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»Silentium!« tönte eine laute Stimme in das Plaudern und Gläsergeklirr. Im Augenblick trat Ruhe ein.
»Stoff, Füchse!«
Ein paar Obertertianer und Sekundaner füllten die Gläser. Als auch sie ihren Platz wieder eingenommen, begann dieselbe Stimme: »Liebe Couleurbrüder! Es ist uns an unserm heutigen Kneipabend eine mächtige Ehre widerfahren. Unserm lieben Fuchsmajor Otto Weidenberg ist es gelungen, das berühmte Tugendlamm unsrer Anstalt zur Teilnahme an unserm heutigen Kommerse zu bewegen. Was das bedeutet, wißt ihr. Ich sehe, daß ihr noch ebenso baff seid wie ich. Wir glaubten, in Fritz Berger einen Feind zu sehen, der für edle studentische Zwecke gar kein Interesse hat. Nichtsdestoweniger ist er heute hier erschienen. Und so erlaube ich mir denn, Sie, Herr Fritz Berger, im Namen meiner verehrlichen Couleur höchstoffiziell als unsern Gast zu begrüßen. Sie werden sehen, daß hier bei uns echte deutsche studentische Lustigkeit herrscht, und ich glaube wohl im Sinne aller meiner Couleurbrüder zu sprechen, wenn ich der Hoffnung Ausdruck gebe, daß Sie von jetzt ab ein ständiger Gast bei uns sein werden. In diesem Sinne gestatte ich mir, auf Ihr Wohl einen ganz bedeutenden Streifen zu trinken, und ich hoffe, daß ihr, liebe Couleurbrüder, euch dem anschließen werdet.«
»Prost!« scholl es brausend in die letzten Worte, und wieder »Prost!« Die Gläser klirrten, die Füße trampelten, daß der Boden dröhnte, und halb geleert klappten die Seidel auf den Tisch zurück.
Dann schlug klingend das Rapier wieder auf die Tischplatte.
» Silentium ex! Colloquium!« rief die Stimme des präsidierenden Primaners.
Nun ergoß sich ein Redestrom über Fritz, daß ihm der Schädel brummte.
»Alter Junge,« sagte der lange Köppen zärtlich und schlug ihm auf die Schulter, »sag mir nur, wer dich endlich vernünftig gemacht hat. Lange genug hat's ja gedauert.«
»Aber recht hat er,« scholl's vom andern Ende der Tafel. »Na, Fritz, wir waren von Quarta an zusammen. Jetzt, hoff' ich, springen wir Ostern nach'm Examen auch gleichzeitig in die Verbindung ein. Das hier ist ja so wie so nur ein – na, quasi ein Vorbereitungsunterricht.«
»Wir werden nämlich unterstützt von der eigentlichen Studentenverbindung und müssen dafür später einspringen,« erläuterte ein Obersekundaner, der im fleckigen Kommersbuch blätterte.
»Kinder,« schrie jetzt der pockennarbige Thaden, »gestern ist der Hans Lüpke bei der Kathi drüben mächtig abgeblitzt! Hat 'ne Liebeserklärung riskiert. Na, ich danke.«
Fritz horchte auf, aber im Gewirr verstand er kaum mehr. Sein Kopf ward ihm etwas dumpf. Er hatte noch nie so viel Bier hintereinander getrunken. Dazu noch der Rauch der verschiedensten Cigarren und Cigaretten, der sich wolkengleich an der Decke hinzog. Ihm war ganz seltsam, aber er hielt tapfer mit, wenn ihm jemand etwas »vorkam«. Dann legte sich ein Arm um seine Schulter.
»Na, Fritz?« Otto Weidenberg stand hinter ihm, das rosa-silber-grüne Band über der Brust und die moosgrüne Mütze etwas schief auf dem Kopfe. »Amüsierst du dich, mein Junge? Ja? Na, wer hat recht gehabt?«
Aber ehe Fritz noch antworten konnte, tönte es von drüben: »Ein Pereat den Paukern! Pereat! Pereat!«
»Besonders dem Mathematiker!« rief eine hellere Stimme dazwischen.
