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Am 20. Mai 325 wurde im großen Kaisersaal in Nizäa eine Kirchenversammlung mit Kaiser Konstantin selbst in voller kaiserlicher Pracht als Präsident eröffnet.
Die Versammlung nahm einen stürmischen Verlauf, obgleich der Kaiser in einer kurzen Rede auf Lateinisch – er sprach sonst Griechisch – die Bischöfe, die er durch seine Anwesenheit ehrte, ermahnte, sich in Einigkeit zu begegnen und sich nicht durch den, seiner Ausdrucksweise nach »unbedeutenden« Streit zwischen den Anhängern des Arius und denen des Athanasius zersplittern zu lassen. Das Wort des Kaisers von der Notwendigkeit gegenseitiger Duldsamkeit fiel zu Boden.
Die Arianer, die durch Eusebius von Cäsarea repräsentiert wurden, hielten sich anfangs stark zurück; sie befanden sich in bedeutender Minderheit. Der Versuch, Einigkeit über den Grundsatz zu erzielen, daß der Sohn wesensgleich mit dem Vater sei, aber nicht genau das Wesen mit Gottvater gemein habe, mißlang.
Als der Versöhnungsversuch des Kaisers mißglückte, wurde man zuletzt zur Einigkeit über des Eusebius von Nikomedeas Verurteilung »aller ungöttlichen Ketzereien« gezwungen und formulierte folgenden Schlußsatz: »Wer sagt, daß es eine Zeit gab, da Christus nicht existierte, oder daß er überhaupt nicht war, ehe er gezeugt wurde, oder auch, daß er aus dem Nichts entstand, und wer sagt, daß Gottes Sohn aus einer andern Substanz als Gott selbst erschaffen wurde, oder wer ihn veränderlich nennt, den verflucht Gottes allgemeine und apostolische Kirche.«
Diese Worte sind lehrreich, nicht nur weil sie zeigen, daß die Lebensanschauung des Arius ganz zu Boden geschlagen war, sondern auch, weil sie beweisen, daß schon zu Anfang des vierten Jahrhunderts der Jesus der synoptischen Evangelien vollkommen von einem nicht mit der Gottheit verwandten, sondern völlig gleichen, einsgearteten Wesen verdrängt war. Schon damals war das Idyll in Galiläa, der Wanderprädikant in Palästina, gründlich vergessen. Von einem »historischen« Jesus war bei Gründung der Kirche keine Rede. Der einzige Christus, den man kannte und anerkannte, war der übernatürliche, überirdische, der im Himmel thronte.
Jesus war zu Beginn unserer Zeitrechnung ein so verbreiteter Personenname wie in späteren Zeiten William in England. Als Nachfolger Mose wird ja schon ein Jeshua oder Josva genannt, welcher Name gleichbedeutend mit dem griechischen Jesus ist; später findet man im Alten Testament ein ganzes Buch von Jesus, dem Sohn des Sirach. Es gibt noch einen andern Jesus, den Sohn des Shiach, der Hohepriester und bei Archelaus, dem Sohn des Herodes beliebt war. Josephus erwähnt noch fast ein Dutzend Männer des Namens Jesus.
Wenn Josephus in seinen » Antiquitates« (20, 9) von Jakobus, dem Bruder des »Jesus, des sogenannten Christus« spricht, kann die Stelle nicht echt sein. Gemeint ist natürlich der Jakobus, der im Neuen Testament gewöhnlich als der Bruder des Herrn bezeichnet wird. Aber Josephus kann unmöglich selbst den angeführten Satz geschrieben haben. Er, der gleich beliebt bei Vespasian, Titus und Domitian war, erblickte in Domitian, offenbar wegen der Vorzüge, die zu Anfang seiner später grausamen Regierung zutage traten, eine Art Messias, und da er es als eine Gotteslästerung ansah, wenn sich jemand selbst die Christuswürde zulegte, kann er unmöglich leidenschaftslos von »Jesus, dem sogenannten Christus« gesprochen haben. Die Stelle ist so bestimmt unecht wie die berühmte, im Text eingeflochtene Stelle, deren Unechtheit allgemein anerkannt ist ( Antiquitates 18, 3, 3), die von Jesus als dem weisen Manne spricht, der vielleicht nicht Mensch genannt werden dürfte.
Die Frage ist ja indessen gar nicht, ob einmal ein Jesus gelebt hat, der während der starken messianischen Strömung, die durch Israel ging, als Christus auftrat, sondern, ob wir in den Evangelien und Schriften des Neuen Testaments Mittel zur Einsicht in das historische Wesen dieses Jesus besitzen, und ob er als Urheber des Christentums betrachtet werden kann.
Da das ganze Neue Testament und ihm zufolge die ganze Kirche des Altertums den Gedanken an einen rein menschlichen Religionsstifter abweist, sollten die liberalen Theologen nicht behaupten, daß gerade diese uralten Quellen erst durch spätere Trübung das Bild eines nicht nur menschlichen Begründers einer neuen Religion spiegeln.
Ferdinand Baur, der berühmte Begründer der Tübinger Schule, spricht sich in seinem zusammenfassenden Werk » Die Geschichte der christlichen Kirche« (1853) offen dahin aus, daß nicht die Lehre des Meisters, sondern der Glaube der Jünger an die Auferstehung, also der alte jüdisch-christliche Messianismus, Voraussetzung für die Geschichte des Christentums durch alle Zeiten sei.
Die Voraussetzung für die schnelle Verbreitung der neuen Lehre war jedoch in erster Linie das Römische Reich, das Grenzen geschleift und Nationalitätsunterschiede durchbrochen hatte. Dadurch wurde die Möglichkeit geschaffen, daß die Kirche allgemein verbindend oder, wie es mit einem Fremdwort genannt wird, katholisch wurde.
Das christliche Zeitalter begann nicht auf Tag und Stunde, nicht auf einen Glockenschlag, nicht einmal auf eine Jahreszahl. Wenn aber das Christentum seinem Wesen nach eine Verschmelzung altgriechischer Mysterien, neuplatonischer Philosophie, griechisch-römischen Glaubens an Gottmenschen und an Dämonen war, wie er zum Beispiel stark bei Plutarchos (40-120) hervortrat, wenn das Christentum ferner stoische Askese und Menschenliebe mit dem Verzicht der Zyniker auf alle irdischen Güter zusammenfaßte, und wenn es zudem von der Grundmauer bis zum Dache auf alttestamentarischem Messiasglauben beruhte, so ist sein Auftreten völlig verständlich auch ohne die Legende von dem Tod und der Auferstehung des galiläischen Handwerkers, die an und für sich doch niemals die historische Notwendigkeit und die reißend schnelle Verbreitung der neuen Religion erklären könnte. Es ist geradezu kindisch, anzunehmen, daß ein durch eine Geistererscheinung zum Christentum bekehrter antichristlicher Fanatiker wie Paulus imstande gewesen sein soll, durch seine Predigten von einem in Kleinasien und auf der Balkanhalbinsel ganz unbekannten Jesus die Bewohner dieser großen Gebiete zu einer ihnen fremden Religion zu bekehren.
Die Kirchenväter, für die dieser Jesus als übernatürliches Wesen bei der Erschaffung der Welt mitgewirkt hatte, besaßen ein tieferes Verständnis für die Entstehungsweise neuer Gemeinschaftsformen als moderne liberale Theologen. Sie begriffen, daß die Geschichte durch die Vorgeschichte bedingt wird. Den Hintergrund für die Verbreitung des Christentums bilden nicht die ungerechte Hinrichtung und die übernatürliche Auferstehung eines einzelnen Menschen, sondern die ökonomischen Verhältnisse Roms, der Hang und Drang des gemeinen Mannes zum Kommunismus. Denn in seinem Ursprung ist das Christentum in sozialer Beziehung nur Kommunismus.
Die ganze Verfassung Roms in der damaligen Zeit beruhte auf der Kapitalsaufhäufung der Grundbesitzer. Erwerb war nicht ehrlicher Gewinn, sondern Beute wie im Kriege. Die größeren und kleineren Gutsbesitzer verkauften das Getreide ins Ausland, so daß der Staat gezwungen war, es für teures Geld zurückzukaufen, um einer Hungersnot zu begegnen. Das bei drei Evangelisten wiederholte, scheinbar paradoxe, Jesus in den Mund gelegte Wort: »Denn wer da hat, dem wird gegeben; und wer nicht hat, von dem wird man nehmen, auch das er hat« (Matthäus 13, 12; Markus 4, 25; Lukas 19, 26) enthält die im Römischen Reiche herrschende Vermögenspflege in Gestalt von Religion Albert Kalthof: Entstehung des Christentums, S. 26 ff..
Jahrhunderte hindurch hatte Rom die eroberten Provinzen geplündert, das Heer und teilweise das beständig wachsende Proletariat mit Hilfe eingetriebener Getreidesteuern erhalten.
Daher hat Plutarchos mit Recht Tiberius Worte in den Mund gelegt, die im Neuen Testament wiederholt werden. Tiberius sagte: »Die wilden Tiere haben ihre Höhlen und Zufluchtsstätten, die aber, welche ihr Blut vergießen, um das Römische Reich zu verteidigen, besitzen nichts außer Licht und Sonnenschein und der Luft, die sie einatmen. Sie werden die Herren der Erde genannt; aber nicht so viel Erde gehört ihnen, daß sie ihr müdes Haupt zur Ruhe legen können.«
Gefühl und Ausdrucksweise sind nur wenig variiert, wenn Jesus bei Matthäus die Worte in den Mund gelegt werden: »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.« (Matthäus 8, 20.)
Der fruchtlose Versuch des Cajus Gracchus, die Männer des Geldkapitals als Gegengewicht gegen die Herrschaft der großen Gutsbesitzer zu vereinigen und einen lebensfähigen Bauernstand zu schaffen, wurde durch seine und seines Bruders Ermordung unterdrückt. Die Verteilung kleinerer Bauernhöfe hörte auf. Die früheren Bauern strömten als Proletariat nach Rom. Unter Augustus befand sich die Hälfte des römischen Afrikas in den Händen von nur sechs Gutsbesitzern.
