Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vierte Reihe: Rundmäuler ( Cyclostomata)
Vergleichung der echten Knorpel- und Knochenfische läßt es fraglich erscheinen, welcher von diesen beiden Hauptabteilungen der Klasse ein höherer Rang gebührt. Anders verhält es sich mit den Rundmäulern ( Cyclostomata). Knorpelfische sind auch sie; aber sie stehen auf einer so tiefen Stufe der Entwickelung, daß man sie eben nur unter die niedersten Fische und Wirbeltiere überhaupt zählen kann. Sie kennzeichnen äußerlich der wurmförmige, fast gleichmäßig dicke Leib, die derbe, schleimige, aber schuppenlose Haut und die gänzliche Verkümmerung aller paarigen Flossen, innerlich vollkommen knorpeliges, rippenloses Gerippe, das eigentlich nur aus der einfachen Wirbelsaite und einem Kopfteile besteht. Das weite, trichterförmig nach hinten verengte Maul wird von kreisrunden Lippen umgeben und trägt auf der inneren Fläche derselben kleine, spitzkegelige Zähne oder richtiger hornartige Verdickungen der Schleimhaut, die die Stelle der Zähne vertreten. Bedeutsam für die Stellung der hierher gehörigen Fische ist der Umstand, daß man bei ihnen eine wirkliche Verwandlung beobachten kann.
Die Ordnung zählt nur eine einzige gleichnamige, über alle Meere der Erde verbreitete Familie ( Petromyzontidae), zu deren Kennzeichnung noch erwähnt sein mag, daß die senkrechten Flossen von vielen knorpeligen Strahlen gestützt werden, und sieben äußerlich durchmündende runde Öffnungen, Kiementaschen, vorhanden sind.
Die Neunaugen oder Pricken ( Petromyzon) bilden die wichtigste Sippe der Familie. Unter den drei in unseren Gewässern vorkommenden Arten steht die Meerpricke, die auch Lamprete und großes Neunauge genannt wird ( Petromyzon marinus), obenan; denn ihre Länge kann bis zu einem Meter, ihr Gewicht bis zu drei Kilogramm betragen. Unter ihren nächsten Verwandten hat sie den gestrecktesten Leib, zeichnet sich auch außerdem durch einen Kranz dicht stehender, zerfaserter Fransen am Innenrande der wulstigen Lippe aus. Die Saugscheibe trägt im Umkreis des Mundes mehrere Reihen einfacher, spitziger und kleiner, in der Mitte größerer Zähne. Die erste Rückenflosse beginnt hinter der Mitte des Rückens und besteht aus einem gestreckten, flach bogenförmigen Hautlappen; die zweite, durch einen bedeutenden Zwischenraum von ihr getrennte, ist anfangs hoch und fällt nach hinten zu ab, geht auch unmittelbar in die Schwanzflosse über, die als ein niederer Hautsaum verläuft und, sich verbreiternd und rundend, die seitlich zusammengedrückte Schwanzspitze umgibt, auf der Unterseite bis zum After sich erstreckend. Die Färbung ist grünlichweiß; die Zeichnung besteht aus schwarzbraunen oder dunkelolivengrünen Marmelflecken, die auf Rücken und Seiten stehen. Mit Ausnahme des Schwarzen bewohnt die Seelamprete alle europäischen Meere und findet sich außerdem an den Küsten Westafrikas und Nordamerikas. Sie bringt den größten Teil ihres Lebens im Seewasser zu, steigt aber gegen den Frühling hin in den Flüssen empor, um zu laichen.
Die Flußpricke, auch schlechtweg Pricke oder Flußneunauge genannt ( Petromyzon fluviatilis), erreicht selten über vierzig, ausnahmsweise jedoch auch gegen fünfzig Zentimeter an Länge und ungefähr einhundert Gramm an Gewicht. Beide Rückenflossen sind voneinander getrennt; die erste ist kurz, abgerundet und etwas niederer als die zweite, die ebenfalls mit der Schwanz- und bezüglich der sehr kurzen, oft nur als Kante angedeuteten Afterflosse verschmilzt. Ein glänzendes Grünlichblau ist die Färbung der Oberseite; es geht auf den Seiten in Gelblichweiß, auf dem Bauche in Silberweiß über; die Flossen sehen Veilchenfarben aus. Auch die Flußpricke lebt im salzigen Wasser, und zwar in allen Meeren, die die Küsten Europas, Nordamerikas und Japans bespülen, und steigt ebenfalls vom Meere aus in den Flüssen empor, um zu laichen, scheint aber auch zuweilen in Seen oder größeren Flüssen ständige Herberge zu nehmen.
