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Eine Droschke hielt vor einem altmodischen Wohnhaus in deiner Außenstraße Baltimores.
Ein Mann von etwa vierzig Jahren, von ansehnlicher Gestalt und mit ernsten, regelmäßigen Gesichtszügen, stieg aus, bezahlte den Kutscher und entließ ihn.
Einen Augenblick später trat der Besucher in das Studierzimmer des alten Hauses.
Ach, Mr. Canler! rief der ältere Herr aus, indem er ausstand, um ihn zu begrüßen.
Guten Abend, mein lieber Professor! sagte der Besucher, indem er ihm herzlich die Hand reichte.
Wer hat Sie hereingelassen? fragte der Professor.
Esmeralda.
Dann wird sie Jane benachrichtigen, daß Sie hier sind, sagte der alte Herr.
Nein, Herr Professor, erwiderte Canler, ich kam, um zuerst Sie zu sehen.
Ach, – sehr schmeichelhaft, versetzte Professor Porter.
Herr Professor, fuhr Robert Canler bedächtig fort, indem er sorgfältig jedes Wort überlegte, ich bin heute abend gekommen, um mit Ihnen über Jane zu sprechen. Sie kennen meine Wünsche und waren so großmütig, meinen Antrag zu billigen.
Professor Archimedes O. Porter rückte in seinem Lehnstuhl unruhig hin und her. Die ganze Sache verursachte ihm Ärger. Er wußte nicht recht, weshalb. Canler war doch eine glänzende Partie.
Aber Jane, fuhr Canler fort, ich kann sie nicht verstehen. Sie weist mich ab, bald aus dem einen, bald aus dem andern Grund. Ich habe immer das Gefühl, als ob sie erleichtert aufatmete, wenn ich mich verabschiede.
Nicht doch, Mr. Canler, sagte Professor Porter. Jane ist eine sehr gehorsame Tochter. Sie wird schon tun, was ich ihr sage.
Dann darf ich also noch immer auf Ihre Unterstützung rechnen? fragte Canler, indem er seine Worte scharf betonte. Gewiß, mein Herr, gewiß! rief Professor Porter aus. Wie können Sie daran zweifeln?
Sie wissen doch: da ist der junge Clayton, bemerkte Canler. Schon seit Monaten ist er hier. Ich weiß ja nicht, in wiefern Jane sich um ihn kümmert, aber abgesehen von seinem Titel weiß sie, daß er von seinem Vater ein sehr bedeutendes Vermögen geerbt hat, und so wäre es nicht auffallend, wenn er zuletzt den Sieg davontrüge, es müßte denn sein, ... Canler zögerte.
Beruhigen Sie sich, Mr. Canler; es müßte denn sein ...?
Daß Sie es durchsetzten, daß Jane mich sofort heiratet, sagte Canler langsam und deutlich.
Ich habe Jane schon gesagt, daß das wünschenswert wäre, bemerkte Professor Porter verdrießlich; denn wir können dieses Haus nicht länger halten und nicht so leben, wie unsere Verbindungen es mit sich bringen.
Was hat sie darauf geantwortet?
Sie sagte, sie habe überhaupt noch nicht die Absicht zu heiraten, und wir könnten ja auch fortziehen und auf der Farm im nördlichen Wisconsin leben, die ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Die Farm wirft immerhin einen kleinen Gewinn ab. Die bisherigen Pächter haben davon leben können und Jane auch noch jedes Jahr eine Kleinigkeit gesandt. Jane wünscht, daß wir Anfang der Woche dorthin ziehen. Philander und Mr. Clayton sind schon abgereist, um alles für uns vorzubereiten.
Clayton ist dorthin? rief Canler, sichtbar verärgert, aus. Weshalb hat man mir nichts davon gesagt? Ich wäre gern dorthin gegangen und hätte dafür gesorgt, daß alles behaglich eingerichtet worden wäre.
Jane fühlte, daß wir schon zu sehr in Ihrer Schuld sind, Mr. Canler, sagte Professor Porter.
Canler wollte eben darauf erwidern, als man draußen Tritte hörte und Jane Porter hereintrat.
O – Verzeihung! sagte sie, indem sie auf der Schwelle stehen blieb. Ich glaubte, du wärest allein, Papa.
