Clemens Brentano
Die Chronika des fahrenden Schülers (Urfassung)
Clemens Brentano

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Ich bin in Franken geboren, in einem kleinen Dorfe am Mainstrom, und das erste, dessen ich mich deutlich erinnere, ist, wie mich meine Mutter das Vaterunser und Ave Maria lehrte; ich stand vor ihr und faltete meine Hände und sah ihr nach den Lippen, und wie sie mir es vorsagte, sprach ich es kindisch nach und war dabei ganz fromm, wie es ein Kind vor Gott ist. Das tat ich immer früh morgens, und kniete dabei an meinem Bettlein, und des Abends, wenn ich schlafen ging. Meine Mutter war eine gar arme Frau, aber fromm und arbeitsam, ich kann mir sie auch nicht anders denken als spinnend; und oft, wenn ich nachts erwachte, sah ich sie in der kleinen Stube bei einer Lampe sitzen und spinnen; dabei sang sie still vor sich hin, und dies hat mich oft bis zu Tränen gerührt, warum, das weiß der liebe Gott; auch weiß ich noch deutlich, daß ich einmal gar sehr weinen mußte, als ich sie so singen hörte, da fing ein Vögelein vor unserm Fenster auch an zu singen, und es war doch schon gar spät, denn der Mond schien hell und klar. Meine Mutter aber hörte nicht auf zu singen, und sang das Vögelein und sie zugleich; da habe ich zum erstenmal Traurigkeit empfunden und über das Leben kindische Gedanken gehabt, mich auch im Bette aufgerichtet und meiner Mutter zugehört. Da sang sie ein Lied, das lautete also:

Es sang vor langen Jahren
Wohl auch die Nachtigall.
Das war wohl süßer Schall,
Da wir zusammen waren.

Ich sing und kann nicht weinen
Und spinne so allein
Den Faden klar und rein,
Solang der Mond wird scheinen.

Da wir zusammen waren,
Da sang die Nachtigall.
Nun mahnet mich ihr Schall,
Daß du von mir gefahren.

So oft der Mond mag scheinen,
So denk ich dein allein.
Mein Herz ist klar und rein,
Gott wolle uns vereinen.

Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall,
Ich denk bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.

Gott wolle uns vereinen.
Hier spinn ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing und möchte weinen.

Besonders traurig aber kam es mir vor, daß der Vogel und meine Mutter zugleich sangen, und hätte ich damals wohl wissen mögen, ob der Vogel auch in seinem Gesange meiner Mutter gedachte und ob er auch lieber geweint als gesungen hätte. Ich fragte darum meine Mutter mit den Worten: »Mutter, was singt dann die Nachtigall dazu?« Da sagte meine Mutter: »Wachst du, Johannes? Schlafe, du mußt morgen früh heraus und mit mir ins Kloster gehen; wenn du nicht schläfst, so nehme ich dich nicht mit.« Da löschte sie ihre Lampe aus und trat vor mein Bettlein und machte mir das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn und küßte mich, und da ich merkte, daß sie weinte, schlang ich die Arme um ihren Hals und hielt sie fest, fragte sie auch, warum sie mir das Kreuz mache und warum sie weine.

»Lieber Johannes«, sagte sie da, »ich mache dir immer das Kreuz und küsse dich, ehe ich schlafen gehe, daß du unter dem Schutze Gottes ruhig schlafen mögest; du hast aber sonst nie gewacht, wenn ich zu dir kam, und wußtest du es nicht.« Aber warum sie weine, sagte sie mir damals nicht. Darauf legte sie sich zu Bette und betete laut, und ich sprach ihr nach, bis ich darüber einschlief. Den folgenden Morgen standen wir früh auf, und meine Mutter nahm leinen Tuch, das sie gewebet, und Garn, das sie gesponnen, um es in dem Kloster zu verkaufen. Sie trug es in dem Korb auf dem Kopfe, und da ich sie sehr darum gebeten, gab sie mir einen Teil des Garnes zu tragen, welches ich mit einer großen Liebe zu meiner Mutter bis zu dem Kloster getragen habe.

