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Ein junger rotbrauner Hund – eine Kreuzung von Dachs und Dorfköter –, dessen Schnauze der eines Fuchses sehr ähnelte, lief auf dem Trottoir hin und her und schaute sich unruhig nach allen Seiten um. Zuweilen blieb er stehen, hob winselnd bald die eine, bald die andere seiner frierenden Pfoten und suchte sich darüber Rechenschaft zu geben, wie es doch passieren konnte, daß er sich verirrt hatte?
Er entsann sich sehr wohl, wie er den Tag verbracht hatte und wie er dann endlich auf dieses unbekannte Trottoir geraten war.
Der Tag hatte damit begonnen, daß sein Herr, der Tischler Luka Alexandritsch, sich seine Mütze aufgesetzt, irgend ein hölzernes, in rotes Tuch gehülltes Ding untern Arm genommen und dann gerufen hatte:
– Kaschtanka, komm!
Als die Kreuzung von Dachs und Dorfköter diesen Ruf vernommen, war er unter der Hobelbank, wo er auf den Spänen geschlafen hatte, hervorgekommen, hatte süß seine Glieder gereckt und war dann seinem Herrn nachgelaufen. Die Kunden von Luka Alexandritsch wohnten furchtbar weit, so daß dieser, ehe er zu ihnen gelangte, unterwegs mehrere Mal in den Wirtschaften einkehren und sich stärken mußte. Kaschtanka erinnerte sich, daß er sich unterwegs sehr unanständig aufgeführt hatte. Vor Freude, daß man ihn mit spazieren genommen hatte, sprang er umher, stürmte bellend den Pferdebahnwagen nach, lief in die Höfe hinein und tollte mit Hunden umher. Der Tischler verlor ihn immerwährend aus den Augen, blieb stehen und schrie ihn wütend an. Einmal packte er sogar Kaschtanka mit gierigem Gesichtsausdruck am Fuchsohr, zauste ihn und sprach langsam und abgerissen:
»Daß Dich . . . der . . . Teufel . . .«
Nachdem er seine Geschäfte erledigt, hatte Luka Alexandritsch auf einen Augenblick seine Schwester besucht und dort einen kleinen Frühschoppen gemacht. Von der Schwester ging er zu einem bekannten Buchbinder, von dort in ein Wirtshaus, aus dem Wirtshaus zum Gevatter u. s. w. Mit einem Wort – als Kaschtanka auf das fremde Trottoir geraten war, fing es schon an zu dunkeln, und der Tischler war bezecht wie ein Schuster. Er fuchtelte mit den Armen, seufzte tief und murmelte:
»In Sünden hat mich meine Mutter geboren! Sünden, nichts als Sünden! Jetzt spazieren wir, Kaschtanka, mit Dir so einher und sehen uns die Laternen an, und sind wir tot – braten wir in der Hölle . . .«
Oder aber er verfiel in eine gutmütige Stimmung, rief Kaschtanka zu sich heran und sagte ihm:
»Du, Kaschtanka, bist ein Insekt und sonst nichts. Im Vergleich zu uns Menschen bist du so . . . so wie ein Zimmermann im Vergleich zum Tischler . . .«
Während er sich so mit dem Hunde unterhielt, ertönte plötzlich Musik. Kaschtanka sah sich um und erblickte ein ganzes Regiment Soldaten, das gerade auf ihn zukam. Da er seiner Nerven wegen Musik nicht vertragen konnte. so begann er sich zu drehen und zu heulen. Zu seiner größten Verwunderung aber war der Tischler garnicht erschrocken und bellte und krümmte sich nicht, sondern stand ›stramm‹ und salutierte, seine fünf Finger an die Mütze legend und übers ganze Gesicht grinsend. Da Kaschtanka sah, daß sein Herr an einen Protest garnicht dachte, so begann er noch lauter zu heulen und stürzte fassungslos über die Straße auf das andere Trottoir.
Als er wieder zur Besinnung gekommen war, spielte die Musik nicht mehr und das Regiment war vorüber. Er lief über die Straße zurück an die Stelle, wo er seinen Herrn verlassen hatte, aber siehe da, der Tischler war schon weg. Kaschtanka stürmte vorwärts, dann wieder zurück, lief noch einmal über die Straße, aber der Tischler war wie in die Erde versunken . . . Kaschtanka begann das Trottoir zu beschnuppern in der Hoffnung, die Spuren seines Herrn zu erkennen, aber kurz vordem war irgend ein Schuft in Gummischuhen über das Trottoir gegangen, und jetzt vermischten sich alle seinen Gerüche mit dem Gnmmigestank. Da etwas herauszuriechen war ganz unmöglich.
Kaschtanka lief hin und her, ohne seinen Herrn zu finden, und unterdessen wurde es dunkel. Zu beiden Seiten der Straße wurden die Laternen angezündet, und in den Fenstern der Häuser wurde es hell. Große lockere Schneeflocken fielen langsam vom Himmel herab und färbten das Pflaster, die Rücken der Pferde und die Mützen der Droschkenkutscher schön weiß, und je dunkler es wurde, um so blendendweißer erschienen alle Gegenstände. An Kaschtanka vorbei, ihm immerfort den Gesichtskreis verdeckend und ihn mit den Füßen tretend, gingen ohne Unterbrechung fremde Kunden. – Kaschtanka teilte nämlich die gesamte Menschheit in zwei etwas ungleiche Teile: in Meister und Kunden; zwischen diesen und jenen bestand ein wesentlicher Unterschied: die Meister hatten das Recht, ihn zu schlagen, und bei den Kunden besaß er selbst das Recht, sie in die Waden zu beißen. – Die Kunden eilten alle irgend wohin und beachteten Kaschtanka garnicht.
Als es ganz dunkel geworden, überfielen Kaschtanka Verzweiflung und Schrecken. Er drückte sich an eine Hausthür und begann bitterlich zu weinen. Der auf den ganzen Tag ausgedehnte Spaziergang mit Luka Alexandritsch hatte ihn ermüdet, seine Ohren und Pfoten froren ihm und außerdem war er auch furchtbar hungrig. Den Tag über hatte er nur zweimal etwas in den Magen bekommen: beim Buchbinder hatte er etwas Kleister gegessen und in einer Wirtschaft ein Stückchen Wurstschale gefunden – das war alles. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, so hätte er sicher gedacht:
»Nein, so kann man nicht weiterleben! Ich muß mich erschießen!«
Aber er dachte an garnichts und weinte nur. Als der weiche flockige Schnee ihm Kopf und Rücken schon ganz bedeckt hatte, und er vor Erschöpfung in einen tiefen Halbschlaf verfallen war, öffnete sich plötzlich kreischend die Hausthür und stieß Kaschtanka in den Rücken. Kaschtanka sprang auf. Aus der geöffneten Hausthür trat ein Mensch, der offenbar zur Kategorie der Kunden gehörte. Da Kaschtanka aufschrie und dem Fremden unter die Füße geriet, so konnte dieser nicht umhin, ihn zu bemerken. Er beugte sich zu ihm hin und fragte:
»Hundchen, wo kommst Du denn her? Hab' ich Dir weh gethan? O mein Ärmster, mein Ärmster . . . Nun, sei nicht böse . . . Pardon . . .«
Kaschtanka blickte den Fremdling durch die an den Wimpern hängenden Schneeflocken an und sah einen kleinen rundlichen Herrn im Cylinder und Pelzmantel, mit einem rasierten, etwas aufgedunsenen Gesicht.