Die Sand- oder Zwergpricke, das kleine Neunauge ( Petromyzon planeri), ähnelt der letztgenannten Verwandten, unterscheidet sich jedoch durch geringere Größe, durch Gebiß und Beflossung so entschieden, daß sie nicht verwechselt werden kann. Die erste Rückenflosse geht in die zweite entweder unmittelbar über, oder ist nur durch einen kurzen Zwischenraum getrennt. Hinsichtlich der Färbung unterscheidet sie sich von der Pricke hauptsächlich dadurch, daß der Rücken mehr ins Ölgrünliche spielt. Ihre Länge beträgt zwanzig bis vierzig Zentimeter. Nach den Angaben Yarrells kommt die Sandpricke, die sich über Europa und Nordamerika verbreitet, auch im Meere vor; häufiger aber findet sie sich im Süßwasser, und zwar fast allerorts, bis zu den kleinsten Nebenbächen empor, da, wo der Grund günstig, das heißt weichsandig oder schlammig ist, meist in sehr großer Anzahl.
Ungeachtet der geringen Ausbildung der Flossen bewegen sich die Neunaugen rasch und geschickt im Wasser. Wo die Strömung nicht bedeutend ist, fördern sie sich durch seitlich schlängelnde Bewegungen; in schnell fließendem Wasser hingegen eilen sie ruckweise vor, saugen sich nach jedem Sprunge an einem festen Gegenstande an, ruhen in dieser Lage, eilen von neuem vorwärts und sind so imstande, selbst reißenden Strömen entgegenzuschwimmen. Daß alle Neunaugen sich aber nicht allein an feste Gegenstände, sondern auch an Fische ansaugen, unterliegt keinem Zweifel; sie zählen unbedingt unter die Schmarotzer und sind für manche Fische sicherlich die gefährlichsten, die auf ihnen sich einnisten können. Wenn man von ihrer Nahrung spricht, gibt man gewöhnlich verschiedene Würmer, Fischbrut und Kerbtiere in den verschiedenen Lebenszuständen als die hauptsächlichsten Stoffe an; alle Beobachter aber stimmen auch in dem einen überein, daß jene sich nebenbei hauptsächlich von dem Fleisch und Blut anderer Tiere, insbesondere anderer Fische, ernähren. Das Ansaugen geschieht nur ausnahmsweise zu dem Zwecke, um sich an einem Gegenstande zu befestigen, in der Regel aber, um sich zu ernähren. Nachdem die Lampreten ihren Saugmund fest an die äußere Bedeckung eines Fisches geheftet, setzen sie ihre Raspelzähne in Tätigkeit, schaben und feilen die Bedeckung durch, bohren sich, weiter und weiter vordringend, immer tiefer ein, verschlingen die abgeschabten Stoffe und fressen so nach und nach einem Fische tiefe Löcher in den Leib, gleichviel ob derselbe lebendig oder tot ist. Am häufigsten sollen sie Fische anbohren, die an einer Grundangel sich fingen; es mögen ihnen jedoch auch kerngesunde oft genug zum Opfer fallen.
Die Laichzeit fällt in die ersten Frühlingsmonate und geschieht unter eigentümlichen Umständen. »Sie laichen«, sagt der alte Baldner von der Meerpricke, »im April, in strengem Wasser, auf Steinboden, tragen mit den Mäulern zweipfündige Steine um die Gruben herum.« Auch die Sandpricke hat Baldner beim Laichgeschäft beobachtet. »Sie hangen an den Steinen hauffecht beyeinander, wo das Wasser starkh laufft; da machen sie dieffe grüblein, darin thut sich das paar mit den Bauchen zusammen, ihre geylheit zu verrichten, welches ich sonsten an keinem Fisch also gesehen, als von den Neunhocken, dieweil sie in den Wassern, da es nicht dieff, leychen, daß mans wohl sehen kann.«
August Müller, der Gelegenheit hatte, das Laichgeschäft dieser Pricke in der Panke bei Berlin zu beobachten, bestätigt die alte Angabe in allen wesentlichen Punkten. Er sah zehn und mehr Stücke der Sandpricke dicht gedrängt beisammen und bemerkte, daß einzelne Milchner sich am Nacken der Rogener festsogen und in einer halben Windung nach der Unterseite desselben hinabbogen, um die abgehenden Eier zu befruchten. Bis zur Zeit der Müllerschen Forschungen hatte man auf den Laichplätzen der Sandpricke einen wurmartigen Fisch bemerkt, der unter dem Namen Querder, Kieferwurm oder Ulen ( Ammocoetes branchialis) wohlbekannt und schon von Aldrovandi beschrieben worden war. Dieses Tier hat bei achtzehn Zentimeter Länge in der Regel nur die Dicke eines Federkieles, einen sehr kleinen Kopf mit kaum sichtbaren Augen, Kiemenlöcher, die in einer tiefen Längsfurche liegen, deutliche Hautringel und matt silberglänzende, auf den Flossen in Gelblichweiß übergehende Färbung. Es findet sich überall ziemlich häufig, hält sich ebenso im Wasser mit schlammigem als mit sandigem Grunde auf und erinnert in seiner Lebensweise mehr an die Würmer als an die Fische, denen es überhaupt erst, nachdem es sorgfältig zergliedert worden war, beigesellt werden konnte. Wie Würmer bohrt es sich in den Schlamm ein; willkürlich verläßt es denselben fast nie; denn von seinen Flossen macht es nur dann Gebrauch, wenn es gilt, sich von neuem wieder im Schlamme oder an ähnlichen Versteckplätzen zu verbergen. An manchen Orten macht man Jagd auf die Querder, schneidet ihnen den Kopf ab, kocht sie in Weinbrühe, Butter und Zitronensaft und hält sie als schmackhaftes Gericht in Ehren; der gemeine Mann verachtet sie jedoch der wurmförmigen Gestalt halber, und der Fischer braucht sie in der Regel nur als Köder, weil sie ein überaus zähes Leben haben und selbst bei bedeutenden Verwundungen noch tagelang leben, sich wenigstens bewegen. Alle Naturforscher betrachteten den Querder als einen den Lampreten sehr ähnlichen Fisch; keinem von ihnen fiel es ein, in ihm noch mehr als einen Verwandten zu erkennen.
