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Als ich mich im S.schen Kreise aufhielt, besuchte ich oft in den der Dorfgemeinde Dubowo gehörenden Gemüsegärten den Gartenwächter Ssawwa Stukatsch, oder Ssawka, wie man ihn gewöhnlich nannte. Diese Gemüsegärten waren mein Lieblingsplatz für den sogenannten »General«-Fischfang: wenn man beim Weggehen von zu Hause gar nicht weiß, wann man wieder zurückkommt, alle Angelgeräte, die es nur gibt, mitnimmt und sich auch mit Proviant versorgt. Eigentlich reizte mich das Angeln weniger als das planlose Herumirren, das Essen, zur ungewohnten Tageszeit, die Gespräche mit Ssawka und die dauernden Tête-à-tête's mit den stillen Sommernächten. Ssawka war ein Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, gut gewachsen, frisch und gesund wie ein Feuerstein. Er galt für vernünftig, konnte lesen und schreiben, trank sehr wenig, war aber als Arbeiter gar nichts wert. In seinen Muskeln, die so stark wie Stricke waren, paarte sich mit einer ungeheuren physischen Kraft eine schwere, unbesiegbare Trägheit. Er wohnte, wie alle Bauern, in seinem eigenen Hause, hatte einen eigenen Anteil am Gemeindeacker, bebaute ihn aber nicht und befaßte sich auch mit keinem Handwerk. Seine alte Mutter ernährte sich von Bettelei, und er selbst lebte sorglos wie ein Vogel in den Tag hinein und wußte am Morgen nicht, was er zu Mittag essen werde. Man kann nicht sagen, daß ihm Willenskraft und Energie abgingen, oder daß er mit seiner Mutter wenig Mitleid hatte; er verspürte einfach keine Neigung zur Arbeit und konnte ihren Nutzen nicht einsehen. Seine ganze Gestalt atmete Sorglosigkeit und eine angeborene, beinahe künstlerische Leidenschaft, ins Blaue hinein zu leben. Wenn aber der junge gesunde Körper Ssawkas sich rein physiologisch nach einer Muskelkraft sehnte, so gab er sich für kurze Zeit irgendeiner freien und absolut zwecklosen Tätigkeit hin: er schnitzte Pflöcke, die weder er, noch sonst jemand brauchte, oder lief mit den Dorfweibern um die Wette. Sein liebster Zustand war der einer vollkommenen Unbeweglichkeit. Er war imstande, stundenlang auf einem Fleck zu liegen, ohne sich zu rühren und den Blick unverwandt auf einen Punkt gerichtet. Und wenn er sich bewegte, so tat er es nur rein intuitiv und auch nur dann, wenn sich ihm Gelegenheit zu irgendeiner blitzschnellen Bewegung bot: einen vorbeilaufenden Hund am Schwanz zu fassen, einem Weibe das Tuch vom Kopfe zu reißen, oder über einen breiten Graben hinüber zu springen. Natürlich war Ssawka bei dieser Lebensweise ärmer als der ärmste Bettler. Mit der Zeit war er mit seinen Steuern so sehr im Rückstand, daß die Gemeinde dem jungen und kräftigen Burschen eine Stellung zuwies, die sonst nur von Greisen versehen wurde: das Amt eines Wächters und einer Vogelscheuche bei den der Gemeinde gehörenden Gemüsegärten. Alle lachten natürlich über diese seinem Alter so wenig entsprechende Anstellung, aber er machte sich nichts daraus. Die ruhige und bequeme Tätigkeit entsprach durchaus seiner beschaulichen Veranlagung.