»Was greinst Du denn?« fuhr er, ihm mit dem Finger den Schnee vom Rücken abstreifend, fort. »Wo ist denn Dein Herr? Du hast Dich wohl verlaufen? Ach Du armes Hundchen! Was fangen denn wir mit Dir an?«
Kaschtanka, der in der Stimme des Fremden einen freundlichen, warmen Ton erhascht hatte, leckte ihm die Hand und begann noch herzbrechender zu winseln.
»Du bist übrigens ein netter, spaßiger Kerl!« sagte der Fremde. »Der reine Fuchs! Na, was ist denn da zu machen, komm also mit! Vielleicht kann man Dich zu etwas gebrauchen . . . Nun, fuit!«
Er schnalzte mit der Zunge und gab Kaschtanka mit der Hand ein Zeichen, welches nur eines bedeuten konnte: »Komm mit!« Kaschtanka folgte.
Eine halbe Stunde später saß er schon auf der Diele in einem großen hellen Zimmer und blickte, den Kopf auf die Seite geneigt, mit Wehmut und Neugierde zu dem Fremden hinauf, der am Tische saß und speiste. Der Fremde aß und warf ihm ab und zu ein Stückchen hin . . . Zuerst gab er ihm Brot und eine Käserinde, dann ein Stückchen Fleisch, dann ein halbes Pastetchen, Hühnerknochen, und Kaschtanka hatte das alles in seinem Heißhunger so schnell aufgegessen, daß er nicht mal den Geschmack davon unterscheiden konnte. Und je mehr er aß, um so stärker wurde der Hunger.
»Na hör' mal. Deine Herrschaft scheint Dich nicht gerade übermäßig zu füttern!« sprach der Fremde, während er zusah, mit welcher Gier und Gefräßigkeit der Hund die unzerkauten Stücke verschlang. »Und wie Du mager bist! Haut und Knochen!«
Kaschtanka aß viel, wurde aber nicht satt, sondern empfand vom Essen nur ein Gefühl der Berauschung. Nach dem Essen legte er sich mitten im Zimmer hin, streckte die Pfoten aus und wedelte, während seinen Körper eine süße Müdigkeit erfüllte, freundlich mit dem Schwanz. Inzwischen rauchte sein neuer Herr, im Lehnstuhl liegend, eine Cigarre. Kaschtanka wedelte immerfort und erwog im Geiste die Frage, wo es besser sei – bei dem Fremden oder bei dem Tischler? Bei dem Fremden ist die Ausstattung arm und häßlich – außer Lehnstühlen, einem Divan, Teppichen und einer Lampe giebt es bei ihm nichts. und das Zimmer erscheint leer; während beim Tischler die ganze Stube mit Sachen vollgepfropft ist: da giebt es einen Tisch, eine Hobelbank, einen Haufen Späne, Hobel, Stemmeisen, Sägen, einen Zeisig im Bauer, einen Eimer . . . Beim Fremden riecht es nach nichts, während beim Tischler ein wahrer Nebel die Wohnung erfüllt und ein wundervolles Odeur von Leim, Hobelspänen und Lack die Nase kitzelt. Dafür hat aber der Fremde einen sehr wesentlichen Vorzug: er giebt viel zu essen, und – alles was recht ist – während Kaschtanka vor dem Tisch saß und zu ihm sehnsüchtig hinaufblickte, hatte er ihn nicht ein einziges Mal geschlagen oder auch nur mit den Füßen gestampft und geschrieen: »Da–aß Dich . . . der Teufel hole, verd . . .!«
Nachdem der neue Herr seine Cigarre ausgeraucht hatte, ging er hinaus und kehrte einen Augenblick später mit einem Kissen in der Hand zurück.
»Hör' Du, Hundchen, komm mal her!« sagte er, das Kissen in eine Ecke neben dem Divan hinlegend. »Da, schlaf!«
Darauf löschte er die Lampe aus und ging hinaus. Kaschtanka streckte sich auf dem Kissen aus und schloß die Augen. Von der Straße her ertönte Hundegebell, und Kaschtanka wollte darauf antworten, aber plötzlich, ganz unerwartet, befiel ihn das Heimweh. Er dachte an Luka Alexandritsch, an seinen Sohn Fedjuschka, an das liebe Plätzchen unter der Hobelbank . . . Er dachte daran, wie an den langen Winterabenden, wenn der Tischler hobelte oder die Zeitung laut vorlas, Fedjuschka gewöhnlich mit ihm spielte . . . Er holte ihn an den Hinterpfoten unter der Hobelbank hervor und machte mit ihm solche Stückchen, daß es Kaschtanka ganz grün vor den Augen wurde und er hernach an allen Gliedern wie gelähmt war. Er ließ ihn auf den Hinterfüßen gehen, machte mit ihm »Glocke«, d. h. zog ihn heftig am Schwanz, so daß Kaschtanka anfing zu bellen und zu heulen, gab ihm Schnupftabak zu riechen u. s. w. Besonders qualvoll war das folgende Stückchen: Fedjuschka band ein Stück Fleisch an einen Faden und gab es Kaschtanka, um es dann, wenn er das Stück verschluckt hatte, wieder unter lautem Gelächter aus seinem Magen zu ziehen . . . Und je greller diese Erinnerungen wurden, um so lauter und trübseliger wimmerte Kaschtanka.
Aber bald besiegten die Müdigkeit und die Wärme das Heimweh . . . Er fing an einzuschlafen. In seiner Phantasie begannen Hunde zu laufen; unter anderen lief auch der zottige alte Pudel vorbei mit dem kranken Auge und den großen Haarbüscheln an der Schnauze, den er heute auf der Straße gesehen hatte. Ihm nach jagte Fedjuschka, mit dem Stemmeisen in der Hand. Dann plötzlich bedeckte sich auch Fedjuschka mit zottigen Haarbüscheln und stand auf einmal neben Kaschtanka. Er und Kaschtanka berochen einander gutmütig die Schnauze und liefen dann auf die Straße hinaus . . .
Als Kaschtanka aufwachte, war es schon hell und von der Straße her tönte Lärm, wie nur am Tage. Im Zimmer war niemand. Kaschtanka streckte sich, gähnte und ging dann mißmutig und finster durchs Zimmer. Er beroch die Ecken und die Möbel, warf einen Blick in das Vorhaus und fand nichts Interessantes. Außer der Thür, die in das Vorhaus führte, gab es noch eine zweite. Nach kurzer Überlegung kratzte Kaschtanka mit beiden Pfoten an dieser zweiten Thür und trat, als sie sich öffnete, ins nächste Zimmer. Dort schlief im Bett, eingehüllt in eine wollne Decke, ein Kunde, in welchem Kaschtanka den Fremden von gestern Abend erkannte.