Wir kamen in dem Kloster in des Abts Stube, die war mit schönen Bildern ausgemalt, auch handelte der Abt selbst um das Tuch mit meiner Mutter und gab mir ein Bild von St. Johannes, meinem Patron. Er sagte mir auch, wenn ich älter wäre, solle ich ihm die Messe dienen und dann immer einen Pfennig von ihm haben. Meine Mutter ließ von dem Gelde zurück, eine Messe zu lesen in der Georgen-Kapelle für ihr Anliegen, und als sie der Abt fragte, was ihr Anliegen sei, sprach sie: »Das steht Gott anheim«, und da gingen wir zur Kirche herab. In der Kirche aber gingen wir zur linken Hand in eine Kapelle; da stand ein Altar in der Mitten, zur Rechten aber war ein Ritter an der Wand ausgehauen auf den Knien liegend, und vor ihm stand ein andrer Ritter, der legte ihm die Hand auf das Haupt. Diesem Bilde gegenüber war Sankt Georgen Bild zu Pferd, wie er seinen Mantel zerschneidet und einem Armen die eine Hälfte reicht, und diese Kapelle war die St. Georgen-Kapelle. Meine Mutter steckte ein Wachslicht vor St. Georgen auf und kniete dann nebst mir an der Seite des steinernen Ritters nieder und sah oft nach dem knienden Ritter. Ich betrachtete ihn auch und empfand eine große Freude an ihm. Auch hätte ich ihm gern was Liebes getan und setzte ihm einen grünen Kranz auf sein steinern Haupt, den ich mir im Walde geflochten hatte und noch spielend in der Hand trug. Da meine Mutter das sah, weinte sie sehr und umarmte mich in der Kirche. Ich empfand große Bangigkeit um ihre rührende Gebärde. Da trat aber ein Priester in die Kapelle mit einem Meßdiener und las die Messe am Altar, und sie ließ mich los, sagte mir auch ins Ohr: »Bete hübsch fromm, Johannes; der stehende Ritter ist der Herr Großvater.« Ich hatte den Mut nicht mehr, nach dem Bilde zu sehn, und mein Großvater blieb mir von dieser Zeit an ein ernster und beweglicher Gedanke; aber ich habe damals gebetet, wie sonst nie, mit einer wunderlichen Herzensangst, doch weiß ich mich nicht zu entsinnen, warum ich so gebetet habe.

Da die Messe zu Ende und der Priester wieder aus der Kapelle herausgegangen war, fragte ich meine Mutter wieder nach dem steinernen Bild mit den Worten: »Was macht denn mein Großvater da?« Meine Mutter stand aber, ohne mir zu antworten, stille vor dem Bild und sah immer mit nassen Augen nach dem knienden Ritter, den ich mit dem Laubkranz gekrönt hatte, und da ich sie wieder fragte, sagte sie: »Er tut, was ich gestern abend tat, da ich das Kreuz machte.« Da fragte ich sie weiter: »Liebe Mutter, will er dann schlafen gehn?« Da sagte sie: »Ja, er will schlafen gehn in die ewige Ruhe.« »Und der kniende Mann will wohl auch schlafen gehen?« Da sagte sie wieder: »Ach, Gott gebe ihm eine ruhige Nacht, wenn er schon schläft!« und ward wieder sehr traurig und hob mich hinauf, daß ich ihn küßte. Da setzte ich ihm das Kränzlein wieder zurecht und küßte ihn, und die Mutter ging mit mir zur Kirche hinaus. Sie hatte mich noch auf dem Arme und ließ mich nicht los, was sie sonst nicht pflegte, denn sie war nicht sehr stark, sondern zart und weiß mit langen blonden Haaren. Wir gingen nicht denselbigen Weg zurück, sie trug mich links dem Walde zu. Wie sie mich so durch die freie Luft hintrug, betrachtete ich ihr freundliches Angesicht, und kann es nun nie mehr vergessen, wie hold und lieb sie aussah, und auch die ganze Gegend kam mir lichter und freundlicher vor. Mein Herz ward wieder ganz getröstet, und wie sie mich unter den Bäumen hintrug, brach ich einen Zweig ab und machte ihr einen Kranz, den setzte ich ihr auf ihre blonden Haare und sagte zu ihr: »Liebe Mutter, nun bist du wie der kniende Ritter, nun hast du auch ein Kränzlein auf, und wenn er da nun durch den Wald gegangen käme, da würdet ihr euch beide aneinander sehr erfreuen über die grünen Kränze.« Meine Mutter gab mir aber keine Antwort und ging immer traurig fort, was mich auch wieder betrübte. So zogen wir still und einsam wohl eine Stunde durch den Wald, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt und hätten nicht viel Freude, bis es lichter ward in den Zweigen und der Wald sich am Rande des Berges endigte.