Ich bin es bloß, Jane, sagte Canler, indem er aufstand. Wollen Sie nicht hereinkommen? Wir sprachen gerade von Ihnen.
Danke! sagte Jane Porter, indem sie eintrat und den Stuhl nahm, den Canler ihr bereitstellte. Ich wollte Papa nur sagen, daß Tobias von der Universität heute morgen gekommen ist, um die Bücher zu packen. Ich bitte dich, Papa, die Bände anzugeben, die du unbedingt haben mußt. Nimm aber, bitte, nicht die ganze Bibliothek nach Wisconsin mit, wie du es bei unserer Fahrt nach Afrika getan hättest, wenn ich mich nicht hineingemischt hätte.
Was, Tobias ist da? fragte der Professor.
Ja, ich komme eben von ihm. Er und Esmeralda unterhalten sich über religiöse Fragen in der hinteren Halle.
Gut, ich muß mit ihm sprechen, rief der Professor. Entschuldigt mich einen Augenblick, Kinder! Und der alte Herr eilte hinaus.
Sobald er außer Hörweite war, wandte sich Canler an Jane Porter und fragte sie nachdrücklich:
Sagen Sie einmal, Jane, wie lange soll das noch so weitergehen? Sie haben sich nicht geweigert, mich zu heiraten, aber Sie haben mir auch nichts versprochen. Ich wünsche morgen das Jawort zu erhalten, damit wir noch vor Ihrer Abreise nach Wisconsin heiraten können. Ich wünsche nicht viel Aufhebens zu machen, und ich denke, Sie sind damit einverstanden.
Jane wurde ganz kalt, aber sie hielt den Kopf hoch.
Ihr Vater wünscht es, wie Sie wissen, fügte Canler hinzu.
Ja, ich weiß es, sagte sie fast flüsternd; dann aber fügte sie in einem kalten, entschiedenen Ton hinzu:
Wissen Sie, Mr. Canler, daß Sie mich kaufen wollen, – kaufen für ein paar elende Dollars? An diese Möglichkeit haben Sie schon gedacht, als Sie Vater das Geld für die verrückte Expedition liehen, die ohne einen geheimnisvollen Zwischenfall so überraschend erfolgreich gewesen wäre. Aber Sie, Mr. Canler, wären am meisten überrascht gewesen. Sie dachten nicht daran, daß das Abenteuer einen erfolgreichen Ausgang haben könnte. Dafür waren Sie ein zu guter Geschäftsmann. Und Sie sind ein zu guter Geschäftsmann, als daß Sie Geld an Schatzsucher ausleihen sollten oder überhaupt Geld ohne Sicherheit weggeben sollten, wenn Sie nicht eine bestimmte Absicht dabei hätten. Sie wußten, daß die Ehre der Porters Ihnen ein besseres Pfand wäre als eine Sicherheit. Sie sagten sich, hier hätten Sie das beste Mittel, mich zu zwingen, Sie zu heiraten, ohne daß es so aussähe, daß mir Gewalt angetan würde.
Sie haben das Darlehen nie erwähnt. Bei irgendeinem andern Mann hätte ich angenommen, daß sein Entgegenkommen das Zeichen eines großmütigen und vornehmen Charakters wäre, aber Sie sind schlau, Mr. Robert Canler! Ich kenne Sie besser, als Sie meinen. Gewiß werde ich Sie heiraten, wenn es keinen andern Weg mehr gibt, aber wir wollen einander nichts vormachen.
Während sie sprach, war Canler abwechselnd rot und bleich geworden. Als sie aufhörte, stand er auf, und sagte mit boshaftem Lächeln:
Sie überraschen mich, Jane. Ich dachte, Sie hätten mehr Selbstbeherrschung, mehr Stolz. Sie haben ja eigentlich recht. Ich kaufe Sie, und ich weiß, daß das Ihnen bekannt ist, aber ich dachte, Sie würden lieber vorgeben, es geschähe in anderer Weise. Ich dachte, Ihre Selbstachtung und Ihr Stolz würden nicht zugeben, daß Sie ein erkauftes Weib sein werden. Aber Sie müssen ja wissen, was Sie da tun sollen, liebes Mädchen, fügte er leicht hinzu. Sie werden meine Frau werden, und das übrige interessiert mich nicht.
