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Der Sekundaner Jegor Siberow reicht Petja Udodow gnädig die Hand. Petja, ein zwölfjähriger Junge in einem grauen Anzug, dick und rotwangig, mit einer niedrigen Stirn und kurzgeschorenem Haar, macht einen Kratzfuß und holt aus dem Schrank die Hefte. Die Stunde beginnt.
Nach der mit dem Vater Udodow getroffenen Vereinbarung ist Siberow verpflichtet, Petja zwei Stunden täglich zu geben, wofür er monatlich sechs Rubel zu erhalten hat. Er bereitet ihn für die Septima des Gymnasiums vor. Im vorigen Jahr bereitete er ihn für die Oktava vor, aber Petja fiel beim Examen durch.
»Nun«, beginnt Siberow, sich eine Cigarette anzündend. »Sie haben die vierte Deklination auf. Deklinieren Sie fructus!«
Petja beginnt zu deklinieren.
»Wieder haben Sie nicht gelernt!« sagt Siberow aufstehend. »Zum sechsten Mal gebe ich Ihnen die vierte Deklination auf, und Sie wissen nicht die Bohne! Wann werden Sie denn eigentlich anfangen, sich zu den Stunden zu präparieren?«
»Wieder nicht gelernt?« ertönt hinter der Thür eine hustende Stimme, und ins Zimmer tritt Petjas Papa, der pensionierte Gouvernements-Sekretär Udodow. »Schon wieder? Warum hast Du denn nicht gelernt? Ach, Du Kerl! Was glauben Sie, Jegor Alexejitsch? Erst gestern hat er seine Tracht gekriegt!«
Und mit einem schweren Seufzer setzt sich Udodow neben seinen Sohn hin und blickt in den zerfetzten KühnerLateinische Schulgrammatik hinein.
Siberow beginnt, Petja vor dem Vater zu examinieren. Mag der dumme Vater es sehen, wie dumm sein Sohn ist! Der Sekundaner wird allmählich von der Examinatorenwut befallen, haßt und verachtet den kleinen rotwangigen Dummkopf und möchte ihn am liebsten durchprügeln. Er ärgert sich sogar, wenn der Junge es einmal richtig trifft, so widerwärtig ist ihm dieser Petja.
»Sie können ja nicht mal die zweite Deklination! Auch die erste können Sie nicht! So also lernen Sie! Nun, sagen Sie mir, wie der Vokativ von meus filius lautet?«
»Von meus filius? Meus filius hat . . . hat . . .«
Petja blickt lange zur Decke empor, bewegt lange die Lippen, bleibt aber die Antwort schuldig.
»Und wie ist der Dativ pluralis von dea?«
»Deabus . . . filiabus! – schießt Petja wie aus der Kanone heraus.
Der alte Udodow nickt beifällig mit dem Kopf. Der Sekundaner, der eine richtige Antwort nicht erwartet hatte, macht ein verdrossenes Gesicht.
»Und welches Substantiv hat noch im Dativ abus fragt er.
Es erweist sich, daß noch › anima – die Seele‹ im Dativ abus hat, was im Kühner übrigens nicht steht.
»Eine klangvolle Sprache, das Lateinische!« bemerkt Udodow. Alon . . . tron . . . bonus . . . anthropos . . . Ja, was es nicht alles giebt! Und alles das muß man wissen!« sagt er mit einem Seufzer.
›So ein Kameel, stört mich nur . . .‹ denkt Siberow. ›Sitzt hier wie so ein Aufseher. Ich leide keine Kontrolle!‹
»Nun«, wendet er sich an Petja, »zum nächsten Mal nehmen Sie im Lateinischen dasselbe. Jetzt – Arithmetik . . . Nehmen Sie die Tafel. Welches ist die folgende Aufgabe?«
Petja spuckt auf die Tafel und wischt sie mit dem Aermel ab. Der Lehrer nimmt das Buch und diktiert:
»Ein Kaufmann kaufte für fünfhundert und vierzig Rubel hundert und achtunddreißig Arschin schwarzen und blauen Tuches. Es wird gefragt, wieviel Arschin er von diesem und jenem gekauft hat, wenn das blaue Tuch fünf Rubel der Arschin und das schwarze drei Rubel kostete?«
»Wiederholen Sie die Aufgabe.«
Petja wiederholt die Aufgabe und beginnt sofort, ohne ein Wort zu sagen, 540 durch 138 zu dividieren.
