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II.

Baptist war nun nach mehrstündiger Fahrt bereits in seinem gemieteten Stüblein eingezogen, der Vater aber hatte den Heimweg angetreten.

Das Häuschen, in dem er freundliche Aufnahme gefunden, gehörte einer armen Schuhmachersfamilie. Es befand sich in einer sehr engen Seitengasse, die aber nur aus einer Reihe Häuser bestand, die andere war durch einen langen Zaun vertreten, der schöne Gärten einschloß. Da mochte es im Frühjahr und Sommer ganz schön sein; jetzt aber hatten die Bäume ein kahles Aussehen; nur noch wenige Blätter hielten sich an den Zweigen fest, teils von Herbstnebeln eingeschrumpft, teils fahl und verwelkt. Die auf dem Boden zerstreut umherliegenden roten und gelben Blätter waren von unbarmherzigen Fußtritten zertreten; alles bot ein Bild der Zerstörung. Baptists Stüblein war so winzig klein, wie etwa die Gnomen im Bergesschoße sie haben mögen. Kaum, daß die kurze und schmale Bettlade Platz fand; statt des Tisches und Stuhles aber mußte Baptists Kiste dienen, und der übrige Raum war eben groß genug, um sich ankleiden und umdrehen zu können.

Baptist brauchte auch keine größere Stube, denn ein Ofen zum Einheizen befand sich nicht drinnen und wäre durch den Mangel an Holz auch vollkommen überflüssig gewesen,- also mußte er in den Wintermonaten eine Unterkunft in der Familienwohnstube suchen, wo ihm auch ein Platz am Tische und zunächst an der Lampe ausgemacht war.

Baptist verbrachte den Rest des Nachmittags vor seiner lieben Kiste, in der er herumkramte. Es wurde ihm dabei fast stolz und dann wieder abwechselnd weh und traurig zumute. Früher hatte er nie ein Eigentum gehabt, und er kam sich mit seiner eigenen Kiste ganz reich, auch schon wie ein Herrlein vor. Dann aber gemahnte ihn alles an die Heimat, an die Sorgfalt der Mutter, und daß er sie alle mitsammen lang, lang nicht mehr sehen werde und daß er hier ganz einsam sei. Er verglich die rundliche Gestalt, die gutmütigen Kugen und die ländliche Sprache seiner Mutter mit der großen, mageren Schusterin, die in schrillem Tone dem einen oder anderen der Kinder rief und die er oft nicht recht verstand. Da wurde es ihm schwer und bang im Herzen, und er war froh, wie er ins Bett kriechen und alles verschlafen konnte. Der Schlummer ließ auch nicht lange auf sich warten; ein mitleidiger Traum führte ihn zu Vater, Mutter, den Geschwistern, und der ehrwürdige Pfarrer lächelte ihm Mut ins Herz.

Als er erwachte, kostete es ihn Mühe, sich in seinem Stüblein zurechtzufinden. Endlich war ihm alles klar, und er sprang fröhlich aus dem Bette, denn heute sollte ja das rechte Studieren, freilich vorerst nur mit der Aufnahme beginnen. Nachdem er seine Frühstückssemmel gegessen hatte, ging er die Gasse entlang, die gerade in den weiten Platz vor dem Studiengebäude auslief. Viele Knaben seines Alters scharten sich hier zusammen; er kannte keinen und getraute sich nicht näher zu treten. Dann folgte er ihnen unbeachtet in das Haus und in das Studienzimmer.

Der Professor war ein noch junger und sehr freundlicher Mann, der die ihm bekannten Schüler mit einigen Worten begrüßte und die fremden gleich zutraulich zu machen wußte. Unser Baptist zog sein Brieflein hervor, das ihm der Herr Pfarrer zur Empfehlung mitgegeben hatte, und reichte es dem Professor errötend dar; dieser erhob die Augen vom Blatte, betrachtete seinen neuen Schüler wohlgefällig und sagte scherzend: »Nun, kleiner Student, lern' nur so fleißig weiter, wie du daheim angefangen hast!«

Diese Rede tat dem fremden Knaben wohl, und er hätte seinem Professor gern die Hand geküßt, wie er sonst beim Pfarrer getan hatte; aber er getraute sich nicht; tat es ja keiner der übrigen Knaben. Sein Herz hing bereits an dem freundlichen Professor, und alle Scheu war entschwunden.