Da war ein schöner grüner Platz und die Aussicht in ein einsames Tal, wo der Main durchfloß; die Berge lagen rings um den hellen silbernen Fluß, als hätten sie tiefsinnige Gedanken, sie waren alle mit schwarzen Wäldern bedeckt und sahen streng und finster herüber; wo wir aber standen, war die Gegend sanft und mild, grüner Rasen bedeckte den Boden, es standen da mancherlei Blumen, und das Allerschönste war ein freundlicher Quell, der zwischen einer großen Reihe von Sonnenblumen entsprang und über den sanften Abhang hinunterrollte; es war, als flössen Tränen an den Wangen eines freundlichen Antlitzes hinab. Viele und mancherlei Kräuter wuchsen da rings an dem Bache, aber die Sonnenblumen sahen besonders ehrwürdig und andächtig aus. Meine Mutter ließ mich im Grase spielen und saß bei den Sonnenblumen. Ich sah oft nach ihr hin und bemerkte, wie sie sanfter und ruhiger um sich blickte. Dann nahm sie mich bei der Hand und ging mit mir einige Schritte rechts ins Gebüsch, da stand ein kleines Haus, ganz mit Epheu überwachsen. Selbst die Türe war mit dem Geflechte des Epheus überzogen. Sie zog Schlüssel hervor, legte die Ranken an der Türe zurück und öffnete sie. Es war eine kleine Küche, doch keine Geräte darin, in die wir zuerst traten, und dann eine kleine viereckichte Stube. Wie ich hereintrat, fürchtete ich mich etwas, denn es war gar dunkel. Meine Mutter machte aber die Fensterladen auf, da sah man nach der andern Seite des Tals, und ein schönes Schloß ragte da aus dem schwarzen Gebürge gegenüber. In der Stube standen allerlei ausgestopfte Vögel, besonders eine Reihe von Falken, die alle sehr alt schienen, an der Wand hingen einige Speere und Jagdmesser, und in der einen Ecke war ein kleiner Altar und Betstuhl vor dem Bilde des heiligen Hubertus, wie er vor dem Hirschlein kniet, das ihm mit einem Kreuze zwischen den Hörnern erscheint und ihm sein wildes Herz zu Sanftmut und Frömmigkeit umwendet. Ich betrachtete all die Sachen, die ich vorher nie gesehen, mit einer ängstlichen Aufmerksamkeit, während meine Mutter ins Tal hinaussah. Alles, was mir seit dem Abend vorher begegnet war, hatte mich ganz verändert, und wenn ich jetzt daran denke, so möchte ich meine damalige Empfindung einem Rade vergleichen, das in einer Mühle plötzlich lebendig wird und alle die andern Räder mit ihm und um ihm sich drehen und wenden sieht, und sich doch nicht vorstellen kann, was all die vielen Räder sind und was eine Mühle ist. Besonders aber verwunderte ich mich, daß meine Mutter mit allen den Sachen bekannt war und in der Hütte tat, als wäre sie immer drin gewesen. Ich fragte sie, ob wir dann hier blieben, ob dieses auch unsre Wohnung sei; dann wolle ich mir hier einen kleinen Garten machen und ein Vogelsteller werden. »Was willst du dann mit den Vögeln machen?« sagte sie dann, und als ich ihr antwortete, ich wolle sie das Vaterunser lehren, sagte sie: »Weißt du denn, wo dein Vater ist?« Ich antwortete: »Im Himmel!« Sie nahm mich hierauf zu sich, setzte sich ans Feuer und erzählte mir, was ich hier niederschreibe, ihre Worte sind mir auch nie aus dem Gedächtnisse gekommen:

 

Lieber Johannes, du hast mich seit gestern wohl trauriger als je gesehen, dann ich gedachte gestern, da die Arbeit vollendet war, schon daran, wie ich heute alle die Wege gehen würde, die du mit mir gegangen bist. Du hast mich auch gestern abend gefragt, warum ich weinte, da ich vor deinem Bettlein stand, aber ich habe dir keine Antwort gegeben und habe mit dir gebetet, damit wir ruhig schlafen möchten. Aber nun will ich dir auch nichts mehr verschweigen, denn ich glaube, es wird gut sein, wenn du früh weißt, wie auf Erden viel Traurigkeit ist und im Himmel allein die Freude. Du wirst darum deinen Sinn immer mehr zu Gott wenden und zu seinen Abgesandten auf der Erden, der treuen Liebe, der Unschuld und Weisheit. Auch sollst du nicht traurig werden um der Traurigkeit willen, die auf Erden ist, sie soll dich stärken, daß dein Mut wachse und dein Fleiß, mit denen sollst du die Traurigkeit bestreiten und ein frohes Herz erkämpfen, das sich alle Zeit Gott zuwendet.