Ohne ein Wort darauf zu antworten, drehte das Mädchen sich um und verließ das Zimmer.
*
Jane Porter wurde aber nicht verheiratet, bevor sie mit ihrem Vater und Esmeralda nach ihrer kleinen Farm in Wisconsin abreiste, und als sie bei der Abfahrt des Zuges Robert Canler kühl Lebewohl wünschte, sagte er ihr, er werde ihr in ein oder zwei Wochen folgen.
Auf der letzten Station wurden sie von Clayton und Mr. Philander in einem großen Tourenwagen abgeholt. Sie fuhren dann durch den dichten Wald nordwärts nach der kleinen Farm, die das Mädchen seit der Kindheit nicht mehr besucht hatte.
Das Farmerhaus, das auf einer kleinen Anhöhe ein paar hundert Meter von dem Pächterhaus entfernt stand, war in den drei Wochen, wo Clayton und Mr. Philander dort weilten, vollständig umgewandelt worden.
Der Farmer hatte eine kleine Armee von Zimmerleuten, Gipsern, Installateuren und Anstreichern aus der nächsten Stadt kommen lassen. Das Haus, das vorher wie eine verkommene Hütte dastand, sah jetzt nett und sauber aus und bot im Innern alle möglichen Bequemlichkeiten, die man in so kurzer Zeit schaffen konnte.
Was haben Sie getan, Mr. Clayton? rief Jane Porter aus, als sie die Veränderungen sah, denn es wurde ihr bange, als sie an die hohen Rechnungen dachte.
Pst! sagte Clayton. Sagen Sie Ihrem Vater nichts davon. Wenn Sie ihn nicht darauf aufmerksam machen, so wird er es gar nicht wahrnehmen. Man hätte ja in dem Schmutz, den wir hier vorfanden, gar nicht leben können. Es war so wenig, was ich tat, und ich möchte so viel für Sie tun, Jane. Sprechen Sie also nicht mehr davon.
Aber Sie wissen doch, daß wir Ihnen das Geld nicht mehr zurückerstatten können, rief das Mädchen. Wie konnten Sie mich nur an so große Verpflichtungen binden?
Das sind keine Verpflichtungen, erwiderte Clayton. Wenn es sich nur um Sie gehandelt hätte, so hätte ich nichts ohne Ihre Genehmigung getan, aber ich hätte nicht zusehen können, daß der gute alte Herr in einer wahren Höhle gelebt hätte, wie wir sie hier vorfanden. Lassen Sie mir also dieses kleine Vergnügen.
Ich glaube Ihnen, Mr. Clayton, weil ich weiß, daß Sie großmütig genug sind, so zu handeln, und, o Cecil, ich möchte, ich könnte mich Ihnen so erkenntlich zeigen, wie Sie es wünschen.
Weshalb können Sie das nicht, Jane?
Weil ich einen andern liebe.
Canler?
Nein.
Aber Sie wollen ihn doch heiraten. Er sagte es mir, bevor ich von Baltimore abfuhr.
Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen.
Ich mag ihn nicht, sagte sie fast trotzig.
Steckt die Geldgeschichte dahinter, Jane? Bin ich denn nicht ebenso begehrenswert wie Canler? Ich habe Geld genug, mehr als wir je brauchen, fügte er bitter hinzu.
Ich liebe Sie nicht, Cecil, sagte sie, aber ich achte Sie. Wenn ich mich zu einem solchen Handel mit einem Manne erniedrigen muß, so wähle ich lieber einen, den ich verachte. Ich hasse den Mann, dem ich mich ohne Liebe verkaufe, wer er auch sein mag.
Sie werden glücklicher sein, schloß sie, allein – mit meiner Achtung und meiner Freundschaft, als mit mir und meiner Verachtung.
Clayton ging nicht mehr auf die Sache ein, aber es ging ihm wie ein Dolchstoß durchs Herz, als eine Woche später Robert Canler in seinem sechszylindrigen Automobil am Farmerhause vorfuhr.
Eine Woche verging, zwar ereignislos, aber unbehaglich für alle Bewohner des kleinen Farmerhauses.
Canler drängte, daß Jane ihn sofort heiraten sollte.
Schließlich gab sie nach, aus lauter Ärger über die fortwährende abscheuliche Belästigung.