»Wozu machen Sie denn das? Warten Sie! Übrigens gut . . . fahren Sie fort. Es bleibt ein Rest? Hier kann kein Rest bleiben. Geben Sie her!«
Siberow beginnt selbst zu dividieren, erhält 3 als Rest und löscht die Division schleunigst aus.
›Komisch . . .‹ denkt er, sich verlegen durch das Haar fahrend. ›Wie wird sie denn gelöst? Hm! . . Das ist ja eine unbestimmte Gleichung und gar keine arithmetische Aufgabe . . .‹
Der Lehrer sieht nach den Lösungen und findet dort 75 und 63.
›Hm! . . sonderbar . . . 5 und 3 addieren, und dann 540 durch 8 dividieren? So vielleicht? Nein.‹
»Nun, rechnen Sie doch!« sagt er zu Petja.
»Na, was denkst Du denn? Die Aufgabe ist doch ein Strunt!‹ sagt Udodow seinem Sohne. »Was Du für ein Schafskopf bist, mein Lieber! Lösen Sie sie ihm schon selbst, Jegor Alexejitsch.«
Jegor Alexejitsch nimmt den Griffel und beginnt zu rechnen. Er stottert und wird bald rot, bald blaß.
»Diese Aufgabe ist eigentlich eine algebraische,« sagt er. »Man kann sie mit dem x und dem y lösen. Übrigens kann man sie auch so lösen. Ich habe also dividiert . . . verstehen Sie? Jetzt muß man also subtrahieren . . . ist es Ihnen klar? Oder, wissen Sie was . . . Machen Sie mir die Aufgabe selbst zu morgen . . . Denken Sie nach . . .«
Petja lächelt diabolisch. Udodow lächelt ebenfalls. Beide verstehen sie die Verlegenheit des Lehrers. Der Sekundaner wird noch verlegener, erhebt sich und beginnt auf und ab zu gehen.
»Das kann man auch ohne Algebra lösen,« sagt Udodow mit einem Seufzer, die Hand nach dem russischen Rechenbrett ausstreckend. »Hier, bitte . . .«
Er läßt die Steinchen hin und her gleiten und erhält 75 und 63, wie es verlangt wurde.
»Hier . . . nach unserer unwissenschaftlichen Art.«
Dem Lehrer wird es unerträglich zu Mute. Mit stockendem Herzen blickt er nach der Uhr und sieht, daß bis zum Schluß noch eine und eine viertel Stunde übrig ist – eine ganze Ewigkeit.
»Jetzt – Diktat.«
Nach dem Diktat kommt Geographie, nach der Geographie Religion, dann Russisch – es giebt Wissenschaften genug in dieser Welt! Aber endlich sind die zwei Stunden um. Siberow nimmt seine Mütze, reicht Petja gnädig die Hand und verabschiedet sich von Udodow.
»Können Sie mir nicht heute etwas Geld geben?« fragt er schüchtern. »Morgen muß ich im Gymnasium bezahlen . . . Sie schulden mir für sechs Monate.«
»Ich? Ach, ja, ja . . .« stammelt Udodow, ohne Siberow anzublicken. »Mit Vergnügen! Aber eben habe ich gerade nichts, ich werde Ihnen nach einer Woche . . . oder nach zwei . . .«
Siberow ist einverstanden, zieht sich seine schweren, schmutzigen Galoschen an und geht zur nächsten Stunde.