»Brav, Füchschen! Wohl die letzte Arbeit verhauen?«
»Fritz – aufs Speziellste!«
»Prost, Otto!«
Plötzlich ging ein Jubel durchs Zimmer. »Lötzen will sprechen! Hoch, Mops!«
Ein schlanker Junge richtete sich lächelnd auf. »Hohes Präsidium, bitte um Silentium für mich.«
»Silentium für unsern lieben Lötzen!«
Es ward alles still. Auf den Gesichtern lag ein erwartungsvolles Grinsen.
»Liebe Couleurbrüder! Schon Schiller sagt: Es gibt im Menschenleben Augenblicke! Solch ein Augenblick war da, als Cäsar über den Rubikon ging und damit den Geschicken Roms eine neue Wendung gab. Vor solch einem Augenblick stehen wir auch heute, wo unser lieber Freund und Collega Fritz Berger den Rubikon der Tugendmeierei überschritten und uns aufgesucht hat. Ja, ich behaupte sogar, daß dies letztere Ereignis noch bedeutender ist als das erstere. Denn was ist uns Cäsar? Wir haben ihn in der Tertia bereits überwunden, und nur unsre allerjüngsten Füchse büffeln noch daran. Dieses neue Ereignis aber ist nicht nur ein Wendepunkt in unserm Couleurleben, es ist noch mehr ein Wendepunkt in dem Leben unsres lieben Gastes Fritz Berger. Ja, Verehrtester, bisher waren Sie das eingefleischteste, dämlichste, allen Ermahnungen ausweichende Tugendlamm – verzeihen Sie das harte Wort. Wenn keiner sich vorbereitet hatte – Sie waren präpariert! Wenn keiner etwas wußte – Sie wußten es! Was half es, daß wir alle mit Cicero wetterten: quousque tandem abutere patientia nostra? Lacht nicht, Füchse, ich übersetz' es euch nachher! Also was nützte es uns? Endlich aber sehen Sie jetzt selbst den Schimpf ein, sehen Sie ein, daß es eines freien Mannes unwürdig ist, ein Streber zu sein. Dazu kann ich Sie nur herzlich beglückwünschen. Und, Kommilitonen, ich glaube, diesem Glückwunsch können wir einen geradezu erhabenen Ausdruck geben, wenn wir beschließen, die Bezeichnung ›Tugendlamm‹, die unserm lieben Fritz Berger bisher anhaftete, in Verruf zu stecken. Jeder, der sie nochmals anwendet, beleidigt die ganze Couleur. Seid ihr damit einverstanden?«
»Ja!« scholl es lachend und dröhnend zurück.
»Nun gut. Und noch eins, Kommilitonen: können wir einen derartig wichtigen Entschluß unbegossen vorübergehen lassen? Ich sage nein! Und deshalb bitte ich mir vom hohen Präsidium die Erlaubnis zu einem urfidelen und kräftigen Salamander aus. Es wird mir eine Ehre sein, ihn zu kommandieren.«
» Habeas,« klang es vom Präsidentensitz.
Lötzen, im ganzen Gefühl seiner Würde, nahm eine feierliche Miene an. »Silentium! Der Salamander steigt, Ad exercitium salamandris parati estisne?«
» Sumus!« tönte es wie aus einem Munde.
» Bibite ex: Eins, zwei, drei –« Tiefe Stille. Nur ein Schlucken und ein hastiges Hinuntergießen. »Eins – zwei – drei.« Die Seidel rieben dröhnend auf der feuchten Tischplatte. »Eins, zwei – drei!« Und mit einem Ruck stießen sie bei dem letzten Wort auf den Tisch zurück, als sollte das Holz bersten.
»Füchse natürlich wieder nachgeklappt,« brummte Otto Weidenberg trocken. »Zur Strafe alle noch einmal in die Kanne.«
Es ward immer lauter und lustiger. Ein Cantus nach dem andern »stieg«, die Rauchwolken verdichteten sich mehr und mehr, die Köpfe wurden heißer.
