Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Die feine, großes Geschick und späterhin nicht unbedeutende mathematische Kenntnisse erfordernde Arbeit an den optischen Instrumenten machte mir große Freude. Bald hatte ich Gelegenheit, mich in freien Stunden in die Wunderwelt des Mikroskops zu vertiefen, und unter Anleitung meines Vaters, dessen naturwissenschaftliche Bildung trotz seiner Bescheidenheit weit über ein gewöhnliches Maß hinausging, begann ich, allerlei Präparate herzustellen. Ich lernte, fast unsichtbare Zellkerne zu färben und deutlich sichtbar zu machen, befaßte mich mit den rätselhaften Formen und dem Verhalten allerkleinster Lebewesen, mit Algen, Moosen und Schimmelpilzen, und entdeckte täglich neue, wundervolle Beziehungen, die vielleicht wirklichen Gelehrten infolge ihrer methodischen, streng auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Arbeitsweise unwichtig erschienen oder ihnen gar entgangen wären.

So war ich in meiner Arbeit und in der Geborgenheit meines häuslichen Lebens so glücklich, wie nur ein Mensch sein konnte. Freilich gab es kleine Widerwärtigkeiten mit jungen Altersgenossen, die es nicht begreifen wollten oder es gar für Mißachtung ansahen, daß ich mich ihren Vergnügungen am liebsten fernhielt und vor allen Dingen keinerlei Verlangen nach dem Umgang mit Mädchen zeigte, der das Leben meiner Kameraden nahezu ganz beherrschte und lenkte. Es gelang mir aber stets, ihnen in freundlicher Weise begreiflich zu machen, daß mir die Arbeit an meiner Ausbildung über alles gehe und daß später einmal wohl auch für mich die Zeit kommen werde, in der ich der Aufnahme in ihren lustigen und unbekümmerten Kreis gerne teilhaftig würde.

Allmählich geriet ich auf diese Art in den Ruf eines sonderbar gearteten und eigenbrötlerischen Menschen, erreichte aber doch, daß man sich nicht viel um mich kümmerte und mich meiner Wege gehen ließ. Meine Eltern, namentlich der Vater, hätten es gewiß lieber gesehen, wenn ich mich von den Kameraden nicht zu sehr abgesondert hätte. Aber dennoch ließen sie mir in solchen Dingen ganz freie Hand und umgaben mich mit unveränderter und zärtlicher Liebe. Ich litt wohl darunter, daß ich von Natur aus anders sein mußte als meine gleichaltrigen Gefährten. Aber gerade in jenen Jahren war der Einblick in die wilden Abenteuer meines abgelaufenen, durch ein neues Dasein abgelösten Erdenwallens als Melchior Dronte vollkommen deutlich, und das furchtbare Wissen um Dinge der Ewigkeit wirkte so mächtig auf mich ein, daß ich dringend der Einsamkeit bedurfte, um den schwer auf mir lastenden Eindrücken gewachsen zu sein und mit ihnen fertig zu werden.

Wie gerne hätte ich irgendeinen Menschen gehabt, mit dem ich über das bewußte Weiterleben nach der Zerstörung des Leibes hätte reden können! Es wäre für mich in der zermalmenden Fülle von Ausblicken eine große Erleichterung gewesen, verstanden zu werden. Aber mit wem hätte ich solche unerhörte, vielleicht einer erkrankten Einbildungskraft zuzuschreibenden Erlebnisse, die zwischen Schlaf und Wachen, Tod und Leben ihre Fäden spannen, besprechen sollen? Vielleicht, daß meine Mutter, soweit es ihr der Schrecken beim Anhören dieser Dinge erlaubt hätte, mit dem unergründlichen Ahnungsvermögen der Frauen gefühlsmäßig mir nähergekommen wäre. Aber Worte wären auch hier vergeblich gewesen. So blieb ich allein für mich und hatte die dunkle Qual zu ertragen, das in einer vergangenen Zeit Erlebte noch einmal, ja mehrmals und so lange in tiefer Nacht wieder zu begehen, bis alles in den kleinsten Einzelheiten als schärfste Erinnerung vor mir stand und sich in das nach und nach entstehende Gesamtbild einfügte.

Wie hätte ich an den Frauen und Mädchen der Stadt, die ich kannte, Gefallen finden können, da es nur eines gab, was den Frieden meiner Seele störte: die Sehnsucht nach jener Frau, die trügerisch und immer entschwindend in der Doppelgestalt Aglajas und Zephyrines mein früheres und auch mein jetziges Leben erfüllte?

Und die einzige Strafe, die mich für die Verfehlungen des Melchior Dronte traf, für meine Verfehlungen, war die peinigende Suche, das brennende Verlangen nach dem über alles geliebten Antlitz, das kurze Wiedersehen und das neuerliche Entgleiten dieses Wesens, zu dem es mich mit rasender Sehnsucht hintrieb.

