkel jedoch noch tiefer als sonst.
Es herrscht einiger Zweifel über die Existenz des Johannes. Er scheint ein Sonnengott und die Geschichte von ihm ein Einschiebsel zu sein. Die Sonnenwende ist ihm geweiht. Von der Sonnenwende an nimmt er ab und Jesus zu. Auch der Name erregt Verdacht. Er klingt wie der ägyptische Fischgott Oannes, in dessen Mysterien das Wasser stieg. Daher vielleicht die Wassertaufe. Der Getaufte wurde Fischlein, die Taufschale Fischschüssel genannt. Johannes wurde auch als der Fischer angerufen, der mit Gottes Kreuz Menschen angelte.
Wie zur Wahrheit gelangen? Selbst die Höchstgebildeten aus dem Palästina jener Zeiten lebten ja in Vorstellungskreisen, die uns völlig fremd sind. Josephus bezeichnet z. B. die Aufrührer gegen Rom teils als Räuber, teils als Zauberer. Für ihn ist jener Theudas, der die Mauern einstürzen lassen wollte, ein Zauberer. Als Zauberer soll er geglaubt haben, daß er eine heilige Kraft besäße, die Schuldlosigkeit schenke, außerdem, daß dem Siege über Rom das tausendjährige Reich und die Auferstehung der Toten folgen würde. Solche Phantasien haben für uns heute kaum noch historisches Interesse. Man sieht, daß die Aufrührer sich für Vorläufer des Messias angesehen haben, und daß die Konservativen geneigt waren, sie für teuflische Zauberer zu halten.
Wie in zahlreichen Fällen erwiesen, schonten die Römer nach Möglichkeit die religiösen Eigentümlichkeiten. Vermutlich sind es die Mysteriengläubigen, die vorchristlichen Christen gewesen, die die fanatischen Gegner Roms waren. Die Pharisäer hingegen, die in den Evangelien höhnisch als die Schriftgelehrten bezeichnet zu werden pflegen, sind meist geneigt gewesen, sich in die römische Oberherrschaft zu finden. Sie waren es denn auch, die die allergeringste Schuld an dem im Jahre 70 erfolgten entscheidenden Zusammenbruch trugen.
Der Aufstand gegen Rom war jedoch mit der Eroberung Jerusalems nicht beendet. Gegen fünfzig Jahre später, als Trajan im Lande der Parther stand, brachen furchtbare Aufstände nicht nur in Palästina, sondern in Lybien, Ägypten, auf Zypern aus, und überall beteiligten sich die dort wohnenden Juden mit Raserei an dem hoffnungslosen Kampfe, überall wurde die Kultur jeder Zeit in Blutströmen ertränkt. Zuletzt wurden auch die, die früher Pharisäer, jetzt Schriftgelehrte genannt wurden, mitgerissen. Das geschah zur Zeit Hadrians, wohl 132-135, als der letzte verzweifelte Aufruhr unter Bar Kochba ausbrach, hauptsächlich, um die Errichtung der Aelia Capitolina auf den Ruinen Jerusalems zu verhindern. Hier schlossen sich die Schriftgelehrten mit Rabbi Akiba an der Spitze der großen Bevölkerung an und beteiligten sich an dem kopflosen Aufstand, der teils ungeheure Menschenverluste, teils die Zerstreuung des Volkes über fremde Länder mit sich führte.
Das Leben des Flavius Josephus würde sich ganz anders gestaltet haben, hätte er eine Vorstellung davon gehabt, daß dreißig Jahre vor seiner Geburt der Messias zur Erde herabgestiegen war. Wie andere Juden seiner Zeit, hegte er keinen Zweifel bezüglich des Messianismus, und die beste Erklärung für den Umstand, daß Josephus keine Ahnung von der Geschichte Jesu und ihrem tragischen Ausgang hatte, ist eben, daß diese Geschichte eine Mythe war. Trotz den scheinbar zuverlässigen Zeugnissen am Schluß der Apostelgeschichte ist das, was über Paulus erzählt wird, kaum weniger unsicher als die Erzählung von der Lebensweise Jesu. Josephus und Philon hätten die plötzliche Ausbreitung des Christentums in Jerusalem, die Hinrichtung des Stephanus, die blutige Verfolgung der ersten christlichen Gemeinden, die Hinrichtung auf Golgatha, die wiederholten Haßausbrüche gegen Paulus weder verschweigen können noch wollen, falls die Evangelien oder die Apostelgeschichte auch nur einigermaßen geschichtlich zuverlässig gewesen wären. Der innere Kampf im Kreise der Apostel und in der ältesten Gemeinde bis zur Reise des Paulus nach Rom soll ja mehrere Jahre gedauert haben und hätte sowohl in Palästina wie unter den verstreut lebenden Juden großes Aufsehen erregen müssen. Aber alles ist hier in undurchdringliches Dunkel gehüllt und strotzt förmlich von Widersprüchen.
Es wird eine Verfolgung der ersten christlichen Gemeinden mitgeteilt: Stephanus wird zum Tode verurteilt und gesteinigt. Viele werden gefangen, andere fliehen. Saul bricht nach Damaskus auf, um die Christen auszuspionieren, läßt sie fesseln und nach Jerusalem führen. Gleichzeitig aber wird nicht das geringste gegen die zwölf Apostel, die Oberhäupter der Gemeinde, unternommen, deren Verkündigungen erst den Glauben verbreitet haben sollen, der so leidenschaftliches Ärgernis erregte. Teils staunt man, daß die Verfolger die Führer der Bewegung ruhig ihre Tätigkeit fortsetzen lassen, teils fällt es dem denkenden Leser auf, daß Saul ja keinerlei Recht oder Macht besaß, Andersdenkende in Damaskus zu verfolgen. Damaskus war eine ganz selbständige Stadt und keineswegs dem Sanhedrin, dem obersten Rat in Jerusalem, unterworfen. Da Paulus keinerlei Machtmittel besaß, die er Damaszenern oder Römern gegenüber geltend machen konnte, erweist sich die ganze Erzählung von seinem Auftreten gegen Stephanus, so glaubwürdig sie auf den ersten Blick auch scheinen mag, als bloße Sage. Der Tod des Stephanus scheint als Gegenstück zur Lebensgeschichte Jesu erdichtet zu sein. Die sogenannten Verfolgten beginnen überall die neue Religion zu verbreiten, in Samaria, Antiochia, Damaskus. Paulus selbst entwickelt sich schnell zu einem sogenannten Apostel der Heiden. Indessen ist es nicht Jesus, den er verkündet, sondern der Gottmensch, der mit Adam parallelisiert wird, und da der erste Adam keine historische Persönlichkeit ist, ist es der zweite ebensowenig.
Das Auftreten des Pilatus in den Evangelien widerspricht seinem Charakter völlig. Bei Philon findet man einen Brief von König Agrippa, der sich bitter über Pilatus beklagt. Er wird hier als eigensinnig und barsch, grausam und bestechlich dargestellt.
Er soll der erste gewesen sein, der die Legionen das Kaiserbild auf den Standarten behalten ließ, von denen sie sonst stets beim Einrücken in Jerusalem entfernt wurden. Er soll den Tempelschatz beschlagnahmt und dadurch einen Aufstand hervorgerufen haben, bei dem er römische Soldaten auf die Menge einhauen ließ.
Es ging damals das Gerücht, daß seit Jahrhunderten heilige Tempelgeräte auf dem Berge Garizim vergraben waren. Ein samaritanischer Prophet, einer der üblichen Schwärmer, erbot sich, der Bevölkerung die Geräte zu zeigen, wenn sie ihm auf den Berg folgen wollte. Pilatus soll diesen Phantasten haben angreifen lassen, so daß wieder Blut floß. Nach einer Klage bei dem römischen Prokurator in Syrien, dem Vorgesetzten des Pilatus, ließ dieser ihn absetzen, nach Rom schicken und dort zur Rechenschaft ziehen. Hiermit verschwindet (im Jahre 36) Pilatus aus der Geschichte. In den Evangelien ist Pilatus dagegen als unentschlossen und zur Schonung geneigt dargestellt – er wäscht sich die Hände, ist milder als die Juden.
Dies ist bezeichnend für das in den Evangelien dargestellte Verhältnis zwischen Juden und Christen. Trotzdem die neue Religion fast ganz aus Schriftstellen aus der alten aufgebaut ist, verraten nicht nur »Matthäus« und »Johannes«, sondern auch »Markus« und »Lukas« (mit Lukas selbstverständlich die Apostelgeschichte) einen tödlichen Haß gegen alles Jüdische. Die Juden werden von den sogenannten Schriftgelehrten repräsentiert, die wieder als gleichbedeutend mit den Pharisäern betrachtet werden. Diese beachten der Darstellung zufolge alle Gesetzesregeln und fordern, daß sie wegen ihrer Frömmigkeit geehrt werden; aber das Volk haßt diese Männer, die ihnen harte Steuern auferlegen, dagegen keinen Sinn für ihren Drang zu frommer Magie haben und zudem den vom Himmel gesandten Erlöser, den das Volk begrüßt, und dem es huldigt, verdammen und anklagen. Die Pharisäer lassen ihn hinrichten und verfolgen hierauf grausam seine Anhänger. Als Jesus zu seinen Jüngern spricht, ist ihm folgende Prophezeiung in den Mund gelegt: »Sie werden euch euern Synedrien ausliefern und euch in euren Synagogen peitschen.«
Mit andern Worten: Es wird ein wilder Haß zwischen der gemeinen Bevölkerung und den Schriftgelehrten dargestellt, ein Haß, der parallel mit dem zwischen Christen und Juden dargestellten läuft.
Dieser ganzen Schilderung scheinen jedoch die Phantasien späterer Zeitalter zugrunde zu liegen. In den vier oder fünf ersten Jahrhunderten des Christentums deutet nicht das geringste auf einen Haß zwischen der großen Bevölkerung und den Pharisäern. Der Pharisäer Josephus hegt die wärmsten Gefühle für die Sekte der Essener, der er vielleicht ursprünglich angehörte, eine der zahlreichen heimlichen Gemeinden, aus denen wohl auch das Christentum entstand. Wenn Josephus sich scharf gegen Schwärmer und Magier ausspricht, so geschieht das nie aus religiösen, sondern aus politischen Gründen, weil die Mystiker sich oft mit den Eiferern gegen die römische Weltmacht verbanden, und weil Josephus, wie sein Leben zeigt, den Kampf gegen Rom für aussichtslos hielt. Als Pharisäer war für ihn freie, unangetastete Ausübung des Gottesdienstes weit wichtiger als nationale Unabhängigkeit. Zu den Feinden der Römer kann man ja zudem nach den Evangelien nicht einmal die Christen rechnen; nicht umsonst sind Jesus die Worte in den Mund gelegt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist.«
Mit der Eroberung Jerusalems, als der entscheidenden Tatsache, veränderten sich die inneren Verhältnisse Palästinas völlig. Nicht, daß die Pharisäer verhaßt wurden. Aber der Haß gegen die Schriftgelehrten entstand, d. h. gegen die Aristokratie von Priestern, deren Macht gestürzt war, als der Tempel stürzte. Diese Aristokratie sah jetzt die einzige Rettung der Eigenart des Volkes in einer immer ausschließlicheren Betonung des Gesetzes. Die Priester begannen einen heftigen Kampf gegen die jüdischen Gnostiker und auch bald gegen deren Geistesverwandte, die Christen. Die Gnostiker wurden dafür die Todfeinde der alten jüdischen Tempelaristokratie. Nach dem, was von Talmudisten erzählt wird, haben die Gnostiker während der ersten großen Judenverfolgung, die von Hadrian ins Werk gesetzt wurde, den Römern jede Übertretung des Verbotes jüdischen Gottesdienstes angezeigt. Die Strafe war grausam. Rabbi Akiba und viele berühmte Gelehrte erlitten den Märtyrertod. Als der Aufruhr Bar Kochbas niedergerungen war, gab es für die Juden keine Lehrfreiheit mehr. Das Ziel war die Ausrottung des Judentums. Jetzt war die Aelia Capitolina auf den Ruinen Jerusalems errichtet.
Was in den Evangelien vom Haß zwischen der großen Menge und den Schriftgelehrten und zwischen Juden und Christen erzählt wird, das Gewicht, das auf Verrat und Angeberei gelegt wurde, die vielen Anspielungen auf Bürgerkrieg (Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater, Kinder, die sich gegen ihre Eltern erheben), das alles hat nichts mit dem ersten Jahrhundert zu tun, entspricht aber ganz den Verhältnissen im zweiten. Damit scheint die Erzählung vom Zimmermannssohn aus Galiläa ganz fortzufallen, da nicht allein der entschieden mythische Teil der Evangelien, sondern nicht minder der scheinbar historische sich dem Betrachter als eine Dichtung mit deutlicher Tendenz darstellt.
Die Evangelisten stellen die Schriftgelehrten in das ungünstigste Licht, obwohl es Jahrhunderte hindurch als höchste Pflicht betrachtet worden war, immer wieder das Gesetz zu erforschen und zu befolgen. In den Evangelien sind die Schriftgelehrten unbarmherzig, kennen weder Demut noch Innerlichkeit. Es wird daher so hingestellt, als hätte ein klaffender Schlund zwischen ihnen und der gemeinen Bevölkerung bestanden. Diese sucht die Lehrer auf, die ihrem religiösen Drange entgegenkommen.
Bei Josephus und Philon ist das Verhältnis ein ganz anderes. Bei ihnen haben die Pharisäer das Volk hinter sich, und der Gegensatz zwischen ihnen und der Tempelaristokratie ist scharf. Während die Sadducäer nicht die sogenannte Unsterblichkeit der Seele annehmen, waren die Pharisäer von ihr überzeugt und wollten die Menschen »zu völliger Schuldlosigkeit« erziehen. Um sie jedoch ganz von Sünden erlösen zu können, wurde Askese gefordert, außerdem die auf Mystik beruhende Magie. Es bestand also, der nichtevangelistischen Literatur jener Zeit zufolge, das beste Verhältnis zwischen den Pharisäern und einer mystischen Sekte wie den Essenern.
Vermutlich gab es keinen wirklichen Gegensatz zwischen Askese und Mystik.
Was offiziell Gottes Wort genannt wird, ist also in diesem wie in zahlreichen anderen Fällen dunkle, unzuverlässige Menschenrede, der eine Tendenz Form verliehen hat.
Wenn man das, was ein kleines Land wie Holland für die Sache der Geistesfreiheit getan, mit der Haltung vergleicht, die ein kleines Land wie Dänemark eingenommen hat, so ist der Eindruck für einen Dänen etwas beschämend. Wie bekannt, haben die beiden großen französischen Denker Descartes und Pierre Bayle nur in Holland eine Freistatt gefunden, wo sie epochemachende Werke ausarbeiten konnten. Wie nicht minder bekannt, ließ Spinoza sich nie verleiten, sein stilles Leben im Haag aufzugeben, wo er in Frieden die Bücher schreiben konnte, die die Grundlage für eine große Gruppe moderner Philosophien und Poesien ersten Ranges abgegeben haben.
Holland war noch im achtzehnten Jahrhundert die Stätte, wohin freie Denker aus verschiedenen Ländern ihre Zuflucht nahmen, wenn es die Veröffentlichung verbotener und verfolgter Gedanken galt. Noch für Voltaire war Holland die Freistatt.
Jetzt, im zwanzigsten Jahrhundert, ist Holland ein Hauptsitz der vorurteilsfreien Bibelkritik gewesen.
Dänemark ist im selben Jahrhundert eines der festesten Kastelle der Orthodoxie gewesen. In Dänemark begegneten sich im neunzehnten Jahrhundert zwei einander entgegengesetzte reformatorische oder revolutionäre Geister wie Grundtvig und Kierkegaard in unbedingter Orthodoxie.
Was Holland für den Freisinn, ist Dänemark für die Moral gewesen. Es hat zwar keinen Maler vom Range Rembrandts, keinen Denker vom Range Spinozas hervorgebracht, aber bezüglich der Moral als Reis vom Stamme der Religion steht Dänemark hinter keiner Macht zurück. Niels Hemmingsen, dem größten Manne der Kopenhagener Universität und damit der heimischen Ketzerei, wurden beizeiten die Flügel gestutzt. Bothwell, den Mary Stuart liebte, wurde zehn Jahre lang, bis zu seinem Tode, die letzten fünf Jahre doppelt gefesselt, in einem Keller eingesperrt, obwohl er sich nie auch nur im geringsten gegen Dänemark vergangen hatte. Die Moral! Leonora Christina wurde zweiundzwanzig Jahre eingesperrt, weil sie nicht Zeugnis gegen ihren Gatten ablegen wollte. Die Moral! Griffenfeldt wurde einige zwanzig Jahre gefangengehalten als der Landesverräter, der er nicht war. Die Moral! Hand und Kopf wurden Struensee abgehauen, weil er von Caroline Mathilde geliebt wurde. Die Moral! Tycho Brahe, Malthe Bruun und P. A. Heiberg wurden für immer vertrieben. Einer ging nach Prag, die zwei andern nach Paris. Die Moral! Der politisch ungefährliche, aber konstitutionelle Jakob Dampe wurde zweiundzwanzig Jahre lang auf Christiansö eingesperrt. Die Moral! – Holland hat hiergegen höchstens das Schicksal Jan de Witts zu stellen.
In Dänemark herrscht ein anderer Geist als in Holland. Die Literatur ist als Ganzes reaktionär; die Presse ist als Ganzes ein edles Grauen. Die Theater sind teils starres Spiel, teils stumme Kunst, teils dumme Kunst, teils Ausstellung hübscher, junger, leichtgekleideter Frauen. Es steckt immer weit mehr Geist und Intelligenz in einem schönen Frauenkörper als in dem Unsinn, der in den Revuen der Theater gesungen wird.
Als vor fast hundert Jahren (1835-1836) David Strauß in seinem epochemachenden Buche » Das Leben Jesu« zu dem Ergebnis gekommen war, daß wir es im Neuen Testament nicht mit wirklicher Geschichte, sondern mit einer Dichtung zu tun hätten, begnügte man sich bekanntlich nicht damit, ein Gebrüll von Ärgernis auszustoßen, das über Deutschland und Osterreich zu hören war und in der Schweiz und im lutherischen Norden widerhallte, nein, es hagelte Spott und Schmähschriften. Man war witzig auf Kosten von Strauß, und um seine kritische Vorgangsweise lächerlich zu machen, erklärten die Theologen, daß die zukünftigen Geschichtsschreiber auch das Leben Luthers als Mythe ansehen würden. Sie würden sich gleichfalls überzeugen lassen, daß Napoleon überhaupt nicht existiert habe. Man frischte den Witz aus der Gegenschrift gegen die » Origines de tous les cultes« von Dupuis auf! Seine Mutter hieß ja Lätitia, war also eine Allegorie auf die Freude. Er war eine Sonnenmythe, wurde daher auf einer Insel geboren und starb auf einer andern, das heißt: er ging im Meere auf und ging im Meere unter. Als Sinnbild der Wärme wurde er von der Kälte in Rußland überwunden. Seine zwölf Marschälle entsprachen den zwölf Himmelszeichen des Tierkreises, ja, was die Hauptsache an der theologischen Polemik jener Zeit war: man erklärte, daß Strauß selbst gar nicht existierte, sondern ausschließlich als mythische Persönlichkeit aufgefaßt werden müßte.
Es zeigte sich schon damals, wie gewagt es ist, die Unvernunft einer Anschauung darzulegen, auf derem Namen die Existenz einer ganzen Kaste beruht. Als siebzig Jahre nach dem » Leben Jesu« von Strauß Samuel Lublinsky sein Werk » Der urchristliche Erdkreis und sein Mythos« herausgab, wiederholte sich dieselbe Form theologischer Polemik in all ihrer Stupidität. Um die moderne Mythologie in Mißkredit zu bringen, lieferte man Beweise dafür, daß Bismarck nie existiert hätte. Man übersah mit Eleganz, daß Bismarck doch hin und wieder von Zeitgenossen erwähnt war, die ihn gekannt, gehört und mit ihm verkehrt hatten, übersah gleichfalls, daß niemand Bismarck je als ein überirdisches Wesen bezeichnet hatte.
Alles Weibliche in Dänemark macht sich schlank, außer der Unwissenheit. Die ist weiblichen Geschlechts im Deutschen wie im Französischen, Stupidité, Imbécillité, Unwissenheit, Dummheit.
Man sollte es nicht für möglich halten, aber als im Jahre 1925 in Kopenhagen als ein Glied einer langen Reihe verwandter Schriften ein Buch unter dem Titel » Die Jesussage« von mir erschien, konnte man mit solcher Sicherheit auf die dicke dänische Unwissenheit spekulieren, daß die alte Dummheit noch einmal wiederholt wurde: von dem Autor könnte man mit demselben Recht wie von Jesus sagen, daß er nie existiert hätte.
Man würde die Unmöglichkeit beschworen haben, daß der theologische Morast sich so weit ausbreiten könnte. Wenn aber jemand so leichtsinnig gewesen wäre, so hätte er sich bald eines Besseren belehren lassen müssen. Falsche Religiosität und schwachsinniger Nationalismus sind im zwanzigsten Jahrhundert die Grundpfeiler für das geworden, was in der Presse dänisches Geistesleben genannt wird. Die Hochburg der Theologie ist, wie Drews irgendwo gesagt hat, nicht aus Granit, sondern aus Pappe erbaut.
Man sollte nicht glauben, daß die, welche die Kritik des Neuen Testaments angreifen, überhaupt lesen könnten. An vier verschiedenen Stellen sind Jesus die Worte in den Mund gelegt, daß, wer ihm folgen wolle, sein Kreuz auf sich nehmen müsse; sonst sei er seiner nicht wert (Matthäus 10, 38 und 16, 24; Markus 8, 34; Lukas 9, 23). Jeder Mensch, der auch nur einen Funken von Verstand besitzt, kann dort sehen, daß diese Worte von verschiedenen, die von Jesu Tod am Kreuze gehört haben, geschrieben und nicht von Jesus selbst gesprochen sind.
Schon die Fragestellung, ob Jesus historisch existiert hat, ist eine Fälschung des Problems. Denn der Name Jesus an sich verkörpert der Anschauung eine menschliche Persönlichkeit. Die Frage geht von der Annahme aus, daß ein solcher menschlicher Jesus auf Erden gelebt hat. Aber davon kann man gerade nicht ausgehen. Man muß die evangelistische Erzählung als von idealisierenden Bestrebungen in den verstreuten hellenistischen Synagogen des zweiten Jahrhunderts erzeugt ansehen, die die Mitteilungen des Alten Testaments allegorisch deuteten. Auf Moses, der dem religiösen Drang nicht mehr genügte, war ja Josva (derselbe Name wie Jeshua) gefolgt, der die Kinder Israel in das gelobte Land führte – ein Sinnbild für die Gnostiker, als sie die neue Religiosität formten.
Die zwei holländischen Freunde Pierson und Naber gaben im Jahre 1886 eine lateinische Schrift » Verisimilia« heraus, in der sie nachwiesen, wie verwirrt die Paulinischen Briefe konstruiert sind, ein Umstand, der dadurch erklärt wird, daß sie umgearbeitet und überarbeitet sind, und daß sie darnach für die Mitglieder der neugegründeten Kirchen unverständlich gewesen sein müssen. Van Manen war bisher der eifrige Gegner der radikalen Schule in der holländischen Theologie gewesen, jetzt aber schlug er um, ging zu der bisher bekämpften Gruppe über und sprach offen aus, daß seiner Überzeugung nach nicht ein einziger der dem Paulus zugeschriebenen Briefe echt wäre (siehe van den Bergh: van Eysingas Übersicht über holländische Bibelkritik).
Vor etwa dreißig Jahren schrieb der große Bibelforscher Wellhausen eines Tages: Es muß noch der Beweis dafür erbracht werden, daß auch nur eine einzige Schrift des Alten Testaments älter ist als die Rückkehr aus der babylonischen Verbannung. In unsern Tagen kann man mit noch größerem Recht sagen, daß es keinen Beweis dafür gibt, daß eines der Evangelien oder irgendeine der Paulus zugeschriebenen Epistel früher als im zweiten Jahrhundert verfaßt worden ist.
Wenn man den Ursprung des Neuen Testaments auf das zweite Jahrhundert ansetzt, so wird der Inhalt der verschiedenen Schriften, aus denen es besteht, ohne allzu große Schwierigkeit verständlich. Der Versuch, irgendein Evangelium oder irgendeine Epistel aus dem ersten Jahrhundert herzuleiten, ist mißglückt und mußte mißglücken, da das sinnlos, oder schärfer gesagt, unmöglich ist.
Einem Manne, der sich sein ganzes Leben lang in der Kritik geschult hat, wird es schwer, zu fassen, wie Männern, die nicht reine Dummköpfe, sondern teilweise sogar überaus gut mit Kenntnissen ausgerüstet und auf andern Gebieten nicht von Scharfsinn entblößt waren, wie diesen Männern die Überlieferung imponieren konnte, welche die Paulinischen Briefe auf den in den Evangelien erwähnten Apostel Paulus zurückführt. Diese Schriften haben mit dem Apostel nicht mehr gemein als die Psalmen Davids mit König David, als die Sprüche oder das Hohe Lied, oder der Prediger mit König Salomon, das Buch Jonas mit dem Propheten Jonas. Hier ist nicht die Rede von irgendeiner Fälschung, sondern von einem viele Jahrhunderte alten Brauch. Um einer Schrift Ansehen zu geben, nannte man als ihren Urheber eine Persönlichkeit, die Respekt einflößte, und tat alles, was man vermochte, um den Anschein zu erwecken, daß er der Verfasser des Werkes sei. Man gab sich hiermit so viel Mühe, daß man einen gutgläubigen, nicht allzu kritischen Leser anführen konnte, und es zeigt sich dann auch, daß selbst, nachdem die Kritik eingesetzt hatte, noch Ferdinand Baur, der Gründer der Tübinger Schule, vier von den Briefen des Paulus für echt ansah. Hier hielten die Scharfsinnigen noch um das Jahr 1840. Seitdem, d. h. in den letzten achtzig bis neunzig Jahren, hat die Kritik bedeutungsvolle Fortschritte gemacht.
Natürlich wird sich die Mehrzahl derer, die von Kindheit an entwöhnt wurden, ihren Verstand zu benutzen, gar nicht zu reden von denen, die überhaupt keinen haben, geschweige denn alte Texte kritisch betrachten können, natürlich werden sich diese Leute nie davon überzeugen lassen, daß sie in ihrer Annahme unrecht haben. Aber es gibt heute in Ländern wie Holland, Deutschland, Frankreich, England eine Minderheit, die wirklich kritische Begabung besitzt und deren Überzeugung die gedankenlose Menge allmählich lediglich durch geistige Ansteckung adoptieren wird, wie sie sich in der ganzen Weltgeschichte stets spät und widerstrebend, zuletzt aber ohne Bedenken zu der Wahrheit bekannt hat, die die wenigen führenden Geister gefunden haben.