An einem herrlichen Maiabend war ich wieder einmal bei diesem Ssawka zu Besuch. Ich lag auf einer zerrissenen Felldecke dicht vor seiner Hütte, aus der es dumpf nach trocknen Gräsern roch. Ich hatte die Hände im Nacken verschränkt und blickte vor mich hin. Zu meinen Füßen lag eine hölzerne Heugabel. Hinter der Gabel konnte ich die schwarze Silhouette der Kutjka -- so hieß Ssawkas kleiner Hund -- sehen, und zehn Schritt hinter der Kutjka fiel der Boden steil zum Flusse hinab. Den Fluß selbst konnte ich im Liegen nicht sehen. Ich sah nur die Wipfel der Weiden, die sich am Ufer drängten, und das gekrümmte, gleichsam abgenagte andere Ufer. Weit jenseits des Flusses standen auf einem dunkeln Hügel, sich wie erschrockene junge Rebhühner aneinander schmiegend, die Häuser des Dorfes, in dem Ssawka wohnte. Hinter dem Hügel verglomm das Abendrot. Nur noch ein einziger blaßroter Streifen war am Himmel geblieben, und auch er wurde allmählich von kleinen Wölkchen überzogen wie Kohlenglut von Asche.
Rechts vom Gemüsegarten war ein Erlengehölz, das im Winde leise rauschte und zitterte; links breiteten sich die unendlichen Felder aus. In weiter Ferne, wo das Auge den Himmel von der Erde nicht mehr unterscheiden konnte, leuchtete ein helles Flämmchen. Ssawka kauerte in einiger Entfernung von mir auf dem Boden, den Kopf gesenkt, und starrte nachdenklich auf Kutjka. Unsere Angelhaken mit lebendem Köder waren schon längst ausgelegt, und wir konnten nichts Besseres beginnen, als uns der Ruhe hinzugeben, die Ssawka, der sich niemals überanstrengte und doch ewig ausruhte, so sehr liebte. Das Abendrot war noch nicht ganz erloschen, aber die Sommernacht hatte bereits die ganze Natur in ihre zärtliche, einschläfernde Umarmung geschlossen.
Alles erstarb im ersten tiefen Schlafe, und nur irgendein mir unbekannter Nachtvogel ließ im Erlengebüsch gedehnt und langsam eine Reihe von artikulierten Lauten erschallen, die wie die Worte klangen: »Ist's Ni-ki-tas Fiedel?« worauf er gleich selbst antwortete: Fiedel! Fiedel! Fiedel!«
»Warum schlagen heut' die Nachtigallen nicht?« fragte ich Ssawka.
Er wandte sich langsam zu mir um. Seine Gesichtszüge waren etwas grob, aber zugleich ausdrucksvoll und weich wie bei einer Frau. Er richtete dann seine sanften verträumten Augen auf das Gehölz und auf die Weiden, zog aus der Tasche langsam eine Pfeife hervor, steckte sie sich in den Mund und trillerte wie ein Nachtigallenweibchen. Als Antwort auf seine Triller begann am andern Ufer ein Wachtelkönig zu schnarren.
»Da haben Sie eine Nachtigall …« scherzte Ssawka. »Der schnarrt so, als ob man ihn am Schwanze zupfte, und bildet sich doch ein, daß er singt.«
»Mir gefällt dieser Vogel,« sagte ich. »Weißt du, daß der Wachtelkönig in der Strichzeit nicht fliegt, sondern läuft? Er fliegt nur über die Flüsse und Meere, sonst wandert er zu Fuß.«
»So'n Hund! …« murmelte Ssawka und blickte mit Respekt in die Richtung, aus der das Schnarren kam.
Ich wußte, daß Ssawka gerne Erzählungen hörte, und berichtete ihm daher alles, was ich vom Wachtelkönig aus der Jägerliteratur wußte. Dann kam ich allmählich auf die Wanderung der Vögel im allgemeinen zu sprechen. Ssawka hörte aufmerksam, ohne mit den Augen zu zwinkern, zu und strahlte vor Vergnügen.
»Und wo fühlt sich der Vogel heimischer,« fragte er, »bei uns oder in der Fremde?«
»Selbstverständlich bei uns. Die Vögel kommen hier zur Welt und brüten hier ihre Jungen aus; hier ist ihre Heimat; in die Fremde fliegen sie nur, um hier nicht zu erfrieren.«
»Interessant!« sagte Ssawka gedehnt. »Alles ist interessant. Ob Vogel oder ein Mensch, oder ein Stein -- in allem ist Vernunft! … Ach, Herr, wenn ich wüßte, daß Sie heute kommen, hätte ich das Frauenzimmer gar nicht herbestellt … Ein Frauenzimmer wollte heut' kommen …«
»Bitte sehr, ich werde nicht stören!« sagte ich. »Ich kann mich ja auch im Gehölz hinlegen …«
»Nein, es wird ihr gar nichts schaden, wenn sie statt heute morgen kommt … Wenn sie wenigstens ruhig sitzen und zuhören würde … Aber sie wird nur stören. Wenn sie dabei ist, kann man gar nicht ordentlich reden.«
»Erwartest du heute die Darja?« fragte ich nach einer Pause.