Fritz saß in halber Betäubung da, aber er lachte mit, trank, johlte dazwischen. Dann sah er auf die Uhr. Um acht waren sie gekommen, jetzt ging es auf halb zehn zu. Er erhob sich und trat zu Otto, der am andern Ende der Tafel saß. Dabei merkte er erst, wie schwer seine Beine ihm waren.
»Du, Dicker, wir müssen gehen.«
»Gleich, Fritz, die Sitzung wird sofort geschlossen. Wir müssen ja alle um zehn Uhr zu Haus sein.«
Der Aufbruch ging schnell von statten. Im Nu waren die Bänder und Mützen in den Schüben verschlossen, und paarweise, in kleinen Abständen, um nicht aufzufallen, traten die einzelnen auf die Straße.
Otto und Fritz, Arm in Arm, waren fast die letzten. Sie atmeten tief die frische Luft ein.
»Wie wohl das thut! Mein Kopf ist doch schwer. Ich – ich glaube, ich vertrage nicht so viel.«
»Das erste Mal,« tröstete Otto. »Aber nett war's doch – was?«
»Ja – wenigstens mal was andres. Ach, weißt du immer die Gedanken – diese –«
Er hielt inne. Beinahe hätte er hier dem gutmütigen, aber herzlich unreifen Otto seine ganze Leidensgeschichte erzählt.
Heute abend schlief er sofort ein.
Als die Morgensonne durch die Gardinen schien, erwachte er mit brennendem Kopf und trockenen Lippen. Er hatte einen bitteren, unangenehmen Geschmack im Munde, der gar nicht fortzubringen war. Da er keine Zeit mehr hatte, stürzte er seinen Kaffee schnell hinunter. Er kam trotzdem zu spät zur Schule, seit Jahr und Tag zum erstenmal. Das machte ihn verlegen, und obwohl ihm kein Wort gesagt wurde, empfand er es doch wie einen Vorwurf. Die Blicke seiner Mitschüler ruhten heute so sonderbar auf ihm, halb schadenfroh, halb freundlich, als ob er plötzlich ein ganz neuer und interessanter Mensch sei. Auch das lenkte seine Aufmerksamkeit ab, und die Lehrer betrachteten ihn kopfschüttelnd.
Nachmittags lag er müde und abgespannt auf dem Sofa; aber er fand keinen Schlummer, immerzu grübelte er. Seit dem Tage, wo er bei Röhren gewesen, hatte ihn der Zweifel nicht mehr losgelassen. Er war nicht mehr so überzeugt von seinem Recht und dem Unrecht der andern, er wußte nicht ein und aus, er tappte im Dunklen und im Wirrwarr seiner Gefühle; und dazu mußte er noch alles in sich verschließen. Kein Mensch fragte ihn, kein Mensch nahm ihn an die Brust, keinem Menschen konnte er sein Herz ausschütten. Der alte Geheimrat blieb immer gleich freundlich, ließ ihn aber ruhig seiner Wege gehen. Paul und Otto waren noch Knaben, und Else – ja, das war das Schlimmste: sie vermied ihn, wo sie konnte, und er wich ihr ebenso aus. Ein einziger Blick damals hatte beide gelehrt, daß sie keine Kinder mehr waren, und in halb entsetztem Erstaunen und in Scham hatten sie sich angesehen. Es war plötzlich etwas zwischen ihnen, was früher nicht dagewesen war, etwas Mächtiges und Unklares, das nicht mehr wich und wankte, sondern nur immer stärker ward. Beide hatten die Naivetät verloren, sie verkehrten ganz anders als sonst. Wenn Fritz nach Hause kam, sprang Else ihm nicht mehr entgegen, sie lachte ihn nicht mehr aus, sie plauderte nicht mehr mit ihm, sprach nur gerade das Notwendigste und bekam manchmal, wenn sich ihre Blicke begegneten, einen ganz roten Kopf. Er aber fühlte ebenso seltsam und verließ oft das Zimmer, wenn sie eintrat. Und doch trieb ihn dann wieder eine unbestimmte Sehnsucht zu ihr, die doch seine einzige Freundin gewesen war, der er noch am ehesten früher sein volles Herz hatte ausschütten können. Wenn sie manchmal im Nebenzimmer mit ihrem Bruder sprach, hielt er mitten in seiner Arbeit inne und lauschte, halb unbewußt, auf ihre liebe Stimme.