»Rrrr . . .« knurrte er im ersten Augenblick. Dann aber fiel ihm die gestrige Mahlzeit ein, er wedelte mit dem Schwanz und begann zu schnuppern.
Er beschnupperte die Kleider und Stiefel des Fremden und fand, daß sie stark nach Pferden rochen. Aus dem Schlafzimmer führte irgendwohin noch eine Thür, die ebenfalls geschlossen war. Kaschtanka kratzte auch an dieser Thür, stemmte sich mit der Brust dagegen, öffnete die Thür und empfand sogleich einen merkwürdigen, sehr verdächtigen Geruch. Mit der Ahnung einer unangenehmen Begegnung trat Kaschtanka, knurrend und sich vorsichtig umblickend, in eine kleine Stube mit schmutzigen Tapeten – und erschrocken fuhr er zurück. Er erblickte etwas Unerwartetes und Furchtbares. Mit zu Boden gesenktem Kopf, mit weit ausgebreiteten Flügeln steuerte zischend gerade auf ihn los ein grauer Gänserich. Etwas abseits vom Gänserich lag auf einem Kissen ein weißer Kater. Als dieser Kaschtanka erblickte, sprang er auf, machte einen Buckel, erhob den Schweif, sträubte das Haar und begann ebenfalls zu zischen. Der Hund erschrak ganz ordentlich, da er aber seine Furcht nicht merken lassen wollte, fing er laut an zu bellen und stürzte sich auf den Kater . . . Der Kater machte einen noch höheren Buckel und versetzte Kaschtanka auf den Kopf einen Schlag mit der Pfote. Kaschtanka sprang zurück, duckte sich nieder und brach, die Schnauze nach dem Kater gewandt, in ein schallendes, winselndes Gebell aus. In diesem Augenblick trat der Gänserich von hinten heran und hackte Kaschtanka recht schmerzhaft in den Rücken. Kaschtanka sprang auf und warf sich auf den Gänserich . . .
»Was ist denn hier los?« ertönte eine laute, unwillige Stimme, und herein trat der Fremde im Schlafrock und mit der Cigarre zwischen den Zähnen. »Was soll das bedeuten? An den Platz!«
Er ging auf den Kater zu, knirpste ihn auf den Buckel und sagte:
»Theodor, was ist denn das? Eine Keilerei? Ach Du alter Schuft! Kusch Dich!« Und sich zum Gänserich wendend rief er: »Herr Iwanow, an den Platz!«
Der Kater legte sich gehorsam aufs Kissen und schloß die Augen. Nach dem Ausdruck seiner Schnauze und seines Schnurrbarts schien er mit sich unzufrieden, daß er sich erregt hatte und in Streit geraten war. Kaschtanka winselte gekränkt, und der Gänserich streckte den Hals aus und begann etwas zu erzählen, aufgeregt, überzeugt und vernehmlich, aber äußerst unverständlich . . .
»Schon gut, schon gut!« sagte gähnend der Herr. »Ihr müßt Euch untereinander vertragen . . .« Er streichelte Kaschtanka und fuhr fort: »Und Du Braunchen, brauchst Dich nicht zu fürchten . . . Das sind alles brave Leute und thun niemand was zu leide. Übrigens, wie soll man Dich denn rufen? Ohne Namen darfst Du nicht bleiben, mein Bester.«
Der Fremde dachte einen Augenblick nach und sagte dann:
»So . . . Du wirst also Tante heißen . . . Verstehst Du? Tante!«
Und das Wort »Tante« mehrere Mal wiederholend ging er hinaus. Kaschtanka setzte sich und begann zu beobachten. Der Kater lag regungslos auf dem Kissen und that, als ob er schliefe. Der Gänserich fuhr fort mit ausgestrecktem Halse, ununterbrochen von einem Bein aufs andere tretend, schnell und überzeugend von Etwas zu erzählen. Es schien ein äußerst kluger Gänserich zu sein; nach jeder langen Tirade trat er jedesmal wie erstaunt zurück, als bewunderte er seine eigene Rede. Nachdem Kaschtanka ihm einige Zeit zugehört hatte, antwortete er »Rrrr . . .« und begann in den Ecken umherzuschnüffeln. In einer Ecke stand ein kleiner Trog, in welchem Kaschtanka gequollene Erbsen und aufgeweichte Brotrinden vorfand. Er probierte die Erbsen – sie schmeckten nicht, probierte die Rinden – und begann zu essen. Der Gänserich war durchaus nicht beleidigt, daß der fremde Hund sein Futter verspeiste, sondern im Gegenteil, er begann noch überzeugender zu reden und trat, um sein Vertrauen zu bezeugen, an den Trog heran und aß selbst einige Erbsen.
Einige Zeit später trat der Fremde wieder ein und brachte ein sonderbares Ding mit, das etwa wie ein Galgen aussah. An der Querstange dieses hölzernen Galgens hing eine Glocke und war eine Pistole befestigt, von denen je eine Schnur herabhing. Der Fremde stellte den Galgen mitten im Zimmer auf, nestelte lange an den Schnüren herum, blickte dann auf den Gänserich und sagte:
»Herr Iwanow, ich bitte!«
Der Gänserich kam heran und blieb in erwartungsvoller Pose stehen.
»Nun«, sagte der Fremde, »fangen wir von Anfang an. Verbeugen Sie sich zuerst und machen Sie einen Kratzfuß! Schnell.«
Herr Iwanow streckte den Hals aus, nickte nach allen Seiten und scharrte mit der Pfote.
»So, bravo . . . Jetzt sterben Sie mal!«
Der Gänserich legte sich auf den Rücken und hob die Pfoten in die Höhe. Nachdem der Fremde noch einige ähnliche unbedeutende Stückchen vorgenommen hatte, griff er plötzlich nach seinem Kopf, drückte auf seinem Gesicht das furchtbarste Entsetzen aus und rief:
»Hilfe! Feuer! Es brennt!«
Herr Iwanow lief schnell zum Galgen, ergriff mit dem Schnabel eine der Schnüre und begann zu läuten. Der Fremde war sehr zufrieden. Er streichelte dem Gänserich den Hals und sagte:
»Brav, Herr Iwanow. Jetzt stellen Sie sich vor, daß Sie ein Juwelier sind und mit Gold und Brillanten handeln. Stellen Sie sich nun weiter vor, daß Sie in Ihren Laden eintreten und dort Diebe vorfinden. Wie würden Sie in diesem Falle handeln?«
Der Gänserich faßte mit dem Schnabel die andere Schnur und zog daran, worauf ein betäubender Schuß ertönte. Kaschtanka gefiel das Läuten sehr gut, und von dem Schuß geriet er in solches Entzücken, daß er um den Galgen zu laufen und zu bellen begann.