So erklärt sich nicht nur im allgemeinen der in den Evangelien zutagetretende Klassengegensatz zwischen Arm und Reich, sondern auch das Jesus zugeschriebene Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15), das schildert, wie der jüngere Bruder von zweien, der, welcher sein Gut im Auslande (aber doch im Römischen Reiche) verpraßt hatte, als Sklave eines römischen Bürgers die Schweine hüten und sich mit Schweinefutter begnügen mußte, während der ältere Bruder daheim saß und reich wurde. Dieses Gleichnis gibt unfreiwillig ein Bild von den sozialen Zuständen jener Zeit. Das Schicksal des verlorenen Sohnes weist eher auf Rom als auf Palästina hin. Auffallend sind auch die vielen Stellen im Neuen Testament, an denen Zöllner vorkommen. Man kann sich kaum denken, daß in Galiläa ein sonderlicher Bedarf an Zöllnern war.
Höchst auffallend ist die Moral der verschiedenen Evangelisten in Geldsachen. Bei Lukas 16 stutzt man, wenn ein Herr denjenigen seiner Sklaven lobt, der alle seine Gläubiger bewegt, ihre Forderungen so stark herabzusetzen, daß niemand erhält, was ihm zukommt, und wenn man den wiederholten Rat hört: »Schafft euch Freunde durch den ungerechten Mammon!« Im selben Kapitel dieses Evangeliums folgt dann die Geschichte von dem purpurgekleideten Reichen und dem armen Lazarus, der an seiner Tür saß, und wie der Arme im Himmel in Abrahams Schoß sitzt, während der Reiche in die Hölle kommt, Höllenqualen an Durst erleidet und mit Billigung des Herrn den Armen vergebens um einen einzigen Tropfen Wasser anfleht, der seine Qualen lindern könnte.
Dieses Gleichnis ist ein Zeugnis von dem leidenschaftlichen Kommunismus jener Zeit.
Erstaunlich als Beweis für die Unklarheit der Evangelisten wirkt hierauf die Erzählung (Lukas 19) von dem hochgeborenen reichen Manne, der bei Antritt einer Reise seinen Haussklaven zehn Pfund anvertraut und sie auffordert, mit ihnen Handel zu treiben. Der Sklave, der mit den anvertrauten Pfunden nicht hat wuchern können oder wollen, keine Zinsen damit erworben hat, sondern nur das Pfund zurückgibt, wie er es empfangen hat, verliert zur Strafe auch dieses Pfund, und ihm wird die Sentenz von Matthäus 13, 12 wiederholt: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, das er hat« – die Moral der römischen Gutsbesitzer in einer Nußschale.
Man vergleiche hiermit die Darstellung in der Apostelgeschichte (2, 44, 45): »Alle aber, die gläubig waren worden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teileten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war.« Dies ist ein scharfer Gegensatz zur Vermögenspolitik, ein Ausdruck für den weitestgehenden Kommunismus, der sich damals unter den Vermögenslosen ausbreitete.
Im jüdischen Volke muß der Kommunismus im zweiten Jahrhundert Anhänger gehabt haben in den kleinen Gemeinden, die man später christlich nannte. Die Apostelgeschichte 21, 3, 4 läßt Paulus Jünger in Tyrus finden, wo er nie gewesen war. Dieselbe Schrift (28, 14) läßt ihn ebenfalls »Brüder« in Puteoli (dem heutigen Pozzuoli) finden, wo er im übrigen fremd war. Daß dies jedenfalls nachdatiert ist, erscheint einleuchtend.
Aber die Armut war eine vernichtende Bewegkraft im politischen und ökonomischen Leben Roms geworden. Das damalige Bildungsproletariat ist uns von römischen Dichtern wie Martial, Juvenal, Horaz geschildert. Ein Zeugnis von dem inneren Freiheitsgefühl dieser Armen ist das Wort Martials: »Mach' dir nichts aus Tand, und du bist erhabener als ein Partherfürst.« Der Glaube, der sich von den äußeren Verhältnissen frei gemacht hat, gilt jedoch bei diesen Römern (wie bei den ersten Christen) nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit. Die glückliche Zeit des Saturnus lag hinter ihnen, und die Saturnalien ließen einmal jährlich die Sklaven ahnen, wie die Welt aussehen würde, wenn alles gemeinsam, wenn alle gleich wären.
Aus den Metamorphosen des Ovid (I, 89 ff.) kann man ersehen, wie man sich das goldene Zeitalter vorstellte. Die Schilderung erinnert an die jüdischer Propheten vom himmlischen Jerusalem und an Vorstellungen christlicher Evangelisten vom Paradiese: »Es gab keine Gesetze. Ohne Gesetz wurde Recht geübt und Treue erwiesen; es gab weder Furcht noch Strafandrohung oder Strafe. Richter waren nicht nötig. Es gab weder Kriegstrompeten noch Helme oder Schwerter. Die Welt brauchte nicht gepflügt zu werden, sondern gab alles von selber. In einem ewigen Frühling sproß das Getreide, und Milch und Nektar flossen in Strömen.«
Man tröstete sich über den Aufenthalt im irdischen Jammertal, indem man sich das Leben auf den Inseln der Seligen ausmalte.
Unter denen, die von der Mühe und Last der Tage beschwert wurden, verbreitete sich die Erwartung einer ungeheuren Umwälzung. Homeros war der Dichter der Aristokratie, Hesiodos der der Arbeit gewesen. Jetzt richtete sich sozialistisch oder kommunistisch eine Bewegung gegen die Ausnutzung der Bürger durch die Kapitalisten. Schon Platon wie Hoseas, Amos, Jesaia hatten das Grundunglück in der allzu großen Ungleichheit des Besitzes gesehen, die auf Habgier und Eigenliebe zurückgeführt wurde. Auf Platon folgen die Stoiker, und ihre Lebensphilosophie lebt weiter im Christentum.
Erst unter Augustus begann die direkte Besteuerung der Bewohner der abhängigen Gemeinden, die bei Matthäus 17, 24 erwähnt wird, und die die jährliche Abgabe der ganzen Gemeinde ablöste. Cäsar hatte Palästina eine vom Senat anerkannte Selbständigkeit zugesichert, und der nördliche Teil des Landes, in dem die synoptischen Evangelien in der Hauptsache spielen, konnte überhaupt nicht von der Besteuerung berührt werden, da dieser Landesteil unter Herodes Antipas ein selbständiges Fürstentum bildete. Das sagt Josephus ausdrücklich im » Jüdischen Krieg« (2, 9, 1). Um die Zahl der Einwohner zu erfahren, mußte man damals zu dem primitiven Mittel greifen, sich die Zahl der geschlachteten Osterlämmer angeben zu lassen. Josephus erwähnt einmal einen Zöllner Johannes, der in Cäsarea, einer Küstenstadt, wohnte, die unter Nero den Juden abverlangt wurde. Hätte dort ein Zollwesen wie das in den Evangelien geschilderte existiert, so wäre die summarische Methode der Zählung der geschlachteten Osterlämmer undenkbar gewesen. Der starke Unwille gegen die Zöllner spricht gegen Entstehungszeit und Entstehungsort der Evangelien. Es war Rom, wo die Zöllner und Wucherer verhaßt waren. Weder im eigentlichen Palästina noch in Samaria gab es Steuerlisten vor dem Jahre 60, als Jesus der Voraussetzung nach ja längst tot war.
Sehr vieles in den Evangelien, was Vermögensverhältnisse betrifft, scheint in Rom und keineswegs in Palästina geschrieben zu sein. Nach jüdischem Recht konnte der Schuldner durchaus nicht wie in Rom von dem unbefriedigten Gläubiger mit Frau und Kindern als Sklave verkauft werden, auch konnte ihn der Gläubiger nicht im Gefängnis schmachten lassen, bis alles bezahlt war. Die bei Matthäus 18, 25 und 34, 5, 26 geschilderten Zustände waren in Palästina unmöglich und mußten deshalb auf die Zuhörer anstößig und keineswegs überzeugend wirken. Die Evangelien schildern also häufig nicht jüdische, sondern römische Verhältnisse.
Die entsprechenden jüdischen werden von Josephus dargestellt (Antiquitates 4, 8, 26): »Wer sich Geld oder Früchte geliehen hat, der soll, wenn seine Verhältnisse sich durch die Güte Gottes gebessert haben, bereitwillig dem Gläubiger das Entliehene zurückgeben. Befindet er sich jedoch immer noch in Schwierigkeiten, so darf der Gläubiger nur, wenn er ein Gerichtsurteil erzielt hat, in die Wohnung eindringen und sich ein Pfand behalten, bis das Entliehene zurückgegeben ist. Ist er aber arm, so soll der Gläubiger ihm das Pfand vor Sonnenuntergang zurückgeben, namentlich wenn es eine Decke ist, die er beim Schlafen braucht. Denn Gott selbst ist barmherzig gegen die Armen. Die Mühle und was zu ihr gehört, darf man nicht von ihm als Pfand nehmen, denn der Arme soll nicht gehindert werden, sich seine Nahrung zu bereiten, so daß er in noch tiefere Not sinkt.«
Jüdisches und römisches Recht in der damaligen Zeit sind nicht zu vergleichen. Das eine ist human, das andere juristisch. Und es zeigt sich nun zur Verwunderung des Lesers, der geglaubt hat, daß die Evangelien zu der Zeit und an dem Orte verfaßt wurden, wie die allgemeine Annahme es besagt, daß die Jesus zugeschriebenen Parabeln oft römische und nicht jüdische Zustände schildern. Und dabei war doch das Los der freien römischen Proletarier noch glücklich im Vergleich mit dem der römischen Sklaven jener Zeit.
In den Arbeitskasernen lebten die Sklaven, gefesselt, gebrandmarkt, von morgens bis abends unter der Aufsicht des Sklavenvogts arbeitend. Man fing zu Sklaven die Bauern ein, die man von Haus und Heim vertrieben hatte. Der ältere Cato sagt: »Der Sklave kennt nur zwei Zustände, Arbeit und Schlaf.« Das Aufwärtsstreben dieser Sklaven ist es, das Licht über die Aufwärtsbewegung wirft, die in die christliche Gemeinschaftsform mündet.
Auf dem Sklavenmarkt zu Delos, einem Hauptmarkt, wurden im zweiten Jahrhundert nicht selten an einem Tage zehntausend Sklaven ausgeschifft, die am selben Abend verkauft waren Mommsen: Römische Geschichte II, 74; vgl. I, 833 ff., 843..
