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VI.

Frühzeitiger als der alte Sonntagsbrauch es feststellte, kam es zur Verabschiedung. Meinhard schützte Arbeit vor, und da er zu Fuß zur Stadt zurückkehren wollte und der Abend schön war, erbot sich Franz ihn zu begleiten, auch die andern schlossen sich auf seine Aufforderung an, nur seine Frau blieb diesmal bei ihrer Mutter zurück; da er ihr aber noch etwas zu sagen hatte, verspätete er sich ein wenig mit Edwin und Mimi, die ihn am Thore erwarteten, während Hilda, in ihren Kapuchon gehüllt, mit Meinhard vorausgegangen war.

Sie waren schon eine ganze Weile in dem stillen Abenddunkel so dahingewandelt, die zarte Sichel des Mondes wie einen freundlichen Begleiter zur Seite, als Meinhard die auf seinem Arm ruhende kleine Hand faßte und statt das zuvor entschlummerte Gespräch wieder aufzunehmen, sich näher zu Hilda herabneigte und fragte, was ihr sei.

»Soll auch ich glauben, daß es nur ein bißchen Frühaufstehen ist, ein bißchen Schläfrigkeit und weiter nichts?«

Er fühlte wohl ein leises Zucken der Finger, die er festhielt, die Entgegnung aber klang ganz ruhig und fast ungeduldig, sie wisse nicht, was er meine.

»Ich habe es Ihnen schon früher gesagt. Die Frische, die Heiterkeit vermisse ich an Ihnen. Hielten Sie es denn wirklich bloß für eine ungalante Bemerkung? Sie sind anders als sonst, es ist mir nicht erst heute aufgefallen, nur heute mehr als in den letzten Tagen. Sie sind ermattet und doch unruhig, wie in heimlicher Aufregung, Sie sind ernst und von einem Gedanken absorbiert. Glauben Sie, daß mir, der ich Sie so lange kenne, Vertrauter jeder Regung Ihrer Seele war und in ihr lesen zu können meine wie in der eigenen, glauben Sie, daß mir solche Zeichen entgehen? Es bedrückt Sie etwas, Hilda?«

Jedes Wort ließ sie im Innersten erbeben. Es war ihr also nicht gelungen, sich so zu beherrschen, daß man ihr die Sorge nicht ansah. Ohnedem hatte sie immer das Gefühl, als stünde ihre Geheimnis mit großen Buchstaben auf ihrer Stirne, und nun hörte sie, daß all ihre Achtsamkeit auf ihre Worte und Mienen nicht hingereicht hatte, die innerliche Beschäftigung mit etwas, das sie ganz in Anspruch nahm, zu verbergen. Wie ihre heimlichen Gänge konnte auch das Ziel derselben entdeckt werden, und noch war nichts gethan, der damit drohenden Gefahr zu begegnen. Der arme Kranke lag noch immer im Jägerhause, der Fuß genas zwar, aber die besorgniserregende Schwäche und Mattigkeit wollte sich nicht heben und Schöpfs Ueberwachung – wenn auch, wie er cynisch erklärte, im gemeinsamen Interesse und zu gemeinsamer Sicherheit ebenso nach außen als nach innen gerichtet – vermochte dem Gemüte eben nicht zur Beruhigung zu dienen.

Immer wieder in dieser Bedrängnis war ihr Geist zu Meinhard zurückgekehrt. Es schien ihr unsäglich hart, gerade diesmal die bange Frage nach seiner Ansicht zurückhalten, alles in sich verschließen zu müssen, ja namentlich vor ihm besonders auf der Hut zu sein. Das hatte sie zuletzt auch in ihrem Benehmen gegen ihn unsicher gemacht. Instinktiv suchte sie seine Nähe, um dann wieder erschrocken auszuweichen. Ihr war als müsse sie sich an seiner Hand halten und jetzt wurde sie ihr ja auch geboten voll Herzlichkeit und zarter Teilnahme – und sie durfte dieselbe nicht annehmen, denn statt Beistand sollte sie ja nur Unheil bieten dürfen. Was sie bei ihm zur Rettung unternahm, würde nur zum Verderben führen. In dem düstern Lichte, in welchem man ihr ihn gezeigt hatte, war er ihr beinahe unheimlich geworden, und sie begann in dem besorgt prüfenden treuen Auge den mißtrauischen Forscherblick des Staatsbeamten zu fürchten.

