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Zwölftes Kapitel.

Der alte Geheimrat konnte sich gar nicht retten. Um nichts und wieder nichts hatte er schon ein paar stürmische Umarmungen erdulden müssen, und nach dem sonnigen Gesichtchen seiner kleinen Hexe zu urteilen, war ein Ende vorläufig überhaupt nicht abzusehen. Ein paarmal schon hatte er ein recht grimmiges Gesicht machen und energisch brummen wollen, aber wenn er in die glänzenden Mädchenaugen sah, dann war sein Entschluß wie weggeblasen, und lächelnd und seufzend begnügte er sich damit, den grauen Kopf zu schütteln. Doch als sie ihm nachher das Schälchen Kaffee brachte und es mit zierlichem Knicks überreichte, machte er seinem Herzen endlich Luft.

»Sag mir um Gottes willen, Mädel, was ist denn heute in dich gefahren? Wirbelst schon den ganzen Tag wie ein Flederwisch herum …«

Aber da kam er schlecht an. Ehe er sich's versah, hing ihm die kleine Schmeichelkatze schon wieder am Halse und drückte und küßte ihn aus Leibeskräften.

»Ich bin so glücklich, Papa, ach Gott, so ganz schrecklich glücklich! Am liebsten möcht' ich immerzu hurra schreien – soll ich?«

»Aber – aber!« beruhigte er ganz erschrocken, »was würden denn die Leute sagen! Nein, wie solch ein Mädel durch einen neuen Hut glücklich gemacht werden kann, man soll's gar nicht glauben!«

»Durch – einen – neuen – ja, natürlich, Papachen, aber er ist doch auch reizend, und ich habe ihn direkt geküßt, so nett find' ich ihn.«

Sie konnte sich nicht mehr halten und drehte sich lachend auf dem Absatz herum. Jetzt protestierte der alte Herr aber energisch.

»Zu meiner Zeit,« fuhr er drein, »tanzten die Kinder den Eltern nicht auf der Nase herum. Wir mußten beinahe erst um Erlaubnis bitten, wenn wir lustig lachen wollten – ja.«

»Puh,« schüttelte sie sich, »du – dann ist's doch gut, daß ich nicht deine Schwester geworden bin, sondern deine Tochter.«

Und darüber wollte sie sich nun wieder rein ausschütten.

Sie war so jung, sie war so glücklich. Bald tollte sie umher wie ein rechtes Kind und ihr sonniges Lachen schallte von den Wänden wider, bald war sie ernster als früher, eine vollendete junge Dame, und sah lächelnd und leicht errötend vor sich hin. O, dieser erste – erste Kuß! Ja, sie hatte doch dem guten Jungen früher so manchen gegeben, aber gestern war das doch etwas ganz andres. Das war etwas Tiefes, Geheimnisvolles und Herrliches, und wenn sie so nachsann darüber, kam es ihr vor, als müsse sie plötzlich größer geworden sein. Dann stellte sie sich plötzlich vor den Spiegel und betrachtete sich. So sah sie also aus – so! Und sie fing wieder zu singen an, irgend ein altes Kinderliedchen, und preßte die Hände vor die Brust in lauter Seligkeit.

Auch Fritz war wie ausgewechselt. Es war über ihn gekommen wie ein köstlicher Rausch, der ihn zu jeder Stunde erfüllte. Oft dachte er gar nicht an Else, und doch trug er seinen Kopf höher in sieghafter Sicherheit, und doch hatte er ein Gefühl, als könne ihm nun nichts mehr etwas anhaben. Kein Verlassensein mehr, keine brennende, zehrende Sehnsucht, sondern nur ein jubelndes Klingen wie von erwachten Osterglocken, die über keimenden Landen läuteten. Auch jetzt lief er ganz stürmisch durch die Straßen und hätte am liebsten jedem zugenickt, jeden teilnehmen lassen an seinem Glück, überall freudige Gesichter gemacht. Einem armen Kinde, das Streichhölzer verkaufte, schenkte er in plötzlichem Einfall all sein Geld, das er bei sich trug.

