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Kapitel V

»… Quid tam dextro pede concipis ut te,
Conatus non poeniteat, voitque peracti?« Juvenal, Satura X,5f. – Was fängst du so glücklichen Fußes an, / Dass deines Beginnens dich nicht und erfüllten Gelübdes gereue? (Übersetzung nach: Die Satiren des D. Junius Juvenalis. Hrsg. u. übers. von Dr. Wilhelm Ernst Weber. Halle 1838. S.134). – Anm.d.Übers.

JUV.

»Ja«, sagte De Montaigne, »auf meine Weise erfülle auch ich meine Bestimmung. Ich bin ein Mitglied der Chambre des Dé sputé s Abgeordnetenkammer, im Frankreich der Restauration (1814-30) durch Wahlen bestimmt – im Gegensatz zur adeligen Chambre des Pairs – beide zusammen erst bilden die Nationalversammlung. – Anm.d.Übers. und besuche England wegen einiger geschäftlicher Angelegenheiten. Ich befand mich in Ihrer Nachbarschaft und konnte natürlich der Versuchung nicht widerstehen; so müssen sie mich für ein paar Tage als Gast aufnehmen.«

»Ich gratuliere Ihnen von Herzen zu Ihren senatorischen Als Mitglied der Abgeordnetenkammer ist De Montaigne kein Senator. Entweder gebraucht Bulwer den Begriff hier unscharf, oder er hat sich in der Bezeichnung der Kammer geirrt. – Anm.d.Übers. Ehren. Ich hörte vom Aufstieg ihres Namens.«

»Ich gebe die Gratulation mit gleicher Wärme zurück. Sie erfüllen meine Prophezeiungen. Ich las Ihre Werke mit wachsendem Stolz auf Ihre Freundschaft.«

Maltravers seufzte verhalten und drehte sich halb zur Seite.

»Das Verlangen nach Auszeichnung«, sagte er nach einer Weile, »steigt in uns auf, bis die Erregung in Leiden umschlägt. In der zweiten Auflage lautet der Text anschließend:
»Das mit einem Seefahrerinstinkt geborene Kind lacht vor Entzücken, wenn sein Papierbötchen über die Wellen eines Teiches fliegt. Wenig später werden ihn nur noch das Schiff und der Ocean zufriedenstellen. – Dem Schriftsteller geht es wie diesem Kind.«
»Ein hübscher Vergleich«, sagte De Montaigne lächelnd. »Verderben Sie ihn nicht, sondern machen Sie weiter mit Ihrem Beweis.«
Maltravers fuhr fort: »Wir bekommen kaum erst momentanen Beifall und beginnen dann schon, die Vergangenheit heraufbeschwören und die Zukunft zu erahnen. Unsere Zeitgenossen reichen als Konkurrenten nicht mehr aus, unser Zeitalter ist nicht mehr das Tribunal, vor dem wir unsere Ansprüche anmelden: wir beschwören die Toten herauf als unsere wahren Rivalen. Reitet uns hier die Eitelkeit? Möglich. Doch solch eine Eitelkeit demütigt. Denn wir erkennen ja jetzt den ganzen Unterschied zwischen Ruf und Ruhm – zwischen dem Heute und der Unsterblichkeit!«

»Glauben Sie«, erwiderte De Montaigne, »dass die Toten …« – Anm.d.Übers.
Zuerst schien es genug, einige Anerkennung zu erhalten und zum allgemeinen Bestand seinen Obolus beigesteuert zu haben; danach stiegen neue Visionen auf. Die Toten erheben sich aus den Schatten der Zeit, und wir träumen davon, eine leere Nische im Großen Pantheon Der antike Name für ein allen Göttern geweihtes Heiligtum. Im übertragenen Sinn: die Gesamtheit aller bedeutenden Persönlichkeiten. – Anm.d.Übers. belegen zu können. Dann erkennen wir zum erstenmal den riesigen Unterschied zwischen Ruf und Ruhm, zwischen dem Heute und der Unsterblichkeit!«