Das war eine Störung nicht nur des alten Verhältnisses, sondern auch ihrer eignen Empfindungen, die sie, wenn auch nicht in gleichem Maße wie die Sorge um den Bruder, bekümmerte und aufregte. Zudem war sie an Verstellung nicht gewöhnt, sie fürchtete, sich mit jedem Worte zu verraten, und dieselben wurden dadurch nur noch zurückhaltender und unzuverlässiger. Kein Wunder, daß Meinhard der Versicherung, es sei nichts als eine körperliche Abspannung, vielleicht der Vorbote einer Erkältung, nicht recht Glauben schenkte.

»Warum wollen Sie mich täuschen? Oder möchten Sie sich selbst dazu überreden? Es sieht Ihrem tapfern Herzen ganz ähnlich, daß Sie sich, ohne rechts und links zu blicken, allein hindurchkämpfen wollen. Aber werden Sie auf die Dauer sich in dieser Lage auch wohl fühlen können?«

Was wußte er? Hatte er schon alles entdeckt? Ein sanfter Wind hatte sich erhoben und strich leise durch den Jungwald, der hier an der einen Seite des Weges hinzulaufen begann. Das Flüstern klang wie ein stöhnendes: »Du verrätst mich! Du verrätst mich, Schwester!«

Und dort – stand drüben an der linken Seite der Straße nicht eine derbe untersetzte Gestalt, wie plötzlich aus dem sumpfigen Graben aufgetaucht und winkte mit drohend emporgestreckten Armen ihr zu. War das nicht Schöpf? Hatte er hier auf sie gelauert? Aber was wollte er? – Ein paar Schritte weiter und das breite freche Gesicht zerrann. Nichts blieb von der unheimlichen Erscheinung als ein knorpeliger Weidenstamm, doch drückte sie sich scheu daran vorüber und ihr Herz pochte so stark, daß es ihr Begleiter hören mußte. Und doch nahm sie den Arm nicht von dem seinen, ja eben erst hatte sie in unwillkürlicher Angst sich noch dichter angeschlossen. Von Meinhard war diese kaum merkliche Bewegung, die er aber doch mit einem festen Umschließen ihrer Hand erwiderte, falsch gedeutet worden.

»Sehen Sie, es ist also doch, wie ich es mir gedacht,« sagte er. »Ihre Stellung im Hause hat sich verändert. Das mußte wohl voraussichtlich so kommen, aber es hat Sie doch nun unvorbereitet getroffen. Sie fühlen sich verdrängt, zur Seite geschoben, beinahe überflüssig. Ist es das? Die Heimat ist nicht mehr die alte Heimat. Sie ist Ihnen entfremdet, – sie wird es noch mehr werden.«

Nur darüber also hatte er sprechen wollen, – das war eine Erleichterung und doch vermochte Hilda auch hierüber nicht mehr so vertrauensvoll ihr Herz auszuschütten, wie sie es noch vor wenigen Tagen ersehnt hatte. Alles was sie in so kurzer Zeit erlebt, verwob sich ihr ja zu einem schwer auseinanderzulegenden Gesamteindrucke. Sie blieb die Antwort schuldig.

»Sollten Sie wirklich darüber noch nicht nachgedacht haben? Ich kann es nicht glauben,« fuhr er fort. »Ich selbst habe bemerkt, wie manche Ihrer Anordnungen aufgehoben sind, wie alles in Waltershofen auf einen andern Fuß gestellt wird, der wohl den neuen glänzenden Verhältnissen entsprechen mag, mit dem Sie sich aber in Ihren bescheidenen Gewohnheiten schwer abfinden werden. Was mir auffiel, kann Ihnen ja nicht entgangen sein. Sie haben bisher ein so schönes einfaches und thätiges Familienleben geführt, daß ich mir nicht denken kann, Sie fühlten den Unterschied gar nicht. Es ist nur ein Zeichen von bewundernswerter Selbstbeherrschung, wenn Sie sich darüber bisher nicht geäußert haben. Darf auch ich nicht in Ihre Gedanken eingeweiht sein, Hilda? Habe ich je Ihr Vertrauen mißbraucht?«

Ein herzlicher Druck ihrer Hand brachte ihn zu lebhafterem Sprechen.

Eine seltsame Bewegung offenbarte sich dabei in seiner Stimme.

