Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
1927
Die niedrige Sösemauer vor dem Harzkornmagazin ist dazu da, daß die Osteroder Jungen lernen, schwindelfrei zu werden. Für gewöhnlich sind sie's von Natur aus – das Schwindeln wird ihnen erst viel später beigebracht –. Sie laufen von der alten Sösebrücke bis an den Eisensteg, der nach dem Wiederholtschen Anwesen – ein echter alter Wiederholt war doch was Gutes! – hinüberführt, schneller, als bei größter Schwellung das Wasser in der Söse zu Tal braust. Wer aber beweisen will, daß er keine Furcht kennt, der läuft die Strecke mit verbundenen Augen. Ich wüßte nicht, daß je einer dabei ins Wasser gefallen.
Den Anlaß zu diesem etwas zweifelhaften Sport gab die Lateinstunde. An dem mächtigen Kornmagazin befindet sich – wie schon erwähnt – eine Jahreszahl in römischen Ziffern. Diese schwierigen Zeichen ins Deutsche zu übertragen, bildete eines Tages die Schulaufgabe. Natürlich zogen wir geschlossen nach dem alten Bauwerk. Während Seine Strebsamkeit, der Primus, sich damit abplagte, die Inschrift und die Ziffern herauszuklamüsern, standen wir auf der breiten Sösemauer und fanden bald heraus, daß sie eine vorzügliche Rennbahn war. Die Aufgabe hatten wir am nächsten Morgen trotzdem alle richtig gelöst. Es hätte sonst wohl leicht ein »Röschen« in die Hand gegeben, daß sonst nur an die armen Sünder verteilt wurde, welche nach »ut« den Indikativ setzten. Doch man soll nicht aus der Schule plaudern, besonders dann nicht, wenn man sie glücklich hinter sich hat. –
Ich habe als Junge eine große Abneigung gegen die Schule gehabt. Man hat mir ein Jahr meiner Freizeit geraubt, denn ich mußte schon mit 5 Jahren die Schulbank drücken.
Und das kam so. Die Vorschule des allseitig verehrten Herrn August Becker war nach dessen Pensionierung eingegangen, darum wollte die höhere Töchterschule eine Vorbereitungsklasse für Jungen einrichten. Weil zum Dutzend 12 gehören und nur 11 »männliche« Abc-Schützen angemeldet waren, so wurde ich als Opfer dargebracht und bei Schulbeginn mit eingeschoben. (Und dann behauptet man, die Menschenopfer seien abgeschafft!)
Ich schrie und tobte, und es half doch alles nichts. Am 1. Schultag, an dem die Mütter ihre Sprößlinge selbst abliefern, wollte ich mit Gewalt mit meiner Mutter wieder nach Hause zurück. Sie und die Mutter meines Freundes Gerhardt mußten daher während der ganzen Schulhandlung an diesem Tage mit dort bleiben. Ich war auch nicht versöhnt, als ich in allen Fächern eine 1 bekam und während meiner ganzen Studienzeit in der Töchterschule den 1. Platz behauptete. Später sind auf dem Lindenberg von den vielen Einsen nur zwei übrig geblieben: eine 1 im Betragen (!) und eine 1 im Zeichnen – von, dem ich aber bald wegen »chronischer Bindehautentzündung« befreit war.
Eine liebliche Erinnerung habe ich an meine allererste Schulzeit. Jungen und Mädels wurden gemeinsam unterrichtet. Auf den hinteren Bänken saßen die Mädels und, an sie anschließend, wir. So hatte ich das seltene Glück, als Primus der Jungen neben mir stets ein Mädchen sitzen zu haben. Als Kavalier habe ich mich damals freilich nicht aufgeführt, das muß ich zu meiner Schande gestehen, denn wenn meine Nachbarin von mir abschreiben wollte, hielt ich mein Löschblatt davor. Und einmal habe ich sogar das Ende ihres schönen, langen, blonden Zopfes in das Tintenfaß getaucht. Das hat sie mir bis heute noch nicht vergeben. –
Zum ersten Male kamen wir wieder mit unseren früheren Schülerinnen in Berührung, als unsere Konfirmationszeit herannahte. Wieder wurden wir gemeinsam unterrichtet. Außer den geistlichen Büchern, die zum Konfirmandenunterricht gehörten, wurde mit großem Bedacht das für jeden Konfirmanden unentbehrliche »Poesiealbum« angeschafft.
Ich hatte bislang immer geglaubt, es gäbe keinen Beruf auf der Welt, der dem Geist und Gemüt soviel Anregung geben könnte, wie der eines Pastors. Aber nachdem es mir klar wurde, daß ein Pfarrer gezwungen ist, 50 bis 100 Stammbuchverse bei jeder Konfirmation niederzuschreiben, da änderte ich doch gewaltig meine Meinung.
Ich habe mein Poesiealbum aus der Konfirmationszeit noch immer nicht zurück. Das liegt noch bei einem der Mitkonfirmanden oder -dinnen und wartet auf »die Lilien, die verwelken« oder »den Mast, der bricht« oder wie sonst die gangbarsten Stammbuchverse aus jener Zeit lauteten.