Ein Sklavenaufstand folgte dem andern. Einer dauerte von 143-133, ein anderer von 104–99 und endete damit, daß Lucius Calpurnius alle Sklaven, die ihm in die Hände fielen, kreuzigen ließ. Im Jahre 133 organisierte Aristonikos, ein natürlicher Sohn des letzten Königs von Pergamon, in seinem Zorn darüber, daß sein Vater das Land testamentarisch Rom vermacht hatte, ein Sklavenheer und wollte eine Hieropolis, eine Sonnenstadt, gründen. Seine Truppen hatten die Stadt Thyatira gestürmt, wo später die Purpurkrämerin Lydia wohnte, die in den Briefen an die Philipper 4, 16 und in der Apostelgeschichte 16, 14-15 erwähnt wird. Da die Stadt lange im Besitz des Sklavenheeres blieb, ist es natürlich, daß die Frauen der Bevölkerung empfänglich für kommunistische Gedanken waren.
Der letzte Sklavenaufruhr, den Spartakus an der Spitze von fünfzigtausend Sklaven leitete, wurde nur mit Schwierigkeit unterdrückt.
Eine soziale Reform war Notwendigkeit geworden. Die Errichtung von Kolonien unter einem Conductor ordinator, der selbst Sklave, aber Mittler zwischen dem Gutsbesitzer und den Rechtlosen war, gab den ersten Anstoß zu einer Veränderung. Der Obersklave kommt im Neuen Testament bei Matthäus (24, 45) vor: »Welcher ist aber nun ein treuer und kluger Knecht, den der Herr gesetzt hat über sein Gesinde, daß er ihnen zu rechter Zeit Speise gebe?« Vermutlich wird auf dieses Verhältnis auch bei Matthäus 25, 15–30 angespielt, wo die Sklaven nicht gleichgestellt zu sein scheinen.
Vorbereitet war ein Punkt im Christentum, der Traum von einem seligen Zustand im damaligen Rom, durch den obenerwähnten sporadischen Kommunismus, der seinen Ausdruck in den jährlichen Saturnalien fand. In Rom bildete man sich ja ein, ein ursprüngliches goldenes Zeitalter, die glückliche Zeit des Saturnus, hinter sich zu haben. Noch bei Ovid, und so nahe der Entstehungszeit des Christentums wie im 1. Buch der Metamorphosen schwärmte man für diesen paradiesischen Zustand, den die Propheten vor und nach Beginn unserer Zeitrechnung als Belohnung versprachen. Zug für Zug paßt die Schilderung Ovids auf die Verhältnisse im gelobten Himmelreich.
Man kann Beispiele dafür herausgreifen, wie verwandt stoischer Geist dem beginnenden Christentum gewesen ist. Jesus sind folgende Worte in den Mund gelegt: »Eure Rede sei Ja und Nein«; er verbietet, einen Eid abzulegen. Man vergleiche damit das »Schwöre nicht!« der Stoiker. Die Stoiker waren wie Jesus dem Begriff Vaterland gegenüber gleichgültig. Auch für die Stoiker hatte die Familie keine Bedeutung. Ihr geistiger Stammvater war Aristoteles, für den, wie für das spätere Christentum, Nationalität und Klasse ihren Wert verloren hatten. Ja, sogar der Wert, den die Epikuräer, trotz ihres Unwillens gegen Entsagung, auf Glückseligkeit setzten, steht dem Christentum mit seiner Hoffnung auf Seligkeit nahe. Die Seligkeit ist ja nur für eine Weile aufgeschobene Glückseligkeit. Mit dem Stoizismus ist das Christentum jedoch näher verwandt. Der beste Staat braucht nach Zenons Auffassung keine Gerichte, und nach Epiktetes ist es für einen Menschen eine mißliche Sache, einen andern zu richten. Für den Stoiker, dem das Familienverhältnis gleichgültig ist, wird, wer Gottes Willen tut, Bruder oder Schwester. Der Stoiker verachtet Reichtum und vergängliche Schätze. Das ist Christentum vor dem Christentum.
Alle Mysterien aus dem Osten drangen zu Beginn unserer Zeitrechnung in die griechische Gedankenwelt ein. Eine umfassende religiöse Reaktion bahnte den Weg für eine neue Religiosität. Man kehrte sich vom Wirklichkeitsleben ab. Noch nie hatte man sich in der antiken Welt so mit dem Fortbestehen der Seele nach dem Tode beschäftigt. (Erwin Rhode: Psyche Bd. II, S. 397.) Neuplatonische Spekulation verdrängte die altgriechische Philosophie.
Die Proletarier waren nicht alle ohne Bildung. Die Armeleute-Philosophie, die die Armeleute-Religion vorbereitete, war nicht ausschließlich die des gequälten und gedankenleeren Proletariats. Man darf nicht vergessen, daß Epiktetes (geboren im Jahre 50 in Phrygien) als Sklave nach Rom kam und erst dort freigelassen wurde. Und von den alten Mysterien in Eleusis breitete sich jetzt in dem wiedererweckten orphischen Kreise die Weltuntergangsstimmung aus, die sich des keimenden Christentums bemächtigte.
Für Epiktet ist Gott der Vater aller Menschen, und es gibt für den Menschen keine schönere Bezeichnung als die, daß er Gottes Kind ist. Er empfiehlt als einzig menschenwürdige Rache, dem, der einem Unrecht zugefügt hat, Gutes zu tun. Er zitiert den großen Spartaner Lykurgos, dem ein jüngerer Mann ein Auge ausgeschlagen hatte, und dem Lykurgos nichts Böses zufügte, sondern ihn erzog und dann sagte: »Ihr habt mir diesen Mann als gefährlichen Menschen und Missetäter überbracht; ich gebe ihn euch als tüchtigen Bürger zurück.«
Bischof Melito von Sardes, einer der frühesten Verteidiger des Christentums, bezeichnet seine eigene Religion als christliche Philosophie und führt (bei Eusebius IV) aus, wie die christliche Philosophie, die zuerst unter Barbaren verbreitet war, unter Augustus zu gedeihen begann und hierauf mit dem Wachstum des Kaisertums Schritt hielt. Er behauptet mit andern Worten, das Christentum sei älter als das Römische Kaiserreich, dem diese »Philosophie« zugute gekommen wäre.
Es ist die Lebensphilosophie Stoas, die im Christentum wieder auflebt. Die Entsagungsmoral der älteren Kyniker wird in den Kreisen der Stoiker erweitert.
Für Zenon wird alles politische Leben zu dem des Weltbürgers. Er erstrebt einen großen sozialen Weltstaat, der einem inneren Gesetz gehorcht und keinen Gesetzgebungsapparat oder Gerichtsapparat braucht. Für die Stoiker kommt es nicht auf die Tat, die etwas Äußerliches ist, sondern auf die Gesinnung, das Innere an. Epiktet betont, daß selbst im schlechtesten Menschen die Menschheit lebt. Seine Verachtung für Reichtum, für irdische Güter ist Askese, eine Art selbstmörderischer Flucht aus dem Leben in die Freiheit, die den Menschen im Tode erwartet.
Aus dieser Moralphilosophie in ihrer Mischung mit dem Mysterienwesen entstand der Boden, in dem die Sehnsucht nach dem Untergang der Welt und der Unsterblichkeit der Seele keimte. Die Gemüter waren von unklaren Geheimnissen benommen. Die Liebesmahle der Sekten wurden zu Orgien, die sich in der ältesten Christenheit nicht von denen unterschieden, welche die bunte Heidenschaft kannte. Das Schlachten und Verzehren der Opfertiere unter reichlichem Trinken und in glühender Weltuntergangsstimmung war bezeichnend für das Zeitalter, in dem sinnbildliche Handlungen die Phantasie des Volkes beeinflußten.
Appianos, der im zweiten Jahrhundert (unter Trajan und Hadrian) die Geschichte des Römischen Reiches schrieb, von der elf Bücher bewahrt sind, schilderte, wie die Erblosen und von den Großen der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßenen eine neue Weltordnung schaffen wollten.
Außer der Philosophie jener Zeit bildete natürlich der jüdische Messianismus die Grundlage für die entstehende, relativ neue Religiosität. Das Wort Messias selbst (oder auf Griechisch Christos) bedeutet ja nur den Gesalbten. Das Salben mit Öl war ein uraltes Symbol. Öl und Fett bedeuteten Fruchtbarkeit, Übermittlung des Segens der Gottheit. Im 1. Buch Mose 28, 18 salbt Jakob mit Öl den Stein, der unter seinem Haupte gelegen hatte, als er die Himmelsleiter sah, nannte ihn darauf ein Mal und den Ort Bethel (Gotteshaus). Bei Jesaia 61, 3 wird den Trauernden das Öl der Freude statt Asche versprochen.
Wie alles Starke Jahve geweiht war, zum Beispiel der Stier, dessen Hörner noch den alten Altar schmückten, so waren auch die großen, besonders langen Männer der Gottheit geweiht. Wäre Saul nicht einen Kopf größer als alles Volk gewesen, so hätte Samuel nicht, wie im 1. Buch Samuel (10, 1) berichtet wird, einen Ölkrug genommen und den Inhalt über sein Haupt gegossen. Wäre David nicht der Sage nach so stark gewesen, daß er Goliath erschlug, so wäre er nicht zum König über Juda gesalbt worden (Samuel 2, 4). Sowohl Stein wie Stier, Saul wie David wurden gesalbt, wie später Jesus, der durch die Salbung Christus wird. Im l. Buch der Könige (19, 15 und 16) soll Elias Hasael zum König über Syrien, Jehu zum König über Israel und Elisha zum Propheten an seiner Statt salben.
Mit andern Worten: Es wimmelt im Alten Testament von Gesalbten; die Gesalbten des Neuen Testaments sind vielfältig vorbereitet.
Dann folgen (als stark vorbereitend) die Propheten des Alten Testaments. Sie eifern gegen den ganzen Opferkult, betrachten ihn als bloße Beschönigung der Übergriffe der Mächtigen. Jesaia scheint die Seele in König Hiskias Gesetzgebung gewesen zu sein und noch größeren Einfluß um das Jahr 620 unter Josia gehabt zu haben. Eine neue Humanität spürt man überall im 5. Buche Mose, dem sogenannten Deuteronomium, das eine Reformgesetzgebung enthält.
Während und nach der babylonischen Verbannung wurde dann die ganze jüdische Geschichte umgearbeitet und verfälscht. Sie wurde so zurechtgelegt, daß der kleine jüdische Priesterstaat, dessen Theokratie wohl, wie Renan richtig gefühlt hat, die schlimmste aller Staatsformen war, das Ziel der Weltgeschichte, ja, der Schöpfung wurde. Unterdessen war jedoch die tiefgehende Veränderung eingetreten, daß alles, was befohlen und verboten wurde, nicht von göttlicher Autorität allein abgeleitet, sondern durch die Sorge um menschliche Wohlfahrt begründet wurde: Das Gute war nicht gut, weil der Herr es wollte, sondern weil es den Menschen nützlich war, und Geduld, Herzensgüte, Wohltätigkeit wurden gepriesen, weil sie das Wohl des Geschlechtes förderten.