Bald war die herkömmliche Feierlichkeit der Klasseneröffnung zu Ende. Baptist trat nun mit viel schwererem Herzen den Weg an, um in den fremden Häusern seine Empfehlungsbriefe abzugeben. Das Städtlein war nicht groß, und überall konnte man ihm die erbetene Auskunft geben. Es war auch nicht so prächtig; aber gegen die Hütten seines heimatlichen Dorfes kamen ihm diese Häuser doch wie Paläste vor. Da pochte sein Herz gewaltig in Scheu, und er kam aus der Verlegenheit gar nicht mehr heraus. Es ging damit schon an, wenn er die Stiegen emporsprang; vor der Gangtür blieb er oft stehen, ehe er anläutete, nur um zu Atem zu kommen. Die Mägde, die ihm öffneten, sah er meist für die Frauen, die Bedienten für die Herren an und bückte sich im tiefsten Respekt vor ihnen, daß er nicht selten tüchtig ausgelacht wurde. Hie und da erging es jedoch noch übler. Man ließ ihn unbeachtet stehen oder empfing ihn mit groben Worten, sodaß er augenblicklich unverrichteter Sache wieder davonlief.

Drang er nun bis zur Herrschaft selbst durch, dann hatte er gelungenes Spiel; seine treuherzigen, blauen Augen, das frische Aussehen, die blond gelockten Haare, sein bescheidenes Wesen gewannen rasch alle Herzen, und manche Mutter fühlte ein Bedauern mit dem Knaben, der schon in jungen Jahren so einsam in die fremde Stadt ziehen mußte.

Endlich waren auch diese sauren Gänge überstanden, und Baptist hatte auf seinem Blättchen für alle sieben Tage verschiedene Kosthäuser verzeichnet; da und dort bekam er auch gleich zum Antritte ein Monatgeld, womit er seine übrigen Auslagen bestreiten sollte.

Als er heute in sein Stüblein kam, zog er mit Heißhunger die unterwegs gekaufte Wurst hervor und verzehrte sie nebst einem Stücklein Brot. Dann nahm er sein lateinisches Buch zur Hand, um sich für den morgigen Anfang vorzubereiten. Auf die schule war ihm nicht mehr angst, desto banger machte ihm aber der Gedanke, morgen zum ersten Male in einem vornehmen Hause essen zu müssen. Dennoch fürchtete er sich dabei weit mehr vor der Dienerschaft als vor der Herrschaft. »Wie wird dir's da gehen!« flüsterte sein schüchternes, beklommenes Herz. Und es ging dem armen Jungen anfangs in den fremden Häusern mit ihren fremden Sitten allerdings etwas mißlich. Meistens durfte Er entweder am Familientische, oder, war die Zahl der Familienglieder groß, mit den Knaben an einem eigenen Tischlein essen. Da wußte er oft nicht, wie er mit Messer und Gabel zurechtkommen, dieses und jenes zum Munde bringen sollte. Er schielte zu seinem kleinen Nachbarn hinüber und bestrebte sich, es ihm nachzutun. Dies fiel aber meist ungeschickt aus, die Gabel entfiel seiner Hand, ein lautes Gelächter erscholl auf seine Kosten, und seine Wangen glühten vor Beschämung. Auch kamen Speisen auf den Tisch, die er zuvor nie gesehen oder gekostet hatte. Aus Besorgnis, wieder eine Ungeschicklichkeit zu begehen, dankte er und ging oftmals nur halb gesättigt fort. Baptist hatte aber des Tages nur diese eine Mahlzeit; denn seine Kasse reichte nicht weiter als für ein Stückchen Abendbrot. Dies genügte dem elfjährigen Magen (und wie begehrlich ist ein solcher!) manchmal nicht, und er mußte sich hungrig zu Bette legen. Doch das störte seinen heiteren Sinn nicht, und allmählich ging es ihm auch bei seinen Kosttagen besser. Er lernte städtische Sitten und Gewohnheiten kennen, die Knaben gewannen ihn lieb, und bei allen war er seines bescheidenen Wesens halber wohl gelitten. Die Hausväter erkundigten sich nach seinen Zensuren, und da kam es nicht selten vor, daß Baptist zum Beispiel für die eigenen Kinder dienen kannte.