»Nein … Heut' will eine Neue kommen … Agafja, die Weichenstellerin …«
Ssawka sagte das mit seiner gewöhnlichen leidenschaftslosen, etwas dumpfen Stimme, als ob die Rede von Tabak oder Grütze wäre. Ich sprang aber vor Erstaunen auf. Ich kannte diese Agafja, »die Weichenstellerin« … Es war ein ganz junges Weibchen, höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre alt, das erst im vorigen Jahre den Weichensteller, einen jungen, braven Burschen, geheiratet hatte. Sie wohnte im Dorfe, und ihr Mann kam nur auf die Nacht von der Bahn nach Hause.
»Mein Lieber, alle deine Weibergeschichten werden ein schlechtes Ende nehmen!« seufzte ich auf.
»Von mir aus …«
Ssawka dachte eine Weile nach und fügte hinzu:
»Ich hab's den Weibern gesagt, aber sie hören nicht auf mich … Den dummen Gänsen geht's wohl zu gut!«
Wir schwiegen beide … Das Dunkel wurde immer dichter, und die Gegenstände verloren ihre Konturen. Der rötliche Streif hinter dem Hügel war ganz erloschen, und die Sterne schienen immer heller und strahlender … Das melancholisch-eintönige Zirpen der Grillen, die Schreie des Wiesenknarrers und der Wachtel störten diese nächtliche Stille gar nicht: im Gegenteil, sie machten sie noch eintöniger. Es war, als ob diese leisen, einschläfernden Töne nicht von den Vögeln und Insekten ausgingen, sondern von den Sternen, die auf uns vom Himmel herabblickten …
Ssawka brach zuerst das Schweigen. Er richtete seinen Blick von der schwarzen Kutjka langsam auf mich und sagte:
»Herr, Sie langweilen sich wohl? Wollen wir zum Abend essen!«
Ohne meine Antwort abzuwarten, kroch er auf dem Bauche in seine Hütte und scharrte dort etwas herum, wobei die ganze Hütte wie ein Blatt erzitterte; dann kroch er zurück und stellte vor mich eine Branntweinflasche und eine irdene Schüssel hin. In der Schüssel waren gebackene Eier, in Speck gebratene Roggenfladen, einige Stück Schwarzbrot und noch irgend etwas … Zuerst tranken wir aus einem schiefen Gläschen, das nicht recht stehen konnte, etwas Schnaps und machten uns dann an das Essen. Das Salz war grobkörnig und grau, die Fladen schmutzig und fettig, die Eier fest wie Gummi; aber alles schmeckte ausgezeichnet!
»Du lebst sonst wie ein Bettler, hast aber soviel zu essen,« sagte ich, auf die Schüssel zeigend. »Wo nimmst du nur alles her?«
»Die Weiber bringen's mir …« brummte Ssawka.
»Warum bringen sie es dir?«
»So … aus Mitleid …«
Nicht nur das Menu, sondern auch seine Kleidung zeugten von diesem weiblichen »Mitleid«. Eines Abends sah ich an ihm einen neuen kamelhaarenen Gürtel und ein grellrotes Bändchen, an dem an seinem schmutzigen Halse das kleine Messingkreuz hing. Mir war die Schwäche des schönen Geschlechts für Ssawka bekannt; ich wußte auch, daß er sehr ungern davon sprach, und fragte ihn darum nicht weiter aus. Ich hatte auch nicht mehr Zeit, mit ihm zu sprechen: Kutjka, die sich fortwährend an unseren Beinen rieb und bettelte, spitzte plötzlich die Ohren und knurrte. In der Ferne ließ sich ein Plätschern hören.