»Haben Sie noch keinen Blick in die Zukunft gethan? Welches ist Ihre Stellung in dem Hause, das sie so rastlos und musterhaft geführt? Werden Sie sich jemals daran gewöhnen können, bloß zuzusehen, selbst nicht einzugreifen, wo es Ihnen notdünkt, ja sogar Ihre Ansicht für sich zu behalten, um jegliche Kollision zu vermeiden? Sind Sie dazu geschaffen, die Hände müßig in den Schoß zu legen? Ihre thätige Natur muß sich regen, muß einen Wirkungskreis haben. Sie werden daran denken müssen, sich einen zu schaffen. Vielleicht wissen Sie es selbst nicht, daß Sie nur glücklich sein können, wo Sie glücklich machen. Dies ist ein Grundbedürfnis Ihres edlen Herzens. Unmöglich können Sie einzig und allein als barmherzige Schwester den ganzen Fonds von Liebe verbrauchen, aus dem Sie bisher für das Glück andrer sorgten. Ich bin heute nicht dazu gekommen, auszusprechen, was ich in dieser Hinsicht denke, und es ist jetzt wohl kaum Zeit, meine Ansicht zu entwickeln, aber ich möchte Sie fragen, ob bei einer geistig regen, gebildeten Frau die Krankenpflege das ganze Dasein befriedigend auszufüllen vermag, ob sie sich überhaupt eine solche Aufgabe nur anhaltend auf Stunden – Tage ohne Abspannung, ohne Erlahmung ihres anfänglichen Enthusiasmus, ja ohne schließlichen Widerwillen widmen kann – den einen Fall ausgenommen, wo all die Opfer an Selbstverleugnung gar keine Opfer mehr sind, weil sie einem teuren Angehörigen, einem Gatten, einem Kinde, einem Bruder gebracht werden.«

Ihre Hand schlüpfte aus der seinen. War das ein Fühler? Das vielleicht ganz allgemein hingeworfene Wort berührte den empfindlichen Punkt und erschreckt fuhr sie aus dem tief bewegten Sinnen auf, in das sie durch die ihren eigenen Zustand so klar darstellenden Worte versetzt worden war. Sie hatte darüber momentan die nächste und schärfste Bedrängnis beinahe vergessen.

Es wäre ihr schwer geworden, diese hastige Unterbrechung eines so ruhigen Gespräches zu erklären, wenn ihr nicht die Stimme ihres Bruders zu Hilfe gekommen wäre, die sich eben jetzt vernehmen ließ; so sah es nur wie ein unwillkürliches Zucken der Ueberraschung aus.

»Holla! Auf ein Wort!« rief Franz in muntrer Laune. »Ihr scheint ja auf dem besten Wege, miteinander auf und davon zu gehen. Nur mit knapper Not waret Ihr noch einzuholen. Nun dir, Bruno, darf ich sie schon anvertrauen. – Aber wie ist's, Schwester, wenn du für heute allenfalls noch umzukehren willens bist, wär' es, denk' ich, Zeit.«

Die kleine Neckerei fand keine Erwiderung. Daß Hilda nicht wie sonst rasch mit einer ihrer schlagfertigen Antworten zur Hand war, konnte leicht als ein Zeichen von Befangenheit angesehen werden, wiewohl nur ihre ernste Stimmung schuld daran trug. Auch beim Abschiede fand sie nicht die herzlichen klaren Grüße einer gefesteten Freundschaft. Sie fühlte ein Unbehagen, das nicht einzig der Verschiebung des Verhältnisses entsprang, sie schrieb es zum Teil auch seinen Auseinandersetzungen zu. Der sanfte Ernst und die Innigkeit seiner eindringlichen Rede waren bei der eigenen Aufregung und dem immer wieder erwachenden Mißtrauen ihrem sonst so feinen Ohre vollkommen entgangen. Was mahnte er sie an ihre schiefe Stellung? War es nicht taktlos, derartige Fragen anzuregen? Er hätte wenigstens ihre Mitteilungen abwarten müssen. Ihre Sehnsucht, ihm dieselben zu machen, war vergessen. Und in dieser Auflehnung unterblieb auch die Aushändigung des Sträußchens, das, wie seit Jahren bei seinen Besuchen üblich, eigens für ihn gepflückt worden war.

