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Mein Institut ist reizend gelegen, von den Fenstern des umfangreichen Gebäudes hat man einen weiten Blick auf Berge, über Auen und Wälder, und der erste Schritt aus der Klosterpforte führt in drei aneinandergrenzende Gärten. Aber wir verbringen daselbst nur die Zwischenstunden; des Abends und an Vakanznachmittagen geht's hinaus, paarweise, angeführt und geleitet.
Das ist ganz hübsch für gewöhnlich; doch bisweilen regt sich der Freiheitssinn unbändig in den großen Mädchen, »Keinen Schritt allein, als ob wir kleine Kinder wären! Als ob wir etwas Böses beabsichtigten, als ob wir nicht selbst auf uns acht geben könnten!« rumort es in den rebellischen Köpfen, und eines Tages verbanden wir Großen uns zu einem Komplotte, bei nächster Gelegenheit die Überwachung abzuschütteln, um den Beweis zu liefern, daß man uns Vertrauen schenken könne.
Die Gelegenheit zur Ausführung dieses Komplotts ergab sich bald mit dem Namenstage unserer Oberin. Solche Feste sind im einförmigen Institutsleben wahre Jubeltage. Da gibt's Theater, Konzerte, lebende Bilder, Extraspeisen und -getränke; man legt die Uniform ab und zieht ein weißes Ballkleid an. Wenn nun zu solcher Festfeier auch noch die Liebe den Takt schlägt, dann geht's eine Woche lang in gehobener Stimmung. Allerdings fallen einige Lehrstunden aus; aber während die Bücher ruhen, arbeitet das Gemüt umsomehr.
»Wie soll dieser Tag gefeiert werden?« Das war längst die große, alle Gedanken bewegende Frage. Endlich war man in der Hauptsache übereingekommen, und zur Ausführung sollten als Festkomitee aus jeder Klasse zwei gelost werden. Wir berechneten, daß damit den »Großen« ein Übergewicht zufalle, und hofften auf die Gunst eines glücklichen Griffes bei den Kleinen. Es fügte sich auch beinahe wunderbar nach unseren Wünschen; die Fingerchen zogen, wo unsere Augen verlangend weilten, und das Dutzend bestand aus den lebhaftesten Köpfen sowie aus den nachgiebigsten Gemütern.
An die Spitze des Unternehmens ward ich berufen, als Namensschwester der Frau Oberin. Nun begann ich mein Amt damit, den Kleinen unseren Plan vorzutragen, und natürlich stimmten sie mit hochwichtiger Miene bei, als ob er ihren Köpfen entsprungen wäre. Als kleines Festgeschenk war ein in Leder gebundenes Buch zur Eintragung der Hauschronik erwählt und bereits bestellt worden. Die Komiteemitglieder sollten nun in ihren Klassen die Beiträge sammeln, denn wir durften es nicht vom Gelde der Eltern, sondern sollten es vom eigenen Taschengelde bezahlen, das wir am Ersten des Monats erhielten, Ach, und wir waren bereits am 22. angelangt, dazu noch in der Erdbeerzeit!
Ferner hatte eine Dichterin der sechsten Klasse den Festprolog verfaßt; er war von den meisten auswendig gelernt worden, und es blieb nur noch zu entscheiden, wer ihn am schönsten vortrüge. Dann fehlten noch die Blumenkränze und die Laubgewinde, alles übrige war unter der Leitung der Musiklehrerin und Präfektin bereits aufs beste eingeübt worden.
Aber was ist alles ohne Überraschung? In ähnlicher, fast gleicher Art war jedes Namensfest gefeiert worden. Dieses Mal sollte etwas Besonderes dabei sein, und wir hatten auch etwas hierzu Geeignetes: ein vierjähriges Kindchen, das noch nichts lernte, nicht bei uns wohnte, selten mit uns spielte, sondern sich gänzlich in Obhut der Frau Oberin befand. Irenchen war uns gerade deshalb das »Märchenprinzeßlein«, der allgemeine Liebling, und somit auserwählt, beim Feste eine Rolle zu spielen. Da die Oberin viel kränkelte, sollte Irenchen als Engel gekleidet ihr eine Schale mit Kräutertrank überreichen und hierzu ein kurzes Sprüchlein sagen. Aber diese Einübung mußte zur Verhütung des Ausplauderns auf den spätesten Termin verlegt und die Kleine hierzu in unsere Gewalt gebracht werden. Dies bildete noch einen Teil unseres Komplottes.