Das Unlustgefühl in ihm ward immer stärker. Er scheute sich davor, allein zu sein mit dem bunten Durcheinander seiner quälenden Stimmungen; er arbeitete hin und wieder fieberhaft und legte dann plötzlich die Feder hin, ohne auch nur einen Strich zu thun. Eine halbe Angst und Unruhe trieb ihn, sowie er nur aus der Schule kam, in die belebtesten Straßen, in den dichtesten Menschenstrom, in immer neue Gegenden der Millionenstadt.
Besonders vor der Dämmerung fürchtete er sich und vor dem Abend. Wenn alles so gemach dunkler wurde und stiller, wenn sich die Schatten über den Tiergarten legten, dann stützte er den Kopf in die Hand und hätte vor wilder Sehnsucht weinen mögen. Und doch wußte er nicht, was er wollte. Seine Mutter – Röhren – Else – sie alle verwirrten ihn; keiner gab ihm Klarheit, keiner sagte ihm, was er thun sollte. Ein Gefühl grenzenloser Vereinsamung kam über ihn. Er wollte sich selbst entfliehen und all dem, was ihn quälte, wollte sich betäuben, berauschen, wieder lachen lernen und lustig sein.
Und da war es ein Abend gewesen, süß und still, wo der Spätsommerwind ganz leise durch das bunte Laub der Bäume gegangen war. Drüben hatte einer Klavier gespielt. Er aber hielt es nicht mehr aus und hätte aufschreien mögen, ohne zu wissen, weshalb. Da war Otto gekommen und hatte ihn gefragt, ob er nicht endlich einmal zum Kommers mitgehen wolle. In diesem Augenblicke wäre er mit ihm weiß Gott wohin gelaufen, um nur nicht allein zu bleiben.
Das ging jetzt so weiter, einen Tag nach dem andern. Hin und her geworfen von seinen eigenen unklaren Empfindungen, stürzte sich Fritz immer toller in das Großstadtleben, als ob er alles Versäumte mit einemmal nachholen wollte. Manchmal erfaßte es ihn wie ein Rausch, in dem er alles vergaß, in dem er lachte und jubelte, in dem er sein früheres Einsiedlerdasein gar nicht mehr begriff. Noch öfter aber empfand er Ueberdruß. Diese tolle Lustigkeit lag nicht in seiner Natur. Doch wenn dann die Selbstquälereien wieder begannen, trieb es ihn von neuem in fröhliche Gesellschaft, ins lachende Leben.
Einst hatte er sich verspätet und kam nach zehn Uhr zurück. Er mußte erst ein Viertelstündchen nach dem Wächter suchen, ehe er Einlaß fand. Und droben mußte er klingeln, die Schläfer wecken. Ein Schamgefühl überfiel ihn, daß er am liebsten umgekehrt und die Nacht hindurch bis zum Morgen in den Straßen umhergelaufen wäre. Glücklicherweise erwachte das Dienstmädchen und öffnete ihm. Mit rotem Kopf schlich er in sein Schlafzimmer.
Tags darauf wagte er keinem recht in die Augen zu sehen. Er wurde aber mit genau gleicher Freundlichkeit behandelt. Das drückte ihn noch mehr nieder. Er hatte Vorwürfe verdient und wollte sie auch haben.
Die nächsten Male sah er sich besser vor und nahm den Korridorschlüssel mit.