Die Arbeiten zum Examen, die er in letzter Zeit arg vernachlässigt hatte, wurden jetzt auch doppelt eifrig wieder aufgenommen. Sein freudiges Kraftgefühl kannte gar keine Grenzen. Oft sprang er auf von seinen Büchern, nur um die Arme auszustrecken, als ob er mit einem unsichtbaren Gegner ringen und ihn besiegen müsse. Jetzt wußte er ja, für wen er lernte, jetzt hatte er ein Ziel, jetzt gab es kein Schwanken mehr. Else sollte sich nicht zu schämen haben. Und er wollte sich nach dem Examen mit Wonne auf die Pandekten stürzen, er freute sich ordentlich darauf und rechnete sich aus, wie lange er noch zum Referendar brauchte, wann er vielleicht Assessor werden könnte. Woran er früher nur flüchtig und mit heimlicher Unentschlossenheit gedacht hatte, an den Beruf, den er einst wählen würde – das war ihm jetzt klar und licht geworden, und mit freudiger Ausdauer wollte er den Weg beschreiten, der ihn zu dem großen Ziel, das sich ihm eröffnet, führen mußte.

Abends lag er dann in seinem Bette, die Hände unter dem Kopfe verschlungen, und lächelte immerfort vor sich hin. Er konnte nicht schlafen; sein junges Glück hielt ihn wach. Er hörte die Uhren gehen und den Wind rauschen im Garten. Das war so still und heimlich, aber noch stiller und heimlicher rauschte es in ihm, in seinem hellen, singenden, übervollen Herzen. Er mußte jemand haben, dem er sich anvertrauen konnte, sonst sprengte es ihm noch die Brust, und weil keiner da war, sagte er ganz leise immer selber vor sich hin: »Else – Else – Else,« den einen Namen, gerade als ob darin die Seligkeit einer ganzen Welt läge.

Otto Weidenberg natürlich und seine Kneipgenossen straften den Abtrünnigen mit Verachtung. Der lachte sie aber jetzt alle aus, saß wie früher zu Hause, las, schrieb und sah jeden Augenblick, wenn es nur irgendwie unbemerkt ging, zu Else hinüber. Was für ein köstliches Spiel die beiden thörichten Kinder trieben! All die kleinen heimlichen Zärtlichkeiten erwiesen sie sich. Oft waren es nur Andeutungen, die einzig und allein sie verstanden, oft waren es nur ihre Arme, die sich streiften, ihre Finger, die sich berührten, aber sie waren so furchtbar glücklich darüber.

Nur eins fehlte Fritz. Es war zu viel für ihn allein, diese Last des Glückes, es drückte ihm die Brust ab, er hätte es erzählen wollen. Aber wer hörte ihn? Seine Kameraden? Du lieber Gott, was das für ein Gelächter gäbe! Otto? Dieses Kind! Sein Vormund, der Geheimrat? Nein, das ging doch erst recht nicht. Und so mußte er wohl sein volles Herz allein weiterschleppen.

Ach, wenn seine Mama doch hier wäre! Er würde zu ihren Füßen sitzen und ihr erzählen: nichts weiter, als wie überselig er war, wie wunderschön die Welt sei, wie klingend sein Herz schlage. Keinen Namen wollte er nennen, beileibe nicht! Aber das that ja nichts. Er wußte, seine Mama war nie müde geworden, wenn er ihr etwas vorgeschwärmt hatte, sie würde ihm auch diesmal lauschen mit ihrem lieben Gesicht und an allem teilnehmen, was ihn bewegte und erfüllte.

Seine Mama!

Er war eigentlich ganz verwundert, daß er jetzt erst an sie dachte. Die letzten Tage war sie ihm nie in den Sinn gekommen, war sie völlig durch dieses neue Ereignis verdrängt worden. So war also wirklich etwas stark genug, sie vergessen zu machen? Ja, liebte er sie denn weniger?

Sein Herz schlug.

Nein und tausendmal nein, seine Mutter hatte nichts verloren, seine Zuneigung für sie war nicht kleiner geworden. Und doch, es stand etwas Neues daneben, das seine Seele ebenso erfüllte: die Liebe zu Else. Das war aber etwas so ganz, ganz andres.

Er sah vor sich hin und schüttelte den Kopf.