»Jemand watet durch den Fluß …« sagte Ssawka.
Nach einigen Minuten begann Kutjka wieder zu knurren und Töne von sich zu geben, die wie Husten klangen.
»Kusch!« schrie Ssawka.
Im Finstern schlürften scheue Schritte, und aus dem Gehölz kam eine weibliche Silhouette zum Vorschein. Obwohl es dunkel war, erkannte ich sie sofort: es war Agafja, die Weichenstellerin. Sie kam schüchtern auf uns zu, blieb stehen und holte tief Atem. Sie keuchte wohl weniger vor Müdigkeit als vor Angst und dem unangenehmen Gefühl, das man immer empfindet, wenn man nachts durch einen Fluß watet. Als sie vor der Hütte statt einen Menschen -- zwei erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus und taumelte etwas zurück.
»Ach so … du bist es!« sagte Ssawka, sich einen neuen Fladen in den Mund stopfend.
»Ja … ich,« murmelte sie, ein kleines Bündel fallen lassend und nach mir schielend. »Jakow läßt Sie grüßen und schickt Ihnen dieses da … ich weiß nicht, was darin ist …«
»Was lügst du? Ja, der Jakow!« höhnte Ssawka. »Brauchst nicht zu lügen, der Herr weiß sehr gut, wozu du gekommen bist! Setz dich her, sei unser Gast.«
Agafja schielte wieder nach mir und setzte sich unentschlossen hin.
»Ich glaubte schon, daß du heut' nicht kommst …« sagte Ssawka nach einer langen Pause. »Was sitzt du so da? Iß doch! Oder soll ich dir etwas Schnaps geben?«
»Was dir nicht einfällt!« entgegnete Agafja. »Ich bin doch keine Säuferin …«
»Trink doch … Wirst dir deine Seele erwärmen … Nun!«
Ssawka reichte Agafja das schiefe Gläschen. Sie trank langsam den Schnaps aus, aß aber nichts hinterher, sondern blies nur laut vor sich hin.
»Hast doch etwas mitgebracht …« fuhr Ssawka fort, indem er das Bündel aufknotete. Seine Stimme nahm einen herablassend scherzhaften Ton an. »Ein Frauenzimmer kann doch gar nicht anders, es muß immer etwas mitbringen. Ach so, ein Kuchen und Kartoffeln … Die leben nicht schlecht!« sagte er, sich zu mir wendend. »Sonst hat ja im ganzen Dorfe kein Mensch Kartoffeln vom Winter erspart!«
Ich konnte im Dunkeln Agafjas Gesicht nicht sehen; aber aus der Haltung ihrer Schultern und ihres Kopfes konnte ich schließen, daß sie ihre Augen von Ssawkas Gesicht nicht wandte. Ich wollte nicht stören und stand auf, um einen Spaziergang zu machen. In diesem Augenblick erklangen aber plötzlich aus dem Gehölz zwei tiefe Kontraalttöne einer Nachtigall. Nach einer halben Minute ließ sie einen feinen Triller los; nachdem sie auf diese Weise ihre Stimme ausprobiert hatte, begann sie zu singen. Ssawka sprang auf und lauschte.
»Das ist die gestrige!« sagte er. »Wart einmal! …«
Und er lief lautlos in der Richtung zum Gehölz.
»Was willst du denn?« rief ich ihm nach. »Laß sie in Ruhe!«
Ssawka winkte mit der Hand, als ob er sagen wollte: »Schreien Sie doch nicht so!« -- und verschwand im Finstern. Ssawka war, wenn er nur wollte, ein ausgezeichneter Jäger und Fischer, aber er verschleuderte auch diese Talente ebenso zwecklos wie seine Kraft. Er war zu faul, um die Jagd wie die andern Menschen auszuüben und gebrauchte seine Jagdleidenschaft zu zwecklosen Kunststücken. So fing er die Nachtigallen mit der Hand, schoß mit Schnepfenschrot auf Hechte, oder stand manchmal stundenlang am Flußufer und bemühte sich, irgendein kleines Fischchen mit dem größten Angelhaken zu fangen.