»Welch steifer Pedant!« äußerte Edwin, als man sich getrennt hatte, gegen Hilda. »Es ist das verkörperte bureaukratische Selbstbewußtsein, das gewöhnt ist, aller Welt Schweigen aufzuerlegen, wenn es sich herabläßt, seine unfehlbaren Aussprüche zu fällen, und empfindlich wird, wenn eben nicht alle Welt dieselben als Orakel hinnimmt.«

»Sind es nicht vielmehr Sie, Edwin,« entgegnete Hilda leise lächelnd, »der sich empfindlich zeigt?«

»O, Sie stehen auf seiner Seite! Das allein trifft mich schmerzlich. Ich habe ihn schon so sehr um die Blumen beneidet, die ich für ihn bestimmt glaubte.«

»Heute sollen Sie dieselben haben.«

»Ist es möglich? Und darf ich mir eine Deutung erlauben?«

Hilda bereute schon, was sie einer augenblicklichen Eingebung folgend gethan, ohne etwas andres zu beabsichtigen, als in ihrem eignen Sinne den Unmut, den sie zu empfinden vermeinte, an dem Urheber zu vergelten.

»Die Deutung ist sehr einfach,« erklärte sie freundlich aber kurz. »Sie haben heute einen Dank verdient für die Verteidigung eines Bestrebens, das doch wohl bei den meisten nicht Folge verständiger Berechnung, sondern nur ein instinktiver Drang ist, der Drang, unsern Mitmenschen beizustehen. Die Männer scheinen ihn leichter zu beherrschen; daß es den Frauen schwerer wird, daraus sollte man ihnen keinen Vorwurf machen.«

»Sondern sie preisen dafür. Mit welcher Begeisterung will ich es thun! Aber nicht nur in dem einen sollten Sie dem edlen Instinkte Ihres Herzens folgen, – nicht nur da, wo es gilt, beizustehen, sondern auch, wo es gilt, glücklich zu machen. Warum muß denn ich dies duftige Geschenk als eine Gabe ›verständiger Berechnung‹, als eine ›Belohnung‹ hinnehmen, wodurch es doch so viel an Wert für mich verlieren müßte?«

Dieser befremdliche Ton ging denn doch weit über die Galanterien hinaus, welche Hilda sich mit gutmütigem Lächeln von dem leichtherzigen jungen Manne hatte gefallen lassen, ohne auch nur das geringste Gewicht darauf zu legen. Sie empfand eine gewisse Beengung, eine Scheu, die vielleicht nur ihrer innern Spannung zuzuschreiben war und über die sie, ohne sich Rechenschaft abzulegen, hinwegzukommen suchte.

»Sie haben recht, es ist eine wertlose Gabe und eine Ueberhebung von mir, damit irgend ein Verdienst belohnen zu wollen. Blumen, weiter nichts – bis morgen welk. Werfen Sie sie fort! – Mimi!« rief sie dann, seine Beteurungen abschneidend, indem sie stehen blieb und sich umwandte. »Warum bleibst du denn so weit zurück? Komme doch!« –

Die Entfernung war kaum so groß, daß sie die Mahnung rechtfertigte. Auch klang die Erwiderung: »O, wir wollen uns nicht in eure Geheimnisse eindrängen,« schnippisch genug, um eine leichte Zurechtweisung zu verdienen, aber doch nicht den scharfen Tadel, den Hilda in ihre Entgegnung legte.

»Das scheint sonst aber nicht deine Maxime, Kleine.«

Doch auch andrerseits war die Aufnahme dieses Hinweises auf ihre Spionierlust weit entfernt von der Unterordnung und reuevollen Beschämung, mit denen sich die Schülerin und Pflegetochter sonst den Ermahnungen ihres »lieben Tantchens« zu fügen gewohnt war.

»Ich bin nicht klein. Ich bin größer als du,« lautete die trotzköpfige Erklärung. »Und ich begreife nicht, warum du mich Mimi nennst. Soll ich denn immer wie ein kleines Kind gerufen werden? Ich heiße Emmy und Mama sagt auch so.«

Das kam wie vom Zaun gebrochen, stand außer aller Beziehung zu dem Vorwurf, der sie getroffen, und im grellsten Widerspruch zu den zarten einschmeichelnden Liebkosungen, mit denen sie kurz zuvor noch Hilda überhäuft. Doch diese vermochte ebensowenig die Ursache dieser schnellen Verwandlung zu ergründen, als die ihrer eigenen Verstimmung und Gereiztheit offen zu nennen. Sie hatte nun die bittere Empfindung, daß sich, wie alles um sie her, auch dieses bisher so ergebene Herz ihrem Einflusse entwand.