Der Augenblick zur Ausführung war gekommen; ich sollte den Gang zur Präfektin antreten. Von den Blicken meiner Mitverschworenen begleitet, schritt ich anfangs keck und rasch den langen Gang dahin. Allmählich trat ich leiser auf, meine Finger spielten mit dem Brustlatze der Schürze, wie ich zu tun pflegte, wenn ich in Verlegenheit geriet; und als ich bei der Tür ankam, hing er auch, der Stecknadel ledig, herab. Seufzend bemerkte ich dies Zeichen meiner Mutlosigkeit; aber indem ich mich suchend nach der Stecknadel bückte, gewann ich Zeit, mich wieder aufzuraffen. Alles in bester Ordnung! Ich klopfe, lausche und öffne auf das gerufene »Herein!« die Tür.
Wie unzählige Male war ich mit freudepochendem Herzen, ohne jegliche Furcht und Scheu vor dieser Tür gestanden, denn in unserem Institute herrschte die größte Gemütlichkeit! Offen und vertrauend konnten wir alles sagen und wußten im voraus, daß unsere Wünsche auch ein geneigtes Ohr fanden. Aber die heutige Bitte hatte eben einen dunklen Hintergrund.
Ich gab mir alle Mühe, recht unbefangen das bisher Verabredete und Geschehene vorzutragen und rückte nun mit der Bitte heraus, uns das Irenchen zu verschaffen und – und – und – uns zu gestatten, uns, dem Festkomitee, allein mit Irenchen heute nachmittag in das nahe »Kirchholz« zu gehen, dort Blumen zu pflücken, Kränze zu flechten und die Gedichte einzuüben.
Alles dieses hatte ich mit gesenktem Blicke gesprochen; mein Herz pochte rascher in der lautlosen Pause. Ich glaube, unsere Präfektin war etwas überrascht und bedurfte Zeit, sich die Sache zurechtzulegen, um den eigentlichen Grund zu erforschen. Nach einer Weile drückte und ängstigte mich dieses Schweigen, und ich schaute verstohlen empor; aber ihr Blick erfaßte den meinigen. Jetzt war ich verraten und verloren; jetzt gab's für mich kein Versteckensspiel mehr. Dieser Blick hatte seit fünf Jahren mein Inneres viel zu gründlich erforscht und kennen gelernt.
Sie sprach: »Gut! Ihr mögt den ganzen Nachmittag zu diesem Zwecke frei haben. Nenne mir die auserwählten Komiteemitglieder, damit ich ihre Namen verzeichne und den Klassenlehrerinnen Mitteilung mache!
Sie ergriff ein Blättchen Papier nebst Bleistift und schrieb, während ich diktierte. Da schmunzelte sie bisweilen und bemerkte: »Ei, wie das Los euch günstig war! Man hatte keine zweckdienlichere Wahl treffen können.« Dann überlas sie: »Sechste Klasse: Du, Johanna, als Befehlshaberin und dir zur Seite Marie Huber, die stets Nachgiebige, Sanfte. Fünfte Klasse: Maximiliane Forster, die Poetin, und Hermine, die Schwärmerin. Vierte Klasse: Karoline Padour, der Spaßvogel, und Anna Bayer, der Neckgeist. Dritte Klasse: Therese Sutor und Jenni Weinhard, zwei Arbeitsbienen. Zu guter Letzt die kleinen Handlanger, die nicht mitzureden haben: Wilma, Stanzi, Luka und Berta, aber diese hat etwas Husten und ich setze wenigstens vorläufig Irenchens Namen an deren Stelle.«
Ich triumphierte, aber etwas zu früh, denn nun folgte der Nachsatz: »Fräulein Fanni mag euch ganz allein begleiten. Sie war vor zwei Jahren selbst noch Zögling und versteht sich somit am allerbesten auf eure Pläne. Sie wird nicht störend, sondern vielmehr behilflich sein.«
Das Blut schoß mir ins Gesicht, nicht, als ob ich gegen Fräulein Fanni eingenommen gewesen wäre; aber unser Komplott, unser Komplott, das Höhnen und Spötteln der Mitschülerinnen über mein gescheitertes Unternehmen! Es tobte in mir vor Aufregung, als ob ich bereits ein großes Unrecht begangen hätte.