In der Sprüchesammlung, die die » Weisheit Jesu Sirachs Sohn« genannt wurde, werden all die später als ausgesprochen christlich aufgefaßten Tugenden der Menschenliebe gepriesen: Hilfsbereitschaft gegen Schwache, Kranke, Unterdrückte, Milde im Urteil über die Fehler des Nächsten. Auch hier wird vor den Gefahren gewarnt, die Reichtum mit sich bringt:
»Den Hoffärtigen sind beide, Gott und die Welt, feind; denn sie handeln vor allen beiden unrecht. Um Gewalt, Unrechts und Geizes willen kommt ein Königreich von einem Volk aufs andere. Was erhebet sich die arme Erde und Asche? Ist er doch ein eitel schändlicher Kot, weil er noch lebet. Und wenn der Arzt schon lange dran flickt, so geht's doch endlich also: Heute König, morgen tot.« (Jesus Sirach 10, 7-12.) Man vergleiche Lukas 12, 16: »Hütet euch vor dem Geiz: Es war ein reicher Mann, deß Feld hatte wohl getragen. Und er sprach: Ich habe nicht, da ich meine Früchte hinsammle; ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen. Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern.«
Im Buche Jesu Sirach (und mehr noch in den Sprüchen Salomons) ist die Weisheit ein selbständiges Wesen geworden, das einen Übergang zu Logos im Evangelium Johannis bildet. Die göttliche Wahrheit ist jetzt personifiziert. Die Sprüche Salomons sind heute noch eine lesenswerte Schrift. Hieronymus, der lateinische Kirchenvater, der am Ende des vierten Jahrhunderts die Bibelübersetzung ausführte, die den Namen Vulgata trägt, hat sich (wie nach ihm Luther) dafür eingesetzt, daß die Sprüche Salomons auf Philon zurückzuführen seien. Das beweist nur ihr geringes Wissen von Philon. Der Verfassernamen läßt sich nicht angeben. Aber soviel ist klar, daß das Buch von griechischer Philosophie durchdrungen ist und fast auf jeder Seite Spuren von Platon trägt. Von einer Schöpfung aus dem Nichts ist hier keine Rede; hier arbeitet die Gottheit mit einem ungeformten Stoff.
Mit der Losreißung Palästinas von Ägypten, die im Jahre 198 vor unserer Zeitrechnung durch Antiochus Epiphanes durchgeführt wurde, hatte der griechische Einfluß begonnen, sich geltend zu machen. Obwohl der Begriff Menschensohn als rein jüdisch von Daniel über das Offenbarungsbuch zum Christentum zu gehen scheint, ist er tatsächlich auf die Bestrebungen des Antiochus Epiphanes, die Juden zu hellenisieren, zurückzuführen, Bestrebungen, die ja lange auf so guten Boden fielen, daß die jungen Juden nach griechischem Vorbild nackt in der Palästra Gymnastik trieben und zu verheimlichen suchten, daß sie beschnitten waren.
Der Menschensohn stammt von Platon, ist sein Idealmensch, entspringt seiner Ideenwelt. Man vergißt allzuoft, daß Platon, als Künstler des Wortes einer der Größten, die je gelebt haben, nur von dem besten möglichen Staate zu träumen vermochte, daß es ihm aber (was sein Leben beweist) an gesunder Menschenkenntnis fehlte. Dieser Denker, der als letzter Nachkomme einer uralten, aussterbenden Adelsfamilie mit seinen naturwidrigen Neigungen außerstande war, das Geschlecht fortzupflanzen, und der sich zu Lebzeiten an dem weitestgehenden spartanischen Konservatismus begeisterte, hatte auf höchst natürliche Weise Nachkommen in dem mysteriengläubigen, dann offenbarungsgläubigen Geschlecht, das Jahrhunderte nach seinem Tode durch Plutarchos und Philon repräsentiert wurde. Wie Jesus die Worte in den Mund gelegt sind, daß kein Buchstabe des Gesetzes vergehen würde, ehe Himmel und Erde vergingen, so ging der Neuplatoniker Philon, dessen Geburt etwa zwanzig Jahre vor der Christus zugeschriebenen fällt, von der Unfehlbarkeit der Bibel aus, ein Glaube, den er sich, so gut er konnte, mit dem Glauben an Platon und Aristoteles zu vereinigen bemühte, von denen er kindlicherweise behauptete, daß sie die Schriften, die unter dem Namen Mose gehen, gekannt haben müßten.
In den Sprüchen Salomons stammt die Lehre von der angeborenen Güte der Seele (8, 19), die so völlig dem Begriff der Erbsünde widerstreitet, offenbar von Platon, nicht weniger die Lehre vom Körper als einem Gefängnis, einer irdischen Wohnung, der drückend auf den zerstreuten Sinn wirkt (9, 15). Dies schließt nicht aus, daß der unbekannte Verfasser des Buches hin und wieder einige Sätze von den alten Propheten und Psalmisten Israels entleiht, so den Satz, in dem geschildert wird, wie die Ungerechten auf den Gerechten lauern und ihn peinigen wollen, um ihn zu prüfen (2, 12, 19), ein Satz, der fast wortgetreu dem Psalm 37, 32 entnommen ist, in dem ausgemalt ist, wie der Ungöttliche auf den Gerechten lauert und darauf sinnt, ihn zu erschlagen.
Im sogenannten 4. Buch Esra, das als apokryphisch bezeichnet wird, werden, ganz wie in den Evangelien, die Zeichen der Zeit erwähnt, die dem Jüngsten Tage und dem Kommen des Messias vorausgehen sollen: Zeichen an Sonne und Mond, Überhandnahme von Ungerechtigkeit, große Schrecken auf Erden, so daß sogar die Steine rufen werden. – Der Tag ist unbekannt, wenn er aber kommt, wird Gottes Sohn sterben. Danach vergeht das Vergängliche und die Erde gibt ihre Toten zurück.
Was diese weltfernen Träumereien mit der Wirklichkeit verbindet, ist der Kommunismus, der die ökonomische Grundlage des apokalyptischen Gedankenganges bildet. Im 3. Buch der Sibyllinschen Orakel (wohl aus dem zweiten Jahrhundert) wird der Kommunismus – vermutlich von einem zum Christentum bekehrten Juden aus Alexandria – ausdrücklich als die von Gottes Gesetz geforderte Gerechtigkeit verkündet. Von den Bewohnern der noch nirgends liegenden Stadt, die dem Verfasser der Sibyllinschen Orakel als das messianische Ideal erscheint, heißt es: »Sie denken nur an Gerechtigkeit und Tugend. Bei ihnen gibt es nicht die Habsucht, die bei den Sterblichen tausend Übel, Krieg und Hunger ohne Ende erzeugt. Stets schickt der Wohlhabende dem Armen einen Teil seiner Ernte. Denn die Erde ist gemeinsam für alle erschaffen.«
So mündet denn der prophetische Gedankengang zu einem Zeitpunkt, da die christliche Epoche einsetzt, in die naive Erwartung eines Weltreichs, in dem keiner sein Eigentum mehr als sein privates betrachtet. Das Grundgesetz des in den Evangelien verkündeten Reiches, daß jeder einzelne den Armen all sein Gut geben soll, wird der Ausgangspunkt für die Träumereien der neuen Kirche.
Um richtig zu verstehen, wie alles in der beginnenden Christenheit durch die antike sogenannte Heidenschaft vorbereitet war, muß man beachten, daß die ältesten christlichen Gemeinden eine Art kommunistischer Klubs waren, und daß aus diesen Vereinen allmählich die christliche Kirche hervorging, die nicht lange auf sich warten ließ, um den Kommunismus zu verleugnen und zu bekämpfen.
Schon im alten Griechenland gab es Kultusvereinigungen, die im Dienste irgendeines Gottes oder Heros standen, unter dessen Schutz man wirkte. Auf Rhodos hatten die Soteriasten den Erlösergott Zeus Soter zum Beschützer. Sie nahmen es nicht so genau mit der Nationalität von Göttern oder Helden. Ihr Herakles war der tyrische. Wie eine in Knidos gefundene Inschrift zeigt, nahmen sie in ihre religiöse Gemeinde (Thialen) sogar einen geborenen Sklaven auf. Frauen waren vollberechtigte Mitglieder. Sie ordneten selbständig ihre Angelegenheiten.
In allen alten Kultvereinigungen bildeten die gemeinsamen Mahlzeiten einen wesentlichen Teil des Gottesdienstes. Diese religiösen Gemeinschaften, die gewisse Anforderungen an Reinheit stellten, gehen so weit in der Zeit zurück, daß ein Zeitgenosse des Alkibiades, der Dichter Eupolis, die Mitglieder einer der thrakischen Göttin Kotytto geweihten Gemeinde, die die Taufe anwandte, verspottete.
Später gab es auf der Insel Teos, eine Schauspielergemeinde, die Dionysos verehrte Foucart: Des associations religieuses chez les Grécs. Paris 1873..
Diese Gemeinden waren eine Art Gilden. Es wurden Unterstützungen, Beihilfen zum Begräbnis der Mitglieder gegeben. In Thyatira (der in der Apostelgeschichte erwähnten Stadt) bildeten die Tuchhändler und Färber eine heidnisch-religiöse Gemeinde. In Smyrna gab es eine entsprechende Gemeinschaft der Gold- und Silberarbeiter.
Mit andern Worten: Es gab zu der Zeit, als das Christentum entstand, eine religiöse Internationale, die sogar das niedrigste Proletariat, wohl überhaupt zumeist dieses, umfaßte. Hier gediehen alle Arten von Ausschweifungen, teils asketische, wie die Selbstverschneidung, welche die Kybelepriester in ihrer religiösen Raserei forderten (man vergleiche die Jesus zugeschriebenen Worte von denen, die sich um des Himmelreiches willen verschnitten haben), teils waren diese Ausschweifungen orgiastische, durch Liebesmahle in sinnlicher Ekstase gefeierte Feste. Man vergleiche die Paulus zugeschriebenen Worte im 1. Brief an die Korinther von der Fleischlichkeit, die in der kleinen Korinthergemeinde im Schwange war. Das gemeinsame Liebesmahl, dem sich das Nachtmahl anschloß, war zu wilden Fressereien ausgeartet. Man kaufte auf den Märkten das Fleisch, das von den den griechischen Göttern gebrachten Opfern übriggeblieben war. Die Orgien beschränkten sich nicht auf Paarungen zwischen Männern und Frauen, Frauen ließen sich auch auf Liebesverhältnisse mit Frauen und Männer auf naturwidrige Verbindungen mit Männern ein. (1. Korinther 1, 25-27.)