»Tante, an den Platz!« rief der Fremde. »'s Maul halten!«
Die Arbeit Herrn Iwanows war mit dem Schießen noch nicht zu Ende. Eine ganze Stunde noch trieb ihn der Fremde an der Korde in die Runde und knallte mit der Peitsche, wobei der Gänserich über Barrièren und durch Reifen springen, sich bäumen d. h. sich auf den Schwanz setzen und mit den Pfoten zappeln mußte. Kaschtanka wandte von Herrn Iwanow nicht die Augen, winselte vor Vergnügen und lief mehrmals mit lautem Gebell hinter ihm her. Nachdem Schüler sowohl als Lehrer gründlich müde geworden waren, trocknete der Fremde sich den Schweiß von der Stirn und rief:
»Marie, ruf mal Frau von Grunzner her!«
Gleich darauf ertönte ein Grunzen. Kaschtanka begann zu knurren, nahm eine äußerst mutige Stellung ein, trat aber für alle Fälle näher zum Fremden heran. Die Thür öffnete sich, ein altes Weib sah ins Zimmer, sagte etwas und ließ dann eine schwarze häßliche Sau herein. Ohne Kaschtankas Geknurr auch nur zu beachten, hob die Sau ihre Schnauze in die Höhe und grunzte heiter. Sie schien äußerst erfreut, ihren Herrn, den Kater und Herrn Iwanow wiederzusehen. Als sie sich dem Kater näherte, ihn leise mit der Schnauze in den Bauch stieß und sich dann mit dem Gänserich über irgend etwas zu unterhalten begann, konnte man in ihrer Stimme und im Zucken des kleinen Schwänzchens sehr viel Gutmütigkeit und Wohlwollen bemerken. Kaschtanka begriff sofort, daß auf solche Persönlichkeiten zu knurren und zu bellen vollkommen zwecklos sei.
Der Herr stellte den Galgen beiseite und rief:
»Theodor, ich bitte!«
Der Kater erhob sich, dehnte sich schläfrig und näherte sich widerwillig der Sau, als erwiese er jemand einen großen Gefallen.
»Nun, beginnen wir mit der »Ägyptischen Pyramide«, meinte der Herr.
Er erklärte weitläufig irgend etwas und kommandierte endlich: eins . . . zwei . . . drei! Beim Worte »drei« schlug Herr Iwanow mit den Flügeln und sprang auf den Rücken der Sau . . . Als er, mit dem Halse und den Flügeln balancierend, auf dem borstigen Rücken einen sicheren Standpunkt gewonnen hatte, begann Theodor faul und schläfrig, mit demonstrativer Nachlässigkeit und mit einem Gesichtsausdruck, als verachte er und schätze er seine Kunst gering, langsam den Rücken der Sau zu erklimmen, kletterte dann ebenso widerwillig auf den Gänserich hinauf und stellte sich auf die Hinterpfoten. Man erhielt das, was der Fremde eine »Ägyptische Pyramide« nannte. Kaschtanka winselte vor Vergnügen auf. In diesem Augenblick aber gähnte der Kater und fiel, das Gleichgewicht verlierend, vom Gänserich herab. Herr Iwanow wankte und fiel ebenfalls. Der Fremde begann zu schreien, zu fuchteln und von neuem etwas zu erklären. Nachdem er sich noch eine ganze Stunde mit der Pyramide abgequält hatte, begann der unermüdliche Herr, Herrn Iwanow das Reiten auf dem Kater zu lehren, unterrichtete dann den Kater im Rauchen u. s. w.
Der Unterricht endete damit, daß der Fremde sich den Schweiß von der Stirn wischte und hinausging, Theodor verächtlich nieste, sich aufs Kissen legte und die Augen schloß, Herr Iwanow zu seinem Trog ging, und die Sau von dem alten Weibe wieder weggeführt wurde. Dank einer solchen Menge neuer Eindrücke verging der Tag unbemerkt, am Abend aber war Kaschtanka schon mit seinem Kissen in der kleinen Stube mit den schmutzigen Tapeten einquartiert und verbrachte die Nacht in Gesellschaft Herrn Iwanows und des Katers.
Es verging ein Monat . . .
Kaschtanka hatte sich bereits daran gewöhnt, daß er einen luxuriösen Mittag bekam und Tante genannt wurde. Auch an den Fremden und an die neuen Genossen hatte er sich gewöhnt. Das Leben floß ohne jede Störung dahin . . .
Alle Tage begannen auf dieselbe Weise. Gewöhnlich erwachte Herr Iwanow zuerst und kam sogleich an Kaschtanka oder an den Kater heran, streckte seinen Hals aus und begann etwas zu erzählen, heiß und überzeugend, aber noch immer unverständlich. Zuweilen erhob er sein Haupt und ließ lange Monologe vom Stapel. In den ersten Tagen hatte Kaschtanka geglaubt, daß er soviel rede, weil er sehr gescheit sei, aber nach kurzer Zeit verlor er allen Respekt vor dem Gänserich; wenn sich Herr Iwanow ihm mit seinen langen Reden näherte, wedelte Kaschtanka nicht mehr mit dem Schwanz, sondern malträtierte ihn, wie einen lästigen Schwätzer, der niemand Ruhe läßt, und antwortete ihm ganz ungeniert mit einem »Rrrr« . . .
Theodor war dagegen ein ganz anderer Herr. Wenn er erwachte, gab er keinen Ton von sich, rührte sich nicht und öffnete nicht einmal die Augen. Er wäre überhaupt sehr gerne auch garnicht erwacht, denn das Leben erschien ihm offenbar sehr wenig begehrenswert. Nichts interessierte ihn, zu allem verhielt er sich müde und lässig, alles verachtete er und nieste ekelerfüllt sogar dann, wenn er sein schmackhaftes Mittagsmahl verzehrte.
Kaschtanka pflegte, sobald er erwacht war, eine Runde durch die Zimmer zu machen und alle Ecken zu beschnuppern. Nur er und der Kater besaßen das Recht, in der ganzen Wohnung umher zu gehen, der Gänserich dagegen genoß nicht den Vorzug, die Schwelle der kleinen Stube mit den schmutzigen Tapeten zu überschreiten, während Frau von Grunzner irgendwo auf dem Hof in einem Stall wohnte und nur zu den Stunden erschien.
Der Herr wachte spät auf und begann sofort, nachdem er Thee getrunken, mit den Kunststücken. Jeden Tag wurden in die Stube der Galgen, die Peitsche und die Reifen gebracht und jeden Tag wurde fast immer dasselbe absolviert. Der Unterricht währte drei bis vier Stunden, sodaß Theodor zuweilen vor Ermüdung wie ein Trunkener wankte, Herr Iwanow den Schnabel öffnete und schwer atmete, und der Herr ganz rot wurde und die Stirn garnicht mehr trocken bekam.
Der Unterricht und das Mittagessen machten die Tage sehr interessant, die Abende aber vergingen etwas langweilig. Gewöhnlich fuhr der Herr des Abends irgendwohin fort und nahm den Kater und der Gänserich mit. Kaschtanka, der allein zu Hause blieb, pflegte sich dann auf dem Kissen auszustrecken und der Melancholie anheim zu fallen . . . Unbemerkt und allmählich, wie die Finsternis ein Zimmer erfüllt, beschlich ihn die Traurigkeit. Es begann damit, daß der Hund die Lust am Bellen, am Essen und am Umherlaufen in den Zimmern verlor. Dann erschienen seiner Phantasie zwei undeutliche Gestalten, halb Tiere, halb Menschen, mit lieben und sympathischen, aber unverständlichen Gesichtern. Bei ihrem Erscheinen wedelte Kaschtanka mit dem Schwanz, und es war ihm, als hätte er sie irgendwo und irgendwann schon gesehen und geliebt . . . Und wenn er einschlief, empfand er jedesmal den angenehmen Duft von Leim, Hobelspänen und Lack, der diesen Gestalten entströmte . . .