Der alte Geheimrat sah und merkte alles. Er sprach auch mit Frau Trude darüber, und als diese überrascht und entsetzt flehentlich bat, doch besser auf ihren Fritz aufzupassen, beruhigte er sie und sagte mit seinem feinen Lächeln: »Werde mich hüten, dem Jungen einen Ton dreinzureden. Der ist wie sein Vater und wird schon allein mit sich fertig werden. Wer weiß, wie lange es auch noch dauert. Lassen Sie ihn tollen, einmal muß es doch geschehen. Es fehlte ihm so wie so bis jetzt, und er wird nachher ein ganz andrer Kerl werden: der verbummelt nicht, Bummler sind aus ganz anderm Holz geschnitzt – ja, ganz anderm.«
Und doch kam Frau Trude nicht darüber hinweg. Abends besonders, wenn die Lichter in den Häusern langsam erloschen, zermarterte sie sich den Kopf, wo Fritz jetzt sein mochte. Und manchmal weinte sie dann und rief seinen Namen, Stunden und Stunden lang.
Aber auch einer andern bereitete der Jüngling trübe Nächte. Abend für Abend lag die kleine Else schlaflos da und lauschte, bis draußen das Geräusch der Schlüssel tönte und sich die wohlbekannten Schritte durch den Korridor schlichen. Dann erst, wenn sie die Zimmerthür gehen hörte, atmete sie auf. Sie hatte eine so entsetzliche Angst manchmal, die ihr die junge Brust einengte – eine Angst, weiß Gott warum. Und einst, als es elf Uhr wurde und zwölf und Fritz immer noch nicht kam, wußte sie nichts Besseres, als immerfort zu beten. Aber sie brachte nur heraus: »Lieber Gott – lieber Gott –«, und preßte die gefalteten Hände fest zusammen, als könnte sie dadurch die Inbrunst ihres Gebetes ausdrücken.
Nach langem Zögern fing sie am folgenden Nachmittag ihren Bruder ab.
»Du,« sagte sie, »ihr seid wohl gestern wieder irgendwo gewesen? Als ich um Zehn zu Bett ging, warst du jedenfalls noch nicht hier.«
»Was dir auch einfällt! Ich hab' in meinem Zimmer sehr fleißig präpariert. Fritz war fort.«
Sie bemühte sich, möglichst gleichgültig auszusehen. »Fritz? So, so. Sag mal, was ist denn in den mit einemmal gefahren?«
»Vernünftig ist er geworden, Else, mehr nicht. Du sollst mal sehen, was sich aus dem Duckmäuser noch alles entwickelt. Vorige Woche auf der Kneipe war er mit einer der Tollsten, und beim Bierjungen hat er sogar den Köppen geschlagen; denk mal, den Köppen, der hat doch 'nen mächtigen Zug. Aber unser Fritze – heidi, beinahe um eine halbe Bierminute vorausgekommen! Schneidiges Kerlchen; hätt's ihm wirklich nicht zugetraut.«
»Aber ihr habt doch schließlich nicht jeden Abend Kneipe,« sagte Else, »und der Fritz ist doch jetzt Abend für Abend weg. Wo steckt er denn nur?«
»Weiß ich's! Hat vielleicht ein Liebesverhältnis da irgendwo.«
»Ein – ein Liebesverhältnis? Dummer Junge!«
Und halb erschrocken, halb entrüstet drehte sich Fräulein Else um und verließ das Zimmer. Ihr war ganz jämmerlich zu Mute, und sie saß in ihrer Stube wie ein krankes Vögelchen, dem das Singen vergangen ist. Dann plötzlich aber nahm sie Hut und Umhang und lief zu Frau Trude. Und dort beichtete sie – beichtete, daß Fritz immer so spät nach Hause komme, daß er einfach »bummele«.
Frau Trude sah still vor sich hin. Wie weh mußte doch ihrem armen Jungen zu Mute sein, wenn er sich so weit vergaß! Ihr kam eine Thräne ins Auge. Sie ließ sie laufen und achtete nicht darauf.
»Früher hab' ich immer gesagt, er ist kein richtiger Junge, und nun – nun treibt er's wieder gar zu toll. Denk dir nur, Tante, den Köppen hat er sogar im Trinken besiegt, beim Bierjungen, sagt Otto! Ach, und dann – aber nein, nein, ich kann dir's ja gar nicht sagen!«
»Was denn, Else?« drängte Frau Trude geängstigt.