»Nun also,« nahm jetzt Mimis Vater ein wenig spöttelnd das Wort. »Frage diese erwachsene Dame, ob sie geruhen will, deinen Arm anzunehmen, Edwin. Und dann geht immerhin voraus. Ihr habt leichtere Füße. Sagt nur, wir kämen sofort nach. Wir haben nur über ein paar Sachen miteinander zu sprechen. Aber gib acht, daß du über deine Gravität nicht stolperst, Fräulein – Emmy!«

Die Gravität schien noch nicht allzutiefe Wurzel geschlagen zu haben, wenigstens behinderte sie in keiner Weise die kleinen davonhüpfenden Füße. Das junge Paar war rasch voraus, während die Geschwister wie im stummen Einverständnisse ihre Schritte verlangsamten.

»Du hast mir etwas zu sagen, Franz?« begann Hilda. Innerlich setzte sie hinzu: »Auch ich dir,« aber er sollte den Vorrang haben.

»Nun ja,« kam er sichtlich zögernd mit seinem Ansinnen heraus. »Eine Bitte. Weiß der Himmel, es ist mir unangenehm genug, dir so etwas zuzumuten, aber ich kann diese ewigen Seufzer und Klagen, diese Anspielungen und Winke mit dem Zaunpfahl nicht mehr anhören. Dir selbst kann es ja nicht entgangen sein, daß Albertinens Mutter gerne deine Zimmer beziehen möchte. Sie hat kein Recht darauf – nein, wahrhaftig keins, so lange du unter meinem Dache bist. Du bewohnst sie, seit die Mutter starb und sollst darin bleiben, bis es dir selbst anders gefällt. Aber ich meine nur, freiwillig, aus Gefälligkeit – für einen Gast kann man ja auch etwas thun.«

»Für einen Gast?« entgegnete Hilda, nachdem sie eine Weile geschwiegen. »Und für wie lange ist sie unser Gast?«

»Ja, das kann ich sie doch nicht fragen, wie du begreifen wirst.«

»Und wenn der Gast gar nicht mehr fortgehen sollte, sondern für immer bliebe?«

»Das wäre!«

Auch nicht das leiseste Lächeln ward ihr durch diesen Schreck entlockt, dessen komische Aeußerung zu andrer Zeit gewiß nicht eindruckslos geblieben wäre.

»Nimm es einmal an,« sagte sie mit ernster Festigkeit.

»Den Teufel! Das will ich lieber nicht annehmen. – Allerdings, gehen heißen kann ich sie nicht, das ist unmöglich – siehst du das ein? Na, darüber kann gar nicht gesprochen werden. Sie ist Albertinens Mutter, und Albertine – was braucht's da viel, du weißt ja, wie die Verhältnisse stehen. Es wäre seltsam genug, wollt' ich sie darin einschränken, wen sie als Gast hier haben will, wen nicht. Haben wir aber einmal – Herrgott, jetzt hätte ich bald »das Uebel« gesagt! – na, wie es auch ist, man muß sich damit einrichten. Gar so schlimm ist es ja auch nicht. Und das bleibt wahr, daß ihr das Treppensteigen Mühe macht. Ich habe ihr schon mein eigenes Arbeitszimmer angetragen, aber das wollte sie nicht, sie sagte, ich müsse zu ebener Erde wohnen, wenn ich mit all den Leuten zu verkehren habe, und das ist wieder wahr. Ich kann sie doch nicht in dem Salon oder im Speisezimmer unterbringen; das Natürlichste ist doch, daß du ihr dein Zimmer einräumst. Ihr Sinn steht einmal darnach. Weiß Gott, wie schwer mir's füllt, das von dir zu verlangen! Es ist nur, daß wir Ruhe haben. Na, wie ist's, Schwester? Wir haben uns ja immer verstanden. Schlag ein! du nimmst mir's nicht übel. Am Ende ist's ja doch nur für ein Weilchen.«

»Ich sehe wohl, es wird für mich bald ebenso wenig Platz hier sein als – für Wilhelm.«

Auch ein andermal hätte der Vorschlag sie überrascht, aber ihr Bruder beurteilte sie ganz richtig, wenn er meinte, daß sie sich ganz willig fügen werde. In ihrer jetzigen Stimmung sah sie darin aber nicht bloß ein Opfer der Gastfreundschaft, das von ihr gefordert wurde; sie nahm die Zumutung in anderem Sinne auf und konnte es sich nicht versagen, ihrer Empfindung Ausdruck zu geben, und es wäre dies vielleicht in noch herberer Weise geschehen, wenn sie nicht die günstige Gelegenheit, die sich ihr bis jetzt nicht geboten, zu benützen gewünscht hätte, auf ihren Bruder zu Gunsten des andern einzuwirken. Von ihr wurde eine Zustimmung erwartet, so durfte sie Wohl hoffen, auch für ihr Ansinnen, wenn nicht gerade ein geneigteres, doch zunächst ein geduldigeres Gehör zu finden.