Dagegen ist mir mein »Poesiealbum« aus den Tagen der Töchterschulzeit sehr ans Herz gewachsen. Kaum konnten wir große Buchstaben malen, da schrieben wir uns gegenseitig Verse in unser Büchlein, und ich sehe mich wieder mit den Mädchen zusammen in der Klasse sitzen, wenn ich es aufschlage und lese:
So geht es herauf
So geht es hinunter
Sei stets mein Freund
Und bleibe hübsch munter!
Die, welche mir diese Zeilen schrieb, ob sie wohl noch daran denkt? Ein Dritteljahrhundert ist inzwischen verstrichen. – Ich habe es nicht vergessen.
Und auf der nächsten Seite steht unter einem Rosengedicht mit zierlichen Buchstaben auf Hilfslinien geschrieben:
»»Den« Datum aber weiß ich nicht.
Ich glaube, »er« heißt: Vergiß mich nicht!«
Und daneben war ein Lackbild (auf Osterodisch: »Wunsch«) geklebt mit zwei schnäbelnden Tauben und einem Strauß Vergißmeinnicht. Dies Vergißmeinnicht ist mir ganz aus dem Sinn gekommen. Nur ein ganz anderes habe ich im Gedächtnis behalten.
Das schenkte mir ein paar Jahre später der »alte Hartung«, von dem ich die ersten Prügel auf dem Realgymnasium bezog.
Herr Hartung wollte gerade seines Amtes walten und läuten, denn es hatte 8 Uhr geschlagen. Da kam ich im letzten Augenblick um die Ecke geflitzt. Er wartete, schimpfte Mord und Brand, und schon hatte ich eine hinter den Ohren, die sich nicht gewaschen hatte. Dann erst ließ er die Schulglocke ertönen. Ich war ihm aber doch von Herzen dankbar, denn so kam ich noch rechtzeitig zum Unterricht.
Ihm habe ich es also zu verdanken, daß meine Gymnasialbildung lückenlos war und ich später die Reifeprüfung bestand.
Wenn man in einer Kleinstadt aufgewachsen, ganz gleich, ob sie Osterode, Buxtehude oder Schöppenstedt heißt, und man schwingt sich, sobald man flügge geworden, nach anderen Orten mit etwas größerem Gesichtskreis, so erscheinen all die vertrauten Gestalten unserer Kindheit vor dem geistigen Auge wie Holzfiguren eines Marionettentheaters, denen auch nur ein bestimmtes Bewegungsfeld gegeben ist und deren typische Vertreter immer wieder dieselben sind, mögen sie hier und da auch anders angepinselt sein.
Jeder erhält einen bestimmten Stempel aufgedrückt.
Machen wir einen Horizontalschnitt, so erkennen wir, daß die Bevölkerungsschicht aus den verschiedensten Elementen sich zusammensetzt und daß trotz Fortschritt und Menschheitsverbrüderung ein modriger Kastengeist weiterlebt.
Man unterscheidet: »Einwohner«, »Eingesessene«, »bessere Bürger« und * * *. Für letztere finde ich keine passendere Bezeichnung. Sie halten sich selbst für etwas Besonderes, darum die 3 Sterne, eine Abstufung, die ich dem französischen Cognac entlehnt habe. Sie fühlen sich als die »Edelinge« der Kleinstadt, bei denen Besuch gemacht werden »muß«.
Einwohner und * * * haben das eine gemeinsam, daß auch ein Fremder ohne weiteres von diesen Begriffen umfaßt wird. Voraussetzung für die Sternenkaste ist indessen ein schöner Titel, ob noch friedensmäßig oder frisch revolutionsgebacken, das spielt keine Rolle.
»Eingesessene« und »bessere Bürger« sind durchweg mit Sösewasser getauft. Für letztere gilt nicht als Ausweis die Art der Beschäftigung, sondern die Zugehörigkeit zu bestimmten Vereinigungen. In Ausnahmefällen kann man auch durch Einheirat »besserer Bürger« werden.
Ich selbst fühle mich am wohlsten als »Eingesessener« und nehme die anderen Begriffe hin wie die bürgerlichen Ehrenrechte, auf deren Gebrauch man im allgemeinen wenig Wert legt.
Ein befriedigenderes Bild gibt uns ein Vertikalschnitt. Da sehen wir doch auf den ersten Blick, was Talmi ist und was Gold. Da wird alle Hohlheit offengelegt, und wirkliche Persönlichkeiten erscheinen in der richtigen Beleuchtung. Nur sehen muß man können und wollen. Sehen mit den Augen, mit dem Herzen und mit dem Verstand.
Mit dem Vertikalschnitt trifft man nicht alle Persönlichkeiten auf einmal. Man muß es machen wie das alte Mütterchen, das Trost aus der Bibel sucht und mit ihrer Stricknadel aufs Geratewohl zwischen die Blätter des Buches sticht. Dort, wo sie die Nadel eingeführt hat, schlägt sie die Bibel auf, und eine Troststelle wird sie auf der Seite sicher finden, die ihr Herz erwärmt.