Als er sich in das neue Leben schon ganz eingewöhnt hatte und sich aus einem mageren, knöchrigen Straßenköter in einen satten, wohlgepflegten Hund verwandelt hatte, streichelte der Herr ihn einmal vor dem Unterricht und sagte:
»Na, Tante, jetzt ist es auch Zeit, an die Arbeit zu gehen . . . Ich will aus Dir einen Künstler machen . . . Willst Du ein Künstler werden?«
Und er begann den Hund in allen möglichen Wissenschaften zu unterrichten. In der ersten Stunde lernte Kaschtanka »sitzen« und auf den Hinterfüßen gehen. In der zweiten Stunde mußte er auf den Hinterfüßen schon springen und nach einem Stück Zucker schnappen, das der Meister hoch über den Kopf des Hundes hielt. Dann, in den nächsten Stunden, tanzte er, lief an der Corde, heulte »nach Musik«, läutete und schoß. Nach einem Monat aber konnte er bereits mit Erfolg Theodor in der »Ägyptischen Pyramide« vertreten. Er lernte gerne und war mit seinen Fortschritten zufrieden; namentlich das Laufen an der Corde, mit heraushängender Zunge, das Springen durch den Reifen und das Reiten auf dem alten Theodor bereiteten ihm ein ganz besonderes Vergnügen. Jedes gelungene Stückchen begleitete er mit lautem begeisterten Gebell, während der Lehrer staunte, sich ebenfalls begeisterte und vergnügt die Hände rieb.
»Ein Genie! Ein Genie!« sagte er. »Ein unbezweifelbares Genie! Du wirst einen großartigen Erfolg haben!«
Und Kaschtanka hatte sich so sehr an das Wort »Genie« gewöhnt, daß er jedesmal, wenn sein Herr es aussprach, aufsprang und sich umsah, als wäre es sein Rufname.
Kaschtanka hatte einen Hundetraum: der Hausknecht jagte ihm mit dem Besen nach . . . Vor Furcht erwachte er.
Im Stübchen war es dunkel, dunkel und schwül. Die Flöhe belästigten ihn. Kaschtanka hatte früher niemals die Dunkelheit gefürchtet. Jetzt aber war es ihm, er wußte selbst nicht warum, plötzlich so unheimlich geworden, daß er bellen wollte. Im Zimmer nebenan seufzte vernehmlich der Herr, etwas später grunzte die Sau im Stalle, und wieder wurde alles still. Wenn man ans Essen denkt, wird es einem leichter ums Herz, und Kaschtanka begann daran zu denken, wie er heute Theodor ein Hühnerbein entwendet und es im Salon, zwischen dem Schrank und der Wand, wo sehr viel Spinngewebe und Staub lag, versteckt hatte. Es würde nichts schaden, mal hin zu gehen und sich zu überzeugen, ob dieses Bein noch da sei oder nicht mehr. Unmöglich wäre es nicht, daß der Herr es gefunden und verspeist hätte. Aber vor dem Morgen darf man die Stube nicht verlassen – das ist Hausgesetz. Kaschtanka schloß die Augen, um möglichst schnell einzuschlafen. denn er wußte aus Erfahrung, daß je früher man einschläft um so früher der Morgen da ist. Aber plötzlich ertönte nicht weit von ihm ein sonderbarer Schrei, der ihn zusammenschrecken und aufspringen machte. Es war Herr Iwanow, und sein Schrei war nicht geschwätzig und überzeugend wie gewöhnlich, sondern wild, durchdringend und unnatürlich, wie das Schreien einer ungeschmierten Pforte. Ohne im Dunkeln etwas sehen oder begreifen zu können, erschrak Kaschtanka noch mehr und knurrte:
»Rrrrr . . .«
Es verging viel Zeit, soviel wie dazu nötig ist, um einen guten Knochen zu benagen; der Schrei wiederholte sich nicht. Kaschtanka beruhigte sich allmählich und begann wieder in Schlaf zu versinken. Ihm träumte von zwei großen, schwarzen Hunden; sie fraßen gierig aus einem großen Troge mit Küchenabfällen, dem weißer Dampf und ein angenehmes Aroma entströmten. Ab und zu wandten sie sich nach Kaschtanka um, fletschten die Zähne und knurrten: »Dir geben wir nichts!« Aber aus dem Hause kam ein Bauer im Pelz herausgelaufen und vertrieb mit der Peitsche die Hunde. Kaschtanka näherte sich dem Troge und begann zu fressen, aber kaum war der Bauer im Thor verschwunden, als die schwarzen Hunde sich brüllend auf Kaschtanka stürzten, und der durchdringende Schrei plötzlich wieder ertönte.
»K–he! K–he–he!« schrie Iwanow.
Kaschtanka erwachte, sprang auf und brach, ohne sein Kissen zu verlassen, in ein heulendes Gebell aus. Es schien ihm jetzt, als schreie nicht mehr Iwanow, sondern jemand anderes, jemand Fremdes. Und sonderbarerweise grunzte auch die Sau wieder im Stalle.
Schon vernahm man aber das Schlurfen der Pantoffeln, und in die Stube trat der Herr, im Schlafrock und mit dem Licht in der Hand. Der blinzelnde Schein begann an den schmutzigen Tapeten und an der Decke zu hüpfen und verscheuchte die Finsternis. Kaschtanka sah, daß in der Stube niemand Fremdes war. Herr Iwanow saß auf der Diele und schlief nicht. Seine Flügel waren ausgespannt und sein Schnabel geöffnet, und überhaupt sah er aus, als wäre er sehr müde und wollte trinken. Der alte Theodor schlief auch nicht. Auch ihn hatte wohl der Schrei aufgescheucht.
»Herr Iwanow, was fehlt Ihnen?« fragte der Herr den Gänserich. »Warum schreien Sie? Sind Sie krank?«
Der Gänserich schwieg. Der Herr befühlte ihm den Hals, streichelte seinen Rücken und sagte:
»Sie sind ein komischer Herr. Schlafen selbst nicht und geben auch anderen keine Ruhe.«
Als der Herr wieder hinausgegangen war und das Licht mitgenommen hatte, wurde es wieder dunkel. Kaschtanka wurde bange. Der Gänserich schrie nicht mehr, aber Kaschtanka hatte wieder das Gefühl, als sei jemand Fremdes in der Stube. Am meisten ängstigte ihn, daß man diesen Fremdling nicht beißen konnte, da er unsichtbar war und keine Gestalt hatte. Und Kaschtanka hatte das unbestimmte Gefühl, als müßte sich in dieser Nacht durchaus etwas Schlimmes ereignen. Auch Theodor war unruhig. Kaschtanka hörte, wie er sich auf seinem Kissen bewegte, seinen Kopf schüttelte und gähnte.