Plutarch spricht in » De superstitione« von den Hetärien (Brudergemeinden) seiner Zeit. Die Synagogen organisierten das Handelskapital und waren in dieser Beziehung solche Hetärien. Die Juden in Alexandria waren die größten Geldleute jener Zeit. Cäsar, der alle Klubs aufhob, nahm bei seiner Sympathie für die Juden, vielleicht auch aus Rücksicht auf ihre Reichtümer (wie in meiner Schrift über Jesus erzählt ist), die jüdischen Vereine aus und bestätigte die Befreiung der Israeliten vom Kriegsdienst. Dafür schlug Tiberius auf sie nieder und ließ mehrere tausend nach Sardinien schaffen.
Das System der Juden war damals, wie schon mehrfach gesagt, Kommunismus. Die Tempelkasse in Jerusalem war Zentralkasse. Der Handel in den Ländern am Euphrat lag in ihren Händen. Der Detailhandel, sogar in Rom, war ihr unbestrittenes Gebiet. Die einzelnen Synagogen dienten als Einzahlungsstellen.
Wenn man bei Josephus liest, wie die Essener gepriesen werden, weil unter ihnen völlige Eigentumsgemeinschaft herrschte, versteht man den Zustand, den man in der keimenden Christenheit antraf. Bei Lukas kommen Ausdrücke für einen entschiedenen Kommunismus vor; zum Beispiel (6, 24): »Aber dagegen weh euch Reichen! denn ihr habt euren Trost dahin. Weh euch, die ihr voll seid! denn euch wird hungern.«
Die christliche Gemeinde wird überall der Ausgangspunkt zur Inswerksetzung des kommunistischen Ideals. Man achte auch auf die Bedeutung und die Machtstellung, die in den Paulus zugeschriebenen Episteln die Gemeinden im Gegensatz zu dem einzelnen besitzen. Alles dreht sich um die Gemeinde, den unsichtbaren und doch sichtbaren Körper der Gottheit, während die Gottheit selbst Geist ist.
Aus den » Antiquitäten« des Josephus (14, 10, 8) erfährt man, wie das Vereinsleben der Synagogen den römisch-griechischen Gemeinden angepaßt wurde, die durch Zusammenschließen bestanden und daher eranische genannt wurden. Schon hier finden wir die Geldsammlungen und gemeinsamen Mahlzeiten, die den in der Apostelgeschichte (21. Kapitel) erwähnten ausgezeichneten Empfang bedingen, welcher Paulus und seinen Begleitern in Tyrus, Ptolemais, in Cäsarea und auf Zypern, ja in Puteoli und in Süditalien zuteil wurde.
Sozusagen vor unseren Augen sehen wir die christlichen Gemeinden aus den vorchristlichen menschenfreundlichen Vereinigungen emporwachsen. Kierkegaards » Der Einzelne« als Repräsentant des Urchristentums ist also ein ganz unhistorisches Erzeugnis. Der heilige Geist war der Geist in den kirchlichen Gemeindezusammenhängen, die unbedingte Unterordnung der Herde unter den guten Hirten.
Die eranischen Mahlzeiten wurden zum christlichen Liebesmahl. Der christliche Messias wurde wie der heidnische Heros durch ein Opferfest gefeiert, das seinen Tod und seine Auferstehung wieder ins Gedächtnis rief. Die Heidenschaft glitt ohne Anstoß glatt und leicht ins Christentum über.
Auffallend ist die Stelle im 1. Brief an die Korinther (11, 20), wo die Art und Weise, wie das Abendmahl in der ersten christlichen Gemeinde verzehrt wird, heftig verurteilt wird: »Wenn ihr nun zusammenkommet, so hält man da nicht des Herrn Abendmahl. Denn so man das Abendmahl halten soll, nimmt ein jeglicher sein eigenes vorhin, und einer ist hungrig, der andere ist trunken.« Im 14. Kapitel desselben Briefes wird sehr gesunderweise vor der religiösen Raserei und dem sinnlosen Zungenreden gewarnt.
Es drängt sich der Gedanke auf, daß der, welcher diese Mahnungen niedergeschrieben hat, und welcher Paulus genannt wird, sicher kein jüdisch geborener und erzogener Mann gewesen ist. Höchst verdächtig ist die Vorschrift, die im 1. Korinther (11, 4) gegeben wird: »Ein jeglicher Mann, der da betet, oder weissaget und hat etwas auf dem Haupt, der schändet sein Haupt.« Der Verfasser scheint nicht zu wissen, daß es seit jeher ein jüdisches Gebot war, sich den Kopf zu bedecken, wenn man Gottesdienst hielt.
Die ältesten christlichen Gemeinden scheinen in erster Linie eine Art Begräbniskasse gewesen zu sein, ganz wie gewisse griechische Religionsgemeinschaften. Daher vermutlich die scharfe Ermahnung bei Lukas (9, 60) und Markus (5, 38, 39): »Laß die Toten ihre Toten begraben!«, wie auch der Protest gegen Heulen und Weinen bei der Beerdigung eines Kindes, die unter viel Lärm in der Synagoge vorging. Dieser Protest ist es, der in das berühmte aramäische »Talitha kumi!«, die Erweckung des jungen Mädchens vom Tode, ausmündet.
Ein höchst merkwürdiger, nicht ursprünglicher Brauch, sich für die Toten taufen zu lassen, wird im 1. Korintherbrief erwähnt (15, 29): »Was machen sonst, die sich taufen lassen über den Toten, so allerdings die Toten nicht auferstehen? Was lassen sie sich taufen über den Toten?«
Apuleius erwähnt die Taufe der Toten. Ihr Ursprung war nicht griechisch, obwohl sich natürlich griechischer Einfluß geltend machte; sie stammt aus Ägypten. Im ägyptischen Totenbuch ist diese Taufe der Toten oft dargestellt. Ein Papyrus (Rhind I, col. 6) nennt ein Beispiel aus der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts. Dort wird der Tote (genau wie in alten Darstellungen der König) zwischen zwei Göttern, soviel man weiß Horus und Thot, stehend abgebildet, die die heilige Flut auf sein Haupt herabrieseln lassen. Die Wirkung ist in folgenden Worten ausgedrückt: »Du ehrst die Morgensonne und den Mond, die Luft, das Wasser und das Feuer. Du ehrst die, die zur Ruhe gegangen, da auch deine Jahre zur Ruhe gegangen sind.« Die Flüssigkeit bestand aus heiligem Nilwasser, Natron und heiliger Milch.
In diesem Punkt bietet das Evangelium eine für uns schwer faßbare Mystik. Taufe, Abendmahl und der reine Kommunismus verschmolzen. Das 10. Kapitel des 1. Korintherbriefes beginnt: »Ich will euch aber, lieben Brüder, nicht verhalten, daß unsre Väter sind alle unter der Wolke gewesen und sind alle durchs Meer gegangen. Und sind alle unter Moses getauft mit der Wolke und mit dem Meer. Und haben alle einerlei geistliche Speise gegessen. Und haben alle einerlei geistlichen Trank getrunken; sie tranken aber von dem geistlichen Fels, der mitfolgte, welcher war Christus.« Hier scheint Petrus als Fels vergessen oder verdrängt. Die Anbeter des Messias schenken, im Gegensatz zu den griechischen Heroen der Vorzeit, den in den Gemeinden organisierten Massen eine Zukunftshoffnung auf eine Welt ohne Hunger und ohne Armut, in der kein Unterschied zwischen Herren und Sklaven gemacht wurde, eine rein kommunistische Welt, in der alles für alle gemeinsam sein sollte.
In der Apostelgeschichte ist der Kommunismus in System gebracht. Es heißt (Kapitel 4, 34): »Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wieviel ihrer waren, die Äcker oder Häuser hatten, verkauften sie dieselben und brachten das Geld des verkauften Guts und legeten's zu der Apostel Füßen; und man gab einem jeglichen, was ihm not war.« Dies wird durch ein Beispiel erläutert, das aus dem Leben des Joses Barnabas genommen ist, eines Leviten, der auf Zypern geboren sein soll. Die Grundregel ist bereits in der Apostelgeschichte (2, 44) ausgesprochen: »Alle aber, die gläubig waren worden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teileten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war.«
Wo das, was nach dieser primitiven Staatsökonomie verteilt werden soll, herkommen soll, ist bei Lukas (10, 7) erläutert, wo das Leben der Bettelmönche vorgeschrieben ist: »In demselbigen Hause aber bleibet, esset und trinket, was sie haben; denn ein Arbeiter ist seines Lohnes wert. Ihr sollt nicht von einem Hause zum andern gehen. Und wo ihr in eine Stadt kommt, und sie euch aufnehmen, da esset, was euch wird vorgetragen; und heilet die Kranken, die daselbst sind, und saget ihnen: Das Reich Gottes ist nahe zu euch kommen.«
Der verkündete Kommunismus geht weiter als der heutige Bolschewismus in Rußland. So Lukas (12, 33): »Verkaufet, was ihr habt, und gebt Almosen. Machet euch Säckel, die nicht veralten, einen Schatz, der nimmer abnimmt, im Himmel, da kein Dieb zu kommt und den keine Motten fressen.«
Es wird offenbar den geistigen Arbeitern ein bescheidenes Auskommen gesichert. 1.Timotheus (5, 18) beruft sich auf die Schriftstelle, daß ein Arbeiter seines Lohnes wert sei, und daß man dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden solle, fügt aber dann hinzu: »Die Ältesten, die wohl vorstehen, die halte man zwiefacher Ehre wert, sonderlich die da arbeiten im Wort und in der Lehre.«
Bezeichnend ist der Gedankengang bei Matthäus 20, wo mit echt christlicher Paradoxie verkündet wird, daß der Arbeiter, der nur eine Stunde beschäftigt gewesen ist, denselben Lohn verdient wie die, die des Tages Bürde und Hitze ertragen haben.