Es wurde vereinbart, daß Canler am nächsten Tage in die Stadt fahren, die amtliche Erlaubnis einholen und einen Geistlichen mitbringen sollte.
Clayton wollte abreisen, sobald der Plan angekündigt wurde, aber der müde, hoffnungslose Blick des Mädchens hielt ihn zurück. Er sagte sich, er dürfe sie nicht verlassen.
Und dann suchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, es könne vielleicht noch etwas Unerwartetes geschehen. Er wußte auch, daß es nur eines kleinen Funkens bedurfte, um den Haß, den er in seinem Herzen gegen Canler hegte, zum Ausbruch zu bringen.
Früh am nächsten Morgen fuhr Canler nach der Stadt.
Im Osten konnte man Rauch über dem Walde liegen sehen. Eine Woche vorher hatte nicht weit entfernt ein Waldbrand gewütet, aber der Wind stand still im Westen und es drohte keine Gefahr.
Gegen Mittag ging Jane Porter aus zu einem Spaziergang. Sie wollte nicht, daß Clayton sie begleiten sollte. Sie wünschte allein zu sein, sagte sie, und er achtete ihren Willen. Im Hause waren Professor Porter und Mr. Philander ganz in die Erörterung einer wichtigen wissenschaftlichen Frage versunken. Esmeralda schlummerte in der Küche, Clayton, schläfrig nach einer schlaflosen Nacht, streckte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer aus und fiel bald in einen unruhigen Schlummer.
Im Osten stiegen die schwarzen Rauchwolken höher gegen den Himmel. Plötzlich wirbelten sie empor und begannen gegen Westen zu treiben.
Sie kamen immer näher. Die Bewohner des Pächterhauses waren fort, denn es war Nachmittag, und so sah auch von dort keiner, daß der Waldbrand immer näher kam.
Bald hatte sich das Flammenmeer über die Straße nach Süden ausgebreitet und Canler die Rückkehr abgeschnitten. Eine kleine Schwenkung des Windes fegte den Brand jetzt auch nach Norden; dann drehte sich der Wind abermals, und die Flammen standen beinahe still, als ob sie von einer mächtigen Hand festgehalten würden.
Plötzlich kam von Nordosten her ein großer schwarzer Wagen die Straße heruntergesaust.
Mit einem Ruck hielt er vor dem Landhaus; ein schwarzhaariger Riese sprang heraus und stürmte zum Tor hinein. Er stürzte ins Haus und fand Clayton auf dem Sofa liegend. Überrascht blieb er stehen, schüttelte dann aber gleich den Schlafenden an der Schulter, indem er rief:
Mein Gott, Clayton, sind Sie alle verrückt hier? Sehen Sie denn nicht, daß Sie schon fast ganz vom Feuer eingeschlossen sind? Wo ist Miß Porter?
Clayton sprang auf. Er erkannte den Mann nicht, aber er verstand die Worte, und in einem Nu war er auf der Veranda.
O Gott! rief er und stürmte ins Haus zurück. Jane, Jane, wo sind Sie?
In einem Augenblick waren auch Esmeralda, Professor Porter und Mr. Philander herbeigekommen.
Wo ist Miß Jane? schrie Clayton, indem er Esmeralda bei den Schultern faßte und kräftig schüttelte.
Ach, Mr. Clayton, sie ist spazieren gegangen.
Ist sie noch nicht zurück?
Und ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte Clayton in den Hof, wobei ihm die andern folgten.
Welchen Weg ist sie gegangen? schrie der schwarzhaarige Riese Esmeralda an.
Dort die Straße hinunter, rief die erschreckte Schwarze, gegen Süden zeigend, wo ein mächtiger Wall von züngelnden Flammen die Aussicht versperrte.
Packen Sie diese Leute in den andern Wagen, rief der Fremde Clayton zu. Ich sah einen, als ich herfuhr, und bringen Sie sie auf der Nordstraße fort. Meinen Wagen lassen Sie hier. Wenn ich Miß Porter finde, werden wir ihn brauchen. Finde ich sie nicht, so braucht ihn niemand. Tun Sie, wie ich sage! befahl er Clayton, als er bemerkte, daß dieser zögerte.
Dann sah man die geschmeidige Gestalt des Fremden quer durch die Lichtung nach Nordwesten springen, wo der Wald noch nicht von den Flammen berührt war.