Sie barg ihren Kopf an der Schulter ihres Tantchens.
»Ich schäme mich ja so,« flüsterte sie über und über errötend und schluckte krampfhaft.
»Else!«
Da stürzte sie vor Frau Trude hin, legte den Kopf in ihren Schoß und weinte – weinte, während sie abgebrochen hervorstammelte: »Otto – hat – gemeint, er – er hat jetzt auch ein – ein Liebesverhältnis – ach Gott –«
Ueber das Gesicht der Mutter huschte es flüchtig wie ein Lächeln. Dann aber sah sie ganz erstaunt auf ihr liebes Prinzeß Sonnenscheinchen, das so bitter schluchzte. Eine leise Ahnung dämmerte ihr auf.
Sie streichelte das braune Haar mit dem leisen, warmen Goldton darauf und sagte: »Sei nur still, Elschen, das ist ja doch gewiß nicht wahr, ganz gewiß nicht. Dazu kenne ich meinen Fritz viel zu gut.«
Und plötzlich hörte das Schluchzen auf, das Köpfchen hob sich hastig, über und über rot, und zwei zage Augen sahen forschend zu Frau Trude hin. »Daß ich gleich auch immer so – so aufgeregt sein muß. Papa meint auch, ich heulte über jeden Quark.« Und dabei fuhr ein schmaler Handrücken energisch über die verthränten Augen. Aber die Entschuldigung klang doch recht sonderbar.
Beim Abschied sagte Frau Trude: »Hör mal, Elschen, willst du dir den Fritz nicht mal vornehmen?«
»Ich? Um Gottes willen –«
»Ja, warum denn nicht? Ihr verstandet euch doch früher so gut! Sag ihm nur, daß er mir durch sein neues Leben so weh thut, daß – daß – du kannst es dir ja denken, Kind. Und wenn er auch nichts mehr wissen will von mir, einen Gefallen wird er seiner Mutter schon noch thun, besonders wenn du ihn darum bittest.«
»Aber von mir will er ja auch nichts mehr wissen!« Beinahe hätte das Schluchzen wieder von vorn angefangen.
Frau Trude lächelte. »Das bildest du dir nur ein. Versuch's doch wenigstens mal. Willst du mir wirklich diese Bitte abschlagen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Meinetwegen; aber – aber es nützt ja doch nichts, Tantchen. Was er sich aus mir noch macht! Nicht ein bißchen mehr.«
Sie brachte es auch einen ganzen Tag nicht übers Herz, den Auftrag auszuführen. Sie traf den Jüngling auch nie allein. Damit entschuldigte sie sich vor sich selbst und gelobte sich gleichzeitig heilig, bei erster Gelegenheit ihr Frau Trude gegebenes Versprechen zu erfüllen, so schwer es ihr auch werden würde. Natürlich wollte sie diese Gelegenheit nicht gerade suchen, aber wenn sie sich einstellte, ihr auch nicht ausweichen.
Und sie stellte sich bald ein. Als Else eines Nachmittags die Thür zu dem hellen Vorderzimmer öffnete, wo das Klavier stand, sah sie Fritz im Sessel. Er hatte ein Buch vor, las aber nicht, sondern blickte ganz versunken vor sich hin.
Er hob den Kopf. »Ach, du,« sagte er und wollte, der ersten Eingebung folgend, aufstehen und die Stube verlassen. Dann aber ward er rot und blieb sitzen. Es sah so thöricht aus, wenn er floh.
Sie war, halb zitternd, näher getreten und hatte sich ans Klavier gesetzt, daß sie ihm den Rücken kehrte. Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen. Verwirrt griff sie ein paar Accorde, und plötzlich nahm sie all ihren Mut zusammen und sagte, während die Töne kurz abbrachen: »Ich habe Auftrag, mit dir zu reden, Fritz.«
Gottlob, der Bann war gebrochen.