Wenn er nun zu Haus geblieben und seine Mama von ihm gegangen wäre, weil sie sich verdrängt glaubte durch das Mädchen, von dem er doch auch nicht würde lassen wollen –?

Er wurde rot. Dann hätte doch seine Mama unrecht gehabt, weil sie nichts an Liebe verloren hätte.

Konnte denn aber ebenso gut nicht auch im Herzen seiner Mutter beides zusammenwohnen: die Liebe zu ihm und die zu Röhren? zusammenwohnen, ohne daß die eine die andre beeinträchtigte, da sie doch so himmelweit verschieden waren?

Ja, aber verging sich seine Mutter nicht gegen ihren toten Gatten, gegen seinen Vater? Er überlegte sich und setzte sich an die Stelle der andern. Er sollte von Else getrennt werden, ein andrer sollte sie heimführen, bis endlich die Stunde kam, in der sie wieder frei war. Und dann? Dann sollte sie ihn, er sie aufgeben? Konnten sie beide des Toten nicht in Achtung und Verehrung gedenken, wenn er es verdiente? Sollten sie sich um des Verstorbenen willen elend machen, wo doch gerade er immer ihr Glück und ihr Bestes gewollt?

Fritz fühlte, wie die Scham sein Gesicht immer mehr färbte.

Seine Mutter, hatte er gesagt, erniedrigte sich, zog sich selbst in Staub, zerschlug ihr eigenes Bild. Denn es konnte doch nur etwas Häßliches und Gemeines sein, was Mann und Weib zusammentrieb. Häßlich und gemein? Also auch er und Else – –

Aber es war ja nie so viel Reines und Edles in ihm gewesen wie gerade jetzt, wo junge Liebe ihn berauschte! Und das, was ihn selbst vor sich und den Menschen so erhöhte, was ihn größer und besser machte, das sollte gerade seine Mutter hinabziehen und schänden? Ja, was hatte er denn früher nur geglaubt?

Er atmete immer schwerer. Ob er es sich eingestand oder nicht: ein unreifer, thörichter Junge war er gewesen, der seiner Mutter Herzeleid über Herzeleid bereitet, der über Dinge geurteilt hatte, die er noch gar nicht verstand!

Eine halbe Stunde und länger starrte er vor sich hin. Dann seufzte er tief auf und wollte eine Arbeit erledigen, als Else ins Zimmer trat.

»Hast du Zeit, Fritzel?«

»Weshalb und wozu denn, Hexchen?«

»Ich möchte Handschuhe kaufen gehen, und du könntest mich begleiten.«

Sie lachte verschmitzt und steckte sich vor dem Spiegel die Nadel durch Hut und Haar. Sie wußte, daß er nicht nein sagen würde.

Es war ein warmer, sonniger Spätherbsttag, in den sie hinaustraten, ein Tag mit seltsamen Farben und geklärten Lüften. Sie gingen nebeneinander auf dem breiten Trottoir, daß sich ihre Arme hin und wieder heimlich berührten. Die Leute blickten ihnen lächelnd nach, und aus den verblühenden Gärten grüßten sie die Astern.

»Weißt du übrigens,« fragte Else plötzlich, »wer gestern vormittag bei uns war?«

Er sah sie erwartungsvoll an.

»Herr von Röhren. Er verabschiedete sich und ist heute morgen nach seinem Gute abgefahren. Deine Mama ist jetzt ganz einsam.«

Er blickte sie einmal von der Seite an. »Weshalb kommt denn – Mama – eigentlich nicht mehr zu euch?« sagte er dann möglichst gleichgültig.

Gelt, damit du wieder so trotzig bist! Nein, mein Junge, du bist damals grundlos weggelaufen, du mußt auch zurückgehen zu ihr. Ich könnte dich rein zum Fressen gern haben, aber holen würde ich dich auch nicht.«

Er ging eine ganze Zeit schweigend. »Nach welchem Geschäft willst du denn?«

»Königgrätzerstraße. Gleich um die Ecke. Es ist ja gar nicht mehr weit.«

»Da – da müssen wir ja bei unserm Hause vorbei.«

»Wahrhaftig,« sagte sie wie verwundert. »Geniert dich das so sehr? Du kannst derweilen ja den Tiergarten studieren.«

»Ach Gott, deshalb!«

»Weil du immer so thust. Was meinst du, machen wir deiner Mama einen Besuch? Denk nur, wie einsam sie ist.«

Er sandte ihr wieder einen Seitenblick zu, um sich zu versichern, ob sie im Ernst oder Scherz spräche. Aber er antwortete nicht.