Die Voraussetzung aber erfüllte sich nicht ganz. Durch die Zusammenstellung vielleicht ein wenig beschämt, brauste er um so leichter auf.

»Was soll das wieder?« rief er unmutig. »Welcher Vergleich! Das sieht euch Frauenzimmern ähnlich; alles in einen Topf zu werfen. Dich bitte ich um eine kleine Gefälligkeit, wenn du's nicht willst, kannst du's auch bleiben lassen, zwingen wird dich niemand dazu – das ist doch wohl nicht dasselbe Ding, als wenn sich einer selber aus dem Hause hinaussperrt. Wir zwei sind Schwester und Bruder – mit dem dort drüben hab' ich nichts gemein.«

»Ihr seid doch auch Bruder und Bruder.«

»Was Bruder und Bruder – schimpf' mir das Wort nicht, sonst dank' ich all mein Lebtag für den Titel.«

»Und doch – mach' dich nicht schlimmer als du bist – doch hast du als Bruder an ihm gehandelt, als du für ihn einstandest.«

»Nein, tausendmal nein, sag' ich! Für den Namen Reinach bin ich eingestanden, nicht für den, der ihn besudelt hat. Keiner sollte sagen können, daß er an einem Reinach zu Schaden gekommen, und keiner sollte auf das Zuchthaus deuten können und sagen: Seht, dort sitzt ein Reinach. Darum habe ich mit dir die falschen Wechsel eingelöst, darum habe ich mitgeholfen, daß er sich der Strafverfolgung entzog. Wär's nach meinem Gefühl gegangen, ich hätte ihm nur eine Pistole geschickt. Ja, bei Gott, das hätte ich gethan, wenn ich nicht gewußt hätte, daß er sie doch – nur wieder an den Trödler verkauft. Sie anders zu benützen, dazu war er nicht der Mann. Der setzt das Leben nicht für die Ehre ein – für ein Weib verwirft er beide.«

»Und was hat es eigentlich für einen Sinn, der verlorenen Ehre auch das Leben nachzusenden, wie du es verlangst? Ist es nicht mehr wert, ein neues Leben zu beginnen?«

»Bleib' mir mit solchen Phrasen vom Leibe – die gehören in die Kirche.«

»Gibt es denn keine Beispiele, wo einer, der verloren schien, sich eine neue Existenz gründete und in ihr Achtung, Ehre, sogar Ruhm fand?«

»Dann war's ein andrer Mann, mit Mark in den Knochen, nicht der! Wie oft ist das Lied vom neuen Leben abgeleiert worden. Als er seine Offizierscharge niederlegte, da hieß es: Ich habe das Thörichte meines Treibens einsehen gelernt; die Ehe wird aus mir einen neuen Menschen machen. Wer ihm abriet, war sein Feind; nicht nur seine Stellung, auch seine Familie hat er aufgegeben für dies Weib. Dann kam das Elend; wie oft war's, daß er ein neues Leben zu beginnen versprach, und alles wurde doch von dem alten verschlungen. Alles, was ihm ausgezahlt wurde, alles, was wir seinen Gläubigern ersetzten, alles, was er – ah, schmachvoll genug, daß es unausgewischt so bleiben muß! – und die Summe, die er erhielt, drüben in Amerika abermals ein neues Leben anzufangen, und alles, alles, wieder alles, was er dir ablog. Immer wieder das alte, – das unverändert alte, erbärmliche, ehrlose alte Leben!«

»O Franz, ich verstehe deinen Widerwillen; eine Natur, deren tiefster Kern die Wahrheit, die Redlichkeit ist, muß sich empört fühlen, aber alle Menschen sind ja nicht gleich an Kraft des Leibes und ebenso verschieden sind sie in der Stärke des Charakters. Vielleicht ist es genau so ungerecht, einem vorzuwerfen, daß er einer Versuchung nicht Widerstand leistete, als daß er ein Zentnergewicht nicht mit freier Hand heben kann.«