Agafja blieb allein mit mir zurück. Sie hüstelte und fuhr sich einigemal mit der flachen Hand über das Gesicht … Der Schnaps, den sie getrunken, begann bereits zu wirken.
»Wie geht's, Agascha?« fragte ich nach einer Pause, als mir das lange Schweigen lästig zu werden begann.
»Gott sei gedankt … Erzählen Sie es aber niemand, Herr …« fügte sie flüsternd hinzu.
»Laß gut sein,« suchte ich sie zu beruhigen. »Du bist aber wirklich furchtlos, Agascha … Wenn es Jakow erfährt? …«
»Er erfährt es nicht … Ich werde vor ihm nach Hause kommen. Er ist jetzt auf der Strecke; erst wenn der Postzug vorbeigegangen ist, kommt er zurück. Von hier aus kann ich ja den Zug hören …«
Agafja fuhr sich noch einmal mit der Hand über die Stirne und blickte in die Richtung, in der Ssawka verschwunden war. Die Nachtigall sang noch immer. Irgendein Nachtvogel flog ganz tief über dem Boden dahin; als er uns bemerkte, rauschte er mit den Flügeln und flog auf die andere Seite des Flusses.
Bald verstummte die Nachtigall, Ssawka kam aber noch immer nicht zurück. Agafja stand auf, ging einige Schritte unruhig auf und ab und setzte sich wieder hin.
»Wo bleibt er nur?« fragte sie ungeduldig. »Der Zug kommt ja heute und nicht morgen! Ich muß bald gehen!«
»Ssawka!« rief ich in die Finsternis. »Ssawka!«
Nicht einmal das Echo antwortete mir. Agafja rückte unruhig hin und her und stand wieder auf.
»Ich muß schon gehen!« sagte sie mit vor Erregung bebender Stimme. »Gleich wird der Zug kommen! Ich weiß ja, wann die Züge gehen!«
Die Arme hatte sich nicht geirrt. Nach einer Viertelstunde hörten wir ein fernes Dröhnen.
Agafja starrte mit wild aufgerissenen Augen ins Gehölz und bewegte ungeduldig die Hände.
»Wo bleibt er nur?« sagte sie mit nervösem Lachen. »Was für ein Teufel hat ihn hingeschleppt? Jetzt gehe ich! Bei Gott, Herr, jetzt gehe ich!«
Das Dröhnen wurde immer lauter. Man konnte bereits das Rasseln der Räder von den schweren Seufzern der Lokomotive unterscheiden. Ein Pfiff, der Zug rasselte über die Brücke, noch eine Minute -- und alles war wieder still …
»Ich warte noch eine Weile …« seufzte Agafja auf und setzte sich entschlossen wieder hin. »Meinetwegen …«
Endlich erschien im Finstern Ssawka. Er ging mit seinen bloßen Füßen lautlos über die weiche Gartenerde und summte leise vor sich hin.
»Dieses Pech!« sagte er lachend. »Kaum war ich am Strauch und zielte nach ihr mit der Hand, als sie plötzlich zu singen aufhörte! So'n Hund! Ich wartete und wartete, daß sie wieder anfängt, aber sie dachte nicht daran … Nun gab ich's auf …«
Ssawka ließ sich neben Agafja plump zu Boden fallen. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, faßte er sie mit beiden Händen um die Taille.
»Und was machst du für ein finsteres Gesicht, als ob dich deine Tante geboren hätte?« fragte er sie.
Bei all seiner Treuherzigkeit und Weichheit verachtete Ssawka im Grunde genommen die Frauen. Er behandelte sie geringschätzig, von oben herab und erniedrigte sich zuweilen zum Spott über die Gefühle, die sie seiner eigenen Person entgegenbrachten. Wer weiß, vielleicht war diese geringschätzige Behandlung eine der Ursachen der starken, unüberwindlichen Anziehungskraft, die er auf die Dorfschönen übte. Er war ein hübscher, gut gewachsener Bursche, seine Augen leuchteten immer, selbst wenn er eine der von ihm so sehr verachteten Frauen vor sich hatte, still und freundlich; aber diese äußeren Eigenschaften allein sind noch keine genügende Erklärung für diese Anziehungskraft. Neben dem vorteilhaften Äußeren und der eigentümlichen Art, mit den Frauen umzugehen, war es vielleicht auch die rührende Stellung Ssawkas als des von allen verschmähten und aus seinem Hause in die Gemüsegärten verbannten Pechvogels, was auf die Weiber solchen Eindruck machte.