Alle hatten das unerklärliche Gefühl, daß jetzt eine große Verantwortung von ihnen genommen sei, denn sie hatten gleichsam ein blindes Vertrauen in die Macht des Fremden, und sagten sich, dieser werde Jane Porter retten, wenn sie überhaupt noch zu retten sei.
Wer war das? fragte Professor Porter.
Ich weiß es nicht, antwortete Clayton. Er nannte mich beim Namen, und er kannte Jane, denn er fragte nach ihr. Und er nannte Esmeralda mit Namen.
Es war etwas überraschend Vertrautes an ihm, fügte Mister Philander hinzu, und bei Gott, ich habe ihn doch noch nie gesehen.
Sehr merkwürdig! sagte Professor Porter. Wer kann es sein, und weshalb fühle ich, daß Jane gerettet wird, da er sie sucht?
Ich kann es Ihnen nicht sagen, Professor, antwortete Clayton nachdenklich, aber ich habe dasselbe unbestimmte Gefühl. Doch kommen sie, rief er den andern zu, wir müssen hier heraus, sonst sind wir abgeschnitten.
Alle eilten auf Claytons Wagen zu.
*
Als Jane Porter umkehrte und ihre Schritte heimwärts lenkte, fühlte sie sich beunruhigt, da sie den Rauch des Waldbrandes in der Nähe sah. Als sie vorwärts eilte, verwandelte sich ihre Angst in großen Schrecken, denn schon drohten die Flammen ihr den Heimweg zu versperren.
Schließlich war sie gezwungen, in das Dickicht einzudringen und nach Westen zuzustreben, um die Flammen zu umgehen und wieder zu ihrem Heim zu gelangen.
Bald aber sah sie ein, daß das ihr nicht gelingen würde. Ihre ganze Hoffnung lag jetzt darin, zu der Straße zurückzukehren, und nach Süden, nach der Stadt, zu fliehen.
Die zwanzig Minuten, die sie brauchte, um zu der Straße zurückzugelangen, genügten aber, um ihr auch diesen Rückzug abzuschneiden. Sie lief zwar die Straße ein kurzes Stück hinunter, mußte dann aber stehen bleiben, denn vor ihr türmte sich eine andere Flammenmauer auf. Ein Ausläufer der Feuersbrunst war eine halbe Meile südlich aus dem Hauptherd hervorgebrochen und hatte den dünnen Straßenstreifen mit seinen unerbittlichen Krallen umfaßt.
Jane Porter sah, daß es zwecklos sei, nochmals den Versuch zu machen, durch das dichte Unterholz zu dringen. Sie war überzeugt, daß binnen wenigen Minuten der ganze Raum zwischen dem Feind im Norden und dem Feind im Süden nur noch eine glühende Masse von wogenden Flammen sein werde.
Ruhig kniete das Mädchen im Straßenstaub nieder und betete zu seinem Schöpfer, er möge ihm Kraft verleihen, sein Schicksal tapfer zu ertragen, und wenigstens Vater und Freunde vor dem Tode erretten.
Sie betete nicht für ihre Rettung, denn sie wußte, daß es für sie keine Hoffnung mehr gab.
Plötzlich hörte sie ihren Namen laut durch den Wald rufen: Jane! Jane Porter! Es klang laut und klar, aber es war eine merkwürdige Stimme.
Hier! antwortete sie, hier! Auf der Straße!
Da erblickte sie in den Bäumen eine Gestalt, die sich mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens über die Äste schwang.
Ein Windstoß hüllte sie in eine Rauchwolke, sie konnte den Mann nicht mehr sehen, der jetzt auf sie zueilte, aber plötzlich fühlte sie sich von einem starken Arm umschlungen. Dann wurde sie emporgetragen, und hörte das Rauschen des Windes und das Knistern der Äste.
Sie öffnete die Augen.
Tief unter ihr war das Unterholz und die harte Erde. Um sie herum das rauschende Laub des Waldes.
Die Riesengestalt, die sie trug, schwang sich von Baum zu Baum, und es kam Jane Porter vor, als erlebte sie jetzt im Traume wieder, was sie in der fernen afrikanischen Dschungel in Wirklichkeit erlebt hatte.