»Da kämen wir weit mit solchen Anschauungen. Recht und Unrecht gäb es keines mehr, Lohn und Strafe hörten auf.«

»Nicht doch, alles bliebe, nur der Schwächling, sei's an Körper oder Seele, würde ein milderes Urteil finden von der Menschlichkeit, Mitleid für sein Gebrechen und die auf ihn selbst fallenden unabwendbaren Folgen desselben.«

»Und wie steht es um die, welche auf andere fallen? Was bleibt den unschuldig von fremden Verschuldungen Mitbetroffenen, wenn das Mitleid schon für jenes Volk verbraucht ist? Ich frage!«

»Die Ehre, die Achtung eben. Was geht darüber?«

»Nun ja, freilich – das fehlte noch –«

Die Worte verloren sich in ein unverständliches, aber unzweifelhaft gesänftigtes Brummen. Hilda hatte das richtige Mittel gefunden, seinen Mißmut zu dämpfen; er war darum noch keineswegs zu ihrer Meinung bekehrt, aber die Dialektik zu weiterer Widerlegung stand ihm nicht zu Gebote, und Hilda nahm ihren Vorteil wahr. Sie umschlang in schwesterlicher Zärtlichkeit seinen Arm und sprach weich und in herzgewinnendem Tone zu dem unwirschen Manne:

»Siehst du, Franz, es ist dennoch ein Unterschied, und die, welchen jene höchsten Güter nicht geraubt werden können, bleiben doch immer hoch über den armen Gesunkenen, denen sie verloren gegangen. Sie dürfen mit stolz erhobener Stirne sich ihres Glückes freuen, das sie nachsichtiger stimmen sollte, gütiger und versöhnlicher. Denn das Glück ist ein Geschenk des Himmels, das wir nicht egoistisch für uns behalten, sondern von dem wir mitteilen sollen.«

»Sage mir nur, wo du eigentlich hinaus trachtest? Du weißt, Umwege liebe ich nicht.«

»Ich möchte deine Verzeihung, deinen brüderlichen Beistand.«

»Für den? Niemals!«

»Aber wenn er ein anderer geworden wäre? Die Jahre gehen doch nicht spurlos am Menschen vorüber.«

»An meinem Sinne, ja. Und wenn eine Ewigkeit verginge – niemals, sage ich dir! Doch wozu ereifern wir uns? Reden wir über andre Dinge.«

So leicht aber gab Hilda ihr Feld nicht verloren.

»Du hast immer noch den leichtsinnigen, eleganten, hochmütigen Offizier vor Augen, stelle dir aber ein andres Bild vor, einen kranken, gebrochenen Menschen, mutlos und dem Elend verfallen, wenn sich des Unglücklichen niemand annimmt; – fühlst du auch da noch kein Erbarmen?«

»So, das ist also das Gemälde deiner Phantasie? – Die meine malt ganz anders. Da sitzt einer bei der Champagnerflasche und läßt die schwesterliche Einfalt leben, die sie ihm bezahlt.«

»O Franz, du irrst, ich werde dich davon überzeugen.«

»Du kannst dir die Mühe sparen.«

»Ein einziges Wort –«

»Ich will's nicht hören. Verstehst du! Ein für allemal, ich will nicht.«

»Aber du kannst mich doch nicht hindern –«

»Thorheiten zu begehen? Nein, thu was du willst. Mich aber laß du außer Spiel.«

»Es ist sehr bequem das, wenn der Hilferuf der Not an unser Ohr schlägt, sich dasselbe zuzustopfen und die Bande der Natur, die ewig unzerreißbar sind, einfach für durchschnitten zu erklären –«

»Wenn du mich nicht ernstlich erzürnen willst, so schweigst du,« fiel ihr der Bruder diesmal mit einem Tone in die Rede, der es außer Zweifel setzte, daß die in bedrohliche Aussicht gestellte Grenze bereits überschritten sei.

Doch auch Hilda war nicht bei der sanften Bitte stehen geblieben. Der Wunsch zu überreden hatte schon zu scharfer Argumentation geführt und ihr gesteigerter Unmut griff nun zu noch einschneidenderer Waffe.