»Erzähle einmal dem Herrn, wozu du hergekommen bist!« fuhr Ssawka fort, während er Agafja noch immer an der Taille festhielt. »Erzähle es nur, du verheiratete Frau! Ach ja … Sollen wir nicht noch ein Schnäpschen nehmen, Freund Agascha?«
Ich erhob mich von meinem Platz und ging durch den Garten. Die dunklen Beete sahen wie große, flache Grabhügel aus. Sie atmeten den Geruch frisch umgegrabener Erde und zarter, taufeuchter Pflanzen … Links leuchtete noch immer das rote Flämmchen. Es winkte und lächelte mir gleichsam zu.
Ich hörte ein glückliches Lachen. Es war Agafjas Stimme.
Und der Zug? -- fragte ich mich. -- Der Zug war ja schon längst vorbeigegangen!
Ich wartete noch eine Weile und ging dann zur Hütte zurück. Ssawka saß unbeweglich mit untergeschlagenen Beinen und summte leise irgendein sehr primitives Lied vor sich hin. Agafja lag, vom Schnaps, von den herablassenden Liebkosungen Ssawkas und von der Schwüle der Nacht berauscht, neben ihm auf dem Boden, das Gesicht krampfhaft an seine Knie geschmiegt. Sie war so ganz von ihrem Gefühl hingerissen, daß sie mich gar nicht sah.
»Agascha, der Zug ist ja schon längst dagewesen!« sagte ich ihr.
»Es ist Zeit, daß du gehst,« fing Ssawka meinen Gedanken auf und schüttelte den Kopf. »Was liegst du so da? Du, hast du denn gar keine Scham im Leibe?!«
Agafja fuhr auf, riß den Kopf von seinem Knie los, sah mich an und schmiegte sich wieder an ihn.
»Es ist längst Zeit!« sagte ich.
Agafja rückte hin und her und erhob sich auf ein Knie … Sie schien furchtbar zu leiden … Eine halbe Minute lang drückte ihre ganze Gestalt, soweit ich sie im Dunkeln sehen konnte, einen inneren Kampf und ein Schwanken aus. Einen Augenblick lang schien sie zum Bewußtsein gekommen zu sein: sie reckte sich und war bereit, aufzustehen; aber irgendeine unbezwingbare und unerbittliche Gewalt stieß sie wieder um, und sie schmiegte sich von neuem an Ssawka heran.
»Daß ihn der Henker!« sagte sie mit wilder, tiefer Stimme und lachte. In diesem Lachen klangen wahnsinnige Entschlossenheit, Ohnmacht und Schmerz.
Ich ging langsam ins Gehölz und stieg von dort zum Flusse hinab, wo unsere Angelschnüre ausgelegt waren. Der Fluß lag in tiefem Schlaf. Irgendeine weiche, gefüllte Blüte mit langem Stiel berührte zärtlich meine Wange, wie ein Kind, als wollte sie sagen, daß sie noch nicht schlafe. Ich fand eine der Angelschnüre und zog sie heraus. Sie blieb lose in meiner Hand hängen, -- es hatte sich also nichts gefangen … Vom andern Ufer und vom Dorf war nichts zu sehen. In einem Bauernhause leuchtete ein Flämmchen auf und erlosch gleich wieder. Tastend fand ich am Ufer die Vertiefung, die ich noch am Tage ausgesucht hatte, und setzte mich in sie wie in einen Sessel. So saß ich lange da … Ich sah, wie die Sterne allmählich trüber wurden, wie ein kalter Lufthauch leise seufzend über die Erde strich und die Blätter der erwachenden Weiden berührte …
»A-gaf-ja! …« klang aus dem Dorfe eine dumpfe Stimme. »Agafja!«
Der Mann war offenbar heimgekehrt und suchte nun im ganzen Dorfe nach seiner Frau. Aus dem Gemüsegarten drang aber zu mir ein nicht enden wollendes Lachen: die Frau hatte alles vergessen, war völlig berauscht und suchte sich mit dem Glücke weniger Stunden für die sie morgen erwartende Qual schadlos zu halten.