»Auftrag?« fragte er. »Wer hat dir Aufträge zu geben?«
Sie antwortete nicht und spielte wieder ein paar abgerissene Takte. Und dann, in den Pausen, sprach sie: »Du darfst es mir nicht übelnehmen, Fritz – und ich hätt's dir ja auch gar nicht gesagt, aber ich hab's doch halt mal versprochen. Weil du nämlich so lange fortbleibst immer – und du trinkst jetzt auch – wir wissen das ja alles, auch mit dem Köppen das – und weil – weil du noch viel mehr thust, was ich dir nicht sagen kann – da hat eben deine Mama mich gebeten, ich soll dir sagen, du bereitest ihr dadurch viel Kummer, und wenn du ihr noch einen Gefallen thun willst, weil sie dich doch so lieb hat und weil es doch deine Mutter ist, so – so möchtest du das wilde Leben lassen. Das hab' ich dir sagen sollen, Fritz.«
Sie spielte wieder, ganz leise, daß sie seine Antwort hören konnte. Aber sie wartete immerzu, und so viel sie auch lauschte, sie vernahm kein Wort.
Fritz saß stumm da, mit gesenkten Augen. Die liebe Stimme hatte ihm ans Herz gegriffen. Und dann, was sie von seiner Mama sprach! Wenn er ihr noch einen Gefallen thun wolle, weil sie ihn doch so lieb habe! Es hatte sich dabei etwas in ihm zusammengekrampft, und er war sich wie ein grundschlechter Mensch vorgekommen, der so viel Liebe gar nicht verdiente. Seine arme, arme Mama! Sie traute sich gar nicht mehr, selbst zu kommen, sie bat andre darum, ihm dies oder jenes zu sagen! Die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Aber er fand noch immer kein Wort.
Und da begann Else wieder, noch abgebrochener, noch leiser: »Du hast ja nicht einmal eine Antwort – und – und ich hab's ja gleich gewußt. Deiner Mama hab' ich's auch gesagt: sie soll nur nicht denken, daß ich – ich noch etwas für dich bin – und daß es besser ist, wenn sie sich einen andern sucht, der dir das bestellt.«
Ein paar starke Accorde übertönten ihren schweren, stoßweisen Atem.
»Else,« sagte er bittend.
Ihre Finger blieben auf den Tasten, daß sie leise nachzitterten.
Langsam, wie zögernd, stand er auf.
»Denkst du denn wirklich, ich habe Freude am Bummeln, Else? Pah, Freude – du lieber Gott! Aber ich will nicht allein sein, ich will nicht denken an all das, was in den letzten Wochen passiert ist, ich will –« Er ging auf und ab und rang nach Worten. Dann blieb er hinter ihrem Stuhle stehen, während sie zitternd dasaß, das Gesicht tief gesenkt. »Weißt du,« begann er ganz leise, »als du jetzt hereinkamst und ich vor mich hinstarrte, da hab' ich mir so gedacht, wie verloren und verlassen ich doch eigentlich in der Welt bin. Wen hab' ich denn? Meine Mama? Ich – ich bin ja selbst fortgegangen, ich hab' sie gekränkt, wo sie doch so gut ist. Aber ich hab' doch auch recht, Else, ich hab' doch recht – nicht wahr? Und ich kann doch jetzt nicht mehr zurück. Und dann – ihr seid ja alle so gut zu mir, aber es ist doch eben nicht das – das Richtige, und du, Else – wir sehen uns ja so selten, seit damals fast gar nicht – und mit der alten Freundschaft scheint's wohl aus zu sein. Siehst du, das sind alle. Ich hab' also eigentlich gar keinen. Das hab' ich mir vorhin so gedacht, und dann kam ich wieder auf all die Bummeleien zuletzt – ach, das ekelt mich ja so an, Else, ob du's nun glauben willst oder nicht. Aber was bleibt mir denn übrig? Denn der Gedanke – der ewige Gedanke, ob ich recht habe und wie schön alles früher war und was ich nun machen werde – Herrgott, man kann ja verrückt dabei werden! Und dann läuft man eben davon, irgend wohin, nur um unter Menschen zu sein und zu vergessen.«
Seine Brust hob und senkte sich, und seine Hand umklammerte fast krampfhaft den geschnitzten Knopf der Stuhllehne. Die Spätnachmittagssonne fiel durch die Gardinen und lag in breitem Strahl auf dem geneigten Mädchenhaupt.