O, wenn es nur derselbe Mann wäre, der sie damals durch das Pflanzengewirr getragen hatte! Aber das war ja unmöglich ...
Doch wer sollte in aller Welt die Kraft und die Gewandtheit haben, wie der Mann, der sie jetzt trug?
Sie warf einen verstohlenen Blick auf das Gesicht, das dem ihrigen so nahe war, und überrascht stieß sie einen kleinen Schrei aus. – Er war es!
Mein Mann! flüsterte sie. Nein – das ist der Fieberwahn, der dem Tod vorausgeht.
Sie mußte wohl laut gesprochen haben, denn die Augen, die sich gelegentlich zu ihr niedersenkten, leuchteten mit einem Lächeln.
Ja, Ihr Mann, Jane Porter, Ihr wilder Urwaldmann, der aus der Dschungel gekommen ist, um seine Gefährtin zu fordern – die Frau, die von ihm fortgelaufen ist, fügte er fast bitter hinzu.
Ich bin nicht fortgelaufen, flüsterte sie. Ich willigte erst ein, mit fortzufahren, als wir noch eine Woche auf Ihre Rückkehr gewartet hatten.
Sie hatten jetzt das Feuermeer passiert und kehrten zu der Lichtung zurück, wo der Riese mit ihr wieder auf den Boden herunterging.
So gingen sie nebeneinander dem Landhaus zu. Der Wind hatte sich wieder gedreht, und das Feuer ging zurück. In einer Stunde würde es ausgewütet haben.
Warum kamen Sie damals nicht zurück? fragte sie.
Ich habe d'Arnot gepflegt, er war schwer verwundet.
Ach, ich wußte es! rief sie aus.
Man sagt, Sie wären zu den Schwarzen zurückgekehrt, das wären Ihre Leute.
Er lachte.
Aber Sie glaubten ihnen nicht, Jane?
Nein! Wie soll ich Sie nennen? fragte sie. Wie heißen Sie?
Ich war Tarzan bei den Affen, als Sie mich kennen lernten, sagte er.
Tarzan bei den Affen! rief sie, und dann war auch der Zettel von Ihnen, den ich beantwortet habe, ehe ich fortging?
Ja, von wem dachten Sie, daß er gewesen sein könne?
Ich wußte es nicht; nur sagte ich mir, er könne nicht von Ihnen sein, da er auf englisch geschrieben war und Sie kein Wort von irgendeiner Sprache verstehen konnten.
Er lachte nochmals.
Es wäre eine lange Geschichte, um Ihnen das zu erklären, aber ich schrieb, was ich nicht sagen konnte, weil ich damals die Sprache noch nicht so beherrschte, und d'Arnot machte die Sache noch schlimmer, indem er mich französisch lehrte, statt englisch, das ich aber lesen und schreiben konnte.
Kommen Sie, fügte er jetzt hinzu, da sie bei seinem Wagen angekommen waren, springen Sie hier hinein, wir müssen Ihren Vater einholen. Er und die andern können nur einen kleinen Vorsprung haben.
Als sie nun dahinfuhren, sagte er:
In Ihrem Briefe an Tarzan sagen Sie, Sie liebten einen andern. Damit haben Sie mich wohl gemeint?
Ich gebe es zu, antwortete sie einfach.
Aber in Baltimore – o, wie habe ich da nach Ihnen gesucht! Man sagte mir, Sie seien jetzt vielleicht schon verheiratet. Ein Mann namens Canler sei gekommen, um Sie zu heiraten. Ist das wahr?
Ja.
Lieben Sie ihn?
Nein.
Lieben Sie mich?
Sie verhüllte ihr Gesicht mit den Händen.
Ich bin einem andern versprochen. Ich kann Ihnen nicht antworten, Tarzan! rief sie aus.
Das war auch eine Antwort. Und nun sagen Sie mir, weshalb Sie jemanden heiraten wollen, den Sie nicht lieben?
Mein Vater schuldet ihm Geld.
Plötzlich erinnerte sich Tarzan des Briefes, den er gelesen hatte, des Namens Robert Canler und der in dem Schreiben angedeuteten Sorge, die er damals nicht verstehen konnte.
Er lächelte.
Wenn Ihr Vater den Schatz nicht verloren hätte, so sähen Sie sich nicht gezwungen, diesem Herrn Canler Ihr Versprechen zu halten.