Irgendwo aus der Straße wurde an ein Thor gepocht, und im Stall grunzte die Sau. Kaschtanka begann zu heulen, streckte die Vorderpfoten aus und legte seinen Kopf darauf. In dem Pochen am Thore, im Grunzen der Sau, die sonderbarerweise auch nicht schlafen konnte, in der Finsternis und Stille schien ihm, ebenso wie in dem Schrei des Herrn Iwanow, etwas unendlich Trauriges und Schreckliches zu liegen. Überall und bei allen zeigte sich eine sonderbare Unruhe, aber woher? Wer war dieser Fremde, den man nicht sehen konnte? In der Nähe von Kaschtanka erglühten zwei trübe, grüne Feuer. Es war Theodor, der seit der ganzen langen Bekanntschaft zum ersten Mal an Kaschtanka herangekommen war. Was wollte er? Kaschtanka leckte ihm die Pfote und begann, ohne nach dem Grunde seines Kommens zu fragen, von neuem leise zu heulen.
»K–he!« schrie Herr Iwanow. »K–he–he!«
Die Thür öffnete sich wieder, und der Herr trat mit dem Licht in der Hand ein. Der Gänserich saß in der alten Stellung mit geöffnetem Schnabel und ausgebreiteten Flügeln. Seine Augen waren geschlossen.
»Herr Iwanow!« rief der Herr.
Der Gänserich rührte sich nicht. Der Herr setzte sich vor ihm hin auf die Diele, sah ihn einige Augenblicke schweigend an und sagte:
»Iwanow! Was ist denn das? Stirbst Du? Ach, jetzt erinnere ich mich, erinnere ich mich!« rief er, sich nach dem Kopf fassend. »Jetzt weiß ich, was es ist! Das kommt, weil Dich heute ein Pferd getreten hat! O mein Gott, mein Gott!«
Kaschtanka verstand nicht die Worte des Herrn, sah aber an seinem Gesicht, daß auch er etwas Fürchterliches erwartete. Er streckte seine Schnauze nach dem dunklen Fenster aus, in welches, wie ihm schien, jemand Fremdes hereinschaute, und begann zu heulen.
»Tante! Er stirbt ja!« sagte der Herr, die Hände zusammenschlagend. »Ja, ja, er stirbt! Zu Euch in die Stube ist der Tod gekommen. Was thun wir nun?«
Der Herr kehrte bleich und aufgeregt, seufzend und kopfschüttelnd zu sich ins Zimmer zurück. Kaschtanka, der sich fürchtete im Dunkeln zu bleiben, folgte ihm. Der Herr setzte sich aufs Bett und wiederholte immer wieder:
»Mein Gott, was soll ich thun?«
Kaschtanka strich an seinen Beinen umher, ohne zu verstehen, warum er selbst und alle anderen so traurig und erregt waren, und suchte es aus den Bewegungen des Herrn zu erraten. Theodor, der sein Kissen sonst nur selten verließ, trat auch in das Schlafzimmer ein und begann sich ebenfalls an den Beinen des Herrn zu reiben. Er schüttelte mit dem Kopf, als wollte er aus demselben alle trüben Gedanken hinausschütteln, und blickte verdächtig unters Bett.
Der Herr nahm ein Tellerchen, goß in dasselbe aus der Waschkanne etwas Wasser und ging wieder zum Gänserich.
»Trink, Iwanow,« sagte er zärtlich, das Tellerchen vor ihm hinstellend. »Trink, mein Lieber.«
Aber Iwanow rührte sich nicht und öffnete nicht die Augen. Der Herr neigte seinen Kopf zum Teller und tunkte Iwanows Schnabel ins Wasser, aber der Gänserich trank nicht. Er breitete seine Flügel nur noch weiter aus, und sein Kopf blieb kraftlos auf dem Teller liegen.
»Nein, da ist nichts mehr zu machen!« seufzte der Herr. »Alles ist aus. Der arme Iwanow ist tot . . .«
Und an seinen Wangen rieselten glänzende Tröpfchen herab, wie man sie beim Regen an den Fenstern sieht. Ohne die Bedeutung des Geschehenden zu begreifen, drängten Kaschtanka und Theodor sich an den Herrn heran und blickten voll Schrecken auf den Gänserich.
»Mein armer Iwanow!« sprach der Herr, traurig seufzend. »Und ich hatte gehofft, Dich im Sommer mit in die Sommerfrische zu nehmen und mit Dir auf der grünen Wiese zu spazieren. Du liebes Tier, mein braver Kamerad, Du bist dahin! Wie werde ich denn jetzt ohne Dich auskommen?«
Kaschtanka glaubte, daß auch ihm dasselbe passieren würde, daß er plötzlich, wer weiß warum, seine Augen schließen, die Pfoten ausstrecken und sein Gebiß entblößen würde, und daß dann alle ihn mit Schrecken ansehen würden. Auch in dem Kopfe Theodors schienen ähnliche Gedanken zu hausen. Noch nie war der Kater so finster und trübsinnig gewesen, wie jetzt.
Der Morgen dämmerte, und jener unsichtbare Fremde, der Kaschtanka so erschreckt hatte, verließ das Zimmer. Als es ganz hell wurde, kam der Hausknecht, nahm den Gänserich bei den Füßen und trug ihn irgendwohin hinaus. Bald hernach kam die Aufwärterin und brachte den Trog weg.
Kaschtanka ging in den Salon und schaute hinter den Schrank: Der Herr hatte das Hühnerbein nicht aufgegessen, es lag noch an derselben Stelle, mit Staub und Spinngewebe bedeckt. Aber Kaschtanka war es trübe zu Mut, und er wollte weinen. Er roch nicht mal an dem Hühnerbein, sondern ging unter den Divan, legte sich dort hin und begann leise mit hoher Stimme zu heulen.
»U–U–U . . . .«
Eines schönen Abends trat der Herr in das Stübchen mit den schmutzigen Tapeten und sagte, sich die Hände reibend:
»Nun . . .«
Er wollte noch etwas sagen, ließ es aber bleiben und ging wieder hinaus. Kaschtanka, der während der Stunden die Manieren und Mienen seines Lehrers gut ausgelernt hatte, erriet, daß er besorgt und, wie es schien, sogar böse war. Bald darauf kam der Herr wieder zurück und sagte:
»Heute nehme ich Tante und Theodor mit mir. In der »Ägyptischen Pyramide« wirst du, Tante, die Stelle des seligen Herrn Iwanow einnehmen. Hol's der Teufel! Nichts ist fertig, nichts einstudiert, nur ein paar Proben! Wir werden uns blamieren, durchfallen!«
Dann ging er wieder hinaus und kam gleich darauf im Pelz und Cylinder zurück. Er trat an den Kater heran, ergriff ihn bei den Vorderpfoten, hob ihn auf und barg ihn auf der Brust unterm Pelz, wobei Theodor sehr gleichgiltig schien und sich nicht mal die Mühe gab, die Augen zu öffnen. Ihm war es offenbar vollständig gleich, ob er lag, oder an den Pfoten in die Höhe gehoben wurde, ob er sich auf seinem Kissen rekelte, oder unterm Pelz an der Brust des Herrn ruhte . . .