»Du sprichst nur von deiner eigenen Reizbarkeit, die geschont werden soll,« sagte sie, »aber das scheint dir nicht der Erwägung wert, daß auch ich über dein Verhalten erzürnt werden könnte –«

»Das wäre in der That merkwürdig!«

»Und dann Schritte thun, die –«

»Nun, was könntest du denn thun?«

»Ich könnte dich daran erinnern,« erwiderte sie, durch den Spott immer weiter getrieben, »daß du mir wohl das versagen kannst, um was ich mich an dein Herz wende, nicht aber den materiellen Beistand, den ich begehre. Ich könnte dich erinnern, daß ich in dieser Beziehung von dir nicht abhängig bin und unter gewissen zwingenden Verhältnissen auf meinem Rechte freier Verfügung bestehen müßte.«

»Ueber dein Vermögen?« sagte er wohl barsch aber eigentlich nicht zornig, sondern mehr mit einer Beimischung von Ironie, »da bedarf es keiner Drohung. Darüber kannst du, wenn dir's beliebt, disponieren. Es ist mir sogar ganz recht, wenn du es herausziehst, ich habe schon mit meiner Frau darüber gesprochen. Du wirst wohl soviel Geduld haben, bis alles im Gange ist; dann kannst du nach Gutdünken verschleudern, ich werde dir nicht im Wege stehen.«

»Hast du denn zeit unseres Zusammenlebens so viel Anlage zum Verschleudern an mir entdeckt? Ich denke, man darf ohne Sorge auch eine größere Summe in meine Hand legen.«

»Hm! Meiner Ansicht nach thätest du doch klüger, du suchtest dir freiwillig einen Kurator. Es findet sich wohl ein braver Mann, dafür aber freilich weiß ich ja nicht, ob du Lust hast, meinem Rath und meinem – Beispiele zu folgen, was allerdings das Gescheiteste wäre.«

»Will man mich denn mit Gewalt aus dem Hause haben?«

Der Trotz hielt nicht länger stand, das gekränkte Gefühl machte sich in dieser Klage Luft. Auch des Bruders rauh umhülltes Gemüt blieb nicht unempfindlich dafür.

»Närrchen!« sagte er scherzhaft, »wer drängt dich denn fort? Es fällt niemanden ein und du bist – verzeihe mir's wenn ich dich beleidigte – auch das erste Mädel, das es übelnimmt, wenn man ihm vorschlägt zu heiraten.«

»Hätt' ich es gewollt, ich hätt' es längst thun können, das weißt du.«

»Just so hab' ich auch geredet, bis es doch anders gekommen ist. Siehst du, Hilda, es hat mir schwer genug auf der Seele gelegen, daß du dein Leben so einsam zu Ende führen solltest, aber ich meinte, besser, nie etwas lieb gehabt haben – so recht lieb – als es einmal zu verlieren. Und dann, was wollt' ich sagen, wenn du hier und dort einen Korb austeiltest? Wir sind am Ende alle Egoisten, wir Männer, und wehren uns nicht gegen die Opfer, die man uns bringt. Jetzt aber liegen die Dinge doch anders. Na, ich brauch' dir's nicht erst klarzumachen. Du hattest ja ein ganzes Schock Vernunftgründe für mich, als du mir zuredetest; ich kann sie dir nun alle zurückgeben. – Ich meine, du denkst darüber nach.«

Er wendete sich und machte noch einen Gang nach den Oekonomiegebäuden; seiner Ueberzeugung nach war es ja nur das reinste brüderliche Wohlwollen, aus dem sein Vorschlag entsprang.

Indes hatte Hilda nur das Verletzende desselben empfunden. Ueberall sah sie sich verdrängt, jeder wendete sich von ihr ab. In der schmerzlich brennenden Bitterkeit, die ihr das Herz verzehrte, sah sie Abneigung und Feindseligkeit in jedem Wort, das ihr Gedächtnis mit peinlicher Treue bewahrte. Wie hatte Meinhard ihre Stellung bezeichnet?

Ueberflüssig.

Ja, es war so, er hatte den richtigen Ausdruck gefunden. Sie wiederholte ihn, grausam die eigene Wunde durchwühlend. Ueberflüssig – überflüssig allen! – Gab es ihr denn nicht jeder zu verstehen mit dem immer wiederkehrenden »du sollst heiraten«, selbst Wilhelm hatte ihr ja dasselbe gesagt, wenn auch in seinem kaustischen Phlegma mit dem Zusatze: »du hast die ganze Opferseligkeit dazu«. – Ah, da war doch einer noch, dessen Rat nicht der nackte Egoismus diktierte, da war doch noch einer, der ihrer bedurfte. Nein, nicht allen in der Welt war sie überflüssig!


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