Um die Entwickelung der vor seinen Augen befruchteten Eier der Sandpricke zu studieren, entnahm Müller Laich, ließ denselben sich entwickeln und erhielt aus ihm nach achtzehn Tagen junge Fischchen, die zu seinem höchsten Erstaunen von jungen Querdern nicht zu unterscheiden waren und beim weiteren Heranwachsen unzweifelhaft als solche sich herausstellten. Diese Wahrnehmung mußte den Beobachter auf den Gedanken bringen, daß der Querder keine besondere Art sein könne, sondern die Larve der Sandpricke sein müsse. Einmal auf das Ungewöhnliche der Entwickelung der Neunaugen aufmerksam geworden, gelang es Müller, die verschiedenen Verwandlungszustände der Pricken, vom blinden Querder an bis zur ausgebildeten großäugigen Sandpricke, aufzufinden. Daß die Entwickelung und Umwandlung der übrigen Neunaugen genau in derselben Weise erfolgt, unterliegt kaum noch einem Zweifel. Aus allen Eiern entstehen zuerst Querder, die binnen drei oder vier Jahren bis zur Größe von achtzehn bis zwanzig Zentimeter heranwachsen und sodann in sehr kurzer Zeit, im Verlaufe von wenigen Tagen nämlich, in ausgebildete Fische sich umwandeln.
Die Feststellung dieser Tatsache gab noch einen weiteren Aufschluß über das Leben unserer Fische. Schon den alten Forschern war bekannt, daß die Lampreten um die Fortpflanzungszeit »durch viel bewegnuß abnemmen vnd sterben, etliche ehe sie geberen oder leychen«. Man wußte auch, daß sie während des Sommers wenig oder nicht gefunden werden, hatte endlich viele von ihnen tot im Wasser treibend gesehen; ja, ein italienischer Forscher, Panizza, sagt geradezu, daß man die Seelampreten nach beendigtem Laichgeschäfte tot im Flusse auffische. Als nun Müller ungeachtet aller Nachsuchungen bald nach der Laichzeit keine Spur mehr von den in der Panke häufigen Sandpricken auffinden, sondern nur einige ihrer Leichname im Wasser wahrnehmen, er bei genauester Untersuchung der Eierstöcke außerdem niemals Eier verschiedener Entwickelungszustände, wie bei anderen Tieren, sondern kurz nach der Laichzeit immer nichts weiter als die leeren Kelche wahrnehmen konnte, hielt er sich für berechtigt daraus zu schließen, daß die Neunaugen nach der Laichzeit untergehen. Somit ergibt sich, daß unsere so tiefstehenden Wirbeltiere, ähnlich wie so viele wirbellose, ein langes Leben als Larve und nur wenige Tage als erwachsene, bezüglich umgewandelte Fische durchleben.
Zum Fange der Neunaugen bedient man sich meistens mehrkammeriger Reusen, die aus Binsen geflochten und an reißenden Stellen des Stromes aufgestellt werden, wendet hier und da auch Garne an oder gebraucht endlich Gehren und Haken, um diejenigen, die sich am Grunde festgesogen haben, emporzuziehen. Der Hauptfang findet im Frühling statt, wenn die Tiere aus dem Meere aufsteigen; Flußpricken werden aber auch im Herbst erbeutet, da sie um diese Zeit von den Flüssen aus in das Meer hinauswandern. Zum Versand röstet man die gefangenen Fische ein wenig und bringt sie dann in eine reichlich mit Essig und Gewürzen versetzte Lake. Das Fleisch wird bei uns in Ehren gehalten. Im Mittelalter wurden in Frankreich die Neunaugen von Nantes besonders gerühmt, und es gab Händler, die keine anderen Fische nach Paris brachten als diese. Der Begehr war so stark, daß durch königlichen Befehl verboten werden mußte, besagten Händlern entgegenzugehen und deren Ware vorweg zu kaufen.
Gefangene Neunaugen dauern auch in wohleingerichteten Becken nicht lange aus, weil sie kein Futter annehmen. Sobald wie möglich saugen sie sich an irgendeinem Gegenstande, auch an der glättesten Glastafel fest, atmen lebhaft unter deutlich sichtbaren Bewegungen der Kiemenknorpel, bewegen sich jedoch ungezwungen nicht weiter und fallen endlich tot von ihrem Platze auf den Boden herab.