»Das ist wahr«, erwiderte De Montaigne; »aber glauben Sie, dass die Toten nicht dasselbe fühlten, als sie den Pfad beschritten, der zu dem Leben jenseits des Lebens führt? Setzen Sie die Kultivierung Ihres Geistes fort, schärfen Sie ihn durch Training Ihre Begabung, versuchen Sie das Menschengeschlecht zu erfreuen oder zu unterweisen, und sogar für den Fall, dass Sie jedes selbst gewählte Vorbild unterschreiten, – dass Ihr Name mit ihren Gebeinen dahin schwindet: Sie werden immer noch Ihr Leben edler verbracht haben als der große unmühselige Haufe. Möge Ihnen auch das ruhmvolle Schicksal, ›hienieden einen Namen zu besitzen‹, verwehrt sein: was anders können Sie sagen, als dass Sie sich ertüchtigt haben für eine hohe Bestimmung und Beschäftigung – nicht in der Menschen-, sondern der Geisteswelt? Die Mächte des Geistes können nicht weniger unsterblich sein als das bloße Identitätsgefühl; deren Errungenschaften begleiten uns beim immerwährenden Fortschritt; und hiernach können wir einen höheren oder niederen Rang erzielen, je nach dem ob wir mehr oder weniger ertüchtigt sind durch das Training unseres Intellekts im Sinne des Ergründens und Vollziehens von Gottes Ratschlüssen. Der Weise steht den Engeln näher als der Dummkopf. Das mag ein apokryphes apokryph: nicht zum Gültigen, Anerkannten gehörend. – Anm.d.Übers Dogma sein, es ist jedoch keine unmögliche Theorie.«

»Aber wir müssten auf die gesunden Freuden des gegenwärtigen Lebens verzichten, wenn wir jener Hoffnung nachjagen, die Sie mit Recht ›apokryph‹ nannten; unser Wissen könnte zudem in den Augen des Allwissenden geradezu nichts bedeuten.«

»Ganz recht«, versetzte De Montaigne lächelnd; »aber antworten Sie mir ehrlich. Beim Verfolgen intellektueller Ziele verzichten Sie auf die gesunden Freuden des Lebens? Wenn das so ist, befolgen Sie die Methode nicht richtig. Jenes Streben sollte gerade Ihr Gespür für solche Vergnügungen beflügeln, welche die wahren Erholungen im Leben darstellen. Und das gilt besonders für Sie, weil Sie hinreichend begütert sind, um nicht vom Unterhalt durch die Literaturproduktion abhängig zu sein; – wären Sie es, so müsste ich Ihnen eher raten, als Täschner zu arbeiten denn als Schriftsteller. Niemand sollte die höchsten Pfade des Geistes und der Kunst beschreiten wollen, bloß um das tägliche Brot zu verdienen; das gilt nicht nur für die Literatur, sondern für alles Gleichwertige. Niemand sollte Staatsmann oder Redner oder Philosoph sein nur um der Pennys und Schillinge willen: gewöhnlich besitzen alle Menschen unbewusst, bis auf den armen Dichter, ein Gefühl für diese Wahrheit.«

»Das mag als gelungene Predigt durchgehen«, erwiderte Maltravers, »aber ich versichere Ihnen: die Beschäftigung mit Literatur spielt sich abseits der gewöhnlichen Lebensinhalte ab, und man kann nicht über die Freuden beider Sphären gebieten.«

»Das sehe ich anders«, wandte De Montaigne ein; »indes kann das Experiment in einem Landhaus achtzig Meilen von der Hauptstadt entfernt, ohne Gattin, ohne Gäste oder Freunde, nicht wohl gelingen. Kommen Sie, Maltravers, ich sehe, dass Ihnen eine tüchtige Karriere bevorsteht, und ich kann Ihnen nicht zugestehen, am Beginn bereits aufzuhören.«

»Sie sehen nicht all die Verleumdungen, die schon gegen mich geschleudert wurden, geschweige denn jene Behauptungen im Brustton der Überzeugung (und viele von klugen Männern), dass in mir nichts stecke!«

»Dennis John Dennis (1657-1734), englischer Dramatiker und Kritiker. – Anm.d.Übers. war ein kluger Mann und behauptete dasselbe von Ihrem Pope. Alexander Pope (1688-1744), englischer Dichter, Übersetzer und Schriftsteller des Klassizismus in der Frühzeit der Aufklärung. – Anm.d.Übers. Madame de Sévigné Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné (1626-1696), wurde durch ihre »Briefe« bekannt und wird zum Kreis der Klassiker der französischen Literatur gerechnet. – Anm.d.Übers. war eine kluge Frau, aber sie glaubte, Racine Jean Baptiste Racine (1639-1699), einer der bedeutendsten Autoren der französischen Klassik; gilt den Franzosen als ihr größter Tragödienautor neben oder gar vor Pierre Corneille. – Anm.d.Übers. werde niemals wirklich berühmt. Milton John Milton (1608-1674), englischer Dichter, bis heute durch das Epos »Paradise Lost« berühmt. – Anm.d.Übers hielt die ersten Erfolge Drydens John Dryden (1631-1700), einflussreicher englischer Dichter, Literaturkritiker und Dramatiker. – Anm.d.Übers. für nichts als bloßes Reimgeklingel. Aristophanes Aristophanes (ca. 450-380 v.u.Z.), bedeutender griechischer Komödiendichter. – Anm.d.Übers. besaß literarisches Urteilsvermögen, und dennoch: wie falsch hat er Euripides Euripides (ca. 480-406 v.u.Z.) ist zusammen mit Aischylos und Sophokles einer der großen klassischen griechischen Dramatiker. – Anm.d.Übers. beurteilt! Aber das sind alles Gemeinplätze, und doch bringen Sie von einem Gemeinplatz klar widerlegte Argumente gegen sich selbst vor.«