Und so bin ich auch unwillkürlich auf jemanden gestoßen, der zwar nicht mehr unter uns weilt, der aber noch in aller Gedächtnis lebenswahr eingegraben ist: Bismarck Neuse.
Kommt der Fremdling nach Osterode, so steigt er gewöhnlich Hauptbahnhof aus. Einmal wird er dort das Gepäck leichter los, dann aber auch wird er von dort sicherer nach seinem Ziele gelangen. Er geht über die Sösebrücke und freut sich über die geradezu großstädtischen Kleinstadtanlagen des Tilmann-Riemenschneider-Platzes. Heute entzückt den Ankömmling schon der neugeschaffene Goetheplatz am Bahnhof. Hat er mehr als Schreiben und Rechnen gelernt, so weiß er auch als Nicht-Osteroder, daß Tilmann Riemenschneider, der Bürgermeister von Würzburg, einer der bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit war. Daß ihm nun in unserem Osterode ein Brunnen zu seinen Ehren gesetzt ist, das wird dem Fremdling unbegreiflich sein. Denn nur wenige wissen, daß Tilmann ein Kind der Moosrose ist.
Kein Fremder aber weiß, daß dieser Platz noch ein anderes Erinnerungsstück enthält. Das werden auch nicht alle Sösebürger wissen, daß Bismarck Neuse, einem lustigen Einfall folgend, sich hier selbst ein Denkmal gesetzt hat. Die Wege dieser Anlagen haben die Form eines lateinischen B. Eingeweihte werden es bestätigen, daß ich diese Behauptung nicht an den Haaren herbeigezogen habe, sondern daß mit Wissen und Willen diesen Wegen jene Form gegeben worden ist.
Wer war der Osteroder Bismarck? Ich nehme dir, Fremdling, diese Frage nicht übel, du kommst von weit her aus einem anderen Winkel des deutschen Vaterlandes. Kannte doch auch die benachbarte Welt unsern Bismarck. Er war ein deutscher Mann von echtem Schrot und Korn, Stadtbaumeister war er von Beruf. Studiert hatte er Philologie und das Leben kennengelernt als Wanderbursch.
Und was zeichnete ihn vor allem aus? Sein treues Herz und die gewaltige Wucht seiner Rede, die stets das Richtige traf. Auch seine schärfsten Gegner – welcher bedeutende Mensch hat sie nicht? – wurden durch den Zauber seiner Worte entwaffnet. Wenn er sprach, so bildete er den Pol für seine Umgebung. Nun gab es und gibt es ja in Osterode auch andere Leute, gelehrte und solche politischen Schlages, genug, die nicht auf den Mund gefallen sind. Doch keiner konnte ihm das Wasser reichen. Allen fehlte das Volkstümliche, das Zwingende der Persönlichkeit und der Worte. Sein ruhiges, klares Auge hielt die Zügel über die größte Versammlung. Würde am nächsten Morgen der Osteroder Kreis-Anzeiger seinen Lesern einen Auszug der Rede aufgetischt haben, man wäre bitter enttäuscht gewesen. Nicht was er sprach, nein, wie er es sprach, darin lag seine rhetorische Vollkommenheit. Er hielt aber nicht nur feierliche Reden, sondern prägte auch manch treffliches Schlagwort. Wehe dem Menschlein, das es wagte, ihm dumm zu kommen. Bismarcks Mutterwitz erschlug den Naseweisen.
Bismarcks Sinnen und Trachten wurde getragen von einer tiefwurzelnden Heimatliebe. In allen seinen Reden schwang der Grundton mit: »Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen«. »Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an. Das halte fest mit deinem ganzen Herzen!«
Und wie er im Leben war? Das zeige folgende kleine Begebenheit aus der Kriegszeit. Es wird Milch ausgegeben. Eine lange, unendlich geduldige Reihe abgehärmter Frauen und Kinder steht Schlange, alle mit einem Henkeltopf bewaffnet. Da nähert sich eilig die hochwohlgeborene Frau Pensionsrat Y. Sie trippelt hin und her, entdeckt eine Lücke ganz vorn bei den ersten Reihen und schiebt sich geschickt hinein, sich so einen großen Vorsprung vor den anderen Wartenden verschaffend. Bismarck hat den Vorgang von weitem beobachtet. Er geht an das Kopfende der Schlange heran, lüftet höflich seinen breitkrempigen schwarzen Bismarckhut, bietet Frau Pensionsrat Y. den Arm und führt sie an die Schlußreihe der Wartenden. Lüftet wieder den Hut mit einer Verbeugung und verschwindet, ohne ein Wort während des ganzen Vorganges zu sagen. –
Ich sah Bismarck zuletzt vor seinem Tode bei dem Schüsseltreiben einer munteren Jagdgesellschaft. Bismarcks Auge strahlte, und sein Geist sprühte in harmlosem Wortgeplänkel. Da warf ein Jäger leicht dazwischen: »Bismarck, wenn du stirbst, muß dein Mund extra totgeschlagen werden!« Bismarck lächelte nur. – Nach 4 Wochen war er tot, ganz plötzlich und still verschieden, zum größten Schmerz der ganzen Stadt.