Immer näher kamen sie dem Hause, immer näher dem wohlbekannten Gärtchen.

Jetzt waren sie genau am Eingang.

Da blieb Else plötzlich stehen. »So, lieber Fritz. Nun nützt dir kein Gott mehr. Jetzt geh mal schnell hinauf. Deine Mama erwartet dich.«

»Bist du denn –?« sagte er hastig und schwer atmend. »Wir können doch hier nicht stehen bleiben.«

»Ah, du willst fortlaufen? Sag mal, Fritzchen: hast du unrecht oder nicht?«

Er schwieg.

»Fritz!«

»Nun ja. Aber –«

»Und da willst du noch nicht zurückkehren und willst deine Mutter immer elender machen? Pfui, wenn du so bist! Ich will bei Gott im Himmel absolut nichts mehr mit dir zu thun haben, wenn du jetzt noch ein Wort dawider sprichst.«

Er hatte die Lippen zusammengepreßt. »Ich lasse mir nicht kommandieren.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Ich bitte ja auch nur, bitte, bitte, lieber Fritz, sieh mal, die Leute bleiben schon stehen –«

»Na, und du?«

»Ich warte hier, und wenn du rufst, komme ich.«

Er überlegte noch einen Augenblick. Dann bekam sein Gesicht einen entschlossenen Zug. »Du hast recht. Also marsch!« Und mit erhobenem Kopf ging er die paar Stufen empor. Else jubelte auf und hätte ihm am liebsten noch einen herzlichen Kuß mitgegeben, doch er war schon oben an der Thür.

Frau Trude las gerade. Aber wie in plötzlicher Ahnung sprang sie auf, als die Klingel tönte, und stand nun klopfenden Herzens und über und über rot da.

Und dann ging die Thür auf. Sekundenlang standen sich Mutter und Sohn lautlos gegenüber. Und dann ertönten zwei jubelnde Rufe.

»Fritz!«

»Mama!«

Da hielten sie sich nun wie früher, nur noch inniger und fester. Keinen Ton sagten sie weiter und kein Wort, keine Bitte um Verzeihung und keinen Vorwurf. Er bat ihr ab mit den Augen, und ihre Augen antworteten ihm, daß sie vergeben und vergessen habe und nur noch glücklich sei – überglücklich.

So blieben sie lange. Und dann begann ein halbes Geplauder, doch der Worte waren nicht viele. Das Herz war zu voll dafür. Meistens sahen sie sich nur immerfort an.

Aber plötzlich erinnerte sich Fritz an Else. »Herrjemine, was wird nur die kleine Hexe sagen? Sie wartet nämlich unten.«

Und wie der Blitz schoß er ans Fenster, bog sich hinaus und rief jubelnd ihren Namen.

Sie hatte schon immer darauf gelauert, nun flog sie in Sprüngen die Treppen empor, an Fritz, der ihr öffnete, vorbei, und lief gerade Frau Trude in die Arme. »Na,« sagte sie, »hab' ich's recht gemacht, Tantchen? Ja, ich hab' doch ein bißchen mehr Einfluß auf Fritz, als ich dachte. Aber wenn ich ihn nicht angeführt und so mitgeschleppt hätte – wer weiß, wann er gekommen wär'. Er steht jetzt schon unterm Pantoffel.«

»Jetzt schon?« lächelte Frau Trude und warf ihrem Prinzeß Sonnenscheinchen einen seltsamen Blick zu.

Da errötete Else denn über und über. »Na ja,« schmollte sie, »geändert hat er sich ja. Aber ein ganz richtiger Junge wird er sein Lebtag nicht. Ich muß schon für ihn sorgen.«

»Mein liebes Kind,« sagte Frau Trude leise und bedeckte die glühende Stirn und das kleine Mal darauf mit tausend Küssen.

Fritz aber stand vor ihnen, ohne ein einziges Wörtchen, und sah strahlend von einer zur andern.

 

Ende.

 


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