»Else,« fragte er dann, »gehst du bald wieder zu meiner Mama?«
Sie nickte.
»Dann sag ihr, daß sie sich nicht sorgen soll. Mir ist's ja schon selber zum Ueberdruß, dieses Leben. Ach, du – vorhin – ich hatte so eine mächtige Sehnsucht nach etwas, ich glaube, nach Glück und lustigem Lachen wie früher. Es war gar nicht mehr auszuhalten. Das mag ja dumm sein und knabenhaft, nun ja, aber ich kann doch mal nicht anders. Früher hab' ich ja das alles gar nicht gekannt. Doch was ich in den paar Wochen durchgemacht habe, ist nicht zu sagen. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich früher eigentlich war, in unserm Hause, wo wir beide uns immer zankten und Mama dazu gelacht hat. Das ist jetzt alles so neu und so – so – Else, ich glaube, wir beide – wir sind auch ganz anders geworden.«
Er schwieg und sah hinaus auf die beglänzten Straßen und die ersten Bäume des Tiergartens.
Sie sagte noch kein Wort, konnte auch nichts sagen, bis das schwere Schweigen sie ängstigte und sie mit hastigem Griff vom Notenpult ein Heft nahm, es aufschlug und zu spielen begann. Es war das Ave Maria von Liszt.
Droben stille, heilige Glockenklänge, ganz fein, ganz leise, und allmählich drunten der selige Gruß, immer stärker anschwellend, immer größer, immer schöner. Bald hohe Mädchenstimmen aus verklärter Ferne, süß und sehnsüchtig, bald tiefe Chöre von Betern, in mächtigem Strome durchs hohe Kirchenschiff dahinschwimmend. Und immer die segnenden Glocken dazu mit tönenden Rufen, die Glocken eines verklingenden Sommertages, wenn beladene Kähne den Fluß hinunterziehen und die Schnitter im Abendrot rasten, und dann die jubelnde Vereinigung all der Stimmen und Töne, ein mächtiges Jauchzen zur Gottesmutter, zur Königin des Himmels, bis die hohen Mädchenstimmen mählich verschollen und die dunklen tiefen, und nur noch die Glocken lockten und läuteten, ganz fein, ganz leise.
Fritz hatte atemlos zugehört, und je weiter Else spielte, desto andächtiger lauschte er. Es war, als ob ihn ein Strom durchflute, reinigend, läuternd, als ob das wilde Herz, das so gekämpft, gezuckt und gezittert hatte, allmählich stiller würde, als ob alle Schlacken sich von ihm lösten und nichts zurückblieb als etwas Reines und Heiliges. Alles Gute in ihm, seine schauernde Sehnsucht, sprach dort mit tausend klingenden Zungen, und das scholl wie Erlösung, alles Dunkle ward hell, alle Wirrnis legte sich. Er wußte nicht, was ihn zog, aber er trat noch etwas näher.
»Else,« sagte er leise mit sonderbarer Stimme.
Sie spielte noch immer mit feinem zitternden Anschlag die verklingenden Glocken, als fürchtete sie sich aufzuhören.
Da strich er mit der Hand einmal über ihren vollen, goldbraunen Scheitel.
Sie fing am ganzen Leibe zu zittern an und wurde purpurrot.
Und dann hatte er sie unters Kinn gefaßt und sah ihr in die Augen. Die standen ganz voller Thränen.
»Else,« sagte er noch einmal.
Sie wandte sich, langsam und scheu. Das kleine Mal oben an der Stirn flammte.
Die Lehne des Stuhles war zwischen den beiden jungen Menschenkindern – sie wußten es nicht. Rot und verleuchtend umwob die Nachmittagssonne ihre Häupter – sie merkten es nicht.
Es war sehr still. – Und sie küßten sich.
*