Dies war wohl als Propaganda zur Sicherung der Ausbreitung der Lehre berechnet. Man beachte namentlich die berühmte Stelle (Vers 16): »Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählet.«
Man hat hier versucht, das Gleichheitsprinzip durchzuführen, um so viele heidnische Seelen wie möglich zu fangen.
Die Gemeinde schloß sich gegen die römische Rechtspflege ab, trat ihr gegenüber als selbständige Macht auf. Die Heiligen wandten sich nicht an die irdischen Richter. Ihre Gemeinschaft wurde ihrer ganzen Tendenz nach ein Staat im Staate.
Dem veredelten Bilde, das man im neunten Jahrhundert wie vorher von dem Leben der ersten Christen gezeichnet hat, entsprach nie irgendwelche Wirklichkeit. Das Bild ist schön. Die Wirklichkeit war teils töricht, teils häßlich.
Erstens gab es den inneren Gegensatz zwischen dem Idealzustand, der stets erwartet wurde und nie in Erfüllung ging, und den historischen Verhältnissen, die allem andern eher als irgendwelchen Idealen entsprachen.
Zweitens bestand der sonderbare Gegensatz, daß der angebetete Christus, im Prinzip eine Person, in Wirklichkeit durch seinen Tod und seine Auferstehung, welche beide nicht auseinandergehalten wurden, eines mit der Gemeinde war. Oder, um einen Schimmer der Persönlichkeit zu retten: Christus ist (bei Paulus) das Haupt, die Gemeinde der Körper, oder Christus ist (bei Johannes) der Weinstock, die Gemeinde sind die Reben.
Juden wie Sklaven waren zu Tausenden gekreuzigt worden: Im jüdischen Kriege ließ Titus durchschnittlich 500 Juden täglich ans Kreuz schlagen. Sie wurden gefangengenommen, wenn sie sich, vom Hunger gepeinigt, vor die Mauern Jerusalems wagten, dann gefoltert und endlich gekreuzigt, so daß es schließlich in Palästina kein Holz für Kreuze mehr gab. Im Kriege im Jahre 70 wurden 13 000 Juden in Skythopolis (Bethsean) getötet, 50 000 in Alexandria, 40 000 in Jotapata, alles in allem 1 100 000. Man vergißt, wie allgemein und unbeachtet der Umstand war, daß ein Jude gekreuzigt wurde, wenn man darüber stutzt, daß weder Josephus noch Philon etwas von der eventuellen Kreuzigung Jesu wissen. Man unterschied (wie oft erwähnt) in Rom nicht zwischen Juden und Christen. Eine wirkliche Christenverfolgung begann erst unter Trajan. Wenn zuvor Juden zu Zehntausenden hingerichtet wurden, so kam das daher, daß sie sich Rom nicht unterwerfen wollten.
Wenn es so scheinen sollte, als widerspreche dem etwas in den Paulinischen Briefen, so hat das nichts zu bedeuten. In der Apostelgeschichte findet sich nicht eine Zeile davon, daß eine Hauptperson wie Paulus Briefe schrieb. Und es waren doch Sendbriefe, nicht Privatbriefe. Selbst in dem anscheinend ältesten Abschnitt, wo der Schreibende eine Zeitlang Wir sagt ( Apostelgeschichte, Kapitel 21), ist nicht mit einem Wort von literarischer Tätigkeit die Rede. Als Paulus nach Rom kommt, kennt ihn dort niemand. Und doch soll er der Überlieferung nach im Jahre zuvor den Römern Briefe geschrieben haben. Im Brief an die Galater spricht er von sich, als hätten die Galater nie von ihm reden gehört; er hätte doch den Adressat des Briefes kennen müssen.
Am allersonderbarsten ist es wohl, daß Paulus sich rühmt, nicht die Männer kennengelernt zu haben, die der Überlieferung nach mit Jesus verkehrten. Die Schrift » Pastor Hermae«, die nach einem alten, von Origenes stammenden Gerücht von dem Hermas verfaßt ist, der im Brief an die Römer (16, 14) als einer von denen genannt wird, die Paulus zu grüßen bittet, beweist, daß die römische Gemeinde noch im zweiten Jahrhundert ganz judenchristlichen Wortbrauch hat und nicht die geringste Kenntnis von dem Brief an die Römer verrät. Wie dieser Brief zusammengeflickt ist, zeigt die Stelle im 2. Kapitel (6, 7), wo alles Gewicht auf Werke gelegt ist: »Welcher geben wird einem jeglichen nach seinen Werken: Nämlich Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken trachten nach dem ewigen Leben.« Hier sind also Werke die Bedingung für die Seligkeit. Aber schon im 3. Kapitel ist der Wert der Werke dem Glauben als einziger Bedingung für die Seligkeit gewichen (20): »Darum, daß kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein mag ... Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christ zu allen und auf alle, die da glauben. Denn es ist hie kein Unterschied.«
Widersprüche sind nicht selten. Wir sehen, daß der Evangelist (Markus 18, 9) Jesus betonen läßt, was Gott in der Ehe vereinigt habe, solle der Mensch nicht scheiden. Im 1. Brief an die Korinther ist die Haltung des Verfassers (Kapitel 16) äußerst schwankend. In der Regel wird die Frau dem Manne ganz gleichgestellt. Wie man aber hier das Schnurrige erfährt, daß der Mann nicht, wie er Jahrtausende getan, Gottesdienst mit bedecktem Haupte halten soll, so sieht man – in unsern Tagen mit einiger Verwunderung –, welche Erbitterung der Epistelschreiber allein bei dem Gedanken in sich kochen fühlt, daß es einem Weibe einfallen könnte, sich ihr langes Haar abzuschneiden: Betet sie mit entblößtem Haupte, so ist es nicht besser, als sei sie geschoren; eine Vorstellung, die Sören Kierkegaard nach Paulus aufnahm. Siehe » Entweder – Oder«, dessen Schlußsatz in einem seitenlangen Ausbruch gegen das, was man damals »Die Emanzipation des Weibes« nannte, lautet: »Ich möchte einem solchen Toren, der die Emanzipation predigt, sagen: Siehe, da steht sie in all ihrer Unvollkommenheit, ein geringeres Wesen als der Mann. Hast du Mut, so schneide die reichen Locken ab, zerhaue die schweren Fesseln und laß sie wie eine Wahnwitzige, eine Verbrecherin zum Schrecken der Menschen laufen!«
In den Briefen an die Korinther, die nicht Briefe von Paulus, sondern Gemeindedekrete sind, spüren wir den Übergang vom ursprünglichen Kommunismus zur regelrechten Erlegung einer Abgabe. Hier wird der Grund zu einem Gemeindevermögen gelegt.
Der Kirchenvater Basileus, der Große oder der Heilige genannt (329-379), schreibt: »Das Brot, das du behältst, gehört den Hungrigen; der Mantel, den du bewahrst, gehört den Nackten; der Schuh gehört den Barfüßigen, das Silber, das du vergraben hast, gehört den Notleidenden. Darum tust du unrecht gegen so viele Menschen, wie die Zahl derer ist, denen du geben könntest.«
Und so überall: Eigentum heißt Gemeindeeigentum, nicht Privateigentum. Überall Kommunismus. Christus wird die religiöse Verkörperung des Kommunismus; er ist Messias oder Jeshua für die Juden, Logos oder Pneuma für die Griechen, Spiritus sanctus für die Römer. Alle drei Gruppen verschmelzen allmählich in der römischen Kirche.
Die mit dem Wesen der Urkirche übereinstimmende allgemeine Armut war eine Forderung des Christusgedankens. Wenn heutzutage die liberale Theologie eifrige Anstrengungen macht, um den kommunistischen Jesus der Evangelien durch den berühmten, edlen Menschen zu ersetzen, so steht hinter dieser Theorie und hinter denen, die sich ihr anschließen, die Angst vor dem kirchlichen Kommunismus.
Man braucht diese Furcht nicht zu hegen. Der russische Kommunismus unserer Tage ist alles andere eher als kirchlich. Der kirchliche Kommunismus war zudem vollkommen historisch bestimmt, denn er war ein Ausweg aus der allesbeherrschenden römischen Vermögenspolitik.
Was als Armengut ursprünglich Gemeingut war und von den Gemeinden verwaltet wurde, wurde sehr bald Kirchengut. Wie der Kommunismus sich von selber auflöste, kann man schon im Neuen Testament spüren: Die Sage vom Einspruch der Jünger dagegen, daß die Sünderin die Füße Jesu mit der kostbaren Salbe einsalbt, da mit dem, was sie gekostet hat, viele Arme gespeist werden können, ist ein Fingerzeig. Jesus weist bekanntlich diesen Protest ab.
Allmählich waren die Geistlichen selbst diese Armen, die zu bespeisen man für die Pflicht der Gemeinde hielt.
Im vierten Jahrhundert fließt von den Einnahmen der Kirche ein Drittel den Bischöfen, ein Drittel den Geistlichen und nur das restliche Drittel den Armen in der Gemeinde zu. Bereits im zweiten Jahrhundert (Lukas 10, 1-14) kannte man die unter siebzig Menschen (im Mittelalter fratres sportulantes) systematisch geordnete Bettelei. Um bessere Resultate zu erzielen, sollten diese siebzig nur zu zweit und zweit gehen.
Mit dieser Organisation der Almosenerhebung hängt das Verbot gegen das Nehmen von Zinsen und gegen allen kapitalistischen Gewinn zusammen. Wir haben jedoch gesehen, daß die Auffassung hier nicht konsequent, sondern vielseitig war (vergleiche » Die Jesussage«, S. 109, das Gleichnis von den zehn Pfunden). Ihre Wurzel hat die strengere Auffassung in den humanen Bestimmungen des 5. Buches Mose, die nicht allein Zinsen ganz unerwähnt lassen, sondern für den Armen Darlehen, ja, Geschenke fordern, so daß er nie mit leeren Händen fortgeht (15, 13). Dies war auch die Auffassung der Propheten vom Gemeinwesen, und von ihnen muß sie ins Gesetz hineingebracht worden sein, da die meisten dieser Propheten älter sind als die Niederschrift des sogenannten Gesetzes Mose.
Die Kirchenväter betrachteten Zinsen als Wucher, als Ausnutzung der Not der Nächsten. Das Nehmen von Zinsen wird primitiverweise aufgefaßt als der Wille, dort zu ernten, wo man nicht gesät hat, oder Lohn zu nehmen, obwohl man nicht gearbeitet hat.
Lange hielt sich diese unpraktische Gesellschaftsordnung nicht.