»Tante, komm!« sagte der Herr.
Ohne etwas zu verstehen, folgte Kaschtanka mit dem Schwanze wedelnd. Einen Augenblick später saß er schon im Schlitten zu Füßen seines Herrn und hörte, wie dieser, vor Kälte und Aufregung fröstelnd, murmelte:
»Wir blamieren uns, fallen durch!«
Der Schlitten hielt vor einem großen, sonderbaren Hause, das einer umgestülpten Suppenterrine ähnlich sah. Die langgezogene Auffahrt zu diesem Hause mit drei Glasthüren, war durch ein Dutzend Laternen hell erleuchtet. Die Thüren öffneten sich klirrend und verschlangen wie Rachen die Menschen, die sich auf der Auffahrt drängten. Menschen gab es dort viel, oft liefen an das Haus auch Pferde heran, Hunde aber sah man gar keine.
Der Herr nahm Kaschtanka auf den Arm und schob ihn untern Pelz an die Brust, wo sich Theodor befand. Hier war es dunkel und stickig aber warm. Für einen Augenblick leuchteten zwei grünliche Funken auf – es war der Kater, der, durch die kalten, harten Pfoten des Nachbars beunruhigt, die Augen öffnete. Kaschtanka leckte ihm ein Ohr und begann, in dem Wunsche, sich möglichst bequem zu plazieren, sich unruhig hin und her zu bewegen, wobei er den Kater unter den kalten Pfoten ganz zerdrückte. Während dieser Beschäftigung steckte er einmal den Kopf unversehens hinaus, begann aber sofort zu knurren und tauchte wieder in den Pelz zurück. Es war ihm, als hätte er ein riesiges, schlecht beleuchtetes Zimmer, das mit Menschen angefüllt war, gesehen. Aus den Abteilungen und Gittern, die längs der beiden Seiten des Zimmers liefen, schauten furchtbare Fratzen heraus: die einen sahen wie Pferdeköpfe aus, andere hatten Hörner, andere wieder lange Ohren. Ein Scheusal hatte eine dicke, riesige Fratze mit einem Schwanz statt der Nase und mit zwei langen, abgenagten Knochen, die aus dem Rachen herausragten.
Der Kater miaute heiser unter Kaschtankas Pfoten, aber in diesem Augenblicke ging der Pelz auf, der Herr sagte »hop!« und Theodor und Kaschtanka sprangen auf den Boden hinab. Sie befanden sich in einem kleinen Zimmer mit grauen Bretterwänden. Außer einem Tisch mit Spiegel, einem Taburett und verschiedenem Lumpenzeug, das in den Ecken hing, gab es hier keine Möbel, und statt einer Lampe oder eines Lichts brannte eine helle fächerförmige Flamme, die an einer kleinen, in die Wand gesteckten Röhre befestigt war. Theodor leckte sein Fell, welches Kaschtanka zerknüllt hatte, ging unter das Taburett und legte sich hin. Der Herr, der sich noch immer aufgeregt die Hände rieb, begann sich zu entkleiden. Er zog sich aus, wie er sich gewöhnlich zu Hause auszuziehen pflegte, wenn er im Begriffe war, sich zu Bett, unter die wollene Decke zu legen. Er legte alles außer der Wäsche ab, setzte sich dann auf das Taburett und begann vor dem Spiegel ganz sonderbare Dinge mit sich vorzunehmen. Zuerst zog er sich eine Perücke über den Kopf, mit einem Scheitel und zwei Haarbüscheln, die wie Hörner aussahen, dann schmierte er sich das Gesicht mit irgend etwas Weißem dick ein und malte sich über der weißen Farbe noch Augenbrauen, Schnurrbart und rote Wangen. Damit war aber der Spaß noch nicht aus. Nachdem er sich Gesicht und Hals so besudelt hatte, begann er ein ganz sonderbares, unsinniges Kostüm anzuziehen, wie Kaschtanka ein solches früher nie, weder in den Häusern, noch auf den Straßen gesehen hatte. Man stelle sich unglaublich weite Hosen vor, die aus einem großgeblümten Baumwollstoff gefertigt, wie er in kleinbürgerlichen Häusern zu Fenstervorhängen und zu Möbelbezug verwendet wird, Hosen, die ganz oben unter den Achseln zugeknöpft wurden; das eine Bein braun, das andere hellgelb. Nachdem er in diesem Kleidungsstück fast versunken war, zog der Herr sich noch eine baumwollene Jacke mit gezacktem Kragen und einem goldnen Stern auf dem Rücken an, verschiedenfarbene Strümpfe und grüne Schuhe . . .
Kaschtanka wurde es bunt vor den Augen und in der Seele. Von der weißgesichtigen, sackförmigen Figur roch es nach dem Herrn, auch die Stimme war die Stimme des Herrn, aber es gab dennoch Augenblicke, wo Kaschtanka von Zweifeln befallen wurde, und dann war er bereit, von dieser bunten Figur wegzulaufen und sie anzubellen. Der neue Ort, die fächerförmige Flamme, der Geruch, die Metamorphose, die mit dem Herrn geschehen war – alles das erzeugte in Kaschtanka eine unbestimmte Furcht und eine Ahnung, daß er sicher irgend etwas Fürchterlichem begegnen werde, wie dem dicken Scheusal mit dem Schwanz statt der Nase. Dazu spielte noch irgendwo in der Ferne hinter der Wand die verhaßte Musik, und von Zeit zu Zeit ertönte ein rätselhaftes Gebrüll. Eines nur beruhigte Kaschtanka – die unerschütterliche Ruhe Theodors. Dieser schlummerte ruhig unter dem Taburett und öffnete nicht mal dann die Augen, wenn das Taburett sich bewegte.
Ein Mensch in Frack und weißer Weste sah ins Zimmer herein und sagte:
»Gleich wird Miß Arabella auftreten. Dann kommen Sie.«
Der Herr antwortete nichts. Er holte unter dem Tisch einen kleinen Koffer heraus, setzte sich und begann zu warten. An seinen Lippen und au den Händen konnte man merken, daß er aufgeregt war, und Kaschtanka hörte, wie sein Atem bebte.
»Monsieur George, bitte!« rief jemand hinter der Thür.
Der Herr stand auf und bekreuzte sich dreimal, dann holte er unter dem Taburett den Kater hervor und steckte ihn in den Koffer.
»Komm, Tante!« sagte er leise.
Kaschtanka kam, ohne irgend etwas zu begreifen, zu seinen Händen heran. Der Herr küßte ihn auf den Kopf und that ihn neben Theodor in den Koffer. Darauf trat völlige Dunkelheit ein . . . Kaschtanka trampelte auf dem Kater herum, kratzte an den Wänden des Koffers und konnte vor Schreck keinen Ton von sich geben, während der Koffer wie auf den Wellen schwankte und zitterte . . .