Das kleine Häuslein, in dem wir sitzen, gehöret meinem lieben Vater; er ist nun im Himmel seit acht Jahren und liegt begraben im Kirchhofe bei dem Kloster. Er war ein Jäger und Vogelsteller und hat hier oben mit meiner Mutter gelebt, die ist zu Gott gegangen, da ich noch ein klein Mägdlein war; ich erinnere mich wohl, da sie die Herrn aus dem Kloster zu Grabe trugen, da saß ich da draußen an dem Quell im Sonnenschein und verwunderte mich über die vielen Männer und Weiber, die sie begleiteten. Da drüben von dem Schlosse, das du siehst, kam der Ritter mit seiner Hausfrau und seinen zwei Knaben auch herüber; ich weiß noch wohl, wie sie in das Schifflein stiegen und über den Main fuhren. Der Ritter blieb bei meinem Vater und sprach gar freundlich mit ihm, um ihn zu trösten, und des Ritters Frau ging mit zu Grabe. Ich saß immer an dem Bächlein, und des Ritters Kinder spielten mit mir. Am Abend zog der Ritter wieder mit seinen Leuten hinüber, und mein Vater pflanzte am Bache die Sonnenblumen. Er war ein frommer und künstlicher Mann und arbeitete den ganzen Tag. Er richtete die Falken ab wie kein andrer Jäger in Franken und hatte eine große Geschicklichkeit in Kenntnis heilsamer Kräuter; ich ging ihm immer in seinen Arbeiten zu Hand, wie ich konnte, und er unterrichtete mich in der Gottesfurcht und Sittsamkeit. Spinnen und Weben habe ich dort im Schlosse von des Ritters Hausfrau gelernt und zugleich mit den zwei Söhnen des Ritters das Christentum bei dem Hauskaplan. Mein Vater schenkte dem Ritter geschickte Falken dafür, der Hausfrau brachte ich Arzneikräuter und den Söhnen gab ich Finken und andere Vögel, die ich selbst singen gelehrt hatte; so war ich dann immer gern im Schlosse gesehen und konnte wohl lernen, was einer Jungfrau geziemt, an den Frauen und Dienerinnen auf dem Schloß. Doch war ich meistens zu Hause bei meinem Vater, da ich älter ward, denn er liebte mich sehr und mochte nicht ohne mich sein.

In der Einsamkeit besuchte uns der jüngste Sohn des Ritters oft, er war auch stiller Gemütsart und hatte sich immer gut mit mir verstanden. Wenn ich hinüber auf die Burg wollte, so blies ich auf meines Vaters Jagdhorn, und wenn er dann zu Hause oder in der Gegend war, ließ er sich auch bald an dem Maine sehen und fuhr mich in dem Schifflein hinüber und wieder herüber, und wir gewannen uns so lieb, daß wir nicht lange ohne einander sein konnten. Da mein Vater das bemerkte, kümmerte er sich darum und sagte mir oft traurig: »Mein Kind, was soll aus deiner Lieb werden zu des Ritters Sohn, da du doch eines armen Mannes Kind bist und nicht zur Edelfrau geboren?« Diese Rede meines Vaters war wohl wahr und tat mir leid, aber ich konnte doch nicht aufhören, den Ritter zu lieben, denn die Liebe ist blind, und wo sie entbrannt, kann sie nicht ausgelöscht werden, und zwei Menschen, die sich lieben, kann nichts scheiden als der Tod. Mein Vater stellte es auch dem Ritter vor, der aber war mutiger als ich und sprach: »Lasset Euch das nicht kümmern in Euren alten Tagen, denn es soll Euch erfreuen, wenn Ihr seht, daß Eure Tochter eines braven Ritters Frau wird, und will das mein Vater nicht, so wird er doch nicht drum zürnen bis an den Tod.« Ich erschrak, wenn ich sah, wie mein Vater traurig ward bei seinen Reden, die mir das Herz erhoben, und habe meinem Vater immer von der Zeit an emsiger gedient als vorher und war auch in allen meinen Reden weiser und klüger, damit er mehr Vertrauen zu mir gewinnen möge und versichert werden, daß ich nicht töricht handlen würde.


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