Gleich bei der ersten schriftlichen Arbeit hatte sich gezeigt, daß der Bauernbube, wie ihn seine Mitschüler nannten, wohl unterrichtet sei und »etwas los« habe. Sie bekamen allmählich Respekt vor ihm, besonders da er keinen durch Anmaßung verletzte und jedem gefällig war, wenn es ihm auch ein klein wenig schaden brachte. Der Professor merkte dies wohl und hatte seine Freude an dem munteren Burschen. Oft sah er ihm nach, wie er auf dem Heimwege sich die harmlosen Neckereien gefallen ließ und hinwiederum auch manchen Puff austeilte, ohne aber einem ernstlich wehe zu tun. Baptist kam nie unvorbereitet in die Schule, und wenn alle übrigen einmal bei der Aufgabe, die hie und da zu groß ausfiel, stockten, Baptist glich stets einem geübten Reiter, der fest in seinem Satte! sitzt, auch wenn es über Stock und Stein geht, hätte der Professor erst gewüßt, mit welchen Hindernissen der Knabe zu kämpfen habe, er hätte ihn wirklich bewundert.

Wie schon erwähnt, war die allgemeine Wohnstube zugleich sein Lernzimmer. Immer und immer erscholl der Hammer des Meisters oder der Gesellen; bald klopfte der eine, bald der andere das Leder. Dazwischen plauderten sie miteinander, oder ein Nachbar kam des Abends, oder die Kinder schrieen und weinten, daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Da saß unser Baptist oft ganz verwirrt da, steckte in jedes Ohr einen Finger, nur um nichts zu hören; aber alles reichte nicht aus, die lateinischen Wörter wollten nicht in den Kopf hinein. Da versagte er sich oft sein Abendbrot und kaufte dafür eine Kerze, die er in aller Frühe heimlich anzündete, um im kalten Stübchen noch die Aufgabe zu lernen, wie gut kam es ihm nun zustatten, daß er von frühester Kindheit auf nicht verwöhnt, sondern abgehärtet worden war und daß er schon bei seiner Vorbereitung zu Hause mit allen Hindernissen zu kämpfen gehabt hatte! Wenn er aber dann einen guten Platz, ja oftmals gar den ersten errang, dann jubelte sein Herz in wahrer Glückseligkeit. Er dachte sich schon über das ganze Jahr hinüber und malte sich die Freude aus, wenn er nun mit einem schönen Preise zu den Eltern und zum Pfarrer hintreten durfte.

So schwand Monat um Monat unter Freuden, Mühen und Entbehrungen; das Frühjahr hatte sich bereits eingestellt, und die Gärten prangten im Blütenschmucke. Da freute sich Baptist über die frühen, hellen Morgenstunden, sprang beim ersten Sonnenstrahl aus dem Bette und konnte nun ganz ungestört lernen. Jetzt tat er es allen zuvor, und seine Kameraden, die mit ihm um den Platz stritten, sagten oft halb im Ärger, halb im Scherz: »Bauernbub', dich soll der Kuckuck holen!« Aber sie hatten ihn nichtsdestoweniger gerne, bis auf einen, der unserem armen Baptist, wie sich zeigen wird, das Ende des Schuljahres bitter und sauer machte.


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