Der prüfende Blick haftete fest auf mir, ich fühlte ihn über meine gesenkten Mundwinkel streifen. Dann fragte die Präfektin: »Du schweigst, Johanna? Was ist dir nicht recht? Offen heraus mit der Sprache! Nur eine schlechte Sache ist mutlos.«
Das half mir, und ich rief im Tone des Ärgers, der mit jedem Satz an Erregtheit zunahm: »Warum dürfen wir nicht ohne Begleitung gehen? Immer und immer werden wir überwacht wie kleine Kinder, und sechs von uns sollen nächstens in die Welt treten. Aber hier erscheint schon das Wäldchen, hundert Schritt vom Hause, gefährlich! Ja, daheim werden uns die kleineren Geschwister beim Ausgang anvertraut, und hier sind wir nicht verständig genug, um mit den Kleineren Blumen zu pflücken, Kränze zu flechten und Verse einzuüben! Es ist gerade, als ob wir beständig eine Missetat im Schilde führten! Nein, dieses Mißtrauen, dieser Zwang ist unerträglich.«
Mein Zorn hatte sich dermaßen gesteigert, daß ich in Tränen ausbrach; die Präfektin aber schwieg und ließ mich weinen. Zornestränen halten nicht lange an, und als sie versiegt waren, ich mir jedoch Mühe gab, ein paar gewaltsam herauszudrücken, weil mich die lautlose Stille bereits beunruhigte, sagte sie: »Schau' empor, Johanna, und mir ins Auge! Gut; ich will dir deine unartigen Worte weiter nicht anrechnen, sondern nehme an, du brennst vor Verlangen, den Beweis zu liefern für dich und deine Altersgenossen, daß eure Erziehung in diesem Hause gelungen und beinahe vollendet sei. Doch ich habe es nicht mit dir allein zu tun und muß auch erst noch wegen Irenchen sehen. Kommt alle um 3 Uhr zu mir, das Weitere wird sich – so oder so – finden.«
Ich küßte meiner guten Präfektin beschämt und gerührt die Hand und fühlte das Unrecht, so heftig gesprochen zu haben, tiefer als zuvor bei der längsten Strafpredigt. Dann lief ich mit strahlendem Gesichte über den langen Gang; meine Blicke verkündeten den Harrenden einen sicheren Erfolg, und wie nun einmal die Jugend ist, wir hielten alles bereits für gelungen. Jede bekam noch den Auftrag, den letzten Sturm auf die Geldbeutelchen zu machen und das Eingesammelte in die eigene Tasche zu stecken.
Zur anberaumten Stunde gingen wir alle paarweise den Gang entlang zum Zimmer unserer Oberlehrerin. Ich klopfte bescheiden an – – lautlose Stille! – Nach einer Weile klinkte das Schloß, die Tür öffnete sich von innen, es erschien die Präfektin, Irenchen an der Hand haltend und sagte freundlich: »Tretet ein!«
Da standen sie also unter meiner Einführung, vorne die Kleinen, hinter ihnen die Großen, gleichsam als Schutzwache. Unsere Lehrerin sprach: »Johanna hat mir eure Pläne und Wünsche mitgeteilt; ihr wollt der guten Frau Oberin Freude und Überraschung bereiten, und das kann ich nur loben, sie verdient's um euch, Aber ihr wollt auch dabei den Beweis liefern, daß ihr keiner Überwachung bedürfet, sogar die Kleineren überwachen könnt, und ihr Vorderen da wollt den Größeren gehorchen?«
Wir nickten alle zustimmend, die einen und anderen bestätigten es auch mit leiser Bejahung, und die Präfektin sprach weiter: »Ein schöneres Geschenk, als diesen Beweis eurer gelungenen Erziehung könntet ihr der Frau Oberin nicht machen. Nun, wir können's ja probieren, denn im nahen Wäldchen seid ihr nicht der geringsten Gefahr ausgesetzt.«
In unserer Versammlung regte sich's sogleich wie zum Abmarsch, aber die Lehrerin sagte: »Gemach, gemach, die Hauptsache kommt erst! Johanna, dir übergebe ich Irenchen. Kann ich mich fest auf dich verlassen?«
Ich sprach beinahe wörtlich, wie es in der Biblischen Geschichte heißt: »Ich stehe gut für sie! Wenn ich das Kind nicht zurückbringe, will ich mein Lebtag daran die Schuld tragen.«
Diese Worte waren fast deklamatorisch in der Begeisterung aus meinem Munde gekommen. Als meine Blicke sich zu Irene wandten, streiften sie Anna Bayers Gesicht, aus dem Neckerei mir entgegenlächelte. Ich verstand sie und hätte sie am liebsten dafür in die Seite gestoßen, aber dies war nicht der geeignete Moment, auch sprach die Präfektin: »Wie ich an euren Waldkleidern sehe, habt ihr euch bereits fertig gemacht. Wohlan, so geht in Gottes Namen! Ihr hört die Turmuhr schlagen, und du, Johanna, besitzest eine Taschenuhr. Punkt 6 Uhr geht's auf den Heimweg; ich erwarte euch an der Pforte.«
Wir umringten sie und küßten ihre beiden Hände, ich aber griff nach Irenchen. Nun ging's fort, nicht mehr paarweise, sondern in Hast, um die nötigen Sachen als Körbchen, Bindfaden, Messer, Scheren, Bänder, Papier zusammenzuschleppen und von den anderen Abschied zu nehmen. Aber hierzu fand sich keine Gelegenheit. Die weise Verordnung unserer Präfektin hatte bereits alle Zöglinge mit ihren Lehrerinnen zu einem gemeinsamen Ausfluge entlassen.
Ich rief am Ende des Ganges: «In längstens zehn Minuten seid ihr alle im Sprechzimmer!«