»Da bin ich ja!« schrie der Herr laut auf. »Da bin ich ja!«
Kaschtanka fühlte, wie nach diesem Schrei der Koffer auf irgend etwas Hartes aufschlug und aufhörte zu schwanken. Ein lautes, volles Brüllen ertönte: auf irgend jemand wurde dreingeschlagen, und dieser Irgend jemand, wahrscheinlich das Scheusal mit dem Schwanz anstatt der Nase, brüllte und lachte so laut, daß das Schlößchen am Koffer zitterte. Als Antwort auf das Gebrüll ertönte ein schrilles, durchdringendes Gelächter des Herrn, wie er zu Hause niemals lachte.
»Ha!« rief er, bemüht, das Gebrüll zu überschreien. »Hochverehrtes Publikum! Ich komme eben vom Bahnhof! Meine Großmutter ist verreckt und hat mir eine Erbschaft hinterlassen! In dem Koffer ist etwas sehr schweres, wahrscheinlich Gold . . . Ha–a! Und wenn ich hier plötzlich eine Million finde! Wir wollen mal gleich aufmachen und nachsehen . . .«
Das Schloß am Koffer knackte. Grelles Licht schlug Kaschtanka in die Augen. Er sprang aus dem Koffer und begann, vom Gebrüll betäubt, in schnellem Lauf um seinen Herrn zu kreisen, wobei er ein schallendes Gebell ausstieß.
»Ha!« schrie der Herr. – »Onkel Theodor! Verehrteste Tante! Daß euch der Teufel hole, meine lieben Verwandten!«
Er warf sich mit dem Bauch in den Sand, ergriff Kaschtanka und den Kater und begann sie zu umarmen. Während er ihn in seiner Umarmung fast erdrückte, warf Kaschtanka einen flüchtigen Blick auf jene Welt, in die ihn das Schicksal verschlagen hatte, und für einen Augenblick erstarrte er vor Staunen und Entzücken, von der Großartigkeit des Anblicks bewältigt. Dann machte er sich aus der Umarmung des Herrn los und begann, vor Intensivität des Eindrucks, sich auf einem Punkte wie ein Kreisel zu drehen. Die neue Welt war groß und voll hellen Lichtes. Wohin er auch blickte, überall, vom Boden bis zur Decke, sah er nichts als Gesichter, Gesichter und Gesichter.
»Tante, ich bitte Sie, Platz zu nehmen!« rief der Herr.
Kaschtanka hatte noch nicht vergessen, was das zu bedeuten habe, sprang auf den Stuhl und setzte sich. Er sah den Herrn an. Seine Augen blickten ernst und freundlich wie immer, das Gesicht aber und besonders der Mund und die Zähne waren durch ein breites, erstarrtes Lächeln entstellt. Er lachte, sprang, zuckte mit den Schultern und that, als sei er durch die Anwesenheit der Tausende von Gesichtern hoch erfreut. Kaschtanka glaubte seiner Lustigkeit, empfand plötzlich mit seinem ganzen Körper, daß diese Tausende von Gesichtern ihn ansahen, hob sein Fuchsschnäuzchen in die Höhe und heulte lustig auf.
»Sie, Tante, bleiben etwas sitzen,« sagte der Herr, »während wir mit Onkelchen die Kamarinskaja tanzen wollen.«
Theodor stand in Erwartung des Augenblicks, wo man ihn zwingen würde, Dummheiten zu machen, da und blickte sich gleichgiltig nach allen Seiten um. Er tanzte schlaff, lässig und finster, und man konnte es seinen Bewegungen, seinem Schwanz und dem Schnurrbart ansehen, daß er die Menge, das grelle Licht, den Herrn und sich selbst tief verachtete . . . Nachdem er seine Portion abgetanzt hatte, gähnte er und setzte sich.
»Nun, Tante,« sagte der Herr, »zuerst woll'n wir mit Ihnen etwas singen, und dann tanzen wir mal. Gut?«
Er holte aus der Tasche eine Pfeife heraus und begann zu spielen. Kaschtanka, der keine Musik vertragen konnte, fing an, auf dem Stuhl unruhig hin und her zu rücken und zu heulen. Von allen Seiten ertönte Gebrüll und Beifallsklatschen. Der Herr verbeugte sich und fuhr fort, als alles sich beruhigt hatte, zu spielen . . . Während einer sehr hohen Note schrie irgend wo oben unter dem Publikum jemand auf.
»Vater!« rief eine Kinderstimme. – »Das ist doch Kaschtanka!«
»Natürlich Kaschtanka!« bestätigte ein etwas angeheiterter, zitternder Tenor. »Kaschtanka! Fedjuschka, straf mich Gott, das ist Kaschtanka! Füit!«
Auf der Galerie pfiff jemand, und zwei Stimmen, eine männliche und eine Kinderstimme, riefen laut:
»Kaschtanka! Kaschtanka!«
Kaschtanka erbebte und schaute nach der Stelle hin, von wo aus gerufen wurde. Zwei Gesichter, das eine behaart, angetrunken und lächelnd, das andere dick, rotwangig und erschrocken, schlugen Kaschtanka in die Augen, wie es vordem das elektrische Licht gethan hatte . . . Er erinnerte sich plötzlich an etwas, fiel vom Stuhl hinunter und begann auf dem Sande zu zappeln; dann sprang er auf und stürzte freudig auf die Gesichter zu. Ein betäubendes Gebrüll erschallte, durchdrungen von Pfiffen und dem schrillen Ruf einer Kinderstimme:
»Kaschtanka! Kaschtanka!«
Kaschtanka sprang über die Barriere, dann über die Schulter irgend jemandes und befand sich in einer Loge. Um in den nächsten Rang zu gelangen, mußte man über eine hohe Wand springen. Kaschtanka sprang, aber zu kurz, und rutschte längs der Wand zurück. Darauf ging er von Hand zu Hand, leckte irgend welche Gesichter und Hände, kam immer höher und höher und gelangte endlich auf die Galerie . . .
Eine halbe Stunde später lief Kaschtanka auf der Straße hinter zwei Menschen her, die nach Leim und Lack rochen. Der Tischler Luka Alexandritsch schwankte und hielt sich instinktiv, durch Erfahrung belehrt, möglichst weit von der Straßenrinne weg.
»Im Pfuhle des Lasters gehe ich unter . . .« murmelte er. »Und Du, Kaschtanka, bist ein Mißverständnis. Im Vergleich zu uns Menschen bist Du so . . . so wie ein Zimmermann im Vergleich zum Tischler . . .«
Neben ihm schritt Fedjuschka einher, in der alten Mütze des Vaters. Kaschtanka blickte ihnen beiden auf den Rücken, und es war ihm, als ginge er schon lange hinter ihnen her, und als wäre sein Leben nicht einen Augenblick unterbrochen worden . . .
Er erinnerte sich an das Zimmerchen mit den schmutzigen Tapeten, den Gänserich, an Theodor, an die schönen Diners, die Stunden, den Zirkus, aber alles erschien ihm jetzt wie ein langer, wirrer, schwerer Traum.