Ich könnte ihn bitten, mich frei zu geben.
Und wenn er es ablehnt?
Ich habe ihm mein Versprechen gegeben.
Er schwieg einen Augenblick. Der Wagen brauste in tollkühner Fahrt auf der holprigen Straße daher, denn zu ihrer Rechten drohte das Feuer, und es war zu befürchten, daß wenn sich der Wind wieder drehte, das Feuer ihnen die einzige Straße, die ihnen noch für die Flucht übrig blieb, abschneiden würde.
Schließlich waren sie an der gefährlichen Stelle vorüber, und Tarzan fuhr nun nicht mehr so schnell.
Wenn ich ihn fragen würde? meinte Tarzan.
Er würde wohl kaum dem Wunsche eines Fremden entsprechen, meinte das Mädchen, besonders wenn der Betreffende mich selbst zur Frau haben wollte.
Terkop tat es! sagte Tarzan grimmig.
Jane Porter zuckte zusammen und schaute ängstlich an der Riesengestalt empor, die neben ihr saß, denn sie wußte, daß er den großen Menschenaffen meinte, den er getötet hatte, um sie aus seinen Klauen zu befreien.
Hier ist keine afrikanische Dschungel, sagte sie. Sie sind kein Wilder mehr. Sie sind ein Gentleman, und ein solcher tötet einen andern Menschen nicht kaltblütig.
Ich bin im Herzen immer noch Wilder, sagte er mit leiser Stimme wie im Selbstgespräch.
Dann schwiegen beide wieder eine Weile.
Endlich fragte er:
Jane Porter, wenn Sie frei wären, würden Sie mich heiraten?
Sie antwortete nicht gleich, aber er wartete geduldig.
Jane versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Was wußte sie eigentlich von diesem seltsamen Geschöpf an ihrer Seite? Was wußte er von sich selbst? Wer war er? Wer waren seine Eltern?
War sein Name der Widerhall seiner geheimnisvollen Abkunft und seines wilden Lebens?
Er hatte eigentlich keinen Namen. Würde sie mit diesem Dschungel Findling glücklich werden? Konnte sie eine Gemeinschaft haben mit einem Manne, der sein bisheriges Leben in den Baumkronen einer afrikanischen Wildnis verbracht hatte, der mit Menschenaffen gespielt und gekämpft, der von den zuckenden Flanken eines frisch getöteten Tieres sich Fleisch abschnitt und dieses roh verzehrte, während seine Gefährten um ihn herum knurrten und auf ihren Anteil an der Beute lauerten?
Konnte ein solcher Mensch sich zu ihrem Gesellschaftskreis erheben? Oder sollte sie sich zu seinem herunter lassen? Konnte eines von ihnen in einer derartigen Mißheirat glücklich werden?
Sie antworten nicht! sagte er. Sie fürchten wohl, mich zu verletzen?
Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll, sagte Jane Porter traurig. Ich kenne meine eigene Meinung nicht.
Dann lieben Sie mich wohl auch nicht? fragte er in einem gezwungen leichten Tone.
Fragen Sie mich nicht! Sie werden glücklicher ohne mich. Sie sind nicht gemacht für die förmlichen Einschränkungen und Bindungen der Gesellschaft. Die Kultur würde Ihnen lästig werden, und schon nach kurzer Zeit würden Sie sich nach der Freiheit Ihres früheren Lebens zurücksehnen, eines Lebens, für das ich ebenso ungeeignet wäre, wie Sie zu dem meinigen.
Ich glaube Sie zu verstehen, antwortete er ruhig. Ich will Sie nicht drängen, denn ich will lieber Sie glücklich sehen als mich. Ich sehe jetzt ein, daß Sie nicht glücklich werden können – mit einem Affen.
Es lag eine gewisse Bitterkeit in seiner Stimme.
Nicht so! erwiderte sie. Das dürfen Sie nicht sagen. Sie verstehen mich nicht.
Aber noch ehe sie weiter sprechen konnte, hielt der Wagen nach einer plötzlichen Biegung der Straße mitten in einem kleinen Dorfe.
Vor ihnen hielt Claytons Wagen, und um ihn standen die Personen, die er dorthin gebracht hatte.