Ich schlief ein.
Als ich erwachte, saß Ssawka neben mir und schüttelte mich an der Schulter. Der Fluß, das Gehölz, die beiden grünen, reingewaschenen Ufer, die Bäume und das Feld -- alles war von grellem Morgenlicht übergossen. Die Strahlen der eben erst aufgegangenen Sonne fielen zwischen den dünnen Baumstämmen hindurch auf meinen Rücken.
»Das nennen Sie Fische fangen?« lachte Ssawka. »Stehen Sie doch auf!«
»Ist Agascha fort?« fragte ich.
»Da geht sie gerade!« antwortete Ssawka und zeigte auf die Furt.
Ich sah hin und erblickte Agafja. Mit hoch aufgeschürztem Kleid, ganz zerzaust, mit vom Kopfe gerutschtem Tuch watete sie durch den Fluß. Sie bewegte die Beine mit sichtbarer Anstrengung …
»Die Katze weiß, daß sie Fleisch gestohlen hat!« murmelte Ssawka, die Augen zusammenkneifend. »Wie sie den Schwanz eingezogen hat! Die Weiber sind liederlich wie die Katzen und feige wie die Hasen … Warum ist sie auch nicht gestern heimgegangen, als man es ihr sagte! Jetzt wird sie was erleben … Und mich wird das Dorfgericht wegen des Frauenzimmers wieder einmal auspeitschen lassen …«
Agafja erreichte das Ufer und ging nun querüberfeld dem Dorfe zu. Anfangs schritt sie ziemlich tapfer aus; aber bald bemächtigten sich ihrer Angst und Aufregung. Sie wandte sich erschrocken um, blieb stehen und holte tief Atem.
»Wie die Angst hat!« sagte Ssawka mit einem traurigen Lächeln, auf die hellgrüne Spur schauend, die Agafja im taubedeckten Grase zurückließ. »Hat wohl keine Lust, heimzugehen! Der Mann steht ja schon seit einer Stunde da und wartet auf sie … Haben Sie ihn schon gesehen?«
Ssawka sprach diese letzten Worte mit einem Lächeln, aber mich überlief es kalt. Vor dem letzten Hause des Dorfes stand auf der Straße Jakow und blickte unverwandt seiner Frau entgegen. Er war regungslos wie eine Bildsäule. Was dachte er sich wohl, während er sie ansah? Was für Worte bereitete er für den Empfang vor? Agafja blieb eine Weile stehen, blickte noch einmal zurück, als erwartete sie von uns Beistand, und ging weiter. Noch niemals sah ich einen Menschen, weder einen Betrunkenen noch einen Nüchternen, so gehen: unter den Blicken ihres Mannes bekam sie eine Art Krampf. Bald ging sie in Zickzack, bald stampfte sie mit eingeknickten Knien und seltsamen Handbewegungen immer auf derselben Stelle, bald wich sie zurück. Als sie auf diese Weise an die hundert Schritte gemacht hatte, blickte sie noch einmal zurück und setzte sich plötzlich hin.
»Versteck dich doch wenigstens hinter dem Strauch!« sagte ich zu Ssawka. »Sonst wird er dich sehen …«
»Er weiß auch so, woher Agafja kommt … Nachts holen die Weiber keinen Kohl aus dem Gemüsegarten -- das weiß jeder!«
Ich sah Ssawka an. Sein Gesicht war blaß und hatte den aus Mitleid und Ekel gemischten Ausdruck, mit dem man zuweilen ein gepeinigtes Tier betrachtet.
»Wenn die Katze lacht, muß die Maus weinen …« sagte er seufzend.
Agafja sprang plötzlich auf, schüttelte den Kopf und ging mit tapferen Schritten auf ihren Mann zu. Sie hatte wohl ihre ganze Kraft zusammengenommen und war auf alles gefaßt.