An meinem achtzehnten Geburtstag geschah mir dies: Ich hatte, langem Drängen nachgebend, mit zwei Freunden, zu denen auch Kaspar gehörte, einen Sonntagsausflug verabredet, der eine kleine Bahnreise notwendig machte. Wir standen in der Frühe dieses Tages auf dem Bahnhof, um die Zusammenstellung des aus kleineren und älteren Wagen bestehenden Lokalzuges zu erwarten, als unter donnerndem Stampfen ein Fernzug mit gemäßigter Geschwindigkeit die Station durchfuhr.

Ich stand ganz vorne an der Rampe und sah daher deutlich die Gesichter, die aus den breiten Fensterrahmen des vornehmen Zuges auf uns heraussahen. Es waren zumeist Fremde, die von weither kamen und der großen Hafenstadt an der noch weit entfernten Meeresküste zueilten, um dort Schiffe nach fremden Weltteilen, namentlich nach den Vereinigten Staaten, zu besteigen.

Da war es plötzlich, als ob ein heller Glanz entstände, alles um mich in ein fast unerträgliches Licht tauchend. In einem weißen Kleide, bleich und schön, wie ich sie in der vorausgegangenen Nacht unter Kerzenflimmern im Sarge gesehen hatte, stand Aglaja im Fenster eines vorüberfahrenden Wagens. Ich erkannte sie im Augenblick. Goldrote Löckchen wehten im Winde um ihre Stirn, ihre schönen grauen Augen waren mit süßem Schrecken auf mich gerichtet, und die kleine Hand, die auf der Holzleiste des heruntergelassenen Fensters ruhte, löste sich plötzlich und preßte sich auf das Herz unter der jungen Brust. Ach, ich sah, daß es ihr nicht anders erging als mir, daß sie zutiefst fühlte, daß wir noch immer aneinander vorüberfliehen mußten, ohne uns eines am andern festhalten zu können, daß es uns noch nicht gestattet war, uns zu einem seligen Wesen, zu dem aus der Seele von Mann und Weib bestehenden Göttlichen, zu ergänzen. Gewiß fühlte sie nur, was ich wußte. Aber dieses Fühlen der Frau entsprach der Erkenntnis des Mannes und war so wertvoll und in diesem Falle gewiß ebenso schmerzhaft wie diese. Es war nur ein kurzer, qualdurchzitterter Augenblick, in dem ich mit leiblichen Augen sehen durfte, was mir einst, an der Ewigkeit gemessen, nicht weniger flüchtig und vergänglich, nahe gewesen war. Und es ward mir klar, daß auch mein Weg zur Vollendung noch recht weit sei und daß noch viel Unreines von mir abfallen müsse, ehe ich in den ewigen Frieden eingehen dürfe als ein Vollendeter. Ich war nur ein Wiedergekommener.

Es dauerte sehr lange, bis ich mich von dem heftigen Schmerz, der mich bei dem neuerlichen Verlust traf, erholen und mein Gleichgewicht wiedergewinnen konnte.

Bald nach diesem Vorfall erkrankte zuerst mein Vater und starb, bis zu seinem letzten Atemzuge mit der Sorge um mein und der Mutter weiteres Leben beschäftigt. Die Mutter zog sich wenige Wochen darauf eine heftige Erkältung zu, die zu einer schweren Lungenentzündung wurde. Ich hielt bis zu ihrem letzten Atemzuge ihre Hand in der meinen und hatte den Trost, aus ihrem Munde kurz vor dem Tode jenen Ausspruch zu hören, der mir gut bekannt war:

»Gott sei Dank, wir werden uns wiedersehen!«

Dennoch weinte ich bittere Tränen, weil sie mich verlassen hatte.

Ich hatte längst eine gut bezahlte Stelle in der Anstalt erhalten, und für meine bescheidenen Bedürfnisse war überreichlich gesorgt.

In meiner freien Zeit schrieb ich nach reiflicher Überlegung die lange Geschichte meines Lebens als Melchior Dronte und diese kurze Schilderung des bisher so friedlichen Daseins, das ich unter dem Namen Sennon Vorauf führte, nieder und versah das Ganze mit einer Vorrede. Die beschriebenen Blätter verpacke und versiegle ich nun und werde sie mit dem Namen des Kaspar Hedrich versehen, der mittlerweile seine Studien vollendet hat und gleich seinem verstorbenen Vater Arzt geworden ist.

Er lebt in einer nahe gelegenen Stadt, und wenn die rechte Zeit gekommen ist, wird ihm diese hiermit vollendete Schrift vielleicht eine Erklärung meines Wesens geben, und es kann sein, daß sie ihm und anderen den Tod, den so viele mehr fürchten als alles, in einem anderen und weniger düsteren Lichte erscheinen lassen, als er sich ihnen bisher dargestellt haben mag.

Manche, in Worte schwer zu fassende Gedanken, von deren trostreicher Wahrheit ich mich überzeugt habe, kann ich niemandem vermachen. Jeder muß sie auf eigenen Wegen finden, zu deren Beginn ich jeden, der sich ernsthaft und hingebend um das Erforschen der Wahrheit müht, geführt zu haben glaube.

Es war an der Zeit, daß ich es tat. Denn großes Unglück steht den jetzt Lebenden bevor – – –

 


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