»Aber es ist widerwärtig, Angriffe nicht beantworten – Feinden keinen Konter geben zu dürfen!«

»Dann beantworten Sie Angriffe, und geben Sie Ihren Feinden Konter!«

»Wäre das tatsächlich vernünftig?«

»Wenn es Ihnen Vergnügen bereitet – mir würde es keinen Spaß machen.«

»Kommen Sie, De Montaigne, jetzt vernünfteln Sie in sokratischer Manier. Das Original hat hier »socratically«; möglicherweise meint Bulwer dies im Sinne von »sophistically«. Das »Vernünfteln« der Sophisten wurde ja gerade von Sokrates bekämpft. Der Kontext legt jedenfalls nahe, dass »to reason« hier nicht bloßes »Argumentieren« bedeutet. – Anm.d.Übers. Ich möchte Sie gerade heraus und unverblümt fragen: Würden Sie einem Schriftsteller dazu raten, gegen seine literarischen Angreifer Krieg zu führen oder sie einfach nur zu verachten?«

»Beides; nur wenige sollte er attackieren, und dies sparsam. Seine Strategie sollte darin bestehen zu zeigen, dass er jemand ist, den man besser nicht zu stark provoziert. Der Schriftsteller hat gegenüber den Kritikern stets die ganze Welt auf seiner Seite, wenn er seine Chance wahrnimmt. Und er muss sich immer daran erinnern, dass er eine Art ›Staat für sich‹ darstellt, welcher bisweilen Krieg führen muss, um für Frieden zu sorgen. Die Zeit für Krieg oder Frieden ist der eigenen Diplomatie und Weisheit der Staaten überlassen.«

»Sie wollen aus uns politische Maschinen machen?«

»Ich würde gerne jedes Menschen Verhalten mehr oder weniger mechanisch machen, weil Systematik über die Materie geistig triumphiert; das schiere Gleichgewicht aller Kräfte und Leidenschaften mag wie eine Maschinerie wirken. Sei's drum. Die Natur selbst hat die Welt – die Schöpfung – auch den Menschen zu Maschinen bestimmt.«

»Und man muss, Ihrer Theorie nach, sogar in der Leidenschaft mechanisch sein?«

» Der Mensch ist ein armes Geschöpf, der nicht dann und wann leidenschaftlich fühlt; aber er verhält sich sehr unangemessen und nachgerade dumm, wenn er mit der falschen Person, am falschen Ort und in der falschen Zeit in Leidenschaft gerät. Doch genug davon, es wird spät.«

»Und wann wird Madame England besuchen?«

»Oh, zur Zeit nicht, fürchte ich. Aber Sie werden Cæsarini dieses oder nächstes Jahr in London treffen können. Er ist überzeugt, dass Sie sich hier nicht hinreichend für seine Gedichte eingesetzt haben, und kommt her, sobald seine Trägheit es ihm erlaubt, um in dem beißenden Vorwort zu einer zahnlosen Satire Ihren Verrat anzuprangern.«

»Satire?!«

»Ja; mehr als einer von euch Dichtern hat durch eine Satire seinen Weg gemacht, und Cæsarini ist überzeugt, dass ihm das auch gelingt. Castruccio ist eben nicht so weitsichtig wie sein Namensvetter, der Prinz von Lucca. Valperga, or the Life and Adventures of Castruccio, Prince of Lucca ist ein 1823 erschienener Roman der britischen Autorin Mary Shelley, die bis heute berühmt ist durch ihren Roman Frankenstein or The Modern Prometheus (1818). – Anm.d.Übers. Gute Nacht, mein lieber Ernest.«


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