Da die Frage von der Zulässigkeit von Zinsen in den Evangelien widerspruchsvoll gelöst war, geschah es, daß die Kirchenversammlung in Elvira im Jahre 306 jedem, der Zinsen nahm, mit dem Banne drohte, während die entscheidende Kirchenversammlung in Nizäa im Jahre 325 nur den Männern der Kirche verbot, Zinsen zu nehmen, es allen andern jedoch freistellte. Man nahm also schließlich keine Rücksicht auf die Worte bei Lukas 6,34, wo es als schändlich hingestellt ist, wenn man das Entliehene wiederhaben will, oder bei Matthäus 5, 40-42, wo es als eine schlechte Handlung angesehen wird, nicht sein Hemd fortzugeben, wenn man zwei hat, und wo es als Pflicht hingestellt wird, Darlehen zu geben.
Da an anderer Stelle im Gleichnis von dem anvertrauten Pfunde das Zinsennehmen nicht weniger leidenschaftlich als Pflicht aufgefaßt ist, wählte die Kirche, wie zu erwarten war, den einfachsten Weg. Und bald war selbstverständlich das Gesetz, das den Männern der Kirche verbot, Zinsen zu nehmen, in Vergessenheit geraten.
Callistus, römischer Papst 217-222, war nach dem, was sein späterer Gegenpapst Hippolytus erzählt, zuerst Sklave bei einem vornehmen Christen, der ihm eine größere Summe zur Verwaltung in einer Bank aushändigte. Callistus verkaufte alles, was Witwen und andere Gutgläubige in der Bank angelegt hatten, für sich, wurde zur Rechenschaft gezogen, floh, wurde ergriffen und in die Tretmühle geschickt. Auf Fürbitte christlicher Brüder wurde er vom Präfekten zur Arbeit in den sardinischen Bergwerken begnadigt. Hier hatte er, der ebenso schlau wie unternehmungslustig war, Gelegenheit, sich die Gunst Marcias, der allmächtigen christlichen Geliebten des Kaisers Commodus, zu erwerben, wurde auf ihre eindringliche Empfehlung freigelassen und darauf zum Papst erwählt. Dieser Callistus hatte es offenbar vermocht, sich Freunde zu schaffen durch das, was das Evangelium den ungerechten Mammon nennt. Er war das unzweideutige Spiegelbild des ungerechten Haushalters, der bei Lukas (16, 9) geschildert und gepriesen wird. Marcia war gleichzeitig ein echtes Exemplar der schönen Sünderin, die bei Lukas (7, 37) Erbarmen mit Jesus, in diesem Falle mit seinem Stellvertreter auf Erden hat. Wer weiß, ob der Evangelist nicht an Callistus und Marcia gedacht hat, als er die Sage von der Sünderin in seine Erzählung einflocht. Marcia hatte nach Aussagen des berühmten Katholiken Ignaz Döllinger (den der scharfzüngige Heine erzinfam nannte, der aber ein durch und durch braver und tapferer Mann war) eine eifrige christliche Gesinnung, und der Genuß der Sakramente wäre ihr sicher nicht vorenthalten worden.
Als dann im Jahre 321 Kaiser Konstantin der Kirche Rechte als juristische Person und damit das Recht, Legate zu erhalten und zu verwalten, ferner das Recht, Grundbesitz zu erwerben, verlieh, begann eine neue Zeit für die Kirche. Schon im dritten Jahrhundert war sie durch allerlei Geschenke und Testamente in den Besitz eines Zehntels von dem unermeßlichen Grundbesitz des Reiches gelangt. Die Geistlichkeit war zum christlichen Gottesstaat geworden. Ihr Grundbesitz war nicht mehr gemeinsames Eigentum; er gehörte einem einzelnen, unsichtbaren Herrn, der im Jenseits lebte. Die Hauptsache war jedoch, daß ihr Grundbesitz im Gegensatz zu dem des politischen Staates entschieden unveräußerlich war.
Die Göttersöhne werden zum ersten Male im Alten Testament, Genesis 6, 2, 4, erwähnt: »Da sahen die Söhne der Götter nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten.« In dieser Sage ist Gott noch in der Mehrzahl.
Die nächste Stufe ist, daß Gott, nachdem er dem Propheten Hosea den sonderbaren Befehl gegeben hat, eine Dirne zu heiraten, und nachdem er verschiedenes Schlechte über ihre Kinder gesagt hat, merkwürdigerweise umschlägt. Als sie Israel geboren hat, dessen Knochen Gott zuerst im Tal Jisreel zerbrechen zu wollen erklärt hat, wird der Herr andern Sinnes und sagt: »Es wird aber die Zahl der Kinder Israel sein wie der Sand am Meer, den man weder messen noch zählen kann. Und soll geschehen an dem Ort, da man zu ihnen gesagt hat: Ihr seid nicht mein Volk, wird man zu ihnen sagen: O ihr Kinder des lebendigen Gottes!« (Hosea 1, 10.)
In übertragener Bedeutung sind die siegreichen jungen Makkabäer zweifellos die Söhne Jahves genannt worden. Die Völker huldigen durch Unterwerfung den Söhnen Jahves.
Im Neuen Testament ist die Kriegsposaune verstummt. Hier sind es die Friedfertigen, die selig gepriesen werden; sie, nicht die Krieger, heißen Söhne Gottes.
Allmählich wird es der, welcher die Weisheit liebt, der göttliches Leben hat. Gott selbst liebt die Weisheit (seine Sophia aus den Sprüchen Salomons). Sophia ist die heilige Mutter der Wahrheit, die der Welt ihren einzigen Sohn schenkt. In den Sprüchen treffen wir Sophia als Helferin Gottes bei der Schöpfung. Zuletzt begegnen wir ihr als der jungfräulichen Mutter Gottes, die im Evangelium Johannis dem Johannes überantwortet wird, als wäre sie auch seine Mutter, wodurch man ihn plötzlich zum Halbgott befördert sieht. (Johannes 19, 27.) Sie bleibt die Erbin des Geistes des mißhandelten Erlösers.
Wie wir erfuhren, war Gottes Sohn zuerst ein Stammesname, dann ein Name für Wesen mit heroischen Eigenschaften, endlich der Name für etwas über die Menschenwelt Erhabenes. Der Sohn ist also keine von Gott mit einer Jungfrau als Mutter gezeugte historische Persönlichkeit.
Die ganze Gemeinde ist Gottes Sohn (Frauen hatten ja keinen Zutritt).
Der Kommunismus des beginnenden Christentums ist auch nicht etwas nur Äußerliches, das die Besitzverhältnisse betrifft; er ist bestimmend für das innere Leben, ist der Katholizismus.
Der sogenannte historische Jesus wird jetzt als eine Gestalt der Vorzeit aufgefaßt; der von der religiösen Phantasie Geschaffene ist der Zukunftsmensch, der Übermensch, ist die schöpferische Kraft kommender Zeiten. Ist er das nicht, so wird er ein einfacher Wundertäter und Sklavenkönig wie hundert Jahre vor ihm Eunus in Sizilien oder Aristonikus, der natürliche Sohn des letzten Königs von Pergamon, oder er wird ein Thaumaturg größten Stils, dessen Leben entschieden Ähnlichkeit mit dem gleichaltrigen Apollonios von Tyana, der Parallelgestalt Jesu in Lehre und Leben, zeigt. Durch die Wunder, die er verrichtet, durch seine Prophezeiungen, Reisen, Abenteuer erregte Apollonios ungeheures Aufsehen. War er ein Scharlatan, dann jedenfalls kein theologischer. Seine Vorstellungen von der Gottheit waren rein; Gott durfte nicht einmal genannt werden.
Apollonios wurde förmlich angebetet, ganz anders als Jesus. Ihm zu Ehren wurden Altäre, Säulen, Tempel errichtet. Münzen wurden geschlagen, die sein Bild nicht weniger als das der Kaiser Caracalla, Aurelian und Alexander Severus trugen. Er wurde in einer romanartigen Biographie dargestellt, die man Flavius Philostratus verdankt, welcher sie auf Aufforderung der Kaiserin Domna schrieb, wurde als das neupythagoreische Ideal aufgefaßt. – Die vielen Briefe von ihm, die man herausgegeben hat, sind wahrscheinlich unecht.
Die entsprechenden Briefe, die seit bald zweitausend Jahren dem Paulus zugeschrieben werden, gehen von der Grundüberzeugung aus, daß alle Menschen in die Macht sündiger Triebe geraten und der Hölle zufallen würden, falls der Gottmensch sie nicht erlöst hätte, indem er sein Leben für sie opferte. Es ist klar, daß Paulus nicht so von einem Zeitgenossen hat sprechen können, über den er nicht einmal Erkundigungen einzuziehen versucht und den er nie gesehen hatte. Er spricht daher in unklaren Worten und Wendungen von einer überirdischen Gestalt, die der Mittelpunkt des Daseins ist.
Es ist unvermeidlich, daß die Paulinischen Briefe, wie schon erwähnt, in das zweite Jahrhundert verwiesen werden müssen. Sie handeln besonders von zwei Gegensätzen: dem zwischen Gesetz und Glauben, und dem zwischen jüdischen und griechischen Christen; Gegensätze, die nicht das erste Jahrhundert, wohl aber unablässig das zweite in Palästina beschäftigten.
Solange der Pharisäismus und die Anhänger der Sekten einander wohlgesinnt waren, gab es keinen Gegensatz zwischen Gesetz und Glauben. Man schrieb von einer Seite den Gesetzesvorschriften eine ähnliche magische Bedeutung zu wie von der andern der »Gnade«, und die Anhänger der mythischen Sekten hielten treu zum Judentum. Eine nicht geringe Duldsamkeit wurde außerdem gegen die Sektierer bewiesen, die sich dem Judentum näherten, ohne sich beschneiden zu lassen, und diese Duldsamkeit war vernünftig, da so die Kinder oder Kindeskinder ohne Schwierigkeit der israelitischen Religion gewonnen wurden.
Als aber im zweiten Jahrhundert eine Trennung zwischen den nationalen und den mystischen Juden eintrat, und als die Mystiker sich als Christen bezeichneten, erstrebten die Weitestgehenden eine völlige Lösung von jüdischer Überlieferung, nicht nur von Beschneidung und Speiseregeln, sondern auch von dem sogenannten mosaischen Gesetz und von den Propheten. Zweifel an der Echtheit der Paulinischen Lehrbriefe sind unüberwindlich.
Der Apostelgeschichte zufolge soll Paulus die Juden seinerzeit in die größte Erregung versetzt haben. Wo er hinkommt, entstehen die heftigsten Streitigkeiten. Wie kommt es dann, daß der beredte und geschwätzige Josephus ganz hiervon schweigt?
Die Steinigung des Paulus in Lystra, unmittelbar nachdem man ihn für einen Gott angesehen und ihm hatte opfern wollen, erscheint höchst auffallend. Noch auffälliger ist, daß er gleich nach der Steinigung aufsteht, als wäre nichts geschehen, in die Stadt zurückgeht und beginnt, sein Evangelium in Pisidien und Pamphylien zu verkünden, dann nach Antiochia fährt und sich von dort nach Zypern einschifft. Alles wird unglaubwürdig, da alles tendenziös und mirakulös ist. Das Erzählte macht den Eindruck von Kindermärchen: Paulus zieht kraft einer Vision nach Mazedonien, treibt den Wahrsagegeist aus einer Frau aus, wird gepeitscht und, die Füße im Stock, im Innersten des Gefängnisses eingekerkert. Da tritt plötzlich ein solches Erdbeben ein, daß die Grundmauern des Gefängnisses erschüttert werden, die Tore aufspringen und alle Bande sich lösen.
Nicht minder seltsam sind die Abreise des Paulus aus Ephesus nach Jerusalem, die lange bewegte Rede, die er beim Abschied aus Ephesus hält, sowie der tränenerstickte Kummer der Gemeinde über seinen Verlust, kurz alles, was in den Kapiteln 15-18 der Apostelgeschichte mitgeteilt wird. Selbst die abenteuerliche Seereise nach Rom mit ihren Ereignissen und Gefahren, die überwunden werden, hat ein Gepräge wie Sindbads Abenteuer in » Tausend und eine Nacht«.
Bezeichnend für die ungleichartige Inspiration in der Apostelgeschichte ist der Umstand, daß, während einer älteren Grundauffassung zufolge Petrus Apostel der Juden, Paulus der der Heiden ist, Petrus hier ausdrücklich behauptet (15, 7), Gott habe ihn gerade als den erwählt, aus dessen Mund die Heiden Gottes Evangelium hören und durch den sie zum Glauben gebracht werden sollen.
Im übrigen hat ja aber in dieser unordentlich redigierten Schrift Paulus dem Petrus völlig den Wind aus den Segeln genommen. Ja, der Ton, in dem die Erlebnisse und Taten des Paulus erzählt werden, drängt einem fast den Eindruck auf, daß dieser Paulus der Mysteriengott einer früheren Zeit war, der zum Apostel erniedrigt und (wie in verschiedenen Fällen Petrus) eine Art Doppelgänger von Jesus geworden ist.
In den Evangelien, die keineswegs Geschichte, sondern Tendenzschriften sind, beruhen die Widersprüche auf dem Grundgegensatz zwischen Gottheit und Menschenwesen. Als Jesus von einem Jünger mit »guter Meister« angesprochen und gefragt wird, was man tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, weist Jesus die Anredeform zurück: »Was heißt du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott.« So bei Markus 10, 18, bei Lukas 18, 18. Matthäus, den es verletzt hat, daß eine Persönlichkeit, die nicht nur vollkommen schuldfrei, sondern auch der einzige Sohn der Gottheit ist, diese Anredeform zurückgewiesen haben soll, die ihm so völlig zukommt, läßt Jesus die etwas mattere Antwort geben (19, 17): »Niemand ist gut außer einem, der Gott ist.«
Auffallend ist, daß der Märtyrer Justinus, für den Jesus ein überirdisches Wesen war, weit entfernt, sich an der Antwort zu stoßen, darin nur einen Beweis für den erhabenen Gedanken des Messias sieht, der Gott allein die Ehre gab, offenbar im Gegensatz zu den Anbetung fordernden römischen Kaisern.
Das Ideal der ursprünglichen Christen war Demut, und da die göttliche Persönlichkeit, die angebetet wurde, auch sittliches Ideal war, wollte die Gemeinde diesen Zug mit in der Verkündigung oder im Mysterienspiel haben.
Für den Märtyrer Justinus gab es in dieser Darstellung nichts, was Anstoß erregen konnte. Erst im vierten Jahrhundert brachte die Frage von der Ebenbürtigkeit oder Nichtebenbürtigkeit von Vater und Sohn weite Kreise in Aufruhr. Früher fühlte man die Schwierigkeit nicht, und der erste Evangelist kann die Ebenbürtigkeit angenommen, der zweite den Messias als ein geringeres Wesen als den Vater betrachtet haben, ohne daß es beachtet wurde.
Alle Schilderungen in den Evangelien erweisen sich also als reine Mythen oder als Darstellungen von ins erste Jahrhundert zurückdatierten Zuständen aus dem zweiten. Daher weiß Josephus nichts von seinem berühmten Zeitgenossen Paulus. Für die Evangelisten galt es, den Juden die ungeheuerliche Anklage ins Gesicht zu schleudern, daß sie Gottesmörder seien. Für die Urheber der Apostelgeschichte galt es, die zu Christen gewordenen Juden zu bewegen, ohne Gewissensbisse die Beschneidung und das Verbot gewisser Speisen aufzugeben, so daß sie gemeinsam mit ihren aus der Heidenschaft kommenden Glaubensgenossen die neue Kirche ausmachen konnten.
Es wurde ihnen also erzählt, daß gleich nach der Auferstehung das Pfingstwunder die Trennung zwischen Sprachen und Völkern aufgehoben hätte, ferner, daß ein früher fanatischer Jude durch eine Vision in den Wolken zum Apostel der Heiden bekehrt wäre, daß weiter die Gemeinde in Jerusalem seine Nachsicht gegen die billigen müßte, die die jüdischen Gebräuche nicht beachteten, weil sogar Petrus durch mirakulöse Gesichte dazu bewogen worden wäre, Heiden zu taufen. Wenn es bei Paulus heißt, daß Kephas (Petrus) zuerst mit Paulus in der schonenderen Haltung einig war und selbst mit Heiden zusammen aß, sich aber später durch Fanatiker umbestimmen ließ, so können wir hieraus nicht auf eine ernste Spaltung zwischen griechischen und jüdischen Christen schließen, sondern nur sehen, daß der jüdische rechtgläubige Wandel erschüttert war, da der Mysteriengott sich von der Mutterkirche löste, so daß man gezwungen war, eine neue einigende Grundlehre zu suchen. Irgendwelche historische Bedeutung hierüber hinaus hat das, was im zweiten Kapitel des Briefes an die Galater erzählt wird, sicher nicht. Historische Bedeutung hat, was von scheinbaren Tatsachen in den Paulinischen Briefen mitgeteilt wird, aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt nicht.
Aber ein Ereignis aus dem letzten Drittel des ersten Jahrhunderts erregt Aufmerksamkeit in den Evangelien, nicht gerade als historisch, sondern weil sie einen Wink bezüglich der Entstehungszeit gibt. Die Zerstörung Jerusalems ist als Prophezeiung eingefügt. Matthäus läßt deutlich Jesus, wenn er am stärksten die Pharisäer schmäht (Kapitel 23 und 24), direkt die Zerstörung Jerusalems und den Bürgerkrieg zur Zeit Bar Kochbas prophezeien. Alle Schrecken, die mit Bürgerkrieg, Hungersnot und Massenmord verbunden sind, werden mit einer Lebendigkeit geschildert, die verrät, daß der Verfasser selbst Augenzeuge dessen gewesen ist, was er schildert. Ganz in Übereinstimmung hiermit sind bei Lukas (23, 28) Jesus, als er zum Tode geführt wird, die berühmten Worte in den Mund gelegt: »Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder«, worauf er weiter darstellt, wie schlimm es der eroberten Stadt ergehen wird.
Diese dem der Voraussetzung nach fast ein Jahrhundert zuvor gestorbenen Jesus in den Mund gelegten Worte scheinen aus den Jahren nach der Zeit Bar Kochbas, der im Jahre 135 starb, zu stammen.
Die Zerstörung Jerusalems erfolgt für das Bewußtsein des jüdischen und christlichen Altertums nie aus natürlichen Ursachen. Die Auffassung ist überall theologisch. Für Josephus sind Räuber und Zauberer die Urheber des Unterganges. Origenes faßt die Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Ermordung des Jakobus auf, der der Bruder des Herrn genannt wird. In früheren jüdischen Schriften ist der Untergang die Strafe für die Sünden des Volkes, das heißt die Nachlässigkeit in der Befolgung von Gesetzesbestimmungen und die Annäherung an Fremde.
Auffallend ist in der Apokalypse (der sogenannten Offenbarung Johannis) der tödliche Haß des Autors gegen das Tier mit den sieben Köpfen, das heißt, das auf sieben Hügeln erbaute Rom.
Im sogenannten 4. Buche Esra können wir die Umbildung des nationalen Judentums verfolgen. Esra soll nach der ersten Zerstörung Jerusalems leben (die zweite ist gemeint); er wohnt in Babylon (das heißt Rom) und unterhält sich mit einem Engel des Herrn, den er nach dem Sinn des Unglücks ausforscht. Er kann nicht begreifen, daß Jerusalem gestürzt ist, daß das Volk Gottes in der Verbannung lebt, und daß Heiden triumphieren. Wohl haben die Juden gesündigt, aber das haben die andern Völker auch. Hier herrscht eine Mischung aus Seelenangst, Mitleid mit den Sündern und einem Drang, an die Gerechtigkeit Gottes zu glauben, die nicht bezweifelt werden darf. Damals ließen die Schriftgelehrten möglichst viele von den Stellen in den Gebeten aus, an denen von Gottes Barmherzigkeit die Rede war, und eiferten gegen die Behauptung der Gnostiker, daß der Gott Israels einem anderen, höheren Gott des Erbarmens untergeordnet wäre. Sie behaupteten, Gott hätte die Sterne erschaffen; diese wären also nicht, wie die Mystiker lehrten, feindliche Dämonen. Die Fürsten der Planeten und des Tierkreises hinderten die Seele keineswegs, zu Gott emporzusteigen.
Verhielt es sich aber so, dann war ein entscheidender Schlag gegen die Hauptvoraussetzung der neuen Lehre geführt. Ein Mittler wurde unnötig; man brauchte den Gesalbten als Erlöser und Erretter nicht mehr. Er mußte einem politischen Messias weichen, dessen eigentliche Aufgabe es war, die